Karin Pfolz
AutorInnen der Sinne
Sinne
Der Geruch
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Impressum:
Teil 5 der 6-teiligen Serie DIE SINNE
© Karina-Verlag, Wien
www.karinaverlag.at
Layout, Textüberarbeitung: Karin Pfolz
Covergestaltung: Karin Pfolz, Detlef Klewer
Lektorat: Bruno Moebius
© 2019, Karina Verlag, Vienna, Austria,
ISBN: 978-3-965 4493 98
Karin Pfolz
Der Geruch ist der mir liebste Sinn. Ich liebe den Duft der Reinheit der Luft am frühen Morgen. Erschnuppere, ob es im Winter schneien wird oder ein Sommertag uns mit Hitze erdrückt. Ein gutes Restaurant lockt mich mehr durch den Dampf, der aus dem Küchenfenster strömt, als eine teure Einrichtung.
Am liebsten ist mir jedoch der Geruch der Menschen, die ich liebe. Das ist etwas, das man niemals in einer virtuellen Welt haben wird und auch nicht ersetzen kann. Der Geruch jedes Menschen ist so einzigartig wie sein Wesen und bestimmt oft über Sympathie oder Missachtung.
Wenn ich meinen Liebsten nicht treffen kann, weil unser beider Zeit es uns schwer macht, so nutzen wir oft Skype und Telefon, um einander zu hören und zu sehen. Wir schreiben uns mehrmals am Tag und unterhalten uns im Chat. Doch trotz alldem ist einfach dann diese Sehnsucht da. Auch mitten in solchen Gesprächen, weil mir der Geruch fehlt. Dieser Duft, der zu mir passt, der mich anzieht und mir zeigt, dass ich trotz der vergangenen Jahre begehrt und schön für diesen Menschen bin.
Liebe Menschen, lasst ihn nicht aus, den Geruch, vor allem den, der Euch dann entgegenströmt, wenn ihr liebevoll umarmt werdet. Riecht die Liebe.
Karina Moebius
»Du wirst die EDV-Ausstattung überwachen und nach Amsterdam fliegen!«, fiel der Chef gleich mit der Tür ins Haus, als Barney, der EDV-Fuzzi, das Büro betrat. So früh am Morgen und ohne eine einzige Tasse Kaffee intus zu haben, war das für den immer noch traumwandelnden, knapp dreißigjährigen Mitarbeiter eine Überraschung zu viel.
»Was? Ich? Wieso? Und überhaupt, so gut Englisch kann ich ja gar nicht!«
»Das bekommen wir schon auf die Reihe! Besprechung um Punkt 9 Uhr, bei mir im Büro!«
Ohne weitere Erklärungen ging der Chef seinen Geschäften nach und Barney musste sich erst einmal niedersetzen. Ganz wohl war ihm nicht. Die Aufgabe, die ihm hier ohne sein Zutun übertragen wurde, erschien ihm eine Nummer zu groß. Doch wer sollte diesen Job sonst übernehmen, wenn nicht er? Er war nun einmal der einzige EDV-Mann im Haus. Die Leiterin des Projekts »Neues Bürohaus« hatte sowieso schon alle Hände voll zu tun und von EDV genau null Ahnung. Die Neunuhr-Besprechung mit dem Boss und der Projektleiterin, die zugleich seine direkte Vorgesetzte war, ergab, dass Barney gemeinsam mit ihr nach Amsterdam zur ›Bedarfserhebung‹ fliegen sollte. Damit alle künftigen Online-Prozesse mit dem Headquarter des Unternehmens einwandfrei funktionieren konnten, musste die gesamte EDV-Ausstattung im neuen Bürohaus, vom ersten Kabelkanal bis zum letzten Bildschirm, festgelegten konzerninternen Standards entsprechen. Diese sollten nun mit den Fachleuten in der Zentrale erhoben werden. Gut, so schwierig wie anfangs befürchtet war die Aufgabe doch nicht. Barney würde die Funktion einer Schnittstelle zwischen Headquarter und den ausführenden Unternehmen vor Ort innehaben. Die Verantwortung musste seine Chefin übernehmen. Er war fein raus.
Barney, der eigentlich Bernhard hieß, erhielt seinen Nickname, weil er meistens wie ein Neandertaler daher kam. Vor allem dann, wenn er schon länger nicht mehr beim Friseur gewesen und obendrein ein Formschnitt seines Bartes überfällig war. Gelegentlich verhielt er sich seltsam, man könnte fast sagen, schrullig, und wenn etwas nicht gleich so funktionierte, wie er sich das vorstellte, wurde er fuchsteufelswild. Von Null auf Hundert in nullkommazwei Sekunden.
»In Deckung, der Geröllheimer zuckt aus!«, scherzten die Kollegen meist, wenn es wieder einmal so weit war. Sonst war Barney Geröllheimer, aka Bernhard Pölzl, ein durchaus sympathischer Mensch. Trotz seines verwegenen Äußeren war er im Inneren eher bieder und bescheiden. Manchmal wirkte er direkt kleingeistig und es fehlte ihm an Lebenserfahrung. Barney war Single und ob er schon jemals eine Freundin gehabt hatte, wusste niemand in der Firma. Es konnte sich allerdings auch niemand vorstellen.
»Ich werde übers Wochenende in Amsterdam bleiben, du musst also am Freitag alleine zurückfliegen«, stellte ihn die Chefin vor vollendete Tatsachen. Einem Impuls folgend – und das war entschieden entgegen seinem sonst üblichen Verhalten – fragte er, ob er ebenfalls zwei Tage länger bleiben dürfte. Natürlich ›durfte‹ er, nur die Hotelkosten fürs Wochenende musste er – so wie auch seine Chefin – selbst bezahlen.
*****
Nach zwei Tagen Konzeption und Erhebung des genauen Bedarfs der EDV-Ausstattung für das neue Bürogebäude wurden Barney und seine Chefin vom Leiter der IT-Abteilung des Headquarters zu einem opulenten Abendessen in ein gemütliches Restaurant geladen. Welche Pläne sie denn fürs Wochenende hätten, wurden sie von Duncan, dem Mann aus Schottland, ausgefragt. Die Projektleiterin wollte die Stadt kennenlernen und auf Sightseeingtour gehen. Barney hatte keine Pläne und hoffte, dass er sich seiner Vorgesetzten einfach anschließen konnte. In diesem Moment fragte er sich, was ihn da geritten hatte, als er die Verlängerung der Geschäftsreise ins Auge gefasst hatte. Doch dann fiel es ihm wieder ein. Für einen winzigen Augenblick gab es beim biederen EDV-Mitarbeiter die Vorstellung, dass er einmal in seinem Leben einen Joint rauchen wollte. Und wo wäre dies einfacher – und vor allem legal – möglich als in Amsterdam. Während sich die Chefin und der IT-Boss unterhielten, grübelte Barney, ob er seine Idee laut äußern sollte. Wie dies wohl bei den beiden Herrschaften aus der Chefetage ankommen würde? Darüber hinaus hatte er keinen Schimmer, wo man hingehen und was man dort bestellen könnte, um an die gewünschte Rauchware zu kommen. So formulierte den Satz, den er ja Duncans wegen Englisch sprechen musste, im Kopf dreimal neu und sprach ihn zu seinem eigenen Entsetzen irgendwann tatsächlich laut aus. Schweigen am Tisch. Hatten sie ihn nicht verstanden oder war sein Ansinnen so anrüchig, dass es den beiden anderen die Sprache verschlug? Barney spürte, wie er heiße Ohren bekam, und bereute in der Sekunde, dass er nicht den Mund gehalten hatte.
»Oh, you want to smoke some weed!«, lachte Duncan. Jetzt war es der trinkfreudige Schotte, der sich zu Barneys großer Freude als gelegentlicher ›Gras‹-Konsument outete. Die Männer vereinbarten ein Treffen für den nächsten Abend und Barney sollte endlich seinen ersten Joint rauchen können. Derart bestärkt traute er sich sogar, die Chefin zu fragen, ob sie mitkommen wollte. Und ob sie wollte.
»So eine Gelegenheit bekomme ich so schnell nicht wieder. Und da wir ja ganz offensichtlich einen Insider an unserer Seite haben, kann ja nichts schief gehen!«
Später am Abend nahmen Barney und Verena noch einen Drink an der Hotelbar. Endlich hatte sie ihm das »Du« angeboten. Es kommunizierte sich gleich viel einfacher und freundschaftlicher. Der junge Mann war zufrieden. Was ihm allerdings bald die Stimmung erheblich trübte, war die Tatsache, dass Verena und James, der indische Barkeeper, ganz offensichtlich einen Draht zueinander hatten. Irgendwann fühlte er sich überflüssig und zog sich missmutig in sein Zimmer zurück. Es entzog sich auf ewig seiner Kenntnis, ob hier ›etwas‹ gelaufen war, oder nicht.
Am nächsten Morgen traf Barney beim Frühstücksbuffet auf Verena und sie lud ihn an ihren Tisch ein. Nicht nur das, er erhielt auch das Angebot, an ihrer Sightseeingtour teilzuhaben. Jetzt war er wieder zufrieden, freute sich auf den Tag und noch viel mehr auf den Abend.
Gegen zwanzig Uhr trafen sie Duncan am vereinbarten Ort. Bei einem Glas Bier und einem Happen zu essen konnten ihre müden Beine etwas ausruhen und sie berichteten ausführlich, was sie gesehen und erlebt hatten. Sie waren nicht nur etliche Kilometer kreuz und quer durch die Stadt getigert, sie ließen sich zu einer Grachtenfahrt und sogar einer Stadtrundfahrt mit dem Tuk-Tuk hinreißen. Danach wurde noch das Van-Gogh-Museum ausgiebig besichtigt und jetzt waren beide völlig erledig. Die kleine Pause kam mehr als gelegen.
»Was, ihr wart noch nie im Rotlichtviertel? Das müsst ihr unbedingt gesehen haben!«, stellte Duncan fest und Barney bekam augenblicklich eine Hitzewallung und – so wie am Vorabend – knallrote Ohren.
»So viel Geld habe ich nicht«, stammelte er verlegen. Verena und Duncan sahen erst Barney, danach einander verblüfft an. Dann lachten sie schallend. »Barney, schauen kostet nichts!«, wurde er lachend aufgeklärt.
»Ach so … Ich dachte …«, stammelte er peinlich berührt weiter.
»Alles gut, Junge! Wir wollen ja nur durchgehen!«, lachte Duncan. »Aber wenn du willst, kannst du natürlich … Ich lade dich ein!« Dem armen Barney war beim Thema dieser Konversation schon fast schlecht geworden.
»Nein, nein!«, würgte er mit einem Seitenblick auf Verena hinaus. Sie hatte sich abgewandt, doch am Zucken ihrer Schultern konnte er erkennen, wie sehr sie lachte.
»Also, gehen wir jetzt alle schauen!«, hielt Verena resolut fest. Damit wollte sie Barney aus seiner peinlichen Endlosschleife befreien.
»Was? Du gehst auch mit?«, fragte der irritiert. Sein kleinbürgerlicher Geist konnte sich seine Chefin als Besucherin des Rotlichtviertels beim besten Willen nicht vorstellen.
»Ja, glaubst du, ich bleibe jetzt hier sitzen und warte auf euch? Die werden mich dort schon nicht fressen!« Verenas Bestimmtheit erstickte die in Barney aufkeimenden Widerworte im Keim. Also machten sie sich zu dritt auf den Weg ins Rotlichtviertel.
Barney war fasziniert. Das Flair der alten Häuser in den schmalen Gassen mit Kopfsteinpflaster gefiel ihm. In beleuchteten Auslagen saßen leicht geschürzte junge Frauen und warteten auf Kundschaft. Und obwohl ihn die Neugierde fürchterlich plagte, getraute er sich kaum hinzuschauen. Um diese Uhrzeit herrschte ziemliches Gedränge im Bezirk. Gaffend waren hunderte von schaulustigen Touristen unterwegs. Vermutlich brauchten sie alle etwas zu erzählen, wenn sie wieder nach Hause kamen.
»Falls wir einander verlieren, brauchen wir nur nach Barneys roten Ohren zu schauen! Die kann man nicht übersehen!«, flüsterte Duncan Verena zu und die konnte sich ein Kichern nicht verkneifen.
»Was ist mit mir?« Irgendetwas hatte Barney scheinbar gehört, und als Duncan gerade zu einer kleinen Notlüge ansetzte, war hinter ihnen ein lautes, vielstimmiges und hörbar überraschtes »Boah!!!«, zu hören. Eine Gruppe bayrischer Jungmänner machte vor einer Auslage ein Höllenspektakel. Natürlich wollten Barney, Verena und Duncan wissen, was ihnen da entgangen war, das die jungen Männer derart entgleisen ließ. Bald erkannten sie, dass die nur leicht bekleidete Dame in jener Auslage an die einhundertfünfzig Kilo wog. Barney blieb der Mund offen.
»Boah!«, wiederholte er leise und Duncan witzelte: »Hier gibt es für jeden etwas!«
»Sag, was riecht hier die ganze Zeit so komisch?«, wollte Barney wissen, als er sich wieder gesammelt hatte. Schon seit ungefähr dreißig Minuten war ihm der eigentümliche Geruch aufgefallen, der wellenweise seine Nase irritierte. Er erinnerte ihn an Räucherstäbchen.
»Ach, da geht irgendwo einer mit einem Joint.«, klärte Duncan unbeeindruckt auf und Barney wusste jetzt zumindest, wie so ein Joint roch. Sie marschierten noch eine ganze Weile durch den Rotlichtbezirk mit seinen Auslagen, Peepshows, Sexshops und amüsierten sich vor den Auslagenfenstern der berühmten ›Condomerie‹. Hauptsächlich waren es Duncan und Verena die ihren Spaß hatten. Barney war einmal mehr eher verlegen als amüsiert und seine Ohren explodierten fast. Alle paar Minuten blieb er stehen, seine Nasenflügel blähten sich, er schnupperte intensiv und freute sich, dass er den Geruch eines Joints erkannte. Er sah aus wie ein Kater beim Flehmen.
Sie schlenderten noch ein paar Minuten durch schmale Gässchen, um schließlich wieder an einem der zahlreichen Kanäle zu landen. Duncan machte vor einem Coffeeshop halt. Es war so weit. Barney war fast am Ziel seiner kühnsten Träume angelangt. Als sie in den Raum traten, umhüllte sie sofort dichter Nebel und ein intensiver Geruch von Cannabis raubte ihnen den Atem. Verena grüßte mit einem Hustenanfall. Augen und Nase mussten sich erst an das gewöhnen, was hier geboten wurde. Unzählige Menschen saßen dicht an dicht auf bequemen Hockern bei niedrigen Tischchen oder auf dem Boden. Duncan fand ein freies Fleckchen und wies Barney und Verena an, sich hier niederzulassen. Er wollte ›Räucherstäbchen‹ besorgen. Barney war jetzt schon ganz seltsam zumute und auch Verena schien nicht gerade euphorisch zu sein. Als Duncan mit einem Joint erschien, ließ er sich ebenfalls auf dem Boden nieder.
»Nur einer für uns alle drei?«, fragte Barney etwas enttäuscht.
»Wenn du das Zeug noch nie geraucht hast, dann wird es schon reichen.«, klärte Duncan wissend auf.
Der Joint wurde feierlich angeraucht und mehrfach im Kreis gereicht. Die Wirkung setzte nach dem zweiten Zug ein. Barney bekam Herzklopfen und seine Kehle wurde ganz trocken. Das Umfeld nahm er nur noch wie in weiter Ferne wahr. Verena hatte nach ihrem zweiten Zug genug und so rauchten Barney und Duncan den Joint alleine fertig. Barneys Mund und Kehle wurden immer trockener und er hörte und spürte sein Herz wie verrückt bis zum Hals klopfen. Plötzlich hatte er eine kleine Flasche Mineralwasser in der Hand. Er konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, woher sie kam. Da sein Durst extrem war, machte er gierig ein paar Schlucke aus der Flasche und stellte zu seinem Entsetzen fest, dass sich das Wasser eisig kalt anfühlte und in seiner Kehle zu Eiswürfeln gefror, die fast im Hals stecken blieben. Barney hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, doch irgendwann brachen sie Richtung Hotel auf. Leicht schwankend folgte er Verena und Duncan vor die Tür und wäre von den ersten beiden Atemzügen an der frischen Luft fast ohnmächtig geworden. »Schaffst du es alleine oder soll ich euch begleiten?«, fragte Duncan. Er selbst schien gar nicht mehr trittsicher zu sein und so lehnte Verena ab. Sie hakte sich bei Barney unter und leitete ihn durch die scheinbar dunklen Amsterdamer Straßen zum Hotel. Barney fühlte sich seltsam. Ihm war etwas schwindelig, doch seine Sinne schienen hellwach. Ihm war, als könne er die ganze Stadt wahrnehmen und plötzlich hatte er Angst.
»Was ist? Komm weiter!«, hörte er Verena schon zum dritten Mal genervt fragen. Er hatte das Gefühl, dass sie verfolgt wurden, und presste seinen Rucksack, der an der rechten Schulter hing, fest an sich.
»Da ist niemand! Komm schon!«
Erst als das Hotel in Sichtweite gelangte, ließ Barneys Paranoia etwas nach und langsam fühlte er sich wieder sicherer.
»Gehen wir noch an die Bar?«, fragte er.
»Ja, ich schon, aber ob es für dich eine gute Idee ist, weiß ich nicht!«, antwortete Verena zweifelnd.
»Na sicher geh ich auch!«, beharrte Barney stur und er verstand überhaupt nicht, wieso die Frau an seiner Seite an ihm zweifelte.
»Gut, aber ich sag’s dir gleich: Du bekommst nur Orangensaft!«, beendete sie die Diskussion.