Jana Crämer
Unzensiert
Roman
Als ich nach wenigen Haltestellen am 7Days ankam, sah ich schon durch die Scheibe, dass kaum Kunden im Laden waren und hinter der Kasse an diesem Tag eine ziemlich dicke, ältere Frau saß. Ihre schon leicht ergrauten und sehr strähnigen Haare hatte sie zu einem Zopf gebunden, und ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie an jedem anderen Ort lieber gewesen wäre als hier. Ich war aber ehrlich gesagt sehr froh, dass in diesem Moment genau sie an der Kasse saß. Auch wenn sie nicht ganz so dick wie ich war, brauchte ich mich vor ihr nicht für meinen definitiv mehr als ungesunden Einkauf zu schämen und legte alles auf den Verkaufstresen. Ohne mir in die Augen zu schauen, nahm sie meine EC-Karte, ließ mich den PIN eingeben, um die 52,73 Euro abzubuchen, und reichte mir zwei Tüten.
Als ich gerade beim Einpacken war, rief Jule an. Mist, ich wollte ihr doch Bescheid geben, wie es meinem Vater ging. Das hatte ich total vergessen. Ich ließ das Handy wieder in die Tasche gleiten, packe das restliche Zeug in die Tüten und machte mich auf den Weg zur Bushaltestelle.
Zum Glück kam der Bus pünktlich und es war noch eine Bank frei, sodass ich mich nicht neben jemanden setzen musste. Ich überlegte hin und her, ob ich Jule anrufen oder ihr einfach nur eine schnelle Nachricht schreiben sollte, um einem längeren Gespräch aus dem Weg zu gehen, als plötzlich Ben anrief und unser Foto auf dem Display erschien.
Vor lauter Schreck ließ ich das Handy fallen, und es rutschte unter dem Sitz hindurch, genau zwischen die Beine der Frau vor mir. Beim Versuch, mich danach zu bücken, stieß ich gegen eine der Tüten, und einige Tafeln Schokolade und die Familienpackung Eis fielen raus. Na super.
Sie hob das Handy und die Schokoladen, die direkt daneben gelandet waren, auf und drehte sich zu mir um. Eine makellose Haut, ein sehr schlankes Gesicht, dezent geschminkt, aber trotzdem fand ich sie nicht hübsch. Was vermutlich an ihrem herablassenden Blick lag, der vom leuchtenden Display zu der Schokolade in ihrer Hand und schließlich zu mir wanderte. »Hübscher Typ!«, sagte sie, und ihr Tonfall machte sehr deutlich, wie verwundert sie war, während sie mir die Schokolade hinhielt, als würde es sie umbringen, diese auch nur noch eine Sekunde länger halten zu müssen.
Selbst wenn ich mal für einen kurzen Moment vergaß, dass ich nicht der Norm entsprach, so ein Gesichtsausdruck erinnerte mich daran. Ich zog meinen Mantel enger um meinen Körper, steckte die Schokoladen zurück in die Tüte und verschränkte die Arme vor meiner Brust. Am liebsten wollte ich alles, was ich eingekauft hatte, einfach hier im Bus stehen lassen.
Wieder vibrierte es. Wieder Ben. Eigentlich hätte ich ihn zwar lieber von zu Hause aus ganz in Ruhe zurückgerufen, aber es schien sehr dringend zu sein. Ich ging mit einem leicht ironischen, aber gut gelaunten »Na, hast du Sehnsucht?« ran, damit die Frau vor mir es auch auf jeden Fall mitbekam. Aber es blieb mir fast im Hals stecken, denn schon bei seinem »Hallo« hörte ich deutlich, dass irgendwas nicht in Ordnung war.
»Lea? Verstehst du mich? Ich bin im Zug und das Netz ist beschissen. Ich komme bei unserer Page nicht ins Backend. Ich kann mich nicht mehr einloggen. Kannst du mir kurz dein Passwort sagen?« Er klang unglaublich angespannt.
»Wozu musst du dich denn einloggen? Ich habe doch alles, was du mir geschickt hast, online gestellt. Ist bei dir alles in Ordnung? Du hörst dich nicht so an«, unterbrach ich ihn.
Einen kurzen Moment herrschte Stille, bevor er tief Luft holte und leise »Nein, hier ist gar nichts in Ordnung« sagte. Dann fasste er sich, und seine Stimme wurde deutlich fester: »Wir müssen dafür sorgen, dass ich sofort von der Bandpage verschwinde. Die vom Label wollen das richtig groß aufziehen, da darf mein Gesicht nicht bei ’ner x-beliebigen Coverband auf der Startseite erscheinen.« Dann war es wieder still.
»Können sie dir das denn so einfach verbieten?«, fragte ich entgeistert und wollte gerade weiterreden, als er mir ins Wort fiel: »Lea, das sind hier keine Spielchen. Die müssen mir gar nichts verbieten! Das sagt einem doch schon der gesunde Menschenverstand: Wenn du als Musiker in der Branche ernst genommen werden willst, darfst du dich nicht als Sänger einer x-beliebigen Coverband präsentieren, das ist doch logisch. Die wollen mich ganz groß rausbringen, mein Produktmanager hat bald echt ’ne Menge zu tun. Dafür muss man halt Opfer bringen. Das ist meins.« Er atmete schwer. »Ich will hier einfach alles richtig machen.«
Hatte er gerade wirklich »x-beliebige Coverband« gesagt?! Obwohl ich mich fühlte, als würde mir der Boden unter den Füßen weggerissen, versuchte ich, es mir nicht anmerken zu lassen: »Ben? Ich bin in weniger als zehn Minuten zu Hause, dann nehme ich die Seite erst mal offline. Okay?«
Mit einem hastigen »Lea, du bist die Beste!« legte er auf und ließ mich zurück. Mein Puls raste, und als sich die Türen an der nächsten Haltestelle öffneten, spürte ich mit dem Windzug kalten Schweiß auf meiner Haut. Unfähig mich zu bewegen saß ich da, umkrallte mein Handy und kaute auf meiner Zunge, bis ich Blut schmeckte. »Mein Produktmanager«, hallte es immer wieder durch meine Gedanken. Die Vorstellung, dass Ben von diesem komischen Major Label nur als Produkt gesehen wurde und ihn das nicht mal zu stören schien, machte mich fassungslos. Das sollte jetzt sein wahr gewordener Traum sein?
Mein Blick fiel auf die bis obenhin vollgestopften Einkaufstüten zwischen meinen Beinen, als erneut mein Handy vibrierte, und dieses Mal war ich regelrecht erleichtert, Jules Bild zu sehen. »Hallo Maus, ich wollte nicht stören, nur fragen, wie es deinem Dad geht«, hörte ich ihre sanfte Stimme und musste schlucken. Was würde denn jetzt aus unseren Wochenenden, wenn sich Joyning wirklich auflösten?
»Lea? Geht es ihm wieder schlechter? Was ist los? Wo bist du?«, fragte sie erschrocken, als ich keinen Ton rausbrachte.
»Nein, meinem Vater geht’s besser, zumindest was die Blutvergiftung angeht, aber hast du schon das von Ben gehört?«
Jule war stocksauer. »Oh Mann, hat er dich also doch angerufen? Tobi hat ihm extra gesagt, dass er dich heute bloß mit seinem Scheiß in Ruhe lassen soll.«
Ich hörte sie seufzen und versuchte, es zu erklären: »Er brauchte nur kurz mein Passwort, seins scheint gesperrt zu sein. Ich habe ihm dann angeboten, ihm zu helfen. Du weißt doch, wie blöd so was im Zug immer ist.«
Plötzlich hörte ich im Hintergrund Tobi: »Kann ich sie mal kurz sprechen?«, und ehe ich was sagen konnte, gab Jule ihm schon den Hörer: »Lea, tu mir bitte einen Gefallen und lass dich von dem Typen nicht immer so einspannen. Er hat immer ganz ehrlich gesagt, dass er für so eine Chance über Leichen gehen würde. Über Leichen, Lea, verstehst du? Ben interessiert schon lange nicht mehr, wie es den Menschen in seiner Nähe geht. Jegliche Empathie hat er sich in den letzten Jahren abtrainiert. Ben hat keine Freunde mehr, und das liegt nicht an mir oder den Jungs. Den wichtigsten Menschen hat er vor Jahren verloren, jetzt verschenkt er den Rest.«
Ich hatte Tobi noch nie so wütend erlebt und versuchte ihn zu besänftigen: »Aber ihr beide seid doch beste Freunde?! Das hast du selbst gesagt. Das ist bestimmt alles nur ein Missverständnis.«
Tobi seufzte. »Lea, Freundschaften verändern sich, genauso wie sich Menschen verändern. So ist das nun mal, und dass er Karriere machen will, ist alles gut und schön, aber uns so vor vollendete Tatsachen zu stellen, ist unfair. Er kann nicht verlangen, dass wir alle von jetzt auf gleich unsere Jobs kündigen. Wie soll das denn funktionieren? Das mit der Musikkarriere ist sein Traum, nicht unserer. Und, ja, vielleicht haben wir den Moment verpasst, ihm das mal so deutlich zu sagen, aber was er da grad abzieht, ist scheiße.« Er machte eine kurze Pause. »Und du brauchst ihn auch gar nicht so in Schutz zu nehmen, das hat er wirklich nicht verdient.«
So konnte ich das einfach nicht stehen lassen: »Ich versteh das alles nicht, du hast doch auch gesagt, dass man solche Chancen nutzen muss, und dich gefreut. Oder nicht?«
Tobi räusperte sich, und sein Tonfall klang nun zum Glück wieder sanfter: »Natürlich hört sich so was im ersten Moment wie das ganz große Los an. Aber für so einen Schritt muss man bereit sein, alles aufzugeben. Und wer sagt uns, dass das alles so funktioniert? Wer garantiert uns denn diesen Erfolg, von dem er da redet? Du bist andauernd auf Tour und ständig unterwegs, um dein neuestes Album zu promoten. Termine werden dir nur noch von deinem Plattenlabel diktiert, und du musst zu 100 Prozent nach deren Pfeife tanzen. Die können ihm ja nicht mal sagen, ob er Silvester noch mal mit uns auftreten darf, obwohl dieser Vertrag mit dem Babylon vor seinem Deal abgeschlossen wurde. Wir bekommen da jetzt auch Probleme, wenn Ben nicht singt.« Ich musste schlucken. »Lea, natürlich wird das Rockstarleben immer so glamourös wie möglich dargestellt, und ab einem gewissen Status ist es das sicher auch, aber auf dem Weg dorthin musst du sehr viel ertragen. Und dazu ist einfach nicht jeder bereit. Ben hat nichts zu verlieren. Er hasst seinen Job, hat keine Beziehung und auch sonst gibt es nichts in seinem Leben, dem er auch nur eine Träne nachweinen würde. Er flüchtet sich in seine Songs und seine Texte, weil er die Wirklichkeit nicht mehr ertragen kann. Er lässt doch schon seit Jahren niemanden mehr an sich ran. Für ihn ist alles, was ihn da rausholt, eine Erlösung.«
Mit zittrigen Fingern hielt ich das Handy, und der scheußliche Geschmack von mehr und mehr Blut ließ mir einen Ekelschauer über den Rücken laufen. Konnte er nicht einfach still sein?
»Lea, ich bin sehr froh, dass es deinem Vater besser geht. Jule hat mir alles erzählt. Kümmere dich um ihn, er hat deine wertvolle Zeit sicher mehr verdient als Ben.« Tobis letzte Sätze trafen mich wie ein fester Schlag in den Magen. Was hatte er da gerade gesagt? Jule hatte ihm alles erzählt? Was bei mir zu Hause los war, ging einfach niemanden etwas an! Wie konnte sie mir das nur antun? Ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen.
»Ich bin mit dem Bus unterwegs und muss hier raus!«, war alles, was ich noch rausbrachte, dann legte ich auf, nahm meine Tüten und verließ den Bus an der nächsten Haltestelle.
Auf dem letzten Stück Fußweg hörte nur noch ein helles, monotones Pfeifen in meinem Kopf, sonst war es komplett still in mir. Ich setzte einfach nur noch einen Fuß vor den anderen, und mit jedem Schritt fiel es mir schwerer. Ich konnte kaum noch atmen, meine Lunge war wie eingequetscht. Als würde ich einen schweren Panzer tragen, der sich immer und immer enger um mich schloss und mich dabei mit aller Kraft nach unten in die Tiefe zog. »Nur noch die letzten drei Stufen, dann hast du es geschafft!«, versuchte ich mich selbst zu beruhigen, als ich nicht mal mehr meine Beine spürte.
Wie ferngesteuert ließ ich die Einkaufstasche im Flur fallen und ging an meinen Computer. Es dauerte ein bisschen, bis ich meine Finger wieder bewegen konnte, durch die schwere Last der Tüten war die Blutzufuhr abgedrückt worden. Dann loggte mich auf unserem Webportfolio ein, während oben rechts in der Mitteilungszentrale eine Veranstalteranfrage nach der anderen eingeblendet wurde.
Nach wenigen Klicks poppte das Fenster »Möchten Sie Ihre Homepage under construction setzen?« auf, und während ich auf »Ja, meine Seite auf under construction setzen« drückte, stiegen mir Tränen in die Augen. Erst folgte eine Bestätigung, dann öffnete sich unsere Bandpage: »Diese Seite befindet sich im Umbau. Besuchen Sie uns zu einem späteren Zeitpunkt wieder.« Das war es, jetzt war es wirklich vorbei.
Um mich herum verschwamm alles, und endlich konnte ich es zulassen, ich stürzte in die Tiefe, es war wie ein Blackout. Der freie Fall fühlte sich gut an, einfach alles nur noch geschehen lassen, einfach loslassen und nichts mehr in der Hand zu haben. Was hier passierte, lag nicht mehr in meiner Macht, und der Gedanke machte mich frei. Doch je tiefer ich stürzte, desto mehr stiegen Wut, Angst und Enttäuschung in mir hoch. Am liebsten hätte ich ganz laut geschrien, doch ich blieb stumm.
Das Eis, die Schokolade, die Chips … Ich verschlang alles, was ich gekauft hatte. Immer mehr, immer hastiger. Ich fühlte mich wie eine fremdbestimmte Marionette, getrieben von einer inneren Panik, von einer grenzenlosen Gier. Bei den ersten Bissen nahm ich den Geschmack noch wahr. Das kühle sahnige Eis, die salzigen Chips und die süßen Schaumküsse. Aber ich konnte gar nicht so schnell schlucken, wie ich nachstopfte, und schon nach kurzer Zeit vermischte sich alles zu einem undefinierbaren Brei.
Trotzdem funktionierte es, denn jeder weitere Bissen ließ mich das Gespräch mit Ben ein bisschen mehr vergessen. Ließ die schrecklichen Bilder von meinem Vater ein bisschen mehr verblassen und Jules Vorwürfe leiser werden. Ich wollte nichts mehr spüren, rein gar nichts mehr. Und je mehr sich mein Magen gefüllt hatte, desto weniger Platz war da für Gefühle.
Also schlang ich weiter, ohne zu kauen, einfach nur rein damit – bis ich so voll war, dass selbst das Schlucken schwerfiel. Aber die Gefühle hatten sich zurückgekämpft und ihren Raum gefordert. Plötzlich war mir so, als würde dieser abscheuliche Brei aus fettem, schleimigem Essen und Ängsten aufquellen. Als würde es immer mehr und mehr in mir werden. Ich ekelte mich vor dieser widerlichen Masse in mir, und noch mehr ekelte ich mich vor mir selbst. Was hatte ich nur getan?
Ich musste mich von all dem befreien, und während mir kalter Schweiß auf die Stirn trat, bin ich ins Bad gegangen, habe mich vor die Toilette gekniet, meinen Finger genommen und ihn mir ganz tief in den Hals gesteckt, bis mein Körper sich nicht mehr gegen den Würgereflex wehren konnte. Es war ein seltsames Gefühl, aber es hat den einschnürenden Panzer um meine Brust gesprengt. In dem Moment, als sich der Schwall von Erbrochenem in die Toilettenschüssel ergoss, hatte ich die Kontrolle über mich zurückgewonnen. Ganz allein ich hatte die Macht, zu entscheiden, was in meinem Körper vor sich ging. Und mich erschreckte der Gedanke, wie gut es tat.
Mit der glitschigen Hand wischte ich mir den schmierigen Schleim vom Mund, und als ich aufstand und in den Spiegel sah, traf mich fast der Schlag. Meine Augen waren knallrot, und um sie herum waren ganz viele dunkelrote, ja, fast schon lilafarbene Sprenkel. In meinen Haaren hingen feuchte Brocken und in meinen Mundwinkeln klebte milchiger Brei. Ich sah beschissen aus. Richtig beschissen.
Mit kaltem Wasser wusch ich mir das Gesicht, putzte die Zähne, um diesen widerwärtigen Kotzegeschmack loszuwerden, und drückte die Toilettenspülung. Wieder und wieder, bis auch der letzte Rest des schleimigen Breis verschwunden war. Dann nebelte ich alles so stark mit Raumspray ein, dass ich kaum noch atmen konnte, und verließ das Bad.
Im Wohnzimmer stopfte ich die aufgerissenen Kartons und Packungen, die auf dem Couchtisch herumlagen, in einen großen Sack und verstaute ihn unter dem anderen Müll in der Tonne. Hatte ich das gerade wirklich gegessen? Alles? An den Pudding konnte ich mich gar nicht erinnern.
Obwohl ich alle Fenster und Türen in der gesamten Wohnung aufriss, um den Gestank von Erbrochenem rauszubekommen, war es, als würde er mich verfolgen. Ich roch an meinen Haaren, ja, die stanken genauso widerwärtig wie meine Klamotten. Ich musste duschen.
Das warme Wasser tat unheimlich gut, und ich atmete ganz tief den frischen Duft ein, während ich mich wieder und wieder einschäumte und abduschte. So etwas durfte mir nie wieder passieren. Ich durfte nie wieder so sehr die Kontrolle verlieren, sonst war ich genau wie mein Vater. Das durfte ich auf gar keinen Fall zulassen! Ich war nicht süchtig, ich nicht!
Mit diesem Gedanken stieg ich aus der Dusche, schlüpfte in meine Schlafklamotten und schmierte mir noch schnell die aufgeplatzten Äderchen um die Augen mit Wund- und Heilsalbe ein. Bis zum nächsten Morgen war das hoffentlich schon wieder weg. Na ja, sonst musste da einfach mehr Concealer und Make-up drüber, das bekam ich schon irgendwie hin.
With or without you von U2 war der erste Song in meiner Playlist und lenkte die Gedanken natürlich wieder direkt zu Ben. Schon auf dem Stadtfest, als wir uns noch gar nicht kannten und er das Lied gesungen hatte, war da ein unsichtbares Band zwischen uns. Ich hatte schon da dieses Gefühl, als könnte er in mir wie in einem offenen Buch lesen, und inzwischen war er mir so nah wie niemand sonst. Sogar näher als Jule.
Tief in meine Decke gekuschelt lag ich mit offenen Augen da, starrte Löcher in die Decke und dachte über diese ganze Major-Sache nach. Obwohl ich schreckliche Angst hatte, ihn zu verlieren, konnte ich ihn verstehen. Das war alles, wovon er immer geträumt hatte, und nun wurde es wahr. »Dank mir«, schob ich gedankenverloren hinterher, ja, genau so hatte er es gesagt.
Ich nahm mein Handy und schrieb: »Hallo Großer, es tut mir leid, dass du vorhin so einen Stress hattest. Aber diesem Produktmanager muss doch auch klar sein, dass du nicht sofort an alles denken kannst. Also ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich bin die Königin der To-do-Listen und bis jetzt kannte ich keine mit dem Titel ›Ab heute Rockstar – eine To-do-Liste für den sicheren Einstieg‹. Ich hoffe sehr, dass ihr das klären konntet, und die Seite ist ja jetzt auch erst mal offline. Ich weiß nicht, ob es richtig war, diesen Vertrag einzugehen, aber ich weiß, dass du es ewig bereut hättest, es nicht zu tun. Du bist attraktiv, sehr charmant, manchmal auch arrogant, aber nicht so widerlich, sondern eher auf diese sexy Art, die uns Frauen gefällt … ach, du weißt schon. ;) Und du bist mit einer atemberaubenden Stimme gesegnet, die es verdient hat, gehört zu werden. Es ist also quasi deine gottverdammte Pflicht, Rockstar zu werden. Alles andere wäre eine Missachtung deiner Talente. Ach ja, und ein Mädchen aus der 1. Reihe hast du ja schließlich auch schon. Ganz nebenbei bemerkt, ist dieses Mädchen absolut überzeugt, dass es schon bald sehr voll in deiner 1. Reihe wird. Yepp, dieser unausweichliche Zustand lässt sie zwar jetzt schon etwas eifersüchtig werden, aber das gehört wohl einfach dazu. ;) Drück dich, Lea.«
Ich legte das Handy zur Seite und blätterte nachdenklich durch meinen kleinen Taschenkalender. Wie groß war wohl die Chance, dass Ben Silvester mit den Jungs zusammen im Babylon auf der Bühne stand? Natürlich war es egoistisch, mir das zu wünschen, aber vielleicht wäre ja ein letzter gemeinsamer Auftritt eine gute Möglichkeit, noch mal über alles zu sprechen und sich zu versöhnen. Wütend waren die anderen ja nur, weil jetzt alles so verdammt schnell gehen musste, aber das hatte Ben sicher auch nicht erwartet. Die rauften sich bestimmt wieder zusammen, und bis dahin hatte ich einfach die Hoffnung, dass es mit Silvester klappte.
Ich nahm einen Kuli und trug Tag für Tag ein halbes Kilo weniger ein, dabei musste ich unweigerlich lächeln. Natürlich war mir klar, dass mein Körper in den ersten Wochen kaum Fett verlieren würde, sondern wieder nur Wasser ausspülte, aber es war mir egal. Hauptsache zu Silvester passte der Hosenanzug wieder. Ja, das war das erklärte Ziel.
Ich war schon fast eingenickt, als ich aus dem Augenwinkel sah, dass mein Display leuchtete. Ben! Ganz langsam nahm ich das Handy und kostete den Moment der Vorfreude voll aus.
»Hallo Kleine! Danke für deine lieben Zeilen, das bedeutet mir wirklich viel. So viele neue Eindrücke! Heute habe ich bereits mehr erlebt als im ganzen letzten Jahr. Es ist zwar anstrengend, und der Tag ist noch lang nicht vorbei, da wir grad noch auf dem Weg zu ’nem Meeting sind, aber es macht Spaß, und es ist genau das, was ich immer machen wollte. Die sehen echt was in mir und brennen für die Vision. Obwohl so eine To-do-Liste schon was für sich hätte. ;) Aber ich habe hier ein tolles Team, und Jochen, der mich ab jetzt zu allen Terminen begleitet, wird mir in Zukunft sicher sehr gerne den einen oder anderen Wunsch erfüllen. ;) Schlaf gut, und träum was Schönes, Special. Ach, und egal wie viele Fans es hoffentlich noch werden, du bleibst immer mein Mädchen aus der 1. Reihe.«
Ich las mir seine Nachricht wieder und wieder durch, und von Mal zu Mal freute sie mich mehr. »Mein Mädchen aus der 1. Reihe.« Das hatte er wirklich geschrieben! Krass, so spät noch ein Meeting? Was für ein aufregender Gedanke, wie sie da wohl gleich zusammensaßen und seine Zukunft planten, über Songs sprachen und bestimmt auch über Marketingpläne. Nur war er nun auf der anderen Seite, denn ab jetzt ging es einzig und allein um ihn. Endlich bekam er die Unterstützung für seine Musik, nach der er sich so gesehnt hatte. Nur auf diesen Manager war ich schon irgendwie etwas neidisch. Ab jetzt war wohl er es, dem Ben alles zu verdanken hatte.
Und tatsächlich fiel der Name Jochen in den kommenden Tagen immer häufiger. Wer war dieser Typ, der Ben da scheinbar gar nicht mehr von der Seite wich?
Ich war auf dem Weg zur Statistik-Vorlesung, als ich versuchte, Ben anzurufen. Ich stand noch völlig neben mir und konnte kaum fassen, dass dieses Telefonat mit meinem Vater gerade wirklich so stattgefunden hatte.
Seit ich Ralf im Krankenhaus besucht hatte, herrschte absolute Funkstille zwischen uns. Und jetzt rief er mich mal eben kurz, als ob nie etwas gewesen wäre, aus dem Auto an, um mir zu erzählen, dass er die Feiertage mit Heike und ihren Kindern irgendwo im Schnee verbringen wollte und ich mein Geschenk bekam, wenn wir uns im neuen Jahr trafen?!
Weil ich einfach nur fassungslos war und darauf nichts zu antworten wusste, schob er noch hinterher, dass ich doch eigentlich aus dem Alter raus sei, dass eine Bescherung am 24. sein müsste. Ernsthaft?! Als ob es mir um dieses beschissene Geschenk ging. Das konnte er sich sonst wohin stecken. Stocksauer habe ich aufgelegt, und als er es noch mal probierte, habe ich ihn weggedrückt. Der hatte sie doch nicht mehr alle!
Es klingelte immer noch. Konnte Ben nicht endlich rangehen? Er hatte mir doch vor nicht mal zehn Minuten geschrieben, dass er gleich vor Langeweile sterben würde und es meine Pflicht wäre, ihn davor zu bewahren. Danach trudelten, gefühlt im Sekundentakt, Fotos ein, die seine unzumutbare Situation unterstrichen. Ben in seinen verschiedenen Stufen des Wahnsinns. Daraus konnte man wirklich ein Daumenkino machen. Yepp, vielleicht sollte ich das mal diesem Jochen vorschlagen, wäre doch sicher ein schöner Merchandiseartikel. Wollte Ben mich jetzt etwa zur Bestrafung zappeln lassen, weil ich ihn nicht sofort angerufen habe? Beim Gedanken, dass das wirklich zu ihm passen würde, musste ich den Kopf schütteln. Das war so typisch.
Aber es war wirklich so: Der größte Anteil seines neuen Lebens bestand aus langweiligem Warten. Warten auf den Produzenten, warten auf die Interviewpartner, warten auf Fotografen, warten auf seinen Fahrer, denn ja, der feine Herr hatte jetzt einen Fahrer, und warten auf die Jungs vom Label. Nicht von seiner Seite wegzudenken war bei all dieser Warterei Jochen, der quasi Bens ganzen Tag durchstrukturierte, und wenn es sein musste auch noch die Nacht.
»Was?!«, dröhnte es plötzlich wie aus heiterem Himmel und ziemlich unfreundlich in mein Ohr, und ich schaute erschrocken aufs Display, ob ich mich vielleicht verwählt hatte. Aber, doch, da war Bens und mein Bild.
»Ist Ben zu sprechen?«, fragte ich verunsichert und hatte Angst, bei irgendeinem wichtigen Termin zu stören.
»Nein. Ben hat hier einen Job zu erfüllen. Das bedeutet: fokussieren, am Start sein und abliefern. Sei so gut und zwing mich nicht, noch deutlicher zu werden.«
Ich wollte gerade auflegen, als ich Bens Stimme hörte: »Das Handy, Jochen!«
Dann hörte ich lautes Fluchen, konnte aber nicht alles verstehen, da Ben das Mikro abzudecken schien, bevor es plötzlich still war – und blieb.
»Ben?«, fragte ich leise und in ebenso leisem Flüsterton kam von ihm zurück: »Ja?« Ich schob ein kaum hörbares »Warum flüstern wir?« hinterher, als er laut lachte: »Na, das weiß ich doch nicht. Du hast doch angefangen!«
Jetzt wusste ich schon gar nicht mehr, warum ich ihn eigentlich angerufen hatte, und lief eh schon seit ’ner Minute vor der Tür zum Audimax im Kreis.
»Lea? Bist du noch da, oder kannst du deinen eigenen Text nicht lesen? Ich dachte aus dem Zettel-Stadium sind wir inzwischen raus?«, kam es von Ben, und ich konnte mir nur allzu gut vorstellen, wie sehr er sich dafür innerlich feierte. Dann wurde er wieder ernster: »Hey, lass dich von dem Typen bitte nicht einschüchtern. Jochen ist grad einfach nur etwas leicht reizbar. So sind wir Männer, wenn wir nicht das bekommen, was wir wollen. Den bekomme ich schon in den Griff. Du kannst mich jederzeit anrufen, hörst du?« Da war wieder dieser merkwürdige Unterton, der mir schon öfter aufgefallen war, wenn es um Jochen ging.
Plötzlich rutschte mir »Der Typ ist sicher nur so unausgeglichen, weil’s dem schon länger keiner mehr richtig besorgt hat« raus. Oh Gott, hatte ich das grad wirklich laut gesagt? Ich wäre am liebsten auf der Stelle im Erdboden versunken.
Während ich »Ben, du hast echt keinen guten Einfluss auf mich« hinterherschob, schaute ich mich um, aber ich stand mutterseelenallein vorm Hörsaal. Was ein Glück.
»Mein böses Mädchen. Dann weiß ich ja, woran’s liegt, wenn du mal wieder unausgeglichen bist«, kam es bittersüß aus dem Handy, und ich konnte sein schiefes Grinsen deutlich vor mir sehen. Ich spürte förmlich, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Aber nach so vielen nächtlichen Telefonaten war ich ziemlich gut im Training: »Du verdirbst mich, Ben, wirklich! Und als unausgeglichen würde ich mich eigentlich nicht bezeichnen. Allenfalls etwas müde. Müde, weil ich mir nachts stundenlang die existenziellen Sorgen eines Rockstars anhören muss. Moment, lass mich ein Beispiel finden …« Ich tat so, als müsste ich kurz nachdenken, und fuhr dann in dem ironischsten Tonfall, den ich zu bieten hatte, fort: »Ach ja, vielleicht kannst du mir da ja sogar helfen! Sollte sich der Mann meiner schlaflosen Nächte seinen neuen Anzug lieber von Cinque oder Hugo Boss schenken lassen?«
Stille am anderen Ende. Also setzte ich noch einen drauf: »Ich weiß, ein äußerst schwieriges Problem. Ich bekomme deshalb auch kaum noch ein Auge zu. Influencer zu sein, ist schon ein verdammt hartes Los.«
Ich hörte, dass er sich ein Lachen verkniff, und so konnte ich auf der imaginären Wer-hat-das-letzte-Wort-Liste einen Punkt für mich verzeichnen. Es gelang mir zwar selten, aber es tat uns beiden ganz gut, wenn es dann doch mal passierte. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und überlegte, die Vorlesung jetzt ganz zu schwänzen, aber wir hatten bald Prüfung.
Also beendete ich unser Telefonat mit einem sehr vergnügten »Ich muss jetzt zur Vorlesung, es gibt nämlich auch Menschen, die ihr Geld nicht auf Instagram verdienen«, ging rein und huschte schnell runter zu meinen Mädels, die mir zum Glück einen Platz ganz am Rand frei gehalten hatten.
»Wo warst du denn? Es lohnt sich doch kaum noch«, kam es neugierig von Jenny, und ich flüsterte, dass ich noch kurz telefonieren musste.
»Kurz?« Sie schaute auf ihre Uhr und schob dann grinsend »Ach, etwa mit ihm?« hinterher. Dabei legte sie mir plötzlich Ben mit seinen wild zerzausten Haaren, seinem markanten Dreitagebart, den stahlblauen Augen und vor Sex-Appeal strotzend, formatfüllend auf der Titelseite eines Star-Magazins auf den Tisch. Darüber die fette Schlagzeile: »Dieser heiße Rockstar kriegt sie alle.«
Noch nie hatte ich eine Zeitschrift so hastig durchgeblättert, bis ich endlich zu der Doppelseite kam, die mir fast den Atem nahm. In der Mitte war ein großes Bild von Ben. Nur mit einer zerrissenen, verwaschenen Bluejeans, die auf diese unfassbar sexy Art auf seinen Lenden saß. Mit dem Rücken an eine weiße Wand gelehnt, fuhr er sich gerade mit einer Hand durch die widerspenstigen, nassen Haare und dazu seine düster funkelnden Augen. Ich musste mich echt bemühen, nicht mit offenem Mund dazusitzen, und schaute mir auch den Rest an.
Um ihn herum waren die Bilder von fünf, absolut unfassbar gut aussehenden Frauen platziert. Alles irgendwelche Instagram-Models, denen er angeblich das Herz gebrochen hatte. Gab es so schöne Frauen wirklich? Ich wusste ja eigentlich, dass das alles retuschiert wurde, und mit einem Facetune und ein paar Filtern war heutzutage schließlich alles möglich, aber dieses Bild von Ben kam meinen Erinnerungen an den Morgen nach dem Abi-Ball schließlich auch verdammt nah.
Ich las den Artikel, der Ben als neuen Star am Rockfirmament beschrieb, dem die Herzen der Frauen nur so zuflogen. Er wollte sich aber aktuell auf keine feste Beziehung einlassen, da er sich voll und ganz der Musik widmete. Dazu Werbung für sein erstes Album, das Anfang des neuen Jahres zu erwarten war und auf dessen Veröffentlichung angeblich die ganze Musikbranche wartete. Daneben war ein Abriss seines stressigen Alltags als angehender Megastar.
Okay, der Typ, der diesen Text geschrieben hatte, wusste auf jeden Fall, wie man einen Newcomer zum Rockstar hypte. Von null auf 100 über Nacht.
Ich las den Text ein zweites Mal, denn irgendwas störte mich. Ja, zwischen den Zeilen beschrieb er Ben als unnahbar, selbstverliebt und arrogant. Machte das einen guten Ruf als Rockstar aus? War genau diese Attitude das, was man von einem Star inzwischen erwartete? Waren das diese Ecken und Kanten, die man brauchte, um nicht in der Masse an Talenten unterzugehen? Musste man vielleicht so unbequem sein, um aufzufallen?
Aber es stimmte schon. Tatsächlich waren es immer weniger Momente, in denen er seine Coolness und seine selbstgerechte, arrogante Art ablegte. Doch wenn er es tat, haute mich seine sensible und offene Art jedes Mal einfach nur um. Ich wusste, dass es ein Privileg war, ihn so zu erleben, und umso mehr bedeutete es mir, dass er bei mir einfach nur er selbst sein konnte. Als er neulich nicht einschlafen konnte und sich in seinem viel zu großen Hotelbett einsam gefühlt hatte, hat er mich noch nachts um drei angerufen. Dass ich in seinem ganzen Chaos der rote Faden sei, und selbst in den dunkelsten Hotelzimmern wie ein Sonnenstrahl in der Nacht. Vielleicht fiel es ihm einfach noch schwer, zwischen den beiden Welten zu switchen.
Gedankenverloren blätterte ich weiter durch das Heft, als ich bei der neusten Blitzdiät hängen blieb: Fünf Kilo in fünf Tagen mit der Molke-Kur. Mich schüttelte es zwar schon bei dem Gedanken, aber wenn’s denn was brachte. Warum nicht. Den Hosenanzug hatte ich mir als Motivation an den Spiegel gehangen und daneben die Nachricht von Ben als ausgedruckten Screenshot:
»Hey Special, keine Ahnung, ob das was mit Silvester wird, die Anwälte sind dran, mich aus dem Vertrag mit dem Babylon zu boxen, aber es sieht nicht gut aus. Ich fänd’s sogar ganz lustig. Außerdem haben wir uns schon viel zu lange nicht mehr gesehen. Daumen drücken.«
Und da ich bis jetzt noch nichts anderes gehört hatte, gab ich die Hoffnung noch nicht auf. Ich fotografierte mir die Zutaten-Liste ab und wollte Jenny die Zeitung zurückgeben, aber sie winkte nur ab, deutete auf die Uhr und flüsterte: »Ist doch eh gleich Schluss, behalt sie ruhig.« Also packte ich sie ein und freute mich über meinen ersten Artikel über Ben. Wie aufregend!
Ich musste jetzt doch eh noch mit Steffi in die Stadt, um was für unser Organisations-Psychologie-Projekt zu besorgen, da konnte ich direkt noch kurz bei dm reinhuschen und mir Molke kaufen. Die hatten da doch eigentlich immer alles.
Als wir über den Campus zu ihrem Auto liefen, erzählte Steffi, dass ihre kleine Nichte totaler Ben-Fan sei und ich ihr unbedingt ein Autogramm von ihm besorgen müsste. Das wäre einfach das perfekte Weihnachtsgeschenk. Ich musste an den ersten Abend im Babylon denken und äffte im Kopf Jasmin nach: »Und vergiss bloß nicht, dir noch ein Autogramm von ihm zu holen – äh hä hä hä.« Ich bekam das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht. Tja, das hätte sich damals wohl niemand träumen lassen. Jetzt wollten sogar Menschen, die ihn noch nie getroffen hatten, eins. Wenn ich schon so stolz war, wie musste es dann erst Ben gehen?
Als wir ins Auto stiegen und Steffi das Radio anstellte, traute ich meinen Ohren nicht:
»Und hier habe ich noch etwas ganz Heißes für euch. Der brandneue Teaser zur ersten Singleauskopplung des neuen Shootingstars. Ich hoffe, dass wir ihn zur Veröffentlichung seines Debütalbums im Studio haben und dann mehr als diese 30 Sekunden zu hören bekommen. Die Fotos des aktuell begehrtesten Junggesellen Deutschlands findet ihr übrigens auf unserer Homepage. Aber Vorsicht, Mädels, nicht sabbern. Und jetzt viel Spaß mit: Ben!«
Dann erfüllten die ersten Töne das Auto, und ich konnte mein Herz bis zum Hals schlagen spüren. In dem Moment, als seine Stimme einsetzte, bekam ich eine Wahnsinnsgänsehaut. Sie klang so warm, so rauchig, so nah.
»Ich will mehr …«, seufzte die Moderatorin sehnsüchtig ins Mikrofon, und ich konnte es ihr so sehr nachempfinden.
»Krass, mit deinem Ben geht’s ja voll ab«, hörte ich Steffi und nickte nur, da ich schon das Handy in der Hand hatte, um Ben eine Nachricht zu schreiben.
Es dauerte keine fünf Minuten, da kam seine Antwort als Sprachnachricht, die ich zum Glück über Kopfhörer abhörte: »Wie kann dir das gefallen? Das ist eine beschissene Version und hat absolut nichts mit meinem Song zu tun. Dieser scheiß Produzent hat meinen Song verstümmelt und ihm die Seele genommen. Hier noch schnell ’nen Elektro-Beat drunter, da die Gitarre raus. Es kotzt mich so an, dass Songs im Radio nicht auffallen dürfen! Sie sollen dich beim Spülen unterhalten, aber auf keinen Fall ’ne Message haben, dass du auch nur auf die Idee kommst, mal drüber nachzudenken. Seichte Unterhaltung, bloß nicht rausstechen. Was eine Scheiße!«
Ich verstand zwar nicht so ganz genau, was er damit meinte, da ich das Original ja nicht kannte, habe ihm aber geschrieben, dass ich seine Art, mit Komplimenten umzugehen, immer wieder erstaunlich fand. Seine bunte Reihe von Emojis als Antwort zeigte, dass er sich zumindest wieder eingekriegt hatte.
Meine Meinung, dass sein Song, auch in dieser Radioversion, wunderschön sei, konnte er trotzdem nicht teilen. Also versuchte ich auch nicht weiter, ihn davon zu überzeugen. Einen Ben stimmte man nicht um. Schon gar nicht, wenn es um Musik ging.
Aber jedes Mal, wenn irgendein Sender diese 30 Sekunden spielte, und das war ab diesem Moment etwa alle drei Stunden so, habe ich voll aufgedreht und heimlich gehofft, dass sie auch diese Version veröffentlichen würden. Vielleicht einfach als Bonus-Track. Ich würde sie kaufen.
Zu Weihnachten haben sich die Radiomoderatoren dann sogar einen Spaß draus gemacht, die 30 Sekunden im Loop zu spielen und mit Klingglöckchen oder Blockflöte zu begleiten.
»Wenn du die Radiolandschaft auf deiner Seite hast, dann kannst du in Deutschland alles erreichen. Das Radio macht deinen Song zum Hit und dich zum Star.« Ich ertappte Ben dann doch dabei, dass er die Radioversion inzwischen wohl auch gar nicht mehr so übel fand. »Das ist der Fluch des Demos«, hatte er gelacht, »wenn du einen Song immer wieder in deiner Version gehört hast, kommt dir alles andere erst mal falsch vor.«
Am 31. Dezember saß ich dezent geschminkt, mit locker hochgesteckten Haaren und in meinem zumindest wieder einigermaßen sitzenden Hosenanzug – Shapewear sei Dank – am Rand der völlig überfüllten Tanzfläche und beobachtete Jule, Sophie und die anderen, wie sie ausgelassen vor der Bühne tanzten.
Jule sah mal wieder einfach nur atemberaubend aus. Sie trug ein kurzes schwarzes Kleid, mit einem tief ausgeschnittenen Rücken und dazu High Heels. Bei ihrem makellosen Körper musste sie nicht mal einen BH tragen, beneidenswert. Ihre langen Haare fielen in großen Locken bis knapp über die Schultern, und ihren schlanken Hals zierte eine mattsilberne Kette mit einem kleinen Stern als Anhänger, den sie von Tobi zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte.
Sie schaffte es mal wieder, alle Blicke auf sich zu ziehen, hatte dabei aber diese Ich-bin-glücklich-vergeben-Ausstrahlung, dass keiner der Männer im Raum es wagte, sie anzusprechen.
Auch sonst schien alles wie immer zu sein. Das Babylon war edel geschmückt und sah noch genauso aus wie bei unserem ersten Besuch. Fast ein Jahr war es nun her, dass ich genau hier stand, den Flyer in der Hand hielt, als plötzlich Bens Stimme den Raum erfüllte und es mich ohne Vorwarnung gnadenlos umwarf.
Auch an den Theken herrschte wieder dichtes Gedränge, und an den kleinen Tischen schauten sich verliebte Pärchen tief in die Augen. Nein, nicht mal die Gesichter vor der Bühne hatten sich groß geändert, und wie es sich für eine Band gehörte, waren da Mädels, die den Sänger anschmachteten. Alles war genau wie immer, nur, dass jemand anderes am Mikro stand. Er hieß Stephan, und ich mochte ihn nicht. Ja, das brachte es eigentlich ziemlich genau auf den Punkt.
Die Anwälte aus dem Label hatten Ben aus allen bestehenden Verträgen gekauft, und nun gab es kein Zurück. Mit Tobi und den anderen Jungs hatte er sich zwar ausgesprochen, aber als Band war es das nun gewesen. Sie hatten sich dagegen entschieden, mit ihm auf Tour zu gehen, und so stellte ihm das Label eine neue Band zusammen. Es musste sich komisch anfühlen, so leicht austauschbar zu sein, und ich war mir sicher, dass die Jungs ihre Entscheidung inzwischen auch schon bereuten. Zumindest einige von ihnen.
Ich schaute hoch in die Kuppel über der Tanzfläche, in der sich der Nebel fing und kleine grüne Lichtpunkte tanzten. Es sah so endlos da oben aus, so weit, als könnte man direkt ins Universum schauen. Ob ich Ben davon ein Foto schicken sollte?
Ich sprang erschrocken von meinem Barhocker auf, als mir jemand plötzlich etwas Kaltes in den Nacken drückte. Sophie! Der Eiswürfel, den sie mir hinten in den Blazer gesteckt hatte, rutschte schmelzend meinen Rücken hinunter, dass ich mich nun quietschend wand, um ihn schnell wieder loszuwerden.
»Ich hab dir doch gesagt, dass ich sie dazu bringe, auch mal aufzustehen!«, grinste Sophie nun Jule an und setzte sich amüsiert auf meinen Platz.
Ich wusste ja selber, dass ich in letzter Zeit echt ’ne Spaßbremse war, aber ich konnte nicht einfach so weitermachen, als ob sich nichts geändert hätte. Mich wunderte es, dass ausgerechnet Sophie das so konnte. Klar, bei einigen Songs merkte ich ihr schon deutlich an, dass sie mit ihren Gedanken auch bei Ben war, aber sie versuchte, das Beste aus der neuen Situation zu machen, und hatte mir bereits gestanden, dass sie den Neuen gar nicht so unattraktiv fand.
Ich freute mich für sie, da es Stephan scheinbar ebenso ging. Doch, sie hatte es so sehr verdient, dass jemand ihre Gefühle erwiderte, auch wenn ich mir da echt bessere Typen für sie vorstellen konnte. Es war nicht nur so, dass ich ihn nicht am Mikro sehen wollte, ich konnte seine ganze Art nicht ausstehen. Nicht auf der Bühne und nicht daneben.
Tobi hatte mir, damit die Homepage schnell wieder online gehen konnte, die neuen Fotos und Inhalte geschickt, und ich hatte es fast über Nacht geschafft, sie einzupflegen. Stephan hielt es nicht mal für nötig, sich zu bedanken, stattdessen war ihm der Text zu lasch und das Foto zu klein. Seit diesem Gespräch konnten sie die Homepage wieder allein machen, schließlich hatte ich eh genug mit der Uni zu tun. Diese Erklärung glaubte mir Tobi zwar ebenso wenig, wie ich sie mir selbst abnahm, aber er war mir nicht böse.
Und mal ehrlich, was hätte ich in die neuen Pressetexte schreiben sollen? Wenn ich nicht überzeugt war, wie sollte ich andere überzeugen? Die Stimme und Bühnenpräsenz von Stephan konnte nicht mal ansatzweise mit der von Ben mithalten. Gegen Ben wirkte er da oben wie eine Witzfigur, die ständig und mit einer geradezu peinlichen Unterwürfigkeit um das Publikum warb. Immer dieses beinah flehende »Bekomme ich bitte eure Hände?« oder »Ich würd’ mich so sehr freuen, wenn ihr noch mal mit mir zusammen singen würdet« – ich konnt’s echt nicht mehr hören. Völlig egal, wer vor ihm stand, immer dieselben Floskeln. Es war, als nahm er uns gar nicht wahr.
Ben war aufmerksam. Immer. Ihm entging keine Träne, keine Gänsehaut, kein verlorener Blick. Er studierte uns, jeden Einzelnen – fand unsere verletzlichste Stelle und riss die infizierte Wunde mit einem einzigen Song auf, nur um uns mit dem nächsten ein Pflaster zu schenken, das den Schmerz wie nichts sonst auf der Welt lindern konnte. Dank ihm konnten wir heilen, und das wusste er.
Endlich! Stephan kündigte die nächste Setpause an, so hatte ich wenigstens mal ein paar Minuten Ruhe vor ihm. Die Pausenmusik erklang, und ich spürte, wie sich von hinten zierliche Arme um mich schlangen. Der Duft von ihrem Lieblingsparfüm All about Eve verriet mir, dass es nur Jule sein konnte. Ihre blonden Locken kitzelten meinen Hals, und sie legte ihr Kinn auf meine Schulter.
»Ich bin froh, dass du trotzdem mitgekommen bist, Maus«, flüsterte sie leise und drückte mich noch ein bisschen fester. Ich zog den Bauch ein, lehnte meinen Kopf gegen ihren und schloss die Augen. Natürlich war es komisch, die Jungs da oben mit Stephan zu sehen, aber da Jule das neue Jahr verständlicherweise mit Tobi begrüßen wollte, stand außer Frage, dass wir hier feierten. Und in den Pausen konnte ich sogar fast vergessen, dass nun alles anders war.
Langsam öffnete ich wieder die Augen, ja, jetzt gerade stand da nur der große weiße Flügel, die Instrumente der Jungs und Bens Mikroständer. Wie er wohl den Jahreswechsel verbrachte? Als wir mittags telefoniert hatten, war er mit Jochen gerade unterwegs zu einem Meeting, um das nächste Jahr zu besprechen. Oder vielmehr, um informiert zu werden, wie sein nächstes Jahr aussehen werde. Ben bekam nur noch die Info, wann er wo zu sein hatte. Oder vielmehr, wann Jochen ihn in der jeweiligen Hotellobby erwartete. In diesem ganzen Showgeschäft erschien mir ohnehin kaum etwas ungeplant oder zufällig. Für Spontaneität blieb da überhaupt kein Platz.
Ich dachte drüber nach, wie seine Tage im Moment aussahen: Direkt nach dem Aufstehen in die Maske, dann Fotoshooting und Interview, zwischendurch ein Meeting, danach ein schneller Besuch beim Modelabel, begleitet von etlichen Insta-Storys und abends wieder ins Studio. So ging das Tag für Tag, und ich stellte es mir schon schwierig vor, da nicht den Blick für die Realität zu verlieren.
»Lea, ich habe den ganzen Tag nur mit Menschen zu tun, die mir auf die Schulter klopfen und mir permanent einimpfen, wie unglaublich heiß und angesagt ich bin. Langsam habe ich das Gefühl, dass in den Meetings nur die positivsten Berichte besprochen und analysiert werden. Zumindest, solange ich im Raum bin. Alles, was auch nur in irgendeiner Form negativ ist, dringt gar nicht mehr zu mir durch.«
Und dann hat er mal wieder Jochen zitiert. Was inzwischen echt unterhaltsam war, denn er hatte jetzt sogar schon die Betonung von dem Typen drauf: »Ben, mein Lieber! Du musst dran glauben, ein Star zu sein! Nur dann verhältst du dich wie ein Star. Und nur wenn du dich wie ein Star verhältst, bringst du die Medien dazu, dich als Star wahrzunehmen. Und nur wenn die Medien in dir den neuen Star sehen, berichten sie über dich als Star. Aber wenn sie es tun, fucking hell, dann hast du’s geschafft. Und bist du erst ein Star, verhältst du dich wie ein Mega-Star, and so on and so on. Verstehst du, worauf ich hinaus will, Ben? Es ist ein einfaches Spiel, und wenn du die Regeln beherrschst, ist alles möglich. Schau dich an, Boy, du hast die besten Karten. Du kannst nur gewinnen …« Ich überlegte, ob Jochen das wohl all seinen Acts predigte, aber sein Plan schien bei Ben mehr als nur aufzugehen.
Erst am Tag vorher saß ich abends auf der Couch und hab eher durch Zufall in so ein Starmagazin gezappt. Mein Herz hat sich fast überschlagen, als genau in dem Moment Bens Gesicht bildschirmfüllend zu sehen war. Sein Blick war so selbstsicher, so lässig und smart, als hätte er sein ganzes Leben nichts anderes gemacht, als Interviews zu geben und mit Moderatorinnen zu flirten. Ich hätte so eine scheiß Angst vor der Kamera und davor, dass ich auf irgendeine Frage keine passende Antwort geben könnte.
Bei ihm war das anders, er flirtete mit der Kamera, senkte im richtigen Moment den Blick und antwortete so cool und souverän, dass selbst ich das Gefühl bekam, ihn könnte keine Frage aus der Ruhe bringen. Als ich ihm sagte, wie beeindruckt ich von seiner Präsenz im Interview war, hat er nur gelacht und mir verraten, dass er einmal pro Woche Interviewtraining hat, wo genau solche Szenen und fiese Fragen immer wieder durchgespielt werden. Also alles reines Training, und mal wieder eine perfekt einstudierte Rolle, aber diese war ihm wenigstens auf den Leib geschneidert.
»Wo bist du denn gerade mit deinen Gedanken?«, war die fiese Frage, auf die ich jetzt vollkommen ohne Interviewtraining antworten musste.
Ich schaute Sophie an und war einfach ehrlich. »Ich denke an Ben.«
Sie drückte meine Hand, lächelte mir aufmunternd zu und flüsterte: »Ich weiß, wie sehr du ihn vermisst.«Während Jule uns neue Gläser in die Hand drückte, schüttelte ich den Kopf und antwortete kaum hörbar: »Nein, ehrlich gesagt, weißt du es nicht, aber danke für den Versuch.« Dann stießen wir an.
»Auf dass er heute auch einen schönen Jahreswechsel hat und es ihm gut geht«, kam es von Jule und ich glaubte ihr sogar, dass sie es so meinte. Jetzt, wo Ben auf sicherer Entfernung zu mir war, sprach sie sogar eigentlich ganz versöhnlich über ihn, was es auch zwischen uns wieder deutlich entspannter werden ließ.
»Ja, darauf trinken wir. Auch wenn es für einen Toast auf Ben inzwischen eigentlich Champagner in unseren Gläsern geben müsste«, schmunzelte Sophie, nahm meine Hand und zog mich hinter sich her Richtung Bühne, wo die Jungs gerade wieder ihre Plätze eingenommen hatten.
Ich hatte gerade noch genug Zeit, um das Song-Orakel zu befragen: »Wie geht es Ben heute Abend?«, als in diesem Moment das Intro von Every breath you take erklang. Ich löste mich aus Sophies Hand, und während sie zügig weiter zur Bühne ging, ließ ich mich langsam zurückfallen. Am Rand der Tanzfläche fühlte ich mich eindeutig wohler und setzte mich an einen freien Tisch.
Von hier aus konnte ich beobachten, wie Jule Sophie fragte, wo ich geblieben war, und sich suchend in meine Richtung umdrehte. Als sie mich entdeckte, lächelte ich sie an und formte mit den Lippen: »Alles gut, tanz du mal!«
Sie legte den Kopf schief, ließ sich dann aber doch von Sophie und den anderen aus dem Fanclub mitreißen. Vielleicht ging ich später auch noch nach vorne, aber noch nicht jetzt. Besonders nicht bei dem Song.
Ich sah auf mein Handy. Immer noch keine Nachricht. Vielleicht sollte ich ihm schreiben, dass ich an ihn dachte. Ich konnte ihm ja einfach nur kurz schreiben, dass das hier – ohne ihn – nicht dasselbe war.
Gott, seit wann hatte ich denn so ein Problem damit, ihm eine Nachricht zu schreiben? Er wusste ja, dass wir alle zusammen hier waren, und eigentlich wollte er auch kommen, zumindest als Gast. Aber dann wurden Weihnachten und Silvester einfach so gestrichen. »Das Label will die Veröffentlichung des Albums im Januar halten, das bedeutet Nachtschichten statt Feiertage«, hatte ich direkt seine, oder vielmehr Jochens Worte im Ohr.