Wie ich als COWGIRL die WELT bereiste und ohne LAND und GELD zur BIO - BÄUERIN wurde
AUFGESCHRIEBEN MIT HANS VON DER HAGEN
Alle Schilderungen in diesem Buch basieren auf subjektiven Erinnerungen. Die Dialoge geben nicht wortwörtlich, sondern sinngemäß vergangene Gespräche wieder. Die meisten Namen und die Merkmale einzelner Personen wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre geändert.
1. Auflage 2019
© 2019 DuMont Reiseverlag, Ostfildern
Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat: Regina Carstensen, München
Gestaltung und Illustrationen: Annegret Ritter, Marburg
Fotos: Anja Hradetzky
eISBN:978-3-6164-9103-5
ISBN 978-3-7701-6684-8
www.dumontreise.de
Für alle, die ihren Traum leben
INHALT
Prolog
1Kritischer Blick in den Kühlschrank
2Philosophieren und Pferdefreiheit
3Pferdetussi-Trauma
4Ab nach Eberswalde
5Hündisch lernen
6Hörsaal-Fieber
7Großstadtliebe
8Praktikumsorakel
9Lederhosenhund
10Wüste Kirche
11Gott zwischen Möhrchenpflanzen
12Skorpion
13Mit dem Zug ins Abenteuerland
14Trecker unter Wasser
15Lernen mit Leo
16SMS von Janusz
17Gefühlswirrwarr
18Flughund
19Ranchwahnsinn
20Rollin’, rollin’, rollin’
21Wut um sechs
22Edmonton
23Meeting the Elements
24Eingehüllt im Winterwunderland
25Schneestraßen-Abenteuer im Dunkeln
26Masterclass im Westernreiten
27Niagara
28Herz aus Scheiße
29Bullen im Anmarsch
30Todesangst unter Kühen
31Dunkle Tage auf der Alp
32Flaschenpost im Schwimmbad
33Eine Woche Glück
34Einzug ins Schloss
35Kühe kaufen ohne Geld
36Horror
37Sonne unterm Dach
Dank
Über die Autorin
Bilder
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Prolog
Plötzlich klingelte das Handy. Da ich bei den Tieren war, wollte ich nicht drangehen. Doch es läutete hartnäckig. Genervt nahm ich ab. Das Veterinäramt.
»Sind sie Frau Hradetzky?«, fragte jemand.
»Ja«, sagte ich.
»Gut, dann hören Sie mal zu. Wir haben in Ihren Papieren gesehen, dass einer der Bauern, von denen Sie Tiere gekauft haben, diese nicht hätte verkaufen dürfen. Er hat sie nicht auf Rindertuberkulose testen lassen.«
»Puh«, sagte ich ratlos. »Warum denn das nicht?«
»Manche Bauern wehren sich gegen den Test, weil er unter die Haut gespritzt wird. Die sehen das als verkappte Impfung. Es besteht das Risiko, dass Sie nun Tuberkulose nach Brandenburg einschleppen. Darum sperren wir Ihren Betrieb.«
»Wie, Sie sperren ihn? Das verstehe ich nicht. Was bedeutet das?«
»Na ja, Sie dürfen Ihre Milch nicht mehr in der Molkerei abliefern.«
»Wir dürfen unsere Milch nicht mehr ...? Wie soll das gehen? Was sollen wir denn mit der ganzen Milch machen?«, fragte ich entgeistert.
»Sie können die Milch schon aufbewahren.« Die Stimme des Veterinäramtsmitarbeiters klang auf einmal sanfter, »Wenn Sie nachweisen, dass die Tiere gesund sind, können Sie sie ja noch verkaufen.«
»Und wie lange dauert das?«
»Der Tierarzt muss zu Ihnen kommen und Tuberkulin spritzen. Zugleich misst er die Hautdicke an der Einstichstelle. Nach drei Tagen wiederholt er Letzteres. Wenn die Haut nicht anschwillt, ist alles okay.«
Ich erstarrte und legte das Telefon auf. Sollte das jetzt das Ende sein? Das war ja unglaublich. Ich war total geschockt. Ich ging zu Janusz, stammelte nur etwas von Tierarzt und Test und Sperre. Er verstand nichts. Mir traten Tränen in die Augen, ich konnte nicht weiterreden und musste rausgehen. Ich drehte eine große Runde. Die Tränen kullerten einfach nur so herunter. Was war das denn für eine Scheiße? Ich hatte doch alles gemacht, was gemacht werden musste. Alles war durchorganisiert und vorbereitet. Wer hatte denn jetzt diesen Fehler zu verantworten? Warum mussten wir den ausbaden? Was, wenn jetzt eine Kuh positiv war? Das meldete dann der Tierarzt dem Amt – und der ganze Bestand müsste gekeult werden. All unsere Kühe, die wir mit dem Geld aus den Kuhanteilen bezahlt hatten – man würde sie dann erschießen.
1
Kritischer Blick in den Kühlschrank
Es war schon fast dunkel, als ich ankam. Meine Eltern wohnten gleich am Eingang eines Dorfs am Rand des Erzgebirges. Ein angenehmer Ort, der große Reitplatz, spitze Dächer und Giebel mit Schindeln. Ich öffnete das Tor und parkte in der Einfahrt.
Ich wartete einen kurzen Moment, bevor ich ausstieg. Erleichtert, dass die Fahrt endlich vorbei war, aber auch wissend, dass die Besuche bei meinen Eltern mitunter spannungsreich sein können. Langsam öffnete ich die Autotür und atmete tief die laue Luft des Julis ein, durch die der Rauch frisch befeuerter Grills zog. Es war Freitagabend. Gartengelächter und Sommerduft. Der Geruch meiner Heimat, wenn es draußen warm war. Ich schloss die Autotür und lief die vertrauten letzten Meter zum Haus meiner Eltern.
Als ich am Nachbarhaus vorbeikam, flackerte ein Licht auf. Der Bewegungsmelder am Haus meiner Großeltern funktionierte also noch. Im Lichtschein konnte ich ihre Blumenbeete erkennen. Daneben ein Gartenstück, das meine Uroma als Selbstversorgerin bewirtschaftete. Früher wuchsen dort Kartoffeln, Möhren, Bohnen, Erbsen – heute reichte es nur noch für den Nachtisch: Erdbeeren, Himbeeren und was weiß ich für Beeren.
Den Besuch bei meinen Eltern hatte ich hinausgeschoben, hatte mich davor gedrückt hierherzufahren. Aber dann war es doch an der Zeit gewesen. Ich erreichte das sandsteinfarben verklinkerte Haus mit seinem dunkel vertäfelten Giebel. Kein klassisches Erzgebirgshaus mit spitzem Dach und Schindeln, aber es fügte sich gut in die umstehenden Bäume und den Garten ein. Eine Supermarktkette hatte es einst als Fertighaus im Angebot. Meine Eltern griffen zu.
Zur Eingangstür führte eine kleine Steintreppe an der Seite des Hauses empor. Ich klingelte und klopfte gleichzeitig an das Fenster neben der Tür. So machte ich es immer, damit meine Eltern wissen, dass ich es bin. Einen Moment lang blieb es still, dann hörte ich Schritte. Durch das Fenster sah ich, dass im Flur Licht anging. Mein Vater machte die Tür auf, sagte freundlich »Hallo« und zeigte ein kleines Lächeln. Richtig zu freuen schien er sich nicht. Wahrscheinlich fürchtete er den Stress, der unweigerlich bei meinen Besuchen aufkam. Ich antwortete auch »Hallo«, schon ging er wieder ins Wohnzimmer zurück, wo der Fernseher lief. Ich zog mir die Schuhe aus und spazierte in die Küche. Meine Mutter werkelte geräuschvoll am Spülbecken. Als ich eintrat, drehte sie sich zu mir um und lächelte. Dann wendete sie sich wieder dem Abwasch zu. »Wie geht’s?«, fragte sie.
»Gut.«
»Wie war die Fahrt?«
»Auch gut. Ich bin schnell durchgekommen.«
Knappe Dialoge sind die Spezialität unserer Familie. Weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte sagen können, machte ich einige Schritte zum Kühlschrank. Er ist direkt neben der Tür in der Einbauküche versteckt.
»Gibt’s etwas zu essen?«
»Schau einfach.«
Meine Frage war eigentlich eher der Versuch einer Kommunikation. Ich hatte gar keinen Hunger. Aber immer wenn ich nach Hause kam, zog mich der Kühlschrank auf geradezu unheimliche Art an. Wahrscheinlich ein Ritual aus Urzeiten: Reichten die Vorräte zum Überleben, oder musste man doch noch einmal auf die Jagd gehen?
Ich öffnete den Kühlschrank. Im Türfach rumpelte es. Genau, eine Dose mit Sprühsahne stand da. Theoretisch könnte es noch die sein, die ich schon bei meinem letzten Besuch gesehen hatte. Sprühsahne hält sich ewig, zumindest, wenn man den Kopf nach Benutzung schön auswäscht. Sie kam gewöhnlich auch nur dann zum Einsatz, wenn es zum Nachtisch Mandarinen aus der Dose gab. Oben die Eier, die sicher meine Mutter aus der Packung in das dafür vorgesehene Fach geräumt hatte. Zweifellos waren sie besonders günstig gewesen. Sofort stach mir die aufgestempelte 3 ins Auge. Die Eier stammten also aus Käfighaltung. Aber das war meinen Eltern egal. Sie jagten oft, aber nur die nächsten Schnäppchen im Discounter. Worauf sollte man denn auch sonst achten, wenn nicht auf den Preis?
Das Päckchen Sahne im Tetra Pak konnte ich mir nicht erklären.
»Wofür brauchst du denn die Sahne?«, fragte ich meine Mutter erstaunt.
»Für den Marmorkuchen.«
»Ah, okay.«
Marmorkuchen machte sie manchmal mithilfe einer Backmischung. Darum stand da sicher auch die Margarine, die günstiger war als Butter und natürlich nicht so schnell ranzig wurde.
Neben der Margarine lag der eingeschweißte Emmentaler und eine Flasche Ketchup. Beide Komponenten wurden gewöhnlich samstags auf die Spaghetti gegeben. Ich spürte sofort wieder das leichte Brennen des Käses auf der Zunge.
Ein Fach tiefer überraschte mich eine spezielle Wurstpackung. »Ihr esst immer noch Bärchenwurst?«, fragte ich irritiert. Auf der Packung war ein fröhlich grinsendes Tier abgebildet, was mit der Wirklichkeit im Inneren der Packung nicht viel zu tun hatte. »Erinnerst du dich noch, wie wir in den Ferien einen Schweinehof besuchten? Tatjana musste doch gleich wieder aus dem Stall raus und kotzen, weil es so stank.« Aus diesen armen Tieren wurde die Wurst gemacht.
Meine Mutter antwortete nicht, sondern ächzte nur genervt.
Ich verließ die Küche und ging in mein altes Zimmer. Zehn Minuten – und schon herrschte Krieg. Das war eigentlich der Normalzustand. Es wäre eine Überraschung gewesen, wäre es heute anders gekommen. Ich ließ mich auf mein Bett fallen.
Der Blick in den Kühlschrank, er hatte mich deprimiert. Ich sah mich wieder zu Schulzeiten: Anja, das Aldi-Kind. Vor dem Unterricht futterte ich meine Zimt-Cornflakes mit kalter 1,5-prozentiger H-Milch, nach der Schule rührte ich Nudeln, denen Pilzsoße in Pulverform beigemengt worden war, mit heißem Wasser an. Oder machte Nasi Goreng in der Mikrowelle warm. Damals nahm ich es hin, weil ich es nicht anders kannte. Jetzt, wo ich begriffen hatte, das Lebensmittel Mittel zum Leben sind, kam es mir vor wie eine verpasste Lebenschance. Darum diese Wut.
Dass in meiner Familie überhaupt mal gekocht wurde, erlebte ich nur selten. Woran lag das? Immerhin war meine Oma mütterlicherseits eine fantastische Köchin, zusammen mit meinem Opa besaß sie eine Bäckerei. Leider starb er sehr früh, meine Mutter war gerade erst achtzehn geworden. Selbst zu kochen, geriet da zur Nebensache. Solange ich mich erinnern konnte, stand meine Mutter höchstens sonntags etwas länger in der Küche, wenn die panierten Schnitzel in die Pfanne gelegt wurden.
Gingen wir auswärts essen, entstand bei ihr manchmal wohl eine Sehnsucht nach anderem Essen. Zumindest wirkte es auf mich so, wenn sie nach einem Rezept fragte oder bemerkte, dass etwas sehr lecker war. Doch dabei blieb es dann auch. Sie fand keinen Zugang, das Anderskochen selbst umzusetzen.
Mein Vater rebellierte nie, wenn es um das Essen ging. Er aß, was auf den Tisch kam. Obwohl – einmal schlug er vor, dass es doch mal diesen Reis bei uns geben könnte, der nicht aneinander pappt. Er meinte bestimmt Basmatireis, wusste aber natürlich nicht, dass er so heißt. Meine Mutter kaufte nur No-Name-Beutelreis, der ordentlich klebte, wenn man die Tüten nach dem Kochen aufschnitt. Doch mein Vater und seine Geschmacksnerven hatten keine Chance. Lebensmittel sind aber Mittel zum Leben. Kein bloßer Füllstoff für den Körper. Sie verdienen Aufmerksamkeit. Was ich gerade wieder im Kühlschrank gesehen hatte, zeigte mir, dass sich hier wahrscheinlich nicht mehr viel ändern würde. Aber ich wollte mich ändern, damit ich am Ende nicht genauso stecken blieb wie sie.
2
Philosophieren und Pferdefreiheit
Das Verhältnis zwischen meinen Eltern und mir ließ sich leicht zusammenfassen: Sie fanden mich anstrengend und ich sie. Oft wirkte es, als stünde zwischen uns eine unsichtbare Mauer. Wir konnten uns sehen, aber nicht berühren. Nicht einmal richtig hören.
Ich weiß gar nicht, wann das anfing. Ich kannte es gar nicht anders. Meine Tante erzählte einmal, dass es früher besser war. Bis ich etwa anderthalb Jahre alt war. Da habe es einen Knick gegeben, den sich meine Tante selbst nicht erklären konnte. Jedenfalls waren beide Eltern ständig genervt – von mir, aber auch von meiner Schwester Tatjana. Das zeigte sich in vielen Details. Wollte ich Keyboard üben, hieß es: »Setz die Kopfhörer auf.« Gitarre durfte ich nur spielen, solange sie noch nicht von der Arbeit zurück waren. Beim Abendessen wurde nicht gesprochen. Da liefen Nachrichten, die bei uns wichtiger waren als das, was uns beschäftigte. Bekamen meine Schwester oder ich beim Essen mal einen Lachanfall, wie es Kinder manchmal bekommen, mussten wir den Tisch verlassen.
Meine Mutter wirkte so, als habe sie ihre Gefühle einfach abgestellt. Sie weinte nicht einmal mehr. Höchstens aus Wut. Niemanden ließ sie an sich heran, auch nicht uns Kinder. Manchmal fragte ich mich, ob sie vielleicht in jungen Jahren eine Vollkrise mit mir hatte. Und es dann später einfach nicht mehr richtig packte.
Es war an einem Weihnachtsfest, als Tatjana und ich uns ein Herz fassten. Ich kann nicht mehr sagen, aus welcher Situation heraus das geschah, aber wir fragten unsere Mama: »Warum umarmst du uns nie?«
Sie stutzte und sagte erst gar nichts. Nach langen Sekunden antwortete sie: »Seit mein Vater gestorben ist, lass ich niemanden mehr an mich ran. Seitdem muss ich klarkommen.«
Mit meinem Vater war es nicht einfacher. Während der Pubertät sprach er einmal ein halbes Jahr nicht mehr mit mir. Ja, mit gar keinem. Er lebte wie ein Geist in der Familie, aß mit uns, aber wenn ich ihn etwas fragte, reagierte er nicht. Er schaute mich nicht einmal richtig an. Quälend oft hatte ich mir überlegt, warum mein Vater nichts mehr sagte. Hatte er mich beim Tanz-in-den-Mai-Feuer rauchen gesehen? Mochte er mich deswegen nicht mehr? Fand er mich jetzt eklig? All das wurde nie in unserer Familie thematisiert. Genauso wie auch alles andere totgeschwiegen wurde: die Vorliebe meines Opas für den Alkohol. Seine Vergangenheit, die Flucht aus Ostpreußen. Ich war meist sehr aufgedreht, heute würde man sagen: hyperaktiv. Das nervte alle, umso mehr, weil ich ständig barfuß durch die Gegend lief.
Wenn es mich weit wegzog, setzte ich mich mit meiner Großcousine Sabine, die auch in dem Ort wohnte, in einen Trabbi. Mit ihm fuhren wir um die ganze Welt, in den Wilden Westen, in den kühlen Norden und den heißen Süden. Nur in den Osten zog es uns nicht so sehr. Das war die Sowjetunion. Der Trabbi konnte sogar schwimmen. Zumindest in unserer Vorstellung, denn tatsächlich war er ausrangiert und stand ziemlich eingewachsen in einer Hecke.
In der Schule gehörte ich zu den Alternativen. In den Pausen saßen wir philosophierend im Park, schauten in die Baumwipfel und träumten von Freiheit. Und weil das nicht nur eine kurze Hippie-Marotte war, gründeten wir eines Tages die philosophische Runde an unserer Schule. Einmal pro Woche lasen wir mit unserem Ethiklehrer Werke von Philosophen: Schopenhauer oder Nietzsche. Zu Hause gab es auch weniger schweren Stoff: Else Lasker-Schüler und andere literarische Expressionisten. Sie alle fassten unsere Gedanken in Worte und inspirierten uns. Auch zu Dingen, die aus Sicht der Schulleitung dann schiefgingen. Einmal veranstaltete unsere philosophische Runde eine Lesenacht, in der wir uns unsere Lieblingsausschnitte vortrugen. In der Pause hüpften wir Dissonanzen singend durch die leeren, dunklen Gänge der Schule – welche Freiheit! Der Hausmeister wusste nichts davon, und so klopfte nach der Pause in der nächsten Leserunde ein Sondereinsatzkommando in Totalmontur an der Tür. Der Hausmeister dachte, jemand sei in die Schule eingebrochen und hatte die Polizei alarmiert. Der Ethiklehrer konnte der Polizei erklären, dass wir uns mit den Fragen des Lebens beschäftigten, und wir lasen weiter.
Die Runde wurde mehr und mehr zu meinem Freundeskreis. Wir teilten alles, was uns beschäftigte. Uns einte, dass wir nicht den vorgezeichneten Weg gehen wollten: studieren, arbeiten gehen, Geld verdienen, Auto kaufen, in den Urlaub fahren. Aber was war die Alternative? Meine Freundin Anne und ich dachten viel über eine Insel nach, auf der Anarchie herrschen würde. Könnte ein Zusammenleben dort ohne Hierarchien funktionieren? Ging es überhaupt ohne äußere Zwänge? Brauchte man Geld? Konnte man es schaffen, sich unabhängig zu ernähren, die Kinder auszubilden, als Gemeinschaft zu leben, ohne dass einer das Sagen hatte? In mir entstand der Traum von einem anderen Leben.
Das Wichtigste aber waren für mich in meiner Kindheit und Jugendzeit die Pferde. Schon im Grundschulalter ging ich zum Reitstall im Dorf. Ein paar Ponys gab es dort, die gerne buckelten. Rodeo light. Auf ihnen lernte ich, oben zu bleiben und mich auf dem Tier durchzusetzen. Aber als irgendwann der Vereinsbeitrag angehoben wurde, wollten meine Eltern ihn nicht mehr zahlen. Ich machte mich auf die Suche nach einem anderen Stall und fand ihn am anderen Ende des Dorfes.
Der Stall gehörte Christoph, einem Typen mit ergrautem, dünnem Pferdeschwanz. Er trug Jeans und Stiefel und hatte den Hof Ende der Neunzigerjahre gekauft. Natürlich hätte er nie Hof gesagt, er sprach von der Blue Horse Ranch, weil er Westernpferde besaß. Die meisten von ihnen waren Blue Roans, Blauschimmel: Sie hatten einen bläulich-grauen Farbton und waren sonst fast weiß.
Unser Deal war: Ich versorgte Christophs Pferde täglich und durfte dafür reiten, wann ich wollte. Er wurde eine Art Ziehvater, der mich aus dem Pubertätsstress rettete. Ab und an nannte er mich sogar seine Adoptivtochter, auch vor anderen Leuten. Warum nicht?! Immerhin verbrachte ich die meiste Zeit neben der Schule auf seinem Hof. Meine Eltern bekamen davon kaum etwas mit. Weil wir so wenig miteinander sprachen, wussten sie nicht, dass ich mich dort jeden Tag um sechs Pferde kümmerte.
Die Tiere kamen meinem Drang nach Freiheit sehr entgegen, denn sie glichen den öden Schulalltag aus. Jeden Tag lief ich nach der Schule den Weg bergauf durchs Dorf und überquerte am Ende eine Wiese, um zu Christophs Ranch zu gelangen. Seine Hunde rannten mir schon entgegen, sobald ich über einen kleinen Bach sprang, der dort entlangfloss. Die Pferde waren oft draußen, so konnte ich ungestört den Stall ausmisten und Futter in die Raufen füllen.
Es gab einen Roundpen, eine runde Einzäunung, in der ich frei mit den Pferden arbeiten konnte – nicht nur reitend. Ich entdeckte, dass die Tiere ganz unterschiedlich reagierten, je nachdem, wie ich ihnen entgegentrat. Ich musste dazu nicht einmal meine Stimme einsetzen. Es reichte, sich ihnen auf eine bestimmte Weise zu nähern, wenn ich wollte, dass sie stoppten oder in eine neue Richtung gehen sollten. Schwenkte ich die Arme in einer bestimmten Weise, änderten sie ihre Geschwindigkeit. Es beeindruckte mich, dass die Pferde meine Körpersprache verstanden und dass ich mit ihnen intuitiv umgehen konnte. Und natürlich übte ich das Westernreiten. Zweimal in der Woche trainierte mich Christoph auf dem Reitplatz im Dorf. Sonst ritt ich allein durch die angrenzenden Felder und Wälder. Besonders schön war es im Winter: Ohne Sattel auf dem blanken Pferderücken über die verschneiten Äcker zu galoppieren, das befreite meine Seele.
2004, kurz vor dem Abi, kam es für mich jedoch zur Katastrophe: Christoph zog nach Bayern, weil er dort mit seinen Westernpferden mehr Geld verdienen konnte. Er wusste, wie sehr mich das traf, und bot mir an, mein Lieblingspferd dazulassen, wenn meine Eltern den Unterhalt zahlen würden. Doch das war ihnen zu heikel. Warum, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht wollten sie es einfach nicht, vielleicht konnten sie es sich nicht leisten. Oder sie nahmen an, ich würde mich nicht richtig um das Pferd kümmern. Wie gesagt, Reden steht bei uns in der Familie nicht so hoch im Kurs. Ich hatte keine Idee, wie ich das Problem lösen sollte. Und so fiel ich in ein tiefes Loch, als Christoph fort war. Es wirkte sich sogar körperlich aus: In der elften Klasse fing ich plötzlich an zu stottern. Es war richtig krass. Gewöhnlich redete ich extrem schnell. Aber nun bekam ich oft kein Wort mehr heraus. Es ging mir schon mal als kleines Kind so. Meine Eltern wollten dann, dass ich in solchen Momenten das Wort »Zitrone« sagte. Mich nervte das total, weil Zitrone ja nicht das Wort war, an dem ich mich gerade abrackerte. Die elterliche Taktik zielte lediglich darauf ab, mich von meinem »äh ... äh ... äh« abzulenken.
Dass das Stottern gerade in der elften Klasse mit so großer Wucht zurückkehrte, war sicher nicht allein dem Weggang von Christoph geschuldet. Hinzu kam, dass genau zu dieser Zeit auch die Kurse in der Oberstufe anders eingeteilt wurden. Die neuen Mitschüler waren ein Problem für mich. Zumindest dann, wenn ich etwas sagen musste. Auch die Lehrer taten sich schwer, mit dem Stottern umzugehen. Vor allem im Mathe-Leistungskurs setzte mich der Lehrer unter Druck: »Was willst du denn jetzt sagen? Was ist denn nun? Du hast dich doch gemeldet! Sag mal jetzt!«, drängte er mich. Da wurde es erst recht schlimm. Die anderen lachten, und ich konnte gar nichts mehr herausbringen. Es ging schnell bergab mit mir: Ich verstummte regelrecht, zog mich zurück. Auch daheim fehlte mir ein Ventil. Meine Eltern schickten mich zur Logopädin, aber die konnte mir nicht weiterhelfen: Bei ihr stotterte ich ja nicht, weil der psychische Druck durch die Mitschüler fehlte.
3
Pferdetussi-Trauma
Der Abi-Sommer stand bevor. Nach den Prüfungen wollte ich weg, das schweigende Zuhause verlassen, die Welt erkunden. Nur: wohin? Und wie? In die großen Städte drängte es mich nicht, ich wollte ländlich leben. Ich entschloss mich, ein Freiwilliges Ökologisches Jahr (FÖJ) zu machen. Die Grüne Liga in Sachsen, ein Netzwerk ökologischer Bewegungen, vermittelte entsprechende Plätze.
Ich schaute mir einen Hof an, auf dem ich arbeiten konnte. Wollte wissen, was mich dort erwartete. Es wurden gerade die Johannisbeersträucher ausgedünnt. Die abgeschnittenen Triebe wurden als Setzlinge für neue Sträucher gepflanzt. Ich fühlte mich wohl, aber solche Aufgaben schienen mir doch etwas langweilig. In dem Moment wusste ich, was ich vorher schon geahnt hatte. Ich brauchte Tiere um mich herum. Doch in Sachsen war es nicht vorgesehen, dass sich junge Mädchen im Rahmen eines Freiwilligen Ökologischen Jahrs für Pferde interessierten. Jedenfalls wurden keine Einsatzstellen auf Pferdehöfen angeboten. Die wurden gestrichen, weil die Ökologie und der Einsatz für die Natur dort eine eher untergeordnete Rolle spielten.
Ich war ratlos. Wo sollte ich einen für mich passenden Umweltdienst finden? Damals ging ein Freund von mir in eine größere Stadt nach Norddeutschland. Eines Abends rief er mich an:
»Ich hab was für dich.«
»Wirklich? Und wo?«, fragte ich.
»Auf einem Kinder- und Erlebnishof. Pferde versorgen und Reitstunden geben. Genau das, was du gesucht hast.«
»Das klingt gut. Ich schau mal, was ich im Internet dazu finde.«
Nach dem Gespräch setzte ich mich sofort an den Rechner. Der Hof, las ich im Internet, wolle Kindern Tiere näherbringen. Sie könnten dort den Umgang mit Pferden, Schafen und Hühnern lernen. Das interessierte mich, ich wollte es mir unbedingt ansehen. Schon wenige Tage später saß ich in einer Mitfahrgelegenheit nach Norddeutschland. Ich hatte mir zwar alles genau auf Karten angeschaut, doch es dauerte trotzdem ein bisschen, bis ich die Straßenbahn fand, die mich vom Bahnhof in den richtigen Stadtteil brachte. Ich kam durch eine unscheinbare, bisweilen triste Gegend: Hier ein Autohaus, da die Arbeiterwohlfahrt, ein paar Super- und Drogeriemärkte – so ging es über einige Kilometer. Doch allmählich wurde es etwas grüner. Ich näherte mich dem Stadtrand, dort lag der Hof. Ich stieg aus der Bahn, nahm noch drei Stationen mit einem Bus und lief durch ein paar Straßen. Als ich mich dem Hof näherte, fiel mir zunächst eine mehrere Meter hohe, sehr lange und graue Mauer ins Auge, die oben viel Stacheldraht trug. Dahinter lagen Gebäude, von denen ich nur die fabrikähnlichen Dächer erkennen konnte. Hinweisschilder machten deutlich, dass es keine Fabrik war, sondern ein Gefängnis.
Als ich das Hofgelände betrat, sah ich einige Besucher, Pferde standen auf der Weide und überall liefen Hühner herum. Ich suchte jemanden, der mir etwas über diese Farm erzählen konnte. In einem großen blauen, nach vorn hin offenen Haus mit vielen Fenstern wurde ich fündig. Dort traf ich einen älteren Mann. Ihm erklärte ich, dass ich eine Stelle für ein Freiwilliges Ökologisches Jahr suchte.
»Ja, gut«, sagte er. »Jeden Tag kommen hier viele Besucher vorbei. Sie füttern die Tiere, reiten oder bauen auch selbst Gemüse und Obst an.«
»Es sieht alles noch so neu aus?«
»Richtig. All das wurde buchstäblich auf die grüne Wiese gebaut. Der Stadtteil kämpft mit vielen Problemen. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, für Kinder gibt es wenig Freizeitangebote, und die Armut ist überall präsent. Wenn du willst, führe ich dich ein bisschen herum.«
Sofort war ich damit einverstanden.
Neben dem blauen Haus lag ein Gebäude, auf das der ältere Mann zeigte. »Da stehen die Pferde«, sagte er. »Gleich daneben sind Koppel und Reitplatz.«
Wir gingen in den Stall. Er war sehr modern.
»Sieben Pferde sind hier. Sie können frei herumlaufen, fressen aber für sich. Das kleine Shetlandpony braucht eine andere Heuportion als der Haflinger.«
»Wie geht das?«
»Jedes Tier hat eine eigene Box, die sich vorübergehend schließen lässt.«
Er führte mich weiter über den Hof, und am Ende unseres Rundgangs war ich mir sicher, dass ich mich hier bewerben wollte. Zumal diese Stadt fast 500 Kilometer von meinem Zuhause entfernt lag. Das war so ziemlich die weiteste Strecke, die in Deutschland vom Erzgebirge aus möglich ist. Das gefiel mir.
Außerdem: Für jemanden wie mich, dem das Geld für Reisen fehlte, waren die Alternativen überschaubar: Hochschule, also Lernen, oder ein Freiwilliges Soziales Jahr. Aber etwas Soziales? Auf der Blue Horse Ranch bei Christoph hatte ich gemerkt: Ich kann besser mit Tieren als mit Menschen.
Im September 2005 war es so weit: Ich verstaute meine Sachen in dem alten Corsa des Freundes, der mir den Tipp mit dem Erlebnishof gegeben hatte, und zusammen fuhren wir nach Norddeutschland. Es war ein eigenartiges Gefühl, als ich das Auto packte. Mir wurde in dem Moment bewusst, dass dies der große Abschied war: Ich verließ mein Zuhause. Würde ich je wieder zurückkehren? Kurz bevor ich losfuhr, kamen meine Oma und mein Opa aus dem Haus. Meine Oma war gerührt, hatte viele Tränen in den Augen, und mein Opa drückte mich so fest, dass er mich fast zerquetschte.
Dann tauchte meine Mutter auf, kam mir näher als je zuvor. Sie umarmte mich das erste Mal, seit ich mich erinnern konnte. Eilig versuchte ich, mich zu lösen, weil ich damit überhaupt nicht umgehen konnte. Es war mir in dem Moment zu viel. Sie stotterte: »Mein großes Mädel ...« und weinte. Ich konnte es gar nicht glauben. So etwas hatte sie noch nie gemacht.
Aber es war gut, alles hinter mir zu lassen. Ich musste raus aus dieser Enge, dieser Familie, die mich nicht verstand, die ein ganz anderes Leben lebte, als ich leben wollte. Ich wollte in diese Fußstapfen nicht treten, sondern neue Wege gehen. In den nächsten Monaten verbrachte ich viel Zeit mit den Pferden. Sie mussten jeden Tag bewegt werden – das war mein Job. Auf die Weide durften sie nur selten, was mich irritierte. Ich erklärte es mir zunächst damit, dass es bereits Herbst war und die Grasnarbe nicht überstrapaziert werden sollte. Erst später erfuhr ich, dass die Verantwortliche für die Pferde, Irene, Sorge hatte, die Tiere bekämen eine Kolik, wenn sie zu viel frisches Gras fressen würden.
Oft betreute ich auch die Reitgruppen. Kinder und Jugendliche lernten, die Ponys und Pferde zu putzen und zu satteln. Die Stunden auf dem Hof waren wie eine Auszeit in diesem eher ruppigen Stadtteil. Zumindest wirkten die Kinder auf mich sehr glücklich und waren ganz bei der Sache. Eines Nachmittags trat eine Mutter unmittelbar vor Beginn der Reitstunde auf mich zu und sagte: »Anja, meine Tochter kann in der nächsten Woche nicht vorbeikommen.«
»Warum denn nicht? Ist irgendetwas passiert?«
»Uns fehlt das Geld.«
Diese Antwort war mir nicht fremd, dennoch hatte ich sie nicht erwartet. Ich fühlte mit ihrer Tochter Rieke, da sie gut mit den Tieren umging.
»Aber es sind doch nur fünf Euro«, sagte ich. »Und Rieke macht so gerne mit.«
»Es geht aufs Monatsende zu, da wird es bei uns immer knapp.«
Ich konnte nichts mehr erwidern, weil die Kinder schon auf den Beginn der Reitstunde warteten. Die Mutter blieb am Rand des Reitplatzes stehen und schaute zu. Sie zündete sich eine Zigarette an. Jedes Mal, wenn die Ponys an ihr vorbeiliefen, sah ich sie. Wenn mich ihre Aussage nicht so betroffen gemacht hätte, wäre es mir sicher nicht aufgefallen. Doch jetzt bemerkte ich, dass sie alle paar Runden eine neue Zigarette in der Hand hatte. Meine anfängliche Betroffenheit verwandelte sich in Ärger.
Die Mutter rauchte hier auf dem Hof wahrscheinlich eine Packung weg. Und eine Zigarettenschachtel kostete etwa so viel wie eine Reitstunde für die Kinder. Wie konnte das sein, dass die Kippen wichtiger waren als das Reiten?
Für mich war es das erste Erlebnis dieser Art, ähnliche folgten. Am liebsten hätte ich die Kinder trotzdem mitmachen lassen, weil sie nichts dafürkonnten. Und bei der Arbeit mit den sanften, wenngleich auch manchmal störrischen Ponys spürten die Kinder vielleicht zum ersten Mal, dass sie etwas bewirken konnten. Dass sie Führungspersonen waren und sie die Tiere lenken und leiten konnten. Manche machten erstaunliche Fortschritte. Ein anfangs überängstliches Mädchen traute sich nach wenigen Wochen sogar, mit dem Pferd über eine kleine Hürde zu springen.
So sehr mich das begeisterte, so geriet ich allerdings nach einigen Monaten in eine merkwürdige Situation. Das hing mit Irene zusammen. Ihr eigenes Pferd stand ebenfalls auf der Farm, und sie liebte es über alles. Beide sahen sich sogar ein bisschen ähnlich: Irene hatte eine blonde Mähne, das Pferd ebenfalls. Das Pferd war total brav, aber Irene traute sich nicht, mit ihm auszureiten. Tagaus, tagein drehten sie auf dem Reitplatz ihre Runden. Eigentlich hätte mich das nicht weiter beschäftigen müssen, doch Irene verbot auch mir auszureiten – aus Sicherheitsgründen. Für mich begann die Freiheit, die das Reiten mit sich brachte, erst außerhalb der Einzäunung. Stück für Stück eroberte ich mir zwar kleine Freiheiten, aber die galten lediglich für die schmalen Wege rund um das Gelände. Am Wochenende war ich manchmal allein auf der Farm und ritt dann zu einem See, aber das ging nur, weil es keiner merkte.
Eines Morgens kam Irene zu mir in den Stall und meckerte herum. »Die Sättel sind nicht ordentlich geputzt«, sagte sie unfreundlich. »Und die Pferde genauso wenig. Außerdem ist der gepflasterte Auslauf nicht ordentlich gefegt.«
Verwundert schaute ich sie an. »Komisch. Ich habe alles wie immer gemacht, und ich bin eigentlich sehr gründlich.«
Aber sie ließ sich nicht beruhigen. »Außerdem hast du ein Pferd geschlagen.«
Erst jetzt wurde mir klar, dass es hier um etwas ganz anderes ging. Die Putzgeschichten waren nur Vorgeplänkel gewesen.
»Wovon redest du?« Ich hatte tatsächlich keine Ahnung, was sie meinte.
»Du warst doch gestern Vormittag mit den Pferden und der Schulverweigerin unterwegs.«
Das stimmte. Marie gehörte zu den Mädchen, die keine Lust hatten, zur Schule zu gehen. Ihr Aufenthalt auf dem Hof galt darum als eine »Maßnahme für Schulverweigerer«, wie es offiziell hieß.
»Ja, ich habe sie geführt«, bestätigte ich.
»Das Mädchen war danach bei mir und erzählte, du hättest das Pferd mit dem Strick geschlagen.«
»Willst du meine Version der Geschichte hören?«
»Ich bitte darum.«
»Also gut. Elke ist ja schon etwas älter, aber ich dachte, sie könnte mal eine Abwechslung gebrauchen. Wir waren schon eine Weile unterwegs. Da wollte sie nicht mehr weitergehen. Ich sagte zu ihr: ›Komm schon, ein paar Schritte gehen wir noch weiter, du musst beweglich bleiben.‹ Meiner Erfahrung nach ist es wie mit älteren Menschen, die auch dann noch gerne kleine Runde drehen, wenn sie vielleicht schon in einem Altenheim wohnen.«
»Und was hast du dann gemacht?«
»Ich trieb das Pferd an, wie ich es gewohnt bin. Wenn man an ihrem Halfter zerrt, bringt es ja nichts. Ich ließ zunächst den Strick schwingen, an dem ich es führte. Aber auch das war erfolglos. Darum ließ ich den Strick so schwingen, dass er Elke manchmal am Hintern traf. Als sie weiterging, habe ich damit aufgehört.«
Doch Irene hörte gar nicht richtig zu. »Ich habe einen Gesprächstermin ausgemacht. Jetzt gleich, in zehn Minuten. Es nehmen mehrere Leute teil.«
In mir stieg Angst auf. Es solches Treffen hatte sicher nichts Gutes zu bedeuten. Ich ging kurz nach draußen, Irene verschwand. Als ich ein paar Minuten später den Raum betrat, saßen da bereits der Chef des Hofs, die Einsatzleiterin für FÖJ-Stellen in der Region und Irene. Ich musste mich setzen, und der Chef ergriff das Wort. Wir haben gehört, dass du unsere Pferde schlägst. »Warum tust du das?«
Ich war starr vor Schreck. So wie sie es jetzt formulierten, hörte es sich an, als würde ich Tiere quälen. Ich versuchte zu erklären, wie ich Pferde trainieren würde: »Erst gebe ich ein kleines Kommando, dann …«
Weiter kam ich nicht. Der Chef unterbrach mich: »Was meinst du mit Kommando?«
»Ich schnalze kurz mit der Zunge.« Ich machte das Geräusch vor, aber sie wussten natürlich, was ich meine. »Danach zupfe ich am Führstrick, und wenn sie dann immer noch nicht losgehen, lasse ich das Ende des Stricks kreisen. Ich habe es Irene vorhin schon beschrieben. Irgendwann trifft er dann das Pferd, aber das ist kein Schlagen, sondern nur ein Signal.«
»Ein Signal für was?«
»Dass es nicht folgenlos bleibt, wenn das Pferd nicht weitergeht. Es muss ja irgendwann auch eine Konsequenz geben, wenn es meinen Willen nicht beachtet.«
»Aber das ist ein altes Pferd. Als du merktest, dass es nicht mehr weitergehen wollte, hättest du umdrehen müssen.«
Keiner sagte, dass es besser gewesen wäre, vor den Augen einer Schulverweigerin behutsamer vorzugehen, da Kinder wie Marie oft aus schwierigen Verhältnissen stammten und solche Signale missdeuten konnte. Es offensichtlich auch getan hatte. Doch darum ging es hier überhaupt nicht, sondern allein um das Pferd. Da fanden wir nicht zusammen. Ich war überzeugt, dass es nicht gut sein könne, wenn ein Pferd der Meinung war, tun zu können, was es wollte. Das galt besonders für Pferde, mit denen Kinder umgehen. Doch meine Überzeugung spielte keine Rolle. Ich kam gegen die drei Verhörer nicht an – auch wenn fast nur der Chef redete.
Am Ende des Treffens bekam ich Auflagen, was ich noch durfte und was nicht: Das alte Pferd war für mich nun tabu – ich sollte es nicht mehr führen. Das traf mich sehr. Genauso ärgerte es mich aber auch, dass auf meine Argumente nicht eingegangen und auch sonst meine Arbeit nicht gewürdigt wurde.
Ich war überzeugt davon, dass ich richtig lag. Aber stimmte das wirklich? Ich begann, mich sehr bewusst damit auseinanderzusetzen, wollte wissen, wie ich einem Tier vermitteln kann, was ich von ihm will. Und zwar so, dass es kooperiert. Es sollte noch eine Weile dauern, bis ich genügend Antworten fand, um ein großes Ganzes daraus zu formen.
Auf dem Hof war mein Handlungsspielraum jetzt sehr eingeschränkt. Ich versuchte, an den Stellen etwas zu bewegen, wo ich es noch durfte – vor allem in der Arbeit mit den Kindern. Leicht war es nicht, weil ich akzeptieren musste, dass andere Macht über mich hatten: Irene verstand sich blendend mit dem Chef und hatte das Sagen. Die Einsatzleiterin, die ich später noch einmal sprach, ermutigte mich zwar, durchzuhalten und zu schauen, wie sich alles entwickeln würde. Doch das fiel mir schwer, und ich zog mich immer weiter zurück.
Trotzdem gab es noch einen ganz besonderen Moment. An einem Wochenende konnte ich zusammen mit anderen FÖJlern aus der Gegend eine Art Seminar besuchen. Es fand auf einem Biobauernhof im Norden der Stadt statt, ein einsam gelegener Betrieb, in dem Rinder gehalten wurden. Neben den Ställen gab es noch ein Gästehaus und einen Hofladen. Der Bauer war noch ziemlich jung, vielleicht vierzig. Er trug einen großen Overall und eine schwarze Wollmütze.
»Ja«, sagte er zur Begrüßung und machte danach eine lange Pause, bevor er fortfuhr. »Herzlich willkommen hier auf unserem Biohof.« Er war ruhig und überlegt, ein angenehmer Typ. »Ihr seht hier auf den Weiden ringsum unsere Rinder. Wir züchten sie und verkaufen gesundes Biofleisch. Vor allem Rinder, aber auch Schweine und Geflügel. Wir haben auch viele Gäste hier, und obwohl wir etwas einsamer liegen, ist das Interesse groß. Manchmal werden wir des Andrangs kaum Herr.«
»Wird es euch neben der ganzen Arbeit nicht zu viel?«, fragte jemand aus der Gruppe.
»Für uns spielt Transparenz eine wesentliche Rolle. Wir finden, dass man sehen muss, woher das Fleisch kommt, das man isst. Erst dann kann man es würdigen. Darum ist es ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit, euch zu empfangen. Ihr könnt euch frei bewegen – schaut euch an, was ihr wollt.«
Mir gefiel dieser Wille zur Offenheit. Am meisten aber beindruckte mich der Bauer selbst. Er war so besonnen.
»Bleiben die Rinder das ganze Jahr über draußen?«, fragte ihn eine Teilnehmerin.
»Zumindest den ganzen Sommer über«, erwiderte der Bauer. »Aber im Winter sind sie im Stall. Nicht der Kälte wegen, sondern die Wiesen sind hier zu feucht.«
Nach dem Gespräch verteilte sich die Gruppe über das Gelände. Ich schaute mir zunächst die Ställe an. Als ich später an einer Weide vorbeikam, sah ich den Bauern bei einem Unterstand. Er befand sich mitten in einer kleinen Herde. Es waren nicht viele Rinder, vielleicht acht. Obwohl er nur dort stand, schien er eine enge Verbindung zu den Tieren zu haben. Hätte er einen Heiligenschein gehabt, hätte das auch gepasst, so sehr glich die Szenerie einem Bildnis vom heiligen Franz von Assisi. Das Bild verankerte sich tief in meinem Kopf. Ich dachte in den nächsten Tagen noch oft daran. Erst wusste ich gar nicht recht, warum. Erst später wurde mir klar, dass es viel mit dem zu tun hatte, wie ich selbst mit Tieren umgehen wollte. Der Bauer, der so selbstverständlich und unangestrengt zwischen den Kühen stand – so wollte ich sein.
4
Ab nach Eberswalde
Der Sommer näherte sich dem Ende – und damit auch die Zeit als Freiwillige in meinem ökologischen Jahr. Und auch das Stottern sollte schon sehr bald der Vergangenheit angehören. Ich blätterte in einem Buch zur Studien- und Berufswahl. Beunruhigende zehn Zentimeter dick. Meine vagen Vorstellungen von einer Zukunft mit Tieren brauchten eine Struktur. Als ich die möglichen Fächer durchging, blieb ich am Studiengang Umweltwissenschaften in Lüneburg hängen. Auch in Oldenburg gab es einen. Doch dann fiel mir ein, dass mir jemand mal erzählt hatte, dass Umweltwissenschaften sehr naturwissenschaftlich orientiert und gerade am Anfang entsprechend trocken seien. Das war das Letzte, worauf ich Lust hatte: ein stark verschultes Studienfach. Aber was dann? Agrarwissenschaften? Nein, das wollte ich auch nicht. Ich sah aber auf derselben Seite einen Verweis auf ein weiteres mögliches Fach: Ökolandbau. Viel konnte ich mir zwar nicht darunter vorstellen, aber es sprach mich an. Tiere, Natur – das schien mir praxisbezogener zu sein als Umweltwissenschaften. In Witzenhausen bei Kassel konnte ich das studieren – oder in Eberswalde. Eberswalde war etwas dichter an meiner Heimat. Mittlerweile hatte ich gemerkt, dass sie mir doch wichtiger war, als ich angenommen hatte. Außerdem lag Eberswalde nicht weit von Berlin entfernt. Ich brauchte gar nicht weiter darüber nachdenken, meine Entscheidung war gefallen.
Anschließend ging alles sehr schnell: Auf der Webseite der Hochschule entdeckte ich eine Einladung zum Tag der offenen Tür. Es gab sogar die Möglichkeit, bei Studenten zu übernachten. Das war nicht nur günstiger als eine Pension, die Studis würden mir auch sagen können, wie das Studium so lief. Da die Hochschule zudem Mitfahrgelegenheiten vermittelte, bekam ich Kontakt zu zwei Mädels in Hamburg, Kerstin und Tabea. Ich fuhr zu ihnen, gemeinsam tuckerten wir dann über die A24 Richtung Eberswalde. Da sich die Fahrt in die Länge zog, hatten wir viel Zeit, uns kennenzulernen.
»Habt ihr schon mal auf einem Öko-Hof gearbeitet?«, fragte ich die beiden.
Beide schüttelten den Kopf.
»Ich habe nur mal auf einem Markt Gemüse verkauft«, sagte Tabea. »Mehr habe ich nicht zu bieten.«
»Meine Erfahrungen im vergangenen Jahr werden mir auch nichts nutzen«, erwiderte ich.
Wir kamen überein, dass es einerseits schade war, dass wir so wenig über den Ökolandbau wussten, andererseits auch beruhigend, dass wir alle bei null anfangen würden.
Wir fuhren von der Autobahn ab. Nach Eberswalde führte eine sich schier endlos hinziehende Straße, und langsam ahnten wir, wie der Ortsname zustande gekommen sein musste: Eber und Wald. Eber sahen wir zwar nicht, dafür aber viel Wald. Als wir uns der Stadt näherten, wurde der Wald von alter DDR-Tristesse mit grauen, verfallenen Bürogebäuden und einer Industriebrache abgelöst. Einmal leuchtete etwas bunt auf, aber es war dann doch nur das Sparkassenemblem, das am Gebäude der Kranbauwerke baumelte.
Ich kramte den Zettel mit der Adresse von der Studenten-WG hervor. Gemeinsam suchten wir die angegebene Straße auf der Karte. Sie lag in der Altstadt, und wir fanden sie rasch. Die Wohnung liege im vierten Stock, war mir bei einem Anruf vor ein paar Tagen gesagt worden. Es musste also ein höheres Gebäude sein. Wir bogen in die Straße ein. Die Hausnummer gehörte zu einem großen, grauen Gründerzeitbau, an dem schon lange nichts mehr gemacht worden war.
Wir parkten an der Straße und gingen zum Haus. Die Eingangstür stand offen. Im vierten Stock war es ziemlich laut. Die Tür war angelehnt. Wir klopften und drückten gleichzeitig die Tür auf. »Hier hört uns eh keiner.« Innen waren die Wände mit alten Demo-Plakaten behängt. Die Stimmen kamen aus ein<me. Es war die Küche. Sechs Leute saßen drin, zwei hatten Dreads, andere waren barfuß, und zwischendrin lagen zwei Hunde, die sich allerdings nicht die Mühe machten aufzustehen. Offensichtlich waren Besucher hier keine Seltenheit. »Hallo, ich bin Anja«, sagte ich in die Runde. »Und das sind Kerstin und Tabea. Wir schlafen heute Nacht bei euch.«
»Wir haben euch erwartet«, sagte eine der WG-Bewohnerinnen. Sie lächelte uns an und sprang auf. »Ich bin Hannah.« Sie reichte uns die Hand. Die anderen begrüßten uns mit kurzem Winken und Nicken. »Wir haben gerade gegessen. Bevor wir jetzt alle gleich ermatten, zeige ich euch, wo ihr eure Taschen lassen könnt.«
Wir gingen in den Flur.
»Das ist eine große Wohnung«, stellte Tabea fest, als wir durch den Flur liefen. Alle Türen standen offen, die Zimmer waren riesig. »Wie viele Leute wohnen hier?«
»Im Moment sind wir acht. Ja, die Wohnung ist toll. Aber wir wissen nicht, wie lange wir hier noch bleiben können.«
»Warum nicht?«
»Unser Status ist unklar. Es ist nicht sicher, wem das Haus überhaupt gehört. Doch bis das geklärt ist, nehmen wir die Wohnung in Beschlag.«
Wir stellten unsere Taschen in eines der Zimmer und setzten uns wieder zu den anderen in die Küche. Einige der Anwesenden waren in unserem Studiengang, und es klang gut, wenn sie von Exkursionen erzählten, von Fahrten zu Bauernhöfen, die lockere Atmosphäre im Studium lobten. Wow, dachte ich. Das ist es. Hier waren alle wie ich. Nicht nur, weil viele barfuß herumliefen, auch ihr engagiertes Auftreten und Reden gefielen mir. Irgendwann fragte mich jemand, warum ich ökologischen Landbau studieren wollte. Ich erzählte viel, von meinen ersten Reiterfahrungen und den unschönen Erlebnissen im ökologischen Jahr. Erst im Nachhinein fiel mir auf, dass ich gar nicht gestottert hatte, obwohl hier alles für mich aufregend war und ich außer Tabea und Kerstin keinen kannte. Doch ich fühlte mich angenommen. Ich war am richtigen Ort angekommen.
Am nächsten Tag gingen wir gemeinsam zum Campus, Hannah zeigte uns den Weg. Er führte durch einen Park mit einem Wasserlauf, der geräuschvoll gluckerte. Die Hochschule lag direkt neben dem Park. Eines der Gebäude war aus rotem Backstein gebaut, ein anderes hatte die graue DDR-Block-Optik, ein drittes war gelb gestrichen. In der Mitte der bunten Gebäudetruppe gab es ein Biotop, einen angelegten Teich mit Fröschen und Enten.
»In den Pausen sitzen dort die Studenten und lüften ihre Gehirne«, sagte Hannah.
Sie brachte uns zu dem Hörsaal, in dem die Probevorlesungen stattfinden sollten. Das Interesse an einem Studium in Eberswalde war groß: Der Hörsaal war gut besucht. Ich setzte mich in die Nähe eines Fensters. Es war geöffnet, und als es in dem Raum ruhiger wurde, konnte ich das Gluckern des Bachs hören. Vielleicht würde es mich später bei Klausuren beruhigen.
Ein junger Typ betrat den Hörsaal, ging schnurstracks nach vorne und stellte sich kurz vor. Seinen Namen konnte ich nicht verstehen. Der Gegenstand der Probevorlesung war: der Regenwurm. Bereits nach wenigen Minuten wurde mir klar, dass ich das Thema bislang unterschätzt hatte: Ich wusste nicht, dass es so viele Arten gab. »Sie leben in unterschiedlichen Bodenschichten. Die müssen Sie sich vorstellen wie die Stockwerke eines Hochhauses«, erklärte der Dozent. »Die Regenwürmer sind wichtig für die Humusbildung. Wenn dann aber ein Bauer mit seinem Trecker kommt und den Pflug zu tief ansetzt, wälzt er alle Bodenschichten und damit auch die Regenwürmer um.«
Ich stellte mir vor, wie die Stockwerke von den Pflugschaufeln verschoben wurden. Die armen Keller-Regenwürmer fanden sich dann auf dem Dach wieder und kamen dort nicht mehr klar. Die Bewohner der oberen Stockwerke steckten hingegen auf einmal tief unter der Erde und waren dort mit Problemen konfrontiert. Ich lernte auch: Wer Mist auf seine Felder streut, braucht die Regenwürmer zur Umsetzung des Bodens. Wer hingegen Kunstdünger favorisiert, konnte auf sie verzichten und musste sich nicht um den Erhalt der Würmer bemühen. »Setzen Landwirte Pestizide ein«, hörte ich den Dozenten sagen, »sterben die Würmer mit der Zeit ab.«
Ich fand es spannend, in dieses Erdige einzutauchen, und so eine neue Form der Bodenhaftung zu gewinnen. Am Ende der Vorlesung war mir klar, dass ich in Eberswalde studieren wollte. Trotzdem besuchte ich noch die übrigen Probevorlesungen. Einer der Dozenten erwähnte, dass der Studiengang erst im dritten Jahr angeboten wurde. »Für euch bedeutet das, dass ihr den Studiengang noch mitgestalten könnt. Das ist anders als an den etablierten Hochschulen.« Das wollte ich gerne glauben.
Wenige Wochen später war ich immatrikulierte Studentin in Eberswalde – und mit mir Kerstin und Tabea. Kerstin holte mich dieses Mal mit dem Auto ab. Meine wenigen Sachen waren schnell verstaut, und wir fuhren zu zweit an unseren neuen Wohnort. Tabea würden wir dort wiedersehen – wir hatten eine WG gefunden, in der wir alle unterkamen. Eine WG, die nur aus Erstsemestern bestand.
Ich war zunächst sehr damit beschäftigt, mich in meinem neuen Leben einzurichten und ganz Studentin zu sein. Ich tauchte in eine andere Welt ein, und ich fragte mich manchmal, was mir mehr gefiel: der Lernstoff oder das Leben mit den anderen Studis.
Doch irgendetwas stimmte nicht. Einige Zeit nach meiner Ankunft in Eberswalde fiel es mir auf. Ich stand vor einem Regal bei einem Discounter und wollte gerade ein Glas mit Tomatensoße in den Einkaufswagen legen. Plötzlich hielt ich inne. Was machte ich hier? Es war ja genau wie bei meinen Eltern. Ich stand im Discounter jener Kette, bei der auch meine Eltern immer einkauften. Es sah aus wie daheim. Die gleichen Gänge, die gleichen Regale, die gleichen Produkte. Mühelos fand ich das, was ich kannte. Meine Geschmacksnerven wollten genauso gefüttert werden, wie sie es gewohnt waren. Sie hatten Appetit auf das, was es seit jeher gab. Es hatte mich gar nicht gestört. Ich verspürte gar keinen Antrieb, etwas anderes auszuprobieren. Ich war so damit beschäftigt gewesen, mich in dem neuen Leben einzurichten, dass ich nicht gemerkt hatte, wie mich das alte wieder einholte.
Ich beschloss, mit den anderen aus der WG darüber zu sprechen. Als ich in die Wohnung zurückkehrte, saßen Tabea und Kerstin in der Küche. Beide wirkten unglücklich. Ich setzte mich zu ihnen.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte ich
»Wir gehen zurück nach Hamburg«, sagte Kerstin.
Ich war irritiert. »Warum das denn?«
»Mir ist das zu krass hier. Vor allem der Zeitdruck bei den Arbeiten. Wir sollen hochwissenschaftliche Texte abliefern, aber man lässt uns kaum Zeit dafür. Und ständig gibt es eine Prüfung.«
»Und du?« Ich wandte mich nun an Tabea.
»Mir ist klar geworden, dass ich keine Ökobäuerin werden möchte.«
»Was willst du dann machen?«
»Ich werde auf Lehramt wechseln.«
Zuletzt hatten wir wenig gemeinsam unternommen. Jede von uns war den eigenen Interessen nachgegangen und hatte neue Freunde gefunden. Trotzdem war ich bedrückt, dass sich die WG, die sich gerade erst gefunden hatte, schon wieder auflöste.