Über das Buch
»Der Weg ins Unterland führt durch den gespaltenen Stamm einer alten Esche.«
In einer großartigen Entdeckungsreise nimmt uns der vielfach ausgezeichnete britische Naturschriftsteller Robert Macfarlane mit in die dunkle Welt unter der Erde – von Höhlen in England und Slowenien bis zum Untergrund von Paris, von Stollen in Finnland bis zur schwindenden Gletscherwelt Grönlands. Eindringlich beschreibt er das Wechselspiel zwischen Mensch, Natur und Landschaft – nicht zuletzt als Mahnung, was wir durch unsere Eingriffe zu verlieren drohen. Sein Buch ist große Natur- und Menschheitsgeschichte in einem.
Über Autor und Übersetzer
Robert Macfarlane, geboren 1976 in Nottinghamshire, ist einer der bedeutendsten und einflussreichsten Naturschriftsteller der Gegenwart. In seinen mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Büchern wie Berge im Kopf, Alte Wege und Karte der Wildnis (AS Verlag, Matthes & Seitz) schreibt er in einer selten einfühlend-poetischen und zugleich präzisen Sprache über Landschaften und Orte, über die Natur und unsere Beziehung zu ihr. Er ist Fellow der Royal Society of Literature und Gründungsmitglied der Naturschutzorganisation Action for Conservation.
Die Übersetzer Andreas Jandl und Frank Sievers haben schon mehrere Bücher Robert Macfarlanes ins Deutsche übertragen. Für ihre Übersetzung von John Alec Bakers Der Wanderfalke erhielten sie den Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis.
»Robert Macfarlane zaubert mit Worten. Wie ein Sog ziehen uns seine Sätze tiefer und tiefer ins Buch.« Andrea Wulf, Autorin von Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur
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ROBERT
MACFARLANE
IM
UNTERLAND
EINE ENTDECKUNGSREISE
IN DIE WELT
UNTER DER ERDE
Aus dem Englischen
von Andreas Jandl und Frank Sievers
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
Underland. A Deep Time Journey bei
Hamish Hamilton/Penguin Random House UK.
Die Arbeit der Übersetzer am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.
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Copyright © 2019 Robert Macfarlane
Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Anneke Lubkowitz, Berlin
Bildbearbeitung: Helio Repro, München
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Umschlagabbildung: © Stanley Donwood, Nether, 2013 (Ausschnitt)
Vorsatzabbildung: © Tim Gainey/Alamy
Satz: Mediengestaltung Vornehm GmbH, München
ISBN 978-3-328-60113-5
V005
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Ist es dunkel dort unten
Wo das Gras wächst durchs Haar?
Ist es dunkel dort im Unter-Land von Null?
Helen Adam, »Down There in the Dark«
(»Dort unten im Dunkel«), 1952
Der Hohlraum wandert zur Oberfläche hinauf …
Advances in Geophysics, 2016
Inhalt
ERSTE KAMMER
1 Abstieg
ERSTER TEIL
2 Begräbnis
3 Dunkle Materie
4 Unterholz
ZWEITE KAMMER
ZWEITER TEIL
5 Unsichtbare Städte
6 Sternenlose Flüsse
7 Hohles Land
DRITTE KAMMER
DRITTER TEIL
8 Rote Tänzer
9 Die Kante
10 Das Blau der Zeit
11 Schmelzwasser
12 Das Versteck
13 Aufstieg
Dank
Anmerkungen
Ausgewählte Literatur
Register
ERSTE KAMMER
Der Weg ins Unterland führt durch den gespaltenen Stamm einer alten Esche.
Spätsommerliche Hitzewelle, schwere Luft. Bienen brummen behäbig über Graswiesen. Gold reifen Getreides, Grün frischer Heureihen, Schwarz der Krähen auf Stoppelfeldern. Irgendwo unten, wo der Boden sich absenkt, brennt ungesehen ein Feuer, eine Säule aus Rauch. Ein Kind wirft Steine in einen Metalleimer, Stein für Stein, klong, klong, klong.
Den Feldweg entlang, vorbei an einem Hügel im Osten, gezeichnet von neun runden Hügelgräbern, wie Wirbel eines Rückgrats. In einer Wolke schimmernder Fliegen drei Pferde, stockstill bis auf das Schweifschlagen, Kopfschütteln.
Über den Tritt in der Kalksteinmauer, am Bach entlang zur überwucherten Senke, aus der sich die alte Esche erhebt. Die Krone schwingt sich himmelwärts ins Wetter. Die moosigen Äste hängen tief. Die Wurzeln reichen weit nach unten.
Rauchschwalben jagen flatterfähnchenhaft über Wiesen. Auf halber Höhe kreuzen die Mehlschwalben. Ein Schwan fliegt weit oben auf knarrenden Flügeln nach Süden. Diese Oberwelt ist wunderschön.
Wo der Eschenstamm ins Erdreich übergeht, teilt sich die Borke zu einem schrundigen Spalt, gerade groß genug, dass man ins Innere des Baumes steigen kann – und hinab ins hohle Dunkel darunter fällt. Die Ränder glatt gerieben von den Menschen, die schon hier hineingekrochen und durch die alte Esche ins Unterland gelangt sind.
Unterhalb der Esche entfaltet sich ein Labyrinth.
Hinab durchs Wurzelwerk in einen steinernen Gang, weiter steil nach unten. Die Farben verdämmern ins Graue, Braune, Schwarz. Kalte Luft drängt vorbei. Die Decke ist fester Fels, massive Materie. Die Oberwelt kaum vorstellbar.
Der Gang fächert aus; ein Irrgarten. Seitengänge kriechen davon. Die Richtung ist schwer zu halten. Der Raum benimmt sich sonderbar – ebenso die Zeit. Im Unterland verhält sie sich anders. Verdickt sich, staut sich, fließt, rauscht, verlangsamt sich.
Der Gang macht eine Biegung, eine zweite, verjüngt sich – und weitet sich dann überraschend. Eintritt in eine Kammer. Dröhnen, das widerhallt. Die Wände scheinen auf den ersten Blick nackt, doch dann geschieht etwas Erstaunliches. Szenen aus dem Unterland steigen auf, aus unterschiedlichen Zeiten, erscheinen auf dem glatten Fels, fern, doch in ihrem Echo verbunden.
Und in einer Höhle in einer verkarsteten Felswand atmet eine Gestalt einen Mundvoll Ockerpulver ein, hält die Luft an, legt die linke Hand an die Höhlenwand – mit gespreizten Fingern, die Innenfläche am kalten Stein – und bläst das Rot gegen den Handrücken. Das Pulver zerstiebt, die Hand löst sich vom Fels, es bleibt ein gespenstischer Abdruck: Der Stein hat die Farbe des Pulvers angenommen. Die Hand wird verschoben, mehr Pulver geblasen, ein weiterer Umriss. Kalkspat wächst über die Abdrücke und versiegelt sie. Sie überdauern 35 000 Jahre. Wofür stehen sie? Freude? Gefahr? Kunst? Das Leben in Dunkelheit?
In Nordeuropa wird vor sechstausend Jahren eine junge Frau – die bei der Geburt mit ihrem Kind verstarb – behutsam in ein flaches Sandgrab gelegt. Neben ihr ein weißer Schwanenflügel. In dessen Federmulde ruht der Leichnam ihres Sohnes, der im Tod zweifach gehalten wird – von Schwanenfedern und Mutterarm. Ein Erdhügel wird über den dreien aufgeschüttet: über der Frau, dem Baby, dem zarten weißen Flügel.
Dreihundert Jahre vor der Gründung des Römischen Reiches vollendet ein Kunstschmied auf einer Insel im Mittelmeer die Arbeit an einer kleinen runden Münze. Darauf zu sehen ein rechteckiges Labyrinth mit einem Eingang am oberen Rand und einem verschlungenen Weg zu seiner Mitte. Die Wände sind wie der Rand der Münze leicht erhöht und blank gerieben. In die Mitte des Labyrinths eingeprägt ist ein winziges Wesen mit Stierkopf und Menschenbeinen: der Minotaurus, der im Dunkeln erwartet, was kommen mag.
Sechshundert Jahre später sitzt eine junge Frau in Ägypten Porträt für einen Maler. Für die Sitzung hat sie sich in feine Kleider gehüllt. Sie hat breite dunkle Augenbrauen, große dunkle, fast schwarze Augen. Ihre schwarzen Haare werden von einem geschwungenen Metallreif gehalten, den eine Goldperle ziert. Am Hals ein goldener Schal, an der Brust eine goldene Brosche. Der Maler vermischt heißes Bienenwachs mit Farbpigmenten und Blattgold, das er auf eine Holzplatte aufträgt. Er malt das Totenbild der jungen Frau. Nach ihrem Tod wird es in die Tuchbahnen der balsamierten Leiche gewickelt, um das tatsächliche Gesicht der Mumie zu ersetzen. Mag auch ihr Körper vergehen, ihr Porträt bleibt von den Jahren unberührt. Es ist gut, derlei Dinge frühzeitig zu tun, in noch strahlender Blüte. Der Leichnam wird in die am Rand einer tiefen Wüstensenke angelegte Totenstadt gebracht und unweit eines Gewölbes mit den mumifizierten Überresten von über einer Million Ibissen in eine unterirdische Kammer mit kalksteinverkleideten Wänden, ziegelbedecktem Boden sowie – zur Abwehr gegen Grabräuber – einer Decke aus Platten festen Quarzits gebettet.
Im späten 19. Jahrhundert kriechen unter einem Hochplateau in Südafrika Bergleute durch kilometerlange enge Tunnel, die tiefer in den Untergrund reichen als an irgendeiner anderen Stelle des Planeten, um in Körben das Erz aus einer verborgenen Goldmine zu fördern. Manche dieser Männer, zu Tausenden zum Arbeiten hergekommen, werden bald bei Steinschlägen und Unfällen ihr Leben lassen. Viele mehr werden an Staublunge sterben, da sie Jahr um Jahr in der tödlichen Dunkelheit dort unten den Steinstaub einatmen. Für die Unternehmen, denen die Mine gehört, und die Märkte, die sie beliefert, sind menschliche Körper leicht ersetzbar: nichts als kleine, ungelernte Förderwerkzeuge, schnell ausgetauscht, wenn sie nicht mehr funktionieren. Das geförderte Erz wird gebrochen und das Gold in Schmelzverfahren extrahiert, bevor sich die Gesellschafter in fernen Ländern die Taschen damit füllen.
In einer Hanghöhle in den Ausläufern des indischen Himalajas kurz nach der Teilung Indiens meditiert eine junge Frau sechzehn Stunden am Tag, fünfundsiebzig Tage lang, in fast völliger Dunkelheit. Sie sitzt still, nur ihr Mund bewegt sich beim Murmeln der Mantras. Sie verlässt die Höhle meist nur bei Nacht und sieht, wenn keine Wolken da sind, über den Himmel verschüttet die Milchstraße. Sie lebt von Wasser, das sie mit den Händen aus dem heiligen Fluss schöpft, von wilden Beeren und Früchten aus der umliegenden Gegend. Mantras, Einsamkeit und Dunkelheit schenken ihr Erlebnisse und Empfindungen, die ihr neu sind, und sie merkt, dass ihre Wahrnehmung sich wandelt. Nach diesem Aufenthalt in ihrem unterirdischen Rückzugsraum fühlt sie sich weit wie der Himmel, alt wie die Berge, gestaltlos wie das Sternenlicht.
Vor dreißig Jahren lösen ein Junge und sein Vater im Fußboden des Hauses, das sie bald verlassen müssen, mit der spitzen Seite ihres Hammers eine Diele. Sie haben aus einem Marmeladenglas eine Zeitkapsel gebaut. Dorthinein hat der Junge Gegenstände und Mitteilungen gelegt. Das Druckgussmodell eines Bombenfliegers. Den Umriss seiner linken Hand, in roter Tinte auf weißem Papier. Eine Beschreibung von sich selbst, für den etwaigen Finder – Ziemlich groß für mein Alter, sehr blond, fast weißhaarig. Größte Angst: Atomkrieg –, mit Bleistift auf eine herausgerissene Notizbuchseite geschrieben. Eine stehengebliebene Uhr mit leuchtendem Ziffernblatt und Leuchtzeigern, die er gern mit den Händen umschließt, um die Zahlen schimmern zu sehen. Er streut eine Handvoll Reis ins Glasgefäß, der die Feuchtigkeit aufnehmen soll, dann verschraubt er den Blechdeckel so fest er kann, legt die Kapsel in ihr Versteck und nagelt die Diele wieder an.
Tief in einem erloschenen Vulkan wird ein Tunnelnetz gebohrt, durch das die Ghost Dance, eine tektonische Verwerfung, verläuft. Zugangsstollen neigen sich durch schräge Schichten Tuffstein in die ebenerdige Endlagerzone, die in Deponiestollen aufgeteilt ist. Diese Korridore sind die letzte Ruhestätte für hochradioaktive Abfälle: strahlende Uranoxid-Tabletten in Behältern aus Stahl, die wiederum in Behältern aus Kupfer stecken und über der »Geistertanz«-Bruchlinie die nächsten Millionen Jahre ihre Halbwertszeiten aushauchen. Bei so langfristiger Toxizität müssen die Menschen zur Planung eines sicheren Endlagers überlegen, wie sie den Verwahrort und die Gefährlichkeit des radioaktiven Mülls der fernen Zukunft mitteilen können. Der Risikostoff wird nicht nur die Verursacher überleben, sondern vielleicht die ganze Verursacherspezies. Wie kann man diesen Ort markieren? Wie den zukünftigen Besuchern dieser steinernen Sarkophage mitteilen, dass darin nichts Kostbares liegt, sondern etwas furchtbar Schädliches, das niemals aufgestört werden darf?
Und dann sitzen auf einem schlammigen Felsvorsprung in einer verzweigten Tropfsteinhöhle, vier Kilometer tief im Berg, in völliger Dunkelheit, von einer Sturzflut eingesperrt zwölf Jungen mit ihrem Fußballtrainer und warten, Tag um Tag, versuchen, ihre Akkus zu schonen, und beobachten, ob das Wasser steigt oder sinkt – und ob jemand sie durch irgendein Wunder retten kommt. Stunde um Stunde atmen sie den Sauerstoff in der Höhle, sodass das Kohlendioxid in ihrer Atemluft immer mehr wird. Über dem Berg ziehen weitere Monsunwolken auf, drohen mit noch mehr Regen. Vor dem Berg versammeln sich Tausende Retter aus insgesamt sechs Ländern. Anfangs wissen sie nicht, ob die Jungen überhaupt noch leben. Dann finden sie Handabdrücke aus Schlamm, an Felswänden drei Kilometer tief im Berg. Es besteht Hoffnung. Taucher arbeiten sich durch die vollgelaufenen Gänge vor. Neun Tage nachdem sie in den Berg gegangen sind, hören die Jungen aus dem fließenden Wasser unter ihrem Felsvorsprung Geräusche. Sehen Lichter. Blasen steigen auf. Die Lichter kommen näher. Ein Mann steckt den Kopf aus dem Wasser. Die Jungen und ihr Trainer blinzeln im Strahl seiner Stirnlampe. Ein Junge hebt grüßend die Hand, der Taucher grüßt zurück. »Wie viele seid ihr?«, fragt der Taucher. »Dreizehn«, lautet die Antwort. »Es kommen noch mehr von uns«, sagt der Taucher.
So ziehen die Szenen aus dem Unterland auf den Wänden dieser unwirklichen Traumkammer vorüber, tief unten im Labyrinth unter der gespaltenen Esche. Und stets sind es die drei gleichen Aufgaben, die das Unterland für alle Kulturen und Epochen erfüllt: Es soll Kostbares schützen, Wertvolles hervorbringen, Schädliches entsorgen.
Schützen (Erinnerungen, wertvolle Stoffe, Nachrichten, gefährdetes Leben).
Hervorbringen (Informationen, Reichtum, Metaphern, Mineralien, Visionen).
Entsorgen (Abfall, Traumata, Gift, Geheimnisse).
Seit jeher vertrauen wir dem Unterland an, was wir fürchten und loswerden wollen und was wir lieben und bewahren wollen.
1
Abstieg
Wir wissen so wenig über die Welt unter unseren Füßen. Schauen wir in einer wolkenlosen Nacht nach oben, so sehen wir das Licht von Sternen, die Billiarden Kilometer entfernt sind. Wir können die Ränder der Asteroidenkrater auf dem Mond erkennen. Schauen wir nach unten, sehen wir kaum mehr als Gras, Erde, Asphalt. Selten habe ich mich der menschlichen Sphäre ferner gefühlt als neun Meter unter ihr, gefangen im schimmernden Schlund einer Schichtfläche aus Kalk, die sich in Urzeiten auf dem Grund eines ehemaligen Meeres gebildet hatte.
Das Unterland kann Geheimnisse sicher bewahren. Erst in den letzten zwanzig Jahren ist es Forstökologen gelungen, die Netzwerke der Mykorrhizapilze nachzuvollziehen, die sich durch den Waldboden bohren und die einzelnen Bäume zu kommunizierenden Wäldern verbinden – wie sie es seit Hunderten Jahrmillionen tun. Kürzlich wurde in der chinesischen Provinz Chongqing ein 2013 entdecktes Höhlennetzwerk erforscht, das sein eigenes Wetter macht: Kumuluswolken, die sich in einer riesigen zentralen Halle türmen, kühler Nebel, der fernab vom Licht der Sonne durch große Wolkenkammern zieht. In Norditalien seilte ich mich gut dreihundert Meter unter der Erdoberfläche in eine gewaltige steinerne Rotunde ab, die ein unterirdischer Fluss aus dem Fels geschnitten und mit Dünen aus schwarzem Sand gefüllt hatte. Wie ich über diese Dünen stapfte, kam ich mir vor wie in einer windfreien Wüste auf einem lichtlosen Planeten.
Warum in die Tiefe steigen? Eine solche Bewegung geht gegen den Strich, gegen die Vernunft und den Willen. Wer bewusst etwas im Unterland lagert, will es fast immer dem Blick der anderen entziehen. Wer etwas aus dem Unterland an die Oberfläche befördern will, muss sich auf anstrengende Arbeit gefasst machen. Weil sie so schwer zugänglich ist, war die Unterwelt lange Zeit ein Symbol für alles, was nicht offen gesagt oder gesehen werden darf: Verlust, Trauer, die Abgründe des Geistes und die – wie Elaine Scarry sagt – »tiefgründige unterirdische Tatsache« des körperlichen Schmerzes.
Rund um unterirdische Räume rankt sich eine Kulturgeschichte der Abscheu, die das Unterirdische mit dem »scheußlichen Dunkel im Inneren der Welt« verbindet, wie Cormac McCarthy es formuliert. Angst und Ekel sind die üblichen Reaktionen auf eine solche Umgebung; Dreck, Vergänglichkeit und brutal harte Arbeit das, was man am häufigsten damit verbindet. Klaustrophobie ist sicher die schwerwiegendste aller verbreiteten Phobien. Mir ist schon oft aufgefallen, dass die Klaustrophobie – mehr noch als der Schwindel – ihre beängstigende Kraft selbst dann behält, wenn man sie in der Erzählung oder Beschreibung nur indirekt erlebt. Hören wir Geschichten vom Eingeschlossensein unter der Erde, rutschen wir unruhig hin und her, treten einen Schritt zurück, schauen zum Licht – als könnten allein die Worte uns einkerkern.
Ich erinnere mich noch, dass ich als Zehnjähriger in Alan Garners Roman Der Zauberstein von Brisingamen las, wie sich zwei Kinder aus einer gefährlichen Situation in einen Minengang retten, der zum Abbau der Sandsteinvorkommen des Alderley Edge in Cheshire dient. Tief im Stein sind die Stollen so eng, dass die beiden fast stecken bleiben:
Sie lagen lang ausgestreckt und Wände, Boden und Decke umschlossen sie wie eine zweite Haut. Die Köpfe hatten sie zur Seite gedreht, da durch die niedrige Decke in jeder anderen Lage der Mund in den Sand gepresst wurde und sie nicht atmen konnten. Die einzige Möglichkeit voranzukommen bestand darin, sich mit den Fingerspitzen vorwärts zu ziehen und mit den Zehen abzustoßen, denn es war unmöglich, die Beine auch nur ein wenig zu beugen, und jede Bewegung der Ellenbogen zwängte automatisch die Arme unter ihre Körper. […] Colin war drei Zentimeter größer als seine Schwester, und das war katastrophal. Seine Fersen verkanteten sich an der Decke: Er konnte sich weder nach oben noch nach unten bewegen, und die scharfe Felskante grub sich in seine Schienbeine, bis er vor Schmerz aufschrie. Aber bewegen konnte er sich nicht …
Diese Stelle nahm mich so sehr gefangen, dass mir der Atem stockte. Und wenn ich sie heute lese, kommen mir wieder dieselben Gefühle. Doch die brenzlige Lage im Buch übte auch – und übt immer noch – einen starken Sog auf mich aus. Colin konnte sich nicht mehr bewegen und ich nicht mehr aufhören zu lesen.
Die Abscheu vor dem Unterland steckt auch verborgen in unserer Sprache. In vielen Metaphern, die wir täglich benutzen, wird die Höhe gefeiert und die Tiefe verachtet. Etwas »Erhebendes« ist angenehmer, als »niedergeschlagen« oder »am Boden« zu sein. »Katastrophe« heißt buchstäblich »Wendung nach unten«, »Kataklysmus« steht für »Gewalt nach unten«. Auch in landläufigen Betrachtungsweisen und deren Darstellungsformen findet sich die Ablehnung der Tiefe. In seinem Buch Vertical beschreibt Stephen Graham die Vorherrschaft einer »tradierten Flachheit« in Geografie und Kartografie und die »vornehmlich horizontale Weltsicht«, die daraus entspringt. Es falle uns schwer, die »unbeirrt flache Sichtweise« abzulegen, an die wir uns gewöhnt haben – worin Graham sowohl ein politisches als auch ein perzeptorisches Versäumnis sieht, da uns auf diese Weise jede Kenntnis des verborgenen Systems aus Gewinnung, Ausbeutung und Entsorgung fehle, das die oberirdische Welt in sich trage.
Tatsächlich wenden wir uns aus vielerlei Gründen von dem ab, was unter uns verborgen liegt. Dabei müssen wir heute mehr denn je das Unterland verstehen. »Zwingen Sie sich, flacher zu sehen«, befiehlt Georges Perec in Träume von Räumen. »Zwingen Sie sich, tiefer zu schauen«, würde ich sagen. Das Unterland ist elementar für die materiellen Strukturen unserer heutigen Existenz ebenso wie für unsere Erinnerungen, Mythen und Metaphern. Auf dieses Terrain verlassen wir uns täglich und werden täglich von ihm geformt. Dennoch sind wir kaum gewillt, die Gegenwart des Unterlands in unserem Leben oder die verstörenden Vorstellungen, die wir von ihm haben, genauer zu beleuchten. Unsere »flache Sichtweise« erscheint mir zunehmend unangemessen für die tiefen Welten, die wir bewohnen, und für das Langzeiterbe, das wir hinterlassen werden. Wir leben gegenwärtig im Anthropozän, einer Epoche großer und oftmals beängstigender Veränderungen von planetarem Ausmaß, in der das Wort »Krise« nicht für eine permanent aufgeschobene künftige Apokalypse steht, sondern für eine andauernde Gegebenheit, die die Schwächsten am stärksten zu spüren bekommen. Die Zeit ist weitreichend aus den Fugen geraten – wie auch der Raum. Vergrabenes, das in der Erde hätte bleiben sollen, kehrt ungebeten an die Oberfläche zurück. Bekommen wir solche Ausgeburten der Erde zu Gesicht, können wir nicht einfach wegsehen, zu fesselnd ist der Anblick der obszönen Intrusion.
In der Arktis entweichen durch kürzlich geöffnete »Fenster« im schmelzenden Permafrost uralte Methanvorkommen. Milzbrandsporen werden von Rentierleichen freigesetzt, die im einst gefrorenen Erdboden begraben lagen, jetzt aber Wärme und Erosion ausgesetzt sind. In den ostsibirischen Wäldern gähnt ein Krater im aufweichenden Boden, der Zehntausende Bäume schluckt und eine 200 000 Jahre alte Erdschicht freilegt: Die hier heimischen Jakuten nennen ihn eine »Tür zur Unterwelt«. Die schwindenden Gletscher im Himalaja und in den Alpen geben Leichen frei, die vor Jahrzehnten vom Eis verschlungen wurden. In ganz Großbritannien wurden durch die jüngsten Hitzewellen für Beobachter aus der Luft die Spuren alter Bauten als Bewuchsmerkmale auf den Feldern erkennbar – römische Wachtürme, neolithische Einhegungen: Dürre als Röntgenstrahl, der die unterirdische Vergangenheit des Landes als minder fruchtbare Muster ans Tageslicht zurückbefördert. In Tschechien sank der Wasserpegel der Elbe so tief, dass »Hungersteine« zum Vorschein kamen, behauene Steinblöcke, die seit Jahrhunderten an Dürren erinnern und vor ihren Folgen warnen. Auf einem Hungerstein steht in deutscher Sprache: »Wenn du mich siehst, dann weine.« Im Nordwesten Grönlands hat sich ein vor fünfzig Jahren unter einer Eisschicht versunkener Militärstützpunkt aus dem Kalten Krieg, in dem Hunderttausende Liter Chemieabfälle lagern, langsam hinauf ans Licht bewegt. »Das Problem«, schreibt die Archäologin Þóra Pétursdóttir, »besteht nicht darin, dass Dinge in tiefe Schichten versinken – sondern dass sie dort überdauern, uns überleben und mit einer Wucht wieder nach oben kommen, mit der niemand gerechnet hätte … eine dunkle Truppe ›schlafender Riesen‹«, die aus den Tiefen der Zeit geweckt wurden.
Die geologische Zeit – die »tiefe Zeit«, wie sie im Englischen genannt wird – ist die Zeitrechnung des Unterlands. Mit der geologischen Zeit reicht die Erdgeschichte schwindelerregend tief von der Gegenwart hinab in die Vergangenheit. Geologische Zeit misst sich in Einheiten, die uns kurzlebige Menschen Demut lehren: Epochen und Äonen anstelle von Minuten und Jahren. Geologische Zeit steckt in Steinen, im Eis, in Stalaktiten, Ablagerungen auf dem Meeresboden und den Verschiebungen tektonischer Platten. Geologische Zeit öffnet sich zur Zukunft wie zur Vergangenheit. Wenn die Sonne in fünf Milliarden Jahren ihren Brennstoff verbraucht haben wird, dann wird es bei uns dunkel. Wir stehen mit den Zehen und mit den Fersen an einem Abgrund.
Einen gefährlichen Trost spendet uns der Blick in die Tiefe der geologischen Zeit. Es lockt ein ethisches Lotosessen. Was macht es schon aus, wie wir uns verhalten, wenn der Homo sapiens ohnehin mit dem nächsten geologischen Augenschlag wieder von der Erde verschwinden wird? Aus der Perspektive von Wüsten und Ozeanen erscheint alle menschliche Moral absurd – wir sind zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Werte zu verteidigen scheint sinnlos. Eine eindimensionale Ontologie verleitet uns zu der Deutung: Angesichts der drohenden Zerstörung ist alles Leben gleichermaßen unbedeutend. Wenn Tier- und Pflanzenarten oder ein ganzes Ökosystem aussterben und verschwinden, ist das gemessen an den Zyklen von Auslöschung und Erneuerung eines Planeten kaum von Belang.
Derlei trägen Gedanken sollten wir widerstehen; tatsächlich sollten wir genau für das Gegenteil kämpfen – die geologische Zeit als radikale Perspektive spornt uns zum Handeln an, nicht zur Apathie. Denn in geologischen Zeiträumen zu denken kann uns Anregung sein, der unruhigen Gegenwart nicht zu entfliehen, sondern sie neu zu denken; als ein Gegengewicht zu kurzsichtiger Gier und Rage – mit den älteren und langsameren Geschichten vom Erschaffen und Zerstören. Bestenfalls könnte uns ein Bewusstsein für die geologischen Zeitspannen dabei helfen, uns als Teil eines großen Netzwerks zu begreifen, in dem wir schenken, erben und weitervererben, das sich über Jahrmillionen in die Vergangenheit und Zukunft erstreckt, um zu bedenken, was wir den nachfolgenden Wesen und Epochen hinterlassen wollen.
In den Dimensionen der geologischen Zeit werden Dinge lebendig, die unbelebt schienen. Neue Verantwortung springt in Geist und Auge. Ein wohlwollendes Miteinander liegt nahe – auch mit der fernen Zukunft. Die Welt wird wieder merkwürdig lebhaft und vielseitig. Eis atmet. Gestein hat Gezeiten. Berge folgen Ebbe und Flut. Felsen pulsieren. Wir leben auf einer ruhelosen Erde.
~
Die ältesten Geschichten über das Unterland erzählen von gefährlichen Fahrten in die Dunkelheit, um Personen oder Gegenstände aus dem Totenreich zurückzuholen. Eine Variante des um 2100 v. Chr. in sumerischer Sprache verfassten Gilgamesch-Epos berichtet von einer solchen Fahrt in die Tiefe, die Gilgameschs Diener Enkidu im Auftrag seines Meisters in die »Unterwelt« antritt, um dort nach einem verlorenen Gegenstand zu suchen. Enkidu segelt durch Stürme mit Hagelkörnern, die ihn wie »Hämmer« treffen, sein Boot bebt von der Wucht der Wellen, die ihn wie »Schildkröten« oder »Löwen« mit ihren »Köpfen« rammen, und trotz allem gelangt er schließlich in die Unterwelt. Dort aber wird er umgehend eingesperrt – nur um gleich darauf von dem jungen Krieger Utu befreit zu werden, der ihn in einer aufsteigenden Brise durch ein Loch wieder nach oben bringt. Oben im Sonnenschein umarmen und küssen sich Enkidu und Gilgamesch und sprechen stundenlang. Enkidu konnte den verlorenen Gegenstand nicht finden, hat aber wertvolle Neuigkeiten über verschwundene Menschen mitgebracht. »Hast du meine kleinen tot geborenen Kinder gesehen, die nie das Leben kannten?«, fragt Gilgamesch händeringend. »Ich habe sie gesehen«, antwortet Enkidu.
Ähnliche Geschichten finden sich in allen Mythologien. In der klassischen Literatur gibt es zahlreiche Belege für eine solche katabasis (das Hinabgehen in die Unterwelt) und nekyia (die Befragung von Geistern, Göttern oder Toten zur irdischen Zukunft), darunter auch Orpheus’ Versuch, seine geliebte Eurydike aus dem Hades zurückzuholen, oder Aeneas’ Reise, die er – geführt von der Sibylle und geschützt durch den goldenen Zweig – begeht, um den Schatten seines Vaters um Rat zu fragen. Die Rettung der thailändischen Fußballspieler, die vor nicht langer Zeit in einer überschwemmten Höhle feststeckten, war eine moderne katabasis: Die Nachricht erlangte auch deshalb weltweite Aufmerksamkeit, weil sie die Kraft eines Mythos besaß.
All diese Erzählungen tragen in sich ein scheinbares Paradox: dass die Dunkelheit ein Medium des Sehens sein könnte und dass sich die Dinge in der Tiefe vielmehr offenbaren denn verlieren. Sogar das im Englischen viel gebrauchte Verb für »verstehen« – to understand – trägt in sich den alten Bedeutungsaspekt »unter etwas gehen, um es in seiner Gänze zu erfassen«. Und auch das deutsche Verb »entdecken« heißt »durch Ausgraben offenlegen«, »hinabgehen und etwas ans Licht bringen« beziehungsweise »etwas aus der Tiefe holen«. Hier sehen wir uralte Verbindungen. Die erste bekannte Höhlenmalerei in Europa – die Darstellung von Leitern, Punkten und Handumrissen an den Wänden spanischer Höhlen – wird auf ein Alter von 65 000 Jahren geschätzt, also 20 000 Jahre vor dem Zeitpunkt, als der Homo sapiens vermutlich aus Afrika nach Europa kam. Diese Bilder stammen von Neandertalern. Schon lange bevor der anatomisch moderne Mensch das heutige Spanien besiedelte, »haben Menschen Fahrten in die Dunkelheit unternommen«, schreibt ein die Kunstwerke datierender Archäologe.
Im Unterland erzählt von solchen Fahrten in die Dunkelheit und von Expeditionen in die Tiefe auf der Suche nach Wissen. Die Themen reichen von der Dunklen Materie, die bei der Entstehung des Universums gebildet wurde, bis zu den atomaren Aussichten des vor uns liegenden Anthropozäns. Auf dieser Reise durch die Erdgeschichte ist die Linie, entlang derer sich die Geschichte zwischen diesen beiden weit entfernten Punkten entfaltet, die stetig fortschreitende Gegenwart. Und passend zum Thema zieht sich durch die Kapitel ein weites unterirdisches Netzwerk aus Echos, Mustern und Verbindungen.
Seit nunmehr fünfzehn Jahren schreibe ich über die Beziehungen zwischen Landschaften und dem Inneren des Menschen. Aus dem anfänglichen Wunsch, ein persönliches Rätsel zu erhellen – warum mich als junger Mann die Berge so sehr anzogen, dass ich manchmal bereit gewesen wäre, aus Liebe zu ihnen zu sterben – , hat sich ein Werk entwickelt, das in fünf Büchern und annähernd zweitausend Seiten die Tiefen der Erdgeschichte kartografiert. Von den eisigen Gipfeln der höchsten Berge der Welt folgte ich einer abwärtsgerichteten Bahn bis hinab zum zwingenden Endpunkt, der Erforschung aller unterirdischen Ebenen und Geschosse. »Der Abstieg beginnt/als der Aufstieg begann«, schreibt William Carlos Williams in einem späten Gedicht. Ich musste erst in die zweite Lebenshälfte kommen, um halbwegs zu verstehen, was Williams damit meint. Im Unterland habe ich Dinge gesehen, die ich nie vergessen möchte – und Dinge, die ich lieber nie gesehen hätte. Dieses Buch, das mir zuerst als das am wenigsten menschliche erschien, entpuppte sich zu meiner Überraschung als das geselligste. Stand bislang im Zentrum vieler meiner Texte der Fuß eines Wanderers, der sich im Gehen hebt und senkt, so ist es auf diesen Seiten die geöffnete, sich ausstreckende Hand, die grüßt, tröstet und markiert.
Eine Zeit lang hat mich auch die Vision der Samen fasziniert, die die Unterwelt als identische Umkehrung der menschenbewohnten Sphäre sehen, unterhalb der Spiegelachse der Erdoberfläche, sodass »die Füße der Toten, die kopfüber laufen müssen, die Fußsohlen der aufrecht gehenden Lebenden berühren«. Mich rührt die Nähe, die sich aus dieser Stellung ergibt. Die Lebenden und die Toten stehen Sohle an Sohle. Betrachte ich die Fotografien der frühen Handabdrücke an den Wänden der Höhlen in Maltravieso, Lascaux und Sulawesi, stelle ich mir vor, wie ich meine Hand auf die Umrisse der Hand ihrer unbekannten Schöpfer lege. Und wie ich die Wärme einer Handfläche spüre, die durch den kalten Stein gegen meine drückt, sodass wir uns Fingerspitze an Fingerspitze durch die Zeit berühren.
~
Kurz bevor ich mit den hier berichteten Reisen begann, bekam ich zwei Gegenstände geschenkt. An jeden war eine Bitte geknüpft, und ich sollte die Gegenstände nur annehmen, wenn ich zustimmte, beide Bitten zu erfüllen.
Der erste Gegenstand ist ein doppelwandiges Bronzekästchen in der Größe eines Schwaneneis, das schwer in der Hand liegt. Es ist ein Miniatursarkophag, und was er enthält, ist toxisch. Ihr Schöpfer schrieb sich die schlimmen Dinge von der Seele, die ihn verfolgten: alles, was er hasste, fürchtete und verloren hatte, das Leid, das er anderen und andere ihm zugefügt hatten. Er verbrannte das Papier und verbarg die Asche im Kästchen. Dann überzog er das Kästchen mit einer zweiten Bronzeschicht, um es noch stabiler zu machen. Während des Gießens bekam die äußere Bronzeschicht Scharten und Krusten, sodass sie wie die Oberfläche eines Planeten oder das Wetter über einem solchen aussah. Als Nächstes schlug er vier Eisennägel durch die Mitte des Kästchens, kürzte die Enden bündig und feilte sie flach. Es ist ein außergewöhnlich kraftvolles Objekt, das die kultische Energie in sich trägt, die ihm seine Herstellungsweise eingeschrieben hat. Es hätte zu jedem Zeitpunkt in den letzten 2500 Jahren hergestellt werden können, stammt aber aus jüngster Zeit.
Ich bekam das Kästchen unter der Bedingung, dass ich es an der tiefsten und sichersten Stelle im Unterland verbergen sollte, die ich finden könne – damit es niemals wieder an die Oberfläche zurückkehrte.
Das zweite Objekt ist eine aus Walknochen geschnitzte Eule. Sie ist ein Talisman und steht für etwas Magisches. Der Minkwal, aus dem die Eule gemacht ist, wurde tot an die Küste einer Hebrideninsel geschwemmt. Querschnitte einer Rippe wurden glatt geschliffen, bis sie knapp eineinhalb Zentimeter dick und knapp fünfzehn Zentimeter lang waren. In einen dieser Querschnitte wurden mit einer Klinge vier Kerben geschnitten: zwei für die Augen, zwei für die angedeuteten Flügel. Es ist ein außergewöhnlich schönes, von eiszeitlicher Einfachheit geprägtes Objekt. Es hätte zu jedem Zeitpunkt in den letzten 20 000 Jahren hergestellt werden können, stammt aber aus jüngster Zeit.
Ich bekam die Eule unter der Bedingung, dass ich sie unter der Erdoberfläche immer bei mir tragen sollte, damit ich durch sie im Dunkeln besser sähe.
ERSTER TEIL
Sichtbar
Großbritannien
2
Begräbnis
Mendip Hills, Somerset