Kleine Dornbrunnen Bibliothek
Deutscher Text nach der Originalausgabe
Übersetzung aus dem Französsichen von Gerd Frank
(Pierre-Jean)
Korrekturen und Lektorat: Meiko Richert
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
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2019
ISBN 978-3-943275-36-0
© by Edition Dornbrunnen – Verlag Sven-R. Schulz, Berlin,
Sven-R. Schulz, Dornbrunner Straße 16, 12437 Berlin
www.edition-dornbrunnen.de
Titelgestaltung: Sven-R. Schulz
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PNKDB1
Schon seit einigen Monaten hatte die Alarmkanone den Hafen von Toulon nicht mehr in Angst versetzt. Die strengstens überwachten Sträflinge scheiterten bereits bei den ersten Ausbruchsversuchen, und selbst die Kühnsten unter ihnen wichen vor unüberwindbaren Hindernissen zurück.
Es war nicht so, dass die ausgeprägte Freiheitsliebe in den Herzen der Strafgefangenen erloschen gewesen wäre, doch eine unbeschreibliche Verzagtheit schien ihre Ketten nur noch schwerer gemacht zu haben. Außerdem hatte man einige Wachen, von deren Nachlässigkeit oder Untreue man überzeugt war, aus dem Bagno1 entlassen und die neuen Wachen, die bei ihrer Aufsicht und ihren Untersuchungen viel strenger vorgingen, zeichneten sich durch eine Art »Ehrbegriff« aus.
Der Bagno-Kommissar beglückwünschte sich sehr zu diesem Ergebnis, ohne sich in nachlässiger Sicherheit zu wiegen, denn Gefängnisausbrüche sind in Toulon häufiger und einfacher möglich als in jedem anderen Hafen. Man musste daher befürchten, dass sich hinter der vorgetäuschten Ruhe irgendeine geheime Absicht verbarg.
Dies ist ein Charakterzug, der für die Vertreter des Strafvollzugs typisch ist, beim Fehlen eines Verbrechens stets an seine Möglichkeit zu denken. Wenn sie niemanden verfolgen, müssen sie wachsam sein, und falls die Tatsachen keine strafrechtliche Verfolgung rechtfertigen, glauben sie dazu verpflichtet zu sein, selbst im Schweigen kriminelle Absichten zu vermuten.
Im Monat September hielt vor der Residenz des Vizeadmirals eine prunkvolle Equipage2; ihr entstieg ein Mann von fünfunddreißig Jahren. Dies war Herr Bernardon, ein reicher Geschäftsmann, der seit Kurzem in Marseille wohnte.
Das Gesicht dieses Mannes war ernst; er wirkte älter als in seiner Geburtsurkunde angegeben. Die Leidenszeit früherer Jahre zeigte sich noch immer auf seiner vorzeitig gefurchten Stirn. Sein Mut hatte einst das Schicksal besiegt, sein Geist verachtete die Vorurteile der Welt. Egal ob Groß oder Klein, er reichte jedem mit gleicher Offenheit die Hand, falls diese Hände nur ehrlich genug waren.
Herr Bernardon hatte sich sein Vermögen allein geschaffen; von unten war er nach oben gekommen; von hohem Ansehen in Marseille, brachten ihn seine Beziehungen oft mit bedeutenden Persönlichkeiten in Kontakt. Dennoch hatten die Kämpfe gegen das Unglück seiner Jugend ein kühles Misstrauen gegen die Menschen in ihm hinterlassen.
Er suchte die Einsamkeit, in der seine Familie und er sich gern abseits hielten, sodass seine Geschäftsbeziehungen niemals zu weltweiten Kontakten führten. Seine Abreise war ohne Aufsehen und in aller Ruhe erfolgt; eine einfache Familienangelegenheit vorschützend, war er nach Toulon gekommen.
Ein dringlicher Brief hatte ihn bald darauf zum Vizeadmiral geführt. Dieser empfing ihn zuvorkommend und bat ihn, den Grund für seinen Besuch zu nennen.
»Mein Herr«, antwortete der Marseiller, »es ist eine ganz einfache Bitte, die ich an Sie habe.«
»Welche denn, mein Herr?«
»Ich möchte das Bagno von Toulon bis ins kleinste Detail besichtigen.«
»Mein Herr«, erwiderte der Vizeadmiral, »die Empfehlung des Präfekten war überflüssig; ein Mann Ihres Ansehens benötigt hierfür nur den Ausweis der Höflichkeit.«
Indem er dem Vizeadmiral für dessen Liebenswürdigkeit dankte, verbeugte sich Herr Bernardon und fragte nach den notwendigen Formalitäten.
»Nichts ist einfacher als das, mein Herr! Bitte suchen Sie den Generalmajor der Marine auf, der wird Ihnen Ihre Wünsche erfüllen.«
Herr Bernardon verabschiedete sich, ließ sich zum Major bringen und erhielt sofort die Erlaubnis, das Arsenal zu betreten. Sofort wollte er seinen Besuch nutzen; eine Ordonnanz begleitete ihn zum Bagno-Kommissar, der sich ihm freundlich zur Verfügung stellte. Der Marseiller bedankte sich bei ihm, äußerte aber den Wunsch, allein zu bleiben.
»Ganz wie es Ihnen beliebt, mein Herr«, antwortete der Kommissar.
»Könnte ich mit den Verurteilten sprechen?«
»Natürlich, mein Herr, die Adjutanten sind benachrichtigt worden. Es sind zweifellos menschenfreundliche Absichten, die Sie hierhergeführt haben?«
»Ja, mein Herr«, antwortete Herr Bernardon ohne zu zögern.
»Wir sind an solche Besuche gewöhnt«, entgegnete der Kommissar. »Die Regierung hat zu Recht nach Verbesserungsmöglichkeiten für den Betrieb der Bagnos gesucht. Sie können mir glauben, dass sich die aktuelle Lage der Verurteilten bereits erheblich von der früheren unterscheidet.«
Der Marseiller verbeugte sich.
»Unter solchen Umständen ist es sehr schwer, an harter Bestrafung festzuhalten, und wenn wir die Strenge des Gesetzes nicht zunichtemachen wollen, müssen wir vor diesen übermäßigen Menschenfreunden sogar warnen, die das Verbrechen angesichts der Strafen vergessen! Außerdem wissen wir, dass die neutrale Justiz zur Mäßigung neigt.«
»Solche Gefühle ehren Sie«, erwiderte Herr Bernardon, »und falls meine Ansichten Sie interessieren, mein Herr, so wird es mir ein Vergnügen bereiten, mich mit Ihnen zu unterhalten.«
Daraufhin trennten sich die beiden Männer und der Marseiller näherte sich dem Bagno.
Der Militärhafen von Toulon besteht hauptsächlich aus zwei riesigen Polygonen, welche am Kai ihre nördliche Seite abstützen; einer davon heißt »Neues Dock« und liegt westlich des zweiten, der »Altes Dock« genannt wird. Die Seiten der Anlagen, regelrechte Verlängerungen der Stadtbefestigungen, sind bollwerkartig angelegt und breit genug, um langgestreckte Gebäude wie Maschinenhallen, Kasernen und besondere Magazine der Marine zu tragen.
Jedes dieser beiden Docks verfügt im südlichen Teil über eine Öffnung, welche genügt, um größeren Kriegsschiffen die Durchfahrt zu ermöglichen. Diese schönen Anlagen könnten leicht auch »schwimmende Becken« bilden, wenn der konstante Pegel des Mittelmeeres, der unter keinen nennenswerten Gezeiten leidet, ihre Absperrung nicht überflüssig machen würde.
Das »Neue Dock« wird im Westen von den Magazinen und dem Artilleriepark begrenzt und im Süden, auf der rechten Seite des Eingangs, der zu der kleinen Hafenbucht führt, von den Bagnos.