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Amelie Winter

Selbst Amor schießt mal daneben

Romantische Komödie





Elaria
80331 München

1

Nicholas Bennett nippte an einem Starbucks-Kaffee. Ab und an sah er hoch in den wolkenlosen Himmel. Sonne statt Nieselregen – in London kam das nicht oft vor.

»Willst du mir helfen oder nur Löcher in die Luft starren?«, fragte sein bester Freund Tom, der im Gegensatz zu ihm im Moment alle Hände voll zu tun hatte.

»Dir helfen? Ich bin nur hier, um zuzusehen. Passiert mir nicht alle Tage, dass ich bei einem Filmdreh dabei sein kann.«

Tom war zugleich Regisseur und Produzent dieses kitschigen Streifens.

»Ich brauche niemanden, der untätig herumsteht«, meckerte er.

Nick verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen, während sein Blick zu den Schauspielern schweifte, die von einer Oscar-Nominierung noch Lichtjahre entfernt waren.

»Die Kleine ist süß«, sagte er.

Die Filmheldin war vermutlich kaum älter als zwanzig, hatte langes blondes Haar, blaue Augen und einen üppigen Busen, den ihr Gott höchstpersönlich mit auf den Weg gegeben hatte – im besten Fall. Vielleicht hatte aber auch ein geschickter Chirurg nachhelfen müssen.

»Leider ist sie nicht Julia Roberts«, murrte Tom. Er gab dem Kameramann Anweisungen. Nick war bewusst, dass er im Weg stand. Es kümmerte ihn nicht. Seinen besten Freund bekam er nicht oft zu Gesicht. Wenn sie sich dann endlich mal trafen – so wie heute –, wollte er auch Zeit mit ihm verbringen. Selbst wenn das bedeutete, ihn bei seiner Arbeit zu behindern.

»Der da sieht auch nicht aus wie Hugh Grant«, meinte Nick.

»Und er kann sich nicht mal seinen dämlichen Text merken!« Tom ließ kein gutes Haar an seinen Filmen, seinen Schauspielern, der Produktion. Er war ein Perfektionist und nie zufrieden, wenn es um die Kunst ging.

»Was machst du eigentlich hier? Ich meine, außer mir im Weg zu stehen?«, wollte er wissen.

»Ich bin wegen des Hauses hier.« Nick deutete zu dem Townhouse, das seiner Familie gehörte. Sein Onkel hatte dort bis vor Kurzem gelebt.

»Willst du etwa hierherziehen? Nach Notting Hill?«

»Warum nicht?« Nick zuckte mit den Schultern.

»Ich dachte, dir hätte es die arabische Wüstensonne angetan. Warst du nicht in Dubai?«

»Ich bin immer woanders.« Seine Familie besaß Hotels überall auf der Welt. »In Dubai war ich Ski fahren, mehr nicht. Auch ich hab mal Urlaub nötig.«

Die Araber hatten sich was Schräges einfallen lassen. Ein Indoor-Skiressort mit allem, was dazugehörte: kalte Temperaturen, mehr Schnee, als in der Wüste erlaubt war, und natürlich Luxusunterkünfte.

»Gut! Es kann losgehen!«, rief Tom seinem Team zu.

Nick beugte sich nach vorne, um auf den kleinen Bildschirm an der Filmkamera lugen zu können. Sein Freund sah hoch konzentriert aus, während die Schauspieler ihren Text sprachen.

»Ich will aus dem Reihenhaus ein Hotel machen«, erzählte Nick beiläufig.

»Cut!«, rief Tom aufgebracht. Irgendetwas hatte ihm an der Szene missfallen. »Dreht euch beide näher in diese Richtung!«, wies er die Schauspieler an. Er rannte herum wie ein aufgescheuchtes Huhn. Nick hingegen hatte sich schon lange nicht mehr so entspannt gefühlt. Der Kameramann beäugte ihn misstrauisch, da er ihn geradezu belagerte.

»Okay, noch mal von vorne!«, schrie Tom. Seine Stimme erhob er nur, wenn’s um den Job ging. Ansonsten neigte er zum Flüstern und Nuscheln. Er war keine Führungspersönlichkeit, umso amüsanter fand Nick es, ihn auf einem Filmset beobachten zu können. Mit wildem Gebaren rauschte er umher und wirkte dabei, als hätte er vergessen, seine tägliche Ration Beruhigungstabletten einzunehmen.

»Du willst ein Hotel aus dem Haus deines Onkels machen?«, fragte er, als er sich wieder zu Nick gesellte. Der Schweiß perlte auf seiner Stirn.

»Ist doch eine tolle Idee, findest du nicht? Wenn dein Film so berühmt wird wie damals Notting Hill, dann wird dieser Stadtteil ein wahrer Touristenmagnet.«

»Das ist nur ein Indie-Streifen, Nick. Der schafft’s doch nicht mal auf die große Leinwand.«

»Du solltest endlich lernen, das Glas halb voll zu sehen.«

»Ist doch wahr …! Guck dir mal an, wie die beiden sich küssen!«

Nick schaute gespannt. Das junge Paar machte den Eindruck, als würde es sich arg überwinden müssen, die Lippen aneinanderzuschmiegen.

»Cut! Cut!«, rief Tom aufgebracht. »Mehr Leidenschaft bitte! Ihr liebt euch wie verrückt, schon vergessen?«

Nick verkniff sich mit Mühe ein Lachen. Dieses Spektakel amüsierte ihn so sehr, dass sein Kaffee noch kalt werden würde.

»Soll ich ihnen zeigen, wie man richtig küsst?«, schlug er vor. »Die Kleine gefällt mir … Die würde ich nicht von der Bettkante stoßen …«

»Was sagt denn Holly dazu, dass du gerne mit anderen Frauen flirtest?«

»Holly?«

»Ja, du weißt schon … deine Verlobte …«

»Holly sagt gar nicht viel. Vermutlich vergnügt sie sich auch anderweitig.«

Holly hatte er schon seit Wochen nicht mehr gesehen. Er hatte ihr ein Foto von sich mit Schiern in der Wüste geschickt. Ihre Antwort? Ein erstaunt guckendes Emoji. Holly war die Emoji-Queen. Eigentlich hatte er mit ihr gemeinsam nach Dubai fahren wollen, aber sie hatte Wichtigeres zu tun gehabt. Das hatte sie eigentlich immer.

Er ließ seinen Blick erneut zu dem Pärchen schweifen. Den kitschigen Dialog hörte er nun schon zum dritten Mal. Die beiden beteuerten sich ihre Liebe, mit falschen Tränen in den Augen und falschen Gefühlen im Herzen.

»Willst du nicht aus Liebe heiraten?«, sagte Tom.

»Liebe?« Nick schaute irritiert zu ihm hin. »Ich glaube nicht an die Liebe.«

Er hatte ein Imperium zu leiten, da war kein Platz für Emotionen – oder verrücktspielende Hormone. Nichts davon war von Dauer. Er war jetzt dreißig, da musste er sich um Nachwuchs kümmern. Er würde irgendwann mal einen Nachfolger brauchen. Nicholas Bennett Junior würde hoffentlich bald das Licht der Welt erblicken, aber nur wenn Holly sich von ihrem Telefon losreißen konnte. Er wusste gar nicht, was sie mit dem Ding ständig tat. Sie war ein Influencer – was auch immer das bedeutete. Immerzu postete sie Bilder von sich auf Instagram. Sie hatte zehn Millionen Follower. Wenn sie gemeinsam reisten – was nur selten vorkam –, war stets ein Kamerateam dabei. Holly machte nie einfach Urlaub, sie hatte einen Auftrag. Ein Foto von ihr, wie sie in einem Hotelpool posierte, ließ sie sich teuer bezahlen.

»Gut so!«, rief Tom. »Jetzt drehen wir die nächste Szene!«

Nick trat einen Schritt zurück, da der Kameramann mit seiner Ausrüstung umziehen musste, und zwar einige Meter die Straße hoch.

»Etwas klein für ein Hotel, oder nicht?« Tom deutete auf das Townhouse. In dieser Straße reihte sich nahtlos eins ans andere. Man wohnte hier auf mehreren Stockwerken in sehr engem Raum.

»Deswegen will ich das Nachbargebäude kaufen.« Die Fassaden der beiden Reihenhäuser waren identisch: viktorianischer Stil, im späten neunzehnten Jahrhundert erbaut. »Stell dir vor: Ich reiße einfach die Mauern ein, dann ist Platz für eine schicke Lobby. Eine hübsche Glasfassade ermöglicht den Blick hinaus auf den großen Garten, der sich gleich dahinter befindet.« Nick geriet ins Schwärmen. Er hatte ganz genaue Pläne für das neue Hotel. Es sollte den typischen Charme von Notting Hill versprühen, gleichzeitig aber modern und elegant wirken.

»Und was sagt Onkel Bill dazu?«

»Onkel Bill ist wie vom Erdboden verschluckt«, murrte Nick. »Er hat mir das Haus verkauft, bevor er abgehauen ist. Wahrscheinlich will er seinen Lebensabend woanders verbringen.«

»Das klingt aber gar nicht nach ihm …«

Im Vergleich zu seinem Vater hatte sich Onkel Bill nie viel aus Geld und Besitz gemacht. Er hatte gerne in dem alten Haus in Notting Hill gelebt. Er hatte die Menschen hier gemocht.

»Vorerst muss ich mich um Annegret Schönberg kümmern«, sagte Nick.

»Wer soll das sein?« Tom hielt kurz inne, um sich einen Überblick über das Set zu verschaffen. Das Kamerateam war neu positioniert und die von der Maske pinselten an den Gesichtern der Schauspieler herum.

»Die Schwester von Martha Schönberg. Ich werde mich mit der alten Lady mal unterhalten müssen.«

»Und wer ist Martha Schönberg?«

»Das ist die Frau, der mein Onkel in einem Anflug von geistiger Verwirrtheit sein Haus überlassen hat! Sie ist vor einem Jahr gestorben. Nach ihrem Tod hat es die Schwester geerbt.«

»Woran ist sie denn gestorben?« Tom durchlöcherte ihn geradezu mit Fragen.

»Wer? Diese Martha?«

»Wer sonst?«

Nick holte tief Luft. »Herztod … oder so was. Bin mir nicht sicher. Geschieht ihr recht! Das war eine ganz hinterlistige Hexe, nichts weiter! Ursprünglich gehörten beide Häuser samt Garten meiner Familie. Mein Onkel hat ihr eins davon geschenkt. Geschenkt! Kannst du das glauben? Wahrscheinlich hat sie ihn bezirzt, ihm schöne Augen gemacht. Den Frauen konnte er keinen Wunsch abschlagen. Dieser alte Narr!«

Nick hatte die Dame nie getroffen. Sein Onkel hatte das Gebäude vor ihrer Ankunft vermietet. Im Erdgeschoss befand sich ein Souvenirladen, den früher jemand anders geführt hatte: ein Mann indischer Abstammung, der neben der alten Kasse einen winzigen Fernseher stehen gehabt hatte, wo ständig Bollywood-Filme gelaufen waren.

Nachdem sein Onkel ihm das Haus verkauft hatte – ja, er hatte es ihm verkauft und nicht geschenkt –, war er verschwunden. Keiner wusste, wo er sich herumtrieb. Nick hatte zu spät erfahren, dass die Hälfte seines einstigen Besitzes und der große Garten nun dieser Annegret Schönberg gehörten. Hätte er früher davon gewusst, hätte er seinen Onkel dazu überredet, die Schenkung rückgängig zu machen.

»Hört sich kompliziert an …« Tom stöhnte laut auf.

»Nicht so kompliziert wie das Drehen von romantischen Komödien.« Nick grinste schelmisch, da sein Freund nun wieder so aussah, als stünde er vor einem Nervenzusammenbruch.

»Was ist da los?!«, rief er aufgewühlt. »Mit dem Ton stimmt irgendetwas nicht!« Er raufte sich die blond gelockten Haare. »Wo ist Henry, verdammt?!«

»Der macht grad Kaffeepause!«, rief jemand vom Team. Nick konnte nicht erkennen, wer es gewesen war. Es tummelten sich hier zu viele Leute. Darunter waren auch einige Passanten, die sich neugierig umsahen und schnell das Weite suchten.

»Kaffeepause …!«, schnaubte Tom. Er wandte sich mit empörtem Blick Nick zu, der ihm daraufhin beschwichtigend auf die Schulter klopfte.

»Atme erst einmal tief durch, okay?« Tom folgte seinem Ratschlag und vollführte Atemübungen wie eine Frau in den Wehen.

»Geht’s dir jetzt besser, hm?«, fragte Nick.

»Du weißt, der Job regt mich auf.«

»Dann such dir doch einen anderen.«

»Aber ich liebe das Filmemachen …!«, stieß Tom verzweifelt hervor.

»Weiß ich doch, weiß ich doch! War nur ein Scherz!« Er tätschelte ihm die Schulter.

Die Schauspieler waren wieder an ihrem Platz, geschminkt und richtig verkabelt. Der Ton passte, das Bild passte. Alles war perfekt. Tom gab ihnen einige Anweisungen. Diesmal mit ruhiger Stimme, so wie Nick ihn eigentlich kannte.

Die Filmklappe schnappte zu und es konnte losgehen.

»Du willst jetzt also der Schwester das Haus abluchsen?«, fragte Tom plötzlich.

»Abluchsen? Ich bezahle gut.«

»Und wenn sie nicht verkaufen will?«

»Das wird sie.«

»Und wenn nicht?« Tom beäugte ihn misstrauisch.

»Was guckst du mich so an?«

»Du bist ein guter Freund, Nick«, verkündete er in feierlichem Ton. »Aber ich würde niemandem wünschen, dich zum Feind zu haben.«

»Ich nehme mir nun mal, was mir gehört.«

»Das Haus gehört dir aber nicht … Cut! Das machen wir noch mal!«

Nick blickte zu dem Reihenhaus auf der anderen Seite der Straße. Warum war sein Onkel nur so dämlich gewesen, dieser Frau seinen Besitz zu überlassen? Die Bennetts kauften und sie verkauften. Aber sie verschenkten nichts. Nicht mal in der eigenen Familie.

»Ach du Sch …!«, platzte es aus Tom heraus.

»Was ist?«

»Da rennt mir jemand in die Szene rein! Wo ist bloß Henry?!« Er griff nach seinem Funkgerät – solche wurden hier großzügig verteilt –, aber ein Henry meldete sich nicht.

»Nick, kannst du hingehen und sie aufhalten? Sag ihr, dass wir hier einen Film drehen!«

»Bin ich dein Setrunner?«, fragte Nick amüsiert.

»Nein, du bist mein bester Freund, der mich jetzt nicht im Stich lässt!«

»Ich geh ja schon …« Er machte sich eilig auf den Weg. Die junge Frau kramte in ihrer Handtasche und fand dabei keine Zeit, nach vorne zu blicken. Nichts ahnend rannte sie auf die Schauspieler zu.

Nick hechtete mit großen Schritten über die Straße, um sie noch rechtzeitig aufzuhalten. Der Kaffee schwappte beinahe über den Rand des Bechers.

»Hi«, sagte er, als er sie erreichte. Er war ganz außer Atem.

Sie blieb abrupt stehen und schaute erschrocken zu ihm auf. Ihre grünen Augen hypnotisierten ihn. Dazu das rotblonde Haar, das sie zu einem Knoten hochgebunden hatte … Sie war hübsch.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.

»Ähm, ja. Wir drehen hier einen Film und Sie sind gerade dabei, die Szene zu ruinieren.«

Sie lugte verwundert an ihm vorbei und schien endlich zu begreifen, was sich hier abspielte.

»Oh, tut mir leid! Ich habe nach meinem Hausschlüssel gesucht und gar nicht bemerkt, dass …!«

»Schon okay! Wohnen Sie hier in der Nähe?«, erkundigte er sich charmant.

»Ja, gleich hier.« Sie deutete auf das Haus, das Martha Schönbergs Schwester gehörte. Sprachlos betrachtete er seine neue Bekanntschaft von deren Haaransatz bis zu ihren Sneakers. Sie trug Jeans und eine Trainingsjacke, darunter ein schlichtes T-Shirt.

Vor ihm stand doch nicht Annegret Schönberg? Das war unmöglich. War es vielleicht ihre Tochter?

Die Szene war im Kasten. Ein lautes ›Cut!‹ ertönte von Weitem. Tom war zufrieden mit dem Ergebnis. Seine beiden Daumen zeigten nach oben und er hatte ein breites Grinsen im Gesicht.

»Ich will Sie nicht länger aufhalten«, sagte Nick und trat einen Schritt zurück. Sie ging weiter, und er drehte sich absichtlich so, dass sie ihn leicht anrempelte. Der Kaffee in seinem Becher war in Bewegung geraten und Nick kippte ihn sich ungeniert aufs blütenweiße Hemd – natürlich ohne dass sie etwas davon mitbekam.

»Meine Güte …!« Sie erschrak, als sie seine schmutzige Kleidung sah. »War ich das etwa?«

»Kann passieren.« Er zuckte mit den Schultern.

»Der schöne Anzug …«, murmelte sie. Nicht nur sein Hemd war ruiniert, auch das Jackett hatte etwas abgekriegt.

»Oh, der ist nur geliehen. Ich bin Schauspieler, eigentlich eher Statist oder im besten Fall Komparse. Dieser durchgeknallte Typ da drüben wird mir jetzt eine Standpauke halten.« Er deutete auf Tom.

»Wie kann ich das wiedergutmachen?«, fragte sie.

»Machen Sie sich keinen Kopf! Die Garderobiere wird sich darum kümmern. Aber vielleicht können Sie mich ja mal zu einem Kaffee einladen. Diesen hier habe ich leider verschüttet.« Er hob den leeren Becher hoch und schenkte ihr das schönste Lächeln, zu dem er fähig war.

Sie zögerte, was ihn verwunderte. Normalerweise konnten ihm Frauen nicht widerstehen, wenn er sich von seiner besten Seite zeigte. Ihre grünen Augen musterten ihn neugierig; die rotblonden Locken, die ihr in die Stirn fielen, wehten im Wind. Sie machte einen zierlichen Eindruck. Sicher würde er leichtes Spiel mit ihr haben. Sie war in seinem Alter, vielleicht ein paar Jahre jünger. Mit Sicherheit war sie nicht halb so durchtrieben wie er.

Die Filmcrew war mit der Arbeit fertig. Eifrig wurde die Ausrüstung in einen Van geschafft.

»Sie sehen, ich habe jetzt Feierabend«, versuchte Nick es erneut. Das Hemd klebte nass auf seiner Brust, und auch im Schritt hatte er ein ungutes Gefühl.

Sie sah zum Souvenirladen und sagte: »Ich kann Ihnen einen Kaffee machen, wenn Sie wollen. Schließlich wohne ich gleich hier. Sie können natürlich auch mein Bad benutzen.«

»Das ist ja wie im Film mit Hugh Grant und Julia Roberts! Leider bin ich kein weltberühmter Schauspieler, sondern nur ein brotloser Künstler.«

»Und ich bin keine glücklose Buchhändlerin mit britischem Charme«, gab sie schlagfertig zurück. »Vielleicht doch glücklos, aber ohne Charme.«

»Sie kennen also den Film Notting Hill aus dem Jahr 1999?«

Sie nickte kurz, und erstmals entdeckte er den Anflug eines Lächelns in ihrem Gesicht.

»Ich bezweifle, dass es Ihnen an Charme fehlt«, meinte er.

»Wenn Sie das sagen …«

Gemeinsam gingen sie los. Nick folgte ihr zufrieden. Kurz schaute er zu Tom hinüber, der ihn nicht weiter beachtete. Sein bester Freund hatte immer Verständnis dafür, wenn Nick sich an eine Frau ranmachte. Tat er das gerade? Machte er sich an diese Frau ran? Einer Beute näherte man sich zuerst vorsichtig, um sie dann aus dem Hinterhalt zu überfallen. Das hatte er im National Geographic Channel gesehen. Das Verhalten der Tiere zu studieren, führte mitunter zu erstaunlichen Erkenntnissen.

»Sie sind nicht von hier, nicht wahr?«, sagte er. In London tummelte sich alles und jeder. Hier wurde mit unzähligen Akzenten gesprochen.

»Nein«, gab sie geheimnisvoll zurück. Sie öffnete die Tür zu dem schäbigen Souvenirladen und bat ihn herein. Drinnen empfing ihn das pure Chaos. Sein Blick huschte über verstaubte Teedosen, auf denen die Königsfamilie abgebildet war, eine Unmenge von Küchenmagneten, Schlüsselanhängern und Gryffindor-Flaggen.

Sie ging schnurstracks in den hinteren Teil des Ladens, wo sich eine schmale Treppe befand, die nach oben in den ersten Stock führte. Schweigend stiegen sie die knarrenden Stufen hoch.

»Das Bad ist am Ende des Flurs«, erklärte sie und deutete in die Richtung.

Die Wände waren in bunten Farben gestrichen oder mit altmodischen Tapeten überklebt – genau wie im Haus seines Onkels. Die Küche war nicht aufgeräumt. Überall standen Kartons herum, sogar im äußerst schmalen Flur. Es war offensichtlich, dass sie erst kürzlich eingezogen war. Befanden sich in den Kartons ihre Sachen oder jene der Verstorbenen? Auf jeden Fall hatte es den Anschein, als würde sie sich hier einrichten wollen. Nick bedankte sich höflich, bevor er das Bad aufsuchte.

Wie sollte er jetzt vorgehen? Er schaute geradeaus in den Spiegel. Das teuflische Grinsen, das sich in seinem Gesicht abzeichnete, überraschte ihn keineswegs. Er würde das Vertrauen dieser jungen Frau gewinnen, mit ihr flirten – wenn’s sein musste! – und sie dann dazu überreden, das Gebäude samt Garten zu verkaufen.

Sie machte einen einfältigen Eindruck. Warum sonst war sie auf diese dämliche Aktion mit dem verschütteten Kaffee hereingefallen? Oder lud sie öfters wildfremde Männer in ihr Zuhause ein?

Er knöpfte das Hemd auf. Der Kaffeegeruch war ziemlich penetrant. Mit einem Handtuch versuchte er, die nasse Haut abzutupfen.

Die kleine Maus würde ihm ganz sicher in die Falle gehen.

 

2

Matilda räumte rasch den Tisch ab. Sie hatte nach dem Mittagessen nicht Zeit gehabt, das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine zu stellen.

Die La-Pavoni-Espressomaschine gab röchelnde Laute von sich. Sie war die erste Anschaffung für ihren Coffeeshop, den sie in Notting Hill eröffnen wollte. Noch viele weitere würden folgen. Allein die Ausgaben für das Espressoequipment schätzte sie auf zehntausend Pfund. In den letzten Tagen war sie vorwiegend damit beschäftigt gewesen, die anfallenden Kosten zu berechnen.

Eilig packte sie den mit Zahlen vollgekritzelten Notizblock, der für ihren Gast gut sichtbar auf dem Tisch lag, in eine Schublade.

Als die Küche halbwegs sauber war, ging sie in den Flur und lauschte gespannt in die Stille.

Was wollte dieser Kerl nur von ihr?

Er musste sie für dämlich halten. Warum sonst hatte er sich den Kaffee selbst übers Hemd geschüttet? Glaubte er wirklich, sie hätte es nicht bemerkt? Wollte er sie näher kennenlernen und das war seine Masche? Nicht sehr originell ...

Das kurze Aufblitzen in seinen Augen, als sie ihn in ihr Haus eingeladen hatte, war ihr nicht entgangen. Vielleicht wollte er sie ja ausrauben, was ziemlich dumm war. Hier gab es nichts von Wert, und sollte er beabsichtigen, ein paar Souvenirs mitgehen zu lassen, wäre sie ihm sogar dankbar. Sie wusste ohnehin nicht, wohin mit all dem Zeug. Vieles davon war in schlechtem Zustand. Die Ansichtskarten und T-Shirts hatte die Sonne ausgeblichen, der Rest war verstaubt. Dieses Haus stand seit Monaten leer. Manche Sachen waren kaputt, da sie nur billig produziert worden waren.

Vielleicht wollte er sie überfallen, sich an ihr vergreifen? Das war sogar noch dümmer. Bevor Matilda zum Bogensport gekommen war, hatte sie Jiu-Jitsu trainiert, eine japanische Kampfsportart zur waffenlosen Selbstverteidigung. Sie war zuversichtlich, nichts verlernt zu haben. Besorgt blickte sie sich um. Sie würde es vorziehen, in diesen engen Räumen nicht eine ihrer erlernten Wurftechniken anwenden zu müssen!

Grimmig ging sie zum Badezimmer, um nachzusehen, was er darin so lange trieb. Die Tür sprang auf und Matilda war bereit, es mit ihrem potenziellen Angreifer aufzunehmen.

»Bin fertig, danke«, sagte er freundlich.

Eigentlich machte er einen richtig netten Eindruck, aber davon ließ sie sich nicht blenden.

»Der Kaffee ist ebenfalls fertig«, meinte sie nüchtern und zeigte Richtung Küche.

»Und wie köstlich er riecht!«, schwärmte er.

Seit er einen Fuß in ihr Haus gesetzt hatte, hatte er alles ganz genau ins Visier genommen. Matilda nahm derweil ihn ins Visier: nussbraunes Haar, an den Seiten etwas kürzer geschnitten; ein beinahe jungenhaftes Gesicht; wache Augen und ein süffisantes Lächeln, das in seinem Antlitz festgefroren schien. Zudem war der Anzug richtig schick.

Er hatte es geschafft, den Kaffee größtenteils aus seinem Hemd zu waschen, das nun nass auf seiner Haut klebte. Sie konnte seine Bauchmuskeln erkennen. Seinen Körper vernachlässigte er mit Sicherheit nicht. Als Schauspieler war es bestimmt von Vorteil, gut auszusehen.

»Na dann …« Matilda ging voraus. Sie hatte sich schon vorhin alle wichtigen Verteidigungstechniken ins Gedächtnis gerufen, sollte er beabsichtigen, sie von hinten zu attackieren. Sie war in der Lage, sich aus Umklammerungen, Arm- und Würgegriffen zu befreien. Selbst mit ihrer kaputten Schulter wusste sie sich zu wehren.

Er tat aber nichts dergleichen, und Matilda wurde bewusst, dass sie sich lächerlich verhielt. Vor zehn Tagen war sie nach London gekommen – allein. Sie wollte kein leichtes Opfer von Dieben und Gaunern werden.

Den Kaffee servierte sie ihm in hübschem Geschirr, mit Zuckertütchen und Keks. So würde sie auch ihren zukünftigen Gästen den Kaffee anbieten.

»Ich hoffe, Sie mögen einen Latte Macchiato?«, sagte sie, da sie verabsäumt hatte, ihn nach seinen Präferenzen zu fragen.

»Ein Latte ist wunderbar.« An britischem Charme fehlte es ihm wahrlich nicht.

Sie setzte sich zu ihm und beobachtete ihn dabei, wie er den ersten Schluck nahm.

»Das ist der beste Kaffee, den ich je getrunken habe«, meinte er bitterernst.

»Danke. Sie sind also Schauspieler?«, fragte sie.

»Glauben Sie, meine Begeisterung ist nur gespielt?«

Sie grinste gequält. Ihr Gast war nicht nur gut aussehend, sondern auch klug. Jemand wie er sollte es nicht nötig haben, Frauen mit billigen Tricks hinters Licht zu führen.

»Ich hatte schon viele Jobs«, erzählte er. »Momentan versuche ich mein Glück beim Film.« Er nahm den nächsten Schluck und gab ein lautes Mmmmh von sich. Daraufhin leckte er sich über die Oberlippe, um das kleine Milchschaumbärtchen zu beseitigen. »Und was ist mit Ihnen? Sind Sie schon lange hier? In London?«

»Nein. Erst seit Kurzem. Ich hab mich noch nicht richtig eingelebt.«

London war eine Stadt, die sich ständig neu erfand, – hatte Matilda gehört. Sie wollte neu anfangen, sich neu erfinden, so wie London das tat. Ob Tante Martha das auch vorgehabt hatte? War sie deswegen hierhergezogen? Um neu anzufangen und alles hinter sich zu lassen?

»Gehört das Haus Ihnen?«, wollte er wissen.

»Nein, es gehört meiner Mutter. Sie hat es nach dem Tod ihrer Schwester geerbt. Da sie nicht beabsichtigt, je nach London zu kommen, bin ich jetzt hier.«

»Tut mir leid mit Ihrer Tante«, sagte er.

Tante Martha hatte in ihrem Leben viel ertragen müssen. Ihr Mann war bei einem Autounfall gestorben, da war ihre Tochter Leila gerade mal zwei Jahre alt gewesen. Matilda und Leila waren zusammen aufgewachsen. Im Alter von zehn Jahren war ihre Cousine an einem Gehirntumor erkrankt. Anderthalb Jahre später hatte sie den erbitterten Kampf gegen den Krebs verloren. Danach war Tante Martha nach London gezogen. Sie war nur selten zu Besuch gekommen. Und wenn sie doch mal vorbeigeschaut hatte, war Matilda meist beim Training oder bei einem Wettkampf gewesen.

»Verraten Sie mir Ihren Namen?«, sagte ihr Gast plötzlich.

»Matilda.« Sie streckte ihm feierlich die Hand hin, die er breit lächelnd schüttelte. »Und darf ich Ihren Namen auch erfahren?«

»Ni … Josh.« Da sie nun ihre Vornamen kannten, war es vermutlich an der Zeit, die Förmlichkeiten abzulegen.

»Und? Verdient man gut beim Film, Josh?«, fragte sie.

»Wenn man Tom Cruise heißt, sicherlich. Was ist mit dir? Hast du schon einen Job gefunden hier in London?« Er wich ihren Fragen aus, während er gleichzeitig versuchte, mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte.

»Ich will ein Café eröffnen. Im Erdgeschoss. Meine Tante hat einen Souvenirladen betrieben.« Das war ihm sicher nicht entgangen.

»Ein Café?« Er schien überrascht und blickte an ihr vorbei auf die große Siebträgermaschine, die überhaupt nicht in diese winzige Küche passte.

»Lass mich raten: Das ist deine erste Investition.«

»Genau. Und du bist mein erster Gast. Schmeckt dir der Kaffee wirklich?«

»Der Kaffee ist großartig«, hauchte er ehrfürchtig. Dann verstummte er. Sekundenlang saß er einfach nur da und starrte auf die Espressomaschine. Hatte er endlich etwas entdeckt, das er stehlen konnte? Das Ding hatte über zweitausend Pfund gekostet.

Er trank den Kaffee in einem Zug aus. Plötzlich schien er es wahnsinnig eilig zu haben.

»Ich will dich nicht länger aufhalten. Vielen Dank für die Einladung«, sagte er.

»Das war ich dir doch schuldig wegen des versauten Hemdes«, erwiderte sie mit einem falschen Lächeln.

Sie würde die nächsten Tage besonders darauf achten, alle Türen gut zu verschließen. Warum hatte sie ihn überhaupt in ihr Haus hereingebeten? Weil sie immer wissen wollte, mit wem sie es zu tun hatte. Er führte etwas im Schilde, da war sie sich sicher.

Er stand auf und lächelte ihr ein letztes Mal zu, bevor er aus der Küche flüchtete. Matilda war gleich hinter ihm. Sie wollte nicht riskieren, dass er auf dem Weg nach draußen doch noch etwas mitgehen ließ. Ihr Recurvebogen lag auf der Theke im Souvenirladen. Es war ihr wertvollster Besitz. Sie hatte diesen Bogen bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro zuletzt in einem Wettkampf verwendet. Irgendwie konnte sie sich nicht von ihm trennen. Er war wie ein Mahnmal.

Nacheinander gingen sie die schmale Treppe hinunter ins Erdgeschoss.

»Du vertraust mir wohl nicht, hm?« Josh hatte bemerkt, dass sie ihn nicht aus den Augen ließ. Sie standen nun im Laden und er drehte sich zu ihr um.

»Ich hab gesehen, dass du dir den Kaffee selbst aufs Hemd geschüttet hast«, sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Oh«, meinte er knapp und presste daraufhin schuldbewusst die Lippen zusammen. »Deswegen hältst du mich also für einen Dieb oder Schlimmeres?« Er hob abwehrend die Hände. »Ich werde dir ganz sicher nichts tun.«

»Das ist sehr klug von dir«, gab sie kühl zurück.

»Ich möchte dich nur besser kennenlernen. Diese ganze Aktion war dämlich, tut mir leid. Aber sieh es mal so: Ich war bereit, deinetwegen meinen Anzug zu ruinieren. Außerdem weiß ich jetzt, wo’s den besten Kaffee in London gibt.« Das gekünstelte Lächeln hatte er gut einstudiert. Matilda hingegen verzog keine Miene.

»Was machst du mit all den Souvenirs?«, fragte er.

»Vorerst räume ich sie in den Keller.«

»Ist sicher viel Arbeit …«

»Geht so …« Mit ihrer verletzten Schulter würde es schwierig werden, die Souvenirs aus den oberen Regalen herunterzuholen.

»Sieht so aus, als könntest du etwas Hilfe gebrauchen«, sagte er.

»Willst du mir etwa helfen?«

»Ich wäre nie so dreist, dir meine Hilfe aufzuzwingen, aber …«

»Aber?«

»Du bist nachtragend, nicht wahr? Die Aktion mit dem Kaffee wirst du mir nicht so schnell verzeihen.«

»Ich bin neu in der Stadt, das ist alles. Außerdem bin ich von Natur aus ein vorsichtiger Mensch.«

Josh war gebildet, wusste sich auszudrücken und hatte sich in der kurzen Zeit, in der er sich hier aufhielt, einen guten Überblick über ihr Zuhause verschafft. Und jetzt wollte er sogar noch mal vorbeikommen? Waren alle Briten so aufdringlich?

Matilda hatte im Laufe ihrer sportlichen Karriere viele Menschen unterschiedlicher Nationen kennengelernt, mit unterschiedlichen Persönlichkeiten, unterschiedlichen Verhaltensweisen – aber so jemand wie Josh war ihr noch nicht über den Weg gelaufen.

»Hör zu …« Er zupfte am Kragen seines Jacketts. »Bis ich mir so einen Anzug selbst leisten kann, wird’s wohl noch eine Weile dauern. Ich lebe sozusagen von der Hand in den Mund und bin ständig auf Jobsuche. Ich kannte die Lady, die diesen Souvenirladen betrieben hat. Und da dachte ich, vielleicht würdest du ihn weiterführen wollen. Dann brauchst du doch Personal … fürs Aufräumen … oder später vielleicht fürs Kaffeekochen … Überleg’s dir bitte!«

»Ich dachte, du wolltest mich nur näher kennenlernen?«, entgegnete sie frech.

»Du machst es mir wirklich schwer. Kann ich dir wenigstens meine Nummer geben?«

Matilda ließ sich mit der Antwort Zeit. Sie überlegte fieberhaft, ob sie Josh vertrauen konnte oder nicht. Natürlich konnte sie das nicht.

»Okay …«, sagte sie dennoch.

Sein Gesicht hellte sich sofort auf. Sie holte ihr Smartphone aus der Hosentasche und wartete geduldig, bis er ihr seine Nummer diktierte.

»Rufst du mich kurz an? Damit ich auch deine Nummer habe?«, sagte er.

Matilda zögerte schon wieder. Sie blickte stoisch auf ihr Handydisplay und drückte dann widerwillig auf den grünen Hörer.

Die alte Matilda gab es nicht mehr. Die Matilda, die viel zu verbissen war und anderen Menschen aus Prinzip nicht vertraute. Die neue Matilda wollte sich an das Lebensgefühl dieser Stadt anpassen. Es geradezu inhalieren.

Nur leider war es schwierig, alte Gewohnheiten abzulegen. Zudem war sie sich sicher, dass mit Josh – hieß er wirklich so? – irgendetwas nicht stimmte.

Sein Telefon bimmelte. Er holte es hervor, tippte kurz darauf herum und ließ es dann wieder in seine Hosentasche gleiten.

»Matilda … ist ein hübscher Name …«, sagte er.

»Nicht ganz so hübsch wie dein Telefon.« Das Ding hatte sicher ein Vermögen gekostet. Er lächelte listig.

»Mein letzter Schauspieljob hat mir einiges eingebracht. Ich dachte, jetzt starte ich richtig durch, – hab mich wohl geirrt.« Unbekümmert zuckte er mit den Schultern.

Sie schüttelte ungläubig den Kopf und entschied, vorerst ihre Krallen einzuziehen.

»Wann hast du denn Zeit? Ich will möglichst schnell mit der Arbeit beginnen.«

»Wann brauchst du mich denn?«

»Morgen? Um acht Uhr früh?«

»Ist gut. Ich werde da sein. Du musst mir aber unbedingt einen Kaffee machen!«

»Kaffee wird’s hier immer mehr als genug geben.«

»Dann sehen wir uns morgen, Matilda.«

Er verließ den schäbigen Souvenirladen, und Matilda trat zur Tür, um sie hinter ihm abzuschließen. Neugierig schaute sie ihm durch die schmutzige Glasscheibe hinterher. Das Filmteam war samt der Ausrüstung verschwunden. Josh spazierte lässig über die Straße. Dafür, dass ihm der Anzug nicht gehörte, trug er ihn mit einer erstaunlichen Selbstsicherheit.

Gedankenverloren ging sie zur Theke, wo neben der alten Ladenkasse ihr Bogenkoffer stand. Tief atmete sie ein, bevor sie ihn öffnete. Es war an der Zeit, mit der Vergangenheit abzuschließen. Warum fiel es ihr nur so schwer?

Sie hatte diesen Bogen geliebt, und doch hatte sie mit genau diesem Bogen im entscheidenden Moment versagt. Seit Monaten hatte sie keine Pfeile mehr geschossen.

Sollte sie ihn mal wieder spannen, ein Ziel anvisieren? Das war doch lächerlich! Es gab wichtigere Dinge zu erledigen.

Ein Café zu eröffnen war Schwerstarbeit. Jeder hatte sie für verrückt gehalten, einfach nach London zu gehen und diese Herkulesaufgabe ganz alleine meistern zu wollen. Aber Matilda hatte nichts zu verlieren. Es war ja nicht so, dass sie gar keine Berufserfahrung mitbrachte. Ihre Eltern besaßen eine Bäckerei und ein kleines Café. Dort hatte sie schon, seit sie klein war, ständig ausgeholfen. Sie wusste, wie man guten Kaffee zubereitete und leckere Torten backte.

Ihr Telefon klingelte. Rasch zog sie es aus der Hosentasche. Rief Josh sie an? Wollte er sie stalken? Es waren noch keine zehn Minuten vergangen, seit er ihr Haus verlassen hatte.

Mama stand auf dem Handydisplay und Matilda war erleichtert. Sofort ging sie dran.

»Wie oft willst du mich eigentlich anrufen, hm?«, sagte sie in gespielt vorwurfsvollem Ton. »Das wird teuer!« Gestern erst hatten sie zwei Stunden lang miteinander telefoniert. Ihre Mutter machte sich Sorgen um sie. Die Tochter ganz allein in der Großstadt – da wurde ihr angst und bange.

»Ich will nur wissen, wie’s dir geht!«

»Es geht mir noch genauso wie vor zwei Stunden – und zwar gut!«

»Pass bloß auf dich auf, Tilly …«, sagte sie leise.

»Klar! Kann ich dich später zurückrufen? Ich hab viel zu tun.«

»Das sagst du ständig! Arbeite nicht zu viel, hörst du? Du bist immer so verbissen …«

»Mach dir keine Sorgen, Mama. Ich leg jetzt auf. Abends rufe ich wieder an. Ich rufe dich an, okay?«

»Ist gut, Tilly.« Ihre Mutter klang, als wäre sie den Tränen nahe.

Wenn Matilda sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie nur schwer davon abzubringen. Und sie hatte sich vor vielen Jahren in den Kopf gesetzt, die beste Bogenschützin der Welt zu werden. Sie hatte für ihr Team olympisches Gold holen wollen. Am Ende hatte es nur für Silber gereicht.

Den Bogen mal wieder in der Hand zu halten, konnte ja nicht schaden.

Sie holte das Mittelteil aus dem Koffer und befestigte die beiden Wurfarme. Dann hängte sie die Sehne mit der Spannschnur ein, wobei die Wurfarme nach hinten gebogen wurden. Ausziehen konnte sie den Bogen aber nicht, ein Trockenschuss zerstörte ihn.

Matilda brauchte ein Ziel …

Seufzend packte sie ihn wieder zurück in den Koffer. Wie albern sie sich verhielt!

Sie musste sich um Wichtigeres kümmern. Dieser Souvenirladen war noch weit davon entfernt, das hübsche Café zu werden, das sie sich in ihren Träumen ausmalte. Sie musste Genehmigungen von der Stadt einholen, renovieren, Equipment kaufen, Personal suchen und vieles mehr.

Hatte sie sich mit alldem übernommen? Vielleicht. Aber so war sie nun mal. Matilda kannte nur Extreme.

Gedankenverloren rieb sie sich die rechte Schulter. Ob Josh kommen und ihr helfen würde? Sie glaubte nicht wirklich daran.