Für die Schwester meiner Mutter, Alma Faye,
und für Maxine & Marcia, meine eigenen Schwestern
Was dir geschieht, gehört dir nicht, gilt dir nur halb.
Ist nicht dein. Nicht nur dein.
Claudia Rankine
Es gibt zwei Arten von Menschen auf der Welt, die, die von zu Hause weggehen, und die, die es nicht tun. Ich bin stolzes Mitglied der ersten Kategorie. Meine Frau, Celestial, hat immer behauptet, im Grunde meines Herzens wäre ich ein Junge vom Land, aber ich konnte mit der Bezeichnung nie etwas anfangen. Zum einen komme ich nicht direkt vom Land. Eloe, Louisiana, ist eine Kleinstadt. Wenn man »Land« hört, denkt man an Getreide anbauen, Strohballen pressen und Kühe melken. Ich habe im Leben keine Baumwollkapsel gepflückt; mein Daddy allerdings schon. Ich habe noch nie ein Pferd, eine Ziege oder ein Schwein angefasst und verspüre auch keinen Wunsch danach. Celestial hat immer gelacht und klargestellt, dass sie damit nicht sagen wolle, ich sei ein Bauer, nur eben vom Land. Sie stammt aus Atlanta, und man hätte durchaus argumentieren können, dass auch sie vom Land kommt. Aber soll sie ihren Willen haben, sie ist eine »Südstaatenfrau«, nicht zu verwechseln mit einer »Südstaatenschönheit«. Wobei es für sie aus irgendeinem Grund in Ordnung geht, als »Georgia Peach«, als heißes Früchtchen, bezeichnet zu werden. Für mich übrigens auch, also da haben wir’s.
Celestial hält sich selbst für einen kosmopolitischen Menschen und liegt damit auch nicht falsch. Trotzdem schläft sie jede Nacht in dem gleichen Haus, in dem sie aufgewachsen ist. Ich dagegen habe mich bei der ersten Gelegenheit vom Acker gemacht, genau 71 Stunden nach der Highschool-Abschlussfeier. Ich wäre auch früher gefahren, aber der Trailways-Bus hielt nicht täglich in Eloe. Als der Postbote meiner Mama die Pappröhre mit meinem Abschlusszeugnis brachte, hatte ich schon mein Wohnheimzimmer im Morehouse College bezogen, wo ich an einem Programm für Stipendiaten der ersten Generation teilnahm. Wir waren eingeladen worden, zweieinhalb Monate vor den Sprösslingen früherer Absolventen zu erscheinen, damit wir lernten, wie der Hase lief, und uns die Grundlagen draufschafften. Man stelle sich dreiundzwanzig junge schwarze Männer vor, die sich Spike Lees School Daze und Sidney Poitiers Junge Dornen ansahen, dann weiß man Bescheid oder auch nicht. Indoktrination ist nicht immer schlecht.
Mein Leben lang war ich von staatlichen Förderprogrammen unterstützt worden: Head Start, als ich fünf war, und Upward Bound bis zum Ende der Schullaufbahn. Falls ich jemals Kinder bekomme, werden sie ohne Stützräder durchs Leben strampeln können, aber ich will gern meine Dankbarkeit zeigen, wo sie angebracht ist.
In Atlanta habe ich die Regeln gelernt, und zwar schnell. Ich bin schließlich nicht auf den Kopf gefallen. Aber zu Hause ist nicht, wo man landet, zu Hause ist, wo man startet. Man kann sich sein Zuhause nicht aussuchen, genauso wenig wie seine Familie. Beim Pokern bekommt man fünf Karten. Drei kann man tauschen, aber zwei muss man behalten: Familie und Heimat.
Ich werde nichts Schlechtes über Eloe sagen. Es gibt sicher schlimmere Heimatorte; für jemanden mit Weitblick ist das offenkundig. Eloe mag zwar in Louisiana liegen, einem Staat, der nicht gerade vor Möglichkeiten strotzt, aber es liegt auch in Amerika, und wenn man schwarz ist und zu kämpfen hat, ist man in den Vereinigten Staaten vermutlich immer noch am besten dran. Wobei wir nicht arm waren. Das möchte ich hier ganz entschieden deutlich machen. Mein Daddy hat echt hart gearbeitet, tagsüber bei Buck’s Sporting Goods und abends als Handwerker, und meine Mutter hat im Meat-and-Three-Restaurant viel zu viele Stunden die Menüs für die Gäste zusammengestellt, als dass ich vorgeben könnte, wir hätten am Hungertuch genagt. Fürs Protokoll sei vermerkt, dass dem nicht so war.
Ich, Olive und Big Roy, aus uns dreien bestand die Familie, und wir wohnten in einem massiven Backsteinhaus in einer sicheren Gegend. Ich hatte mein eigenes Zimmer, und als Big Roy das Haus erweiterte, bekam ich sogar mein eigenes Badezimmer. Wenn ich aus meinen Schuhen herauswuchs, musste ich nie auf neue warten. Und auch wenn ich finanzielle Unterstützung bekam, leisteten meinen Eltern ihren Beitrag, um mich aufs College zu schicken.
Dennoch stimmt es, dass es nie etwas extra gab. Wenn meine Kindheit ein Sandwich wäre, dann würde kein Fleisch über den Brotrand hängen. Wir hatten, was wir brauchten, nicht mehr. »Und nicht weniger«, hätte meine Mama gesagt und mich mit einer ihrer Umarmungen fast erstickt.
Als ich in Atlanta ankam, glaubte ich, das ganze Leben noch vor mir zu haben – ein schier unendlicher Vorrat an unbeschriebenem Papier. Und wie heißt es so schön: Ein Morehouse-Student hat immer einen Stift dabei. Zehn Jahre später stimmte in meinem Leben einfach alles. Wenn jemand fragte: »Woher kommst du?«, sagte ich: »Aus A!« – so vertraut mit der Stadt, dass ich sie beim Spitznamen nannte. Wenn ich nach meiner Familie gefragt wurde, sprach ich von Celestial.
Wir waren anderthalb Jahre richtig verheiratet, und in dieser Zeit waren wir glücklich, zumindest war ich es. Vielleicht lebten wir unser Glück nicht so wie andere Leute, aber wir waren auch nicht die durchschnittlich bürgerlichen Atlanta-Negroes, bei denen der Mann mit dem Laptop unter dem Kissen einschläft und die Frau von Schmuck in blauen Schachteln träumt. Ich war jung, hungrig und auf dem Weg nach oben. Celestial war Künstlerin, intensiv und umwerfend schön. Es war wie in Love Jones, nur dass wir erwachsen waren. Was soll ich sagen? Ich hatte schon immer eine Schwäche für Shootingstar-Frauen. Wenn du mit ihnen zusammen bist, weißt du, dass du tief in der Sache drinsteckst, nicht dieses Hallo-und-Tschüss-Zeug. Vor Celestial war ich mit einem anderen Mädchen zusammen, das auch in A geboren und aufgewachsen war. Dieses Mädchen, so anständig wie nur irgendwas, hat bei einer Gala der Urban League eine Waffe auf mich gerichtet! Ich werde die silberne Kaliber .22 mit dem rosa Perlmuttgriff nie vergessen. Sie ließ sie in ihrer Handtasche unter dem Tisch aufblitzen, an dem wir uns Steak und Kartoffelgratin schmecken ließen. Sie sagte, sie wisse, dass ich sie mit irgendeiner Braut aus der schwarzen Anwaltsvereinigung betrüge. Wie soll ich das erklären? Erst hatte ich Angst, und dann nicht mehr. Nur in Atlanta konnte ein Mädchen so viel Klasse haben und zugleich etwas so Ghettomäßiges tun. Es war Liebeslogik, schon klar, aber ich war mir nicht sicher, ob ich ihr einen Antrag machen oder die Polizei rufen sollte. Wir haben uns noch vor dem Morgengrauen getrennt, und das war nicht meine Entscheidung.
Nach dem Pistolenmädchen hatte ich bei den Ladys eine Weile kein Glück mehr. Wie alle anderen las ich die neuesten Meldungen und hörte vom angeblichen Mangel an schwarzen Männern, aber diese frohe Botschaft hatte sich noch nicht auf mein Sozialleben ausgewirkt. Jede Frau, die mir gefiel, hatte schon einen, der in irgendeinem Hinterhof auf sie wartete.
Ein bisschen Wettbewerb ist sicher für alle Beteiligten gesund, aber der Abgang des Pistolenmädchens ging mir unter die Haut wie Sandflohbisse, und so fuhr ich nach Eloe, um die Lage mit Big Roy durchzusprechen. Mein Vater kommt manchmal daher wie das A und das O, der Erste und der Letzte, der schon lange hier war, bevor man aufgetaucht ist, und bis in alle Ewigkeit dableibt, wenn man selbst schon längst wieder fort ist.
»Du willst doch keine Frau, die mit einer Waffe rumfuchtelt, mein Sohn.«
Ich versuchte zu erklären, dass das Bemerkenswerte daran der Kontrast war: das Gangmäßige der Pistole und der Glanz des Gala-Abends. Außerdem: »Das war nur ein Spiel, Daddy.«
Big Roy nickte und schlürfte den Schaum von seinem Bier. »Wenn das ihre Art zu spielen ist, was passiert dann, wenn sie wütend wird?«
Aus der Küche rief meine Mutter, als würde sie zu einem Dolmetscher sprechen: »Frag ihn, mit wem sie jetzt zusammen ist. Sie ist vielleicht verrückt, aber nicht so verrückt. Niemand würde Little Roy abservieren, ohne jemanden auf der Ersatzbank zu haben.«
Big Roy sagte: »Deine Mutter will wissen, mit wem sie jetzt zusammen ist.« Als würde ich kein Englisch verstehen.
»Irgendein Anwaltstyp. Kein Perry Mason. Verträge. Jemand für den Papierkram.«
»Bist du nicht jemand für den Papierkram?«, fragte Big Roy.
»Das ist was völlig anderes. Der Vertreterjob ist nur vorläufig. Außerdem ist Papierkram nicht meine Bestimmung. Es ist nur das, was ich zufällig gerade mache.«
»Verstehe«, sagte Big Roy.
Meine Mutter verfolgte das Ganze immer noch von den billigen Plätzen in der Küche aus. »Sag ihm, dass er sich von diesen hellhäutigen Mädchen immer verletzen lässt. Sag ihm, dass er sich lieber an ein paar der Mädchen hier aus Allen Parish erinnern soll. Sag ihm, dass er bei seinem Aufstieg jemanden mitnehmen soll.«
»Deine Mutter sagt –«, setzte Big Roy an, bevor ich ihm das Wort abschnitt.
»Ich habe sie gehört; hat hier irgendwer gesagt, dass das Mädchen hellhäutig war?«
Aber natürlich war sie das, und darauf reagiert meine Mutter allergisch.
Jetzt kam Olive aus der Küche und wischte sich dabei die Hände an einem gestreiften Geschirrtuch ab. »Nicht wütend werden. Ich will mich nicht in deine Angelegenheiten einmischen.«
Wenn es um Ladys geht, kann niemand seine Mama wirklich zufriedenstellen. Von allen meinen Kumpels höre ich, dass ihre Mütter sie ständig warnen. »Wenn sie deinen Kamm nicht benutzen kann, bring sie nicht mit nach Hause.« Die Magazine Ebony und Jet schwören Stein und Bein, dass alle schwarzen Männer mit ein bisschen Kleingeld darauf aus sind, Schokolade mit Vanille zu verbinden. Was mich angeht, so stehe ich eindeutig auf Braun, und doch erdreistet sich meine Mutter, sich über den speziellen Hautton der Schwester meiner Wahl aufzuregen.
Eigentlich sprach alles dafür, dass sie Celestial mögen würde. Die beiden sahen sich so ähnlich, dass man sie für Blutsverwandte hätte halten können. Sie hatten beide diese reine Schönheit, wie Thelma aus Good Times, mein erster Fernsehschwarm. Aber nein, was meine Mama anging, so hatte Celestial zwar das richtige Aussehen, aber sie stammte aus einer anderen Welt – eine verwöhnte Göre in Thelmas Gewand. Big Roy hingegen war von Celestial so hingerissen, dass er sie geheiratet hätte, wenn ich es nicht getan hätte. Das alles brachte ihr bei Olive keine Punkte ein.
»Es gibt nur eins, womit ich bei deiner Mutter punkten könnte«, sagte Celestial einmal.
»Und das wäre?«
»Ein Baby«, sagte sie mit einem Seufzer. »Wann immer ich ihr begegne, mustert sie mich von oben bis unten, als würde ich ihre Enkelkinder in meinem Körper gefangen halten.«
»Du übertreibst.« Doch ehrlich gesagt verstand ich, wie es meiner Mutter ging. Nach einem Jahr war ich bereit, loszulegen und eine neue Generation in die Welt zu setzen, mit einem aktualisierten Set an Regeln und Vereinbarungen.
Nicht, dass an unserer jeweiligen Erziehung etwas falsch gewesen wäre, aber trotzdem, die Welt verändert sich, also muss sich auch die Art, wie man seine Kinder großzieht, verändern. Teil meines Plans war es, niemals das Pflücken von Baumwolle zu erwähnen. Meine Eltern hatten immer über echte oder metaphorische Baumwolle geredet. Weiße sagen: »Besser als Gräben ausheben«, Schwarze sagen: »Besser als Baumwolle pflücken.« Ich werde meine Kinder nicht daran erinnern, dass jemand dafür gestorben ist, dass ich alltägliche Dinge tun kann. Ich will nicht, dass Roy III. im Kino sitzt und versucht Star Wars oder so was zu gucken und immer daran denken muss, dass das Recht, da zu sitzen und Popcorn zu essen, jemanden das Leben gekostet hat. Nichts dergleichen. Oder vielleicht nicht so viel dergleichen. Wir müssen das richtige Rezept finden. Celestial gelobt, sie werde ihren Kindern niemals sagen, dass sie doppelt so gut sein müssen, um halb so viel zu erreichen. »Selbst wenn es stimmt«, sagte sie, »was ist denn das für eine Ansage für ein fünfjähriges Kind?«
Sie war die perfekte Mischung, kein konservativer Businesstyp, aber durchaus jemand, der seinen Stammbaum vor sich hertrug wie den Glanz eines Lacklederschuhs. Dazu sprudelte sie wie eine Künstlerin, ohne dass es in Verrücktheit umschlug. Anders gesagt, sie hatte zwar keine rosa Pistole in der Tasche, aber an Intensität mangelte es ihr bestimmt nicht. Celestial ging gern ihren eigenen Weg, und das sah man ihr an. Sie war groß, ein Meter achtzig ohne Absätze, größer als ihr Vater. Ich weiß, dass Größe Glücksache ist, aber bei ihr wirkte es, als hätte sie sich diese Höhe ausgesucht. Ihr Haar war voluminös und wild, deshalb überragte sie mich um einen Tick. Selbst wenn man nicht wusste, wie brillant sie mit Nadel und Faden umgehen konnte, merkte man, dass man es mit einer einzigartigen Persönlichkeit zu tun hatte. Und obwohl manche Leute – und mit »manchen Leuten« meine ich meine Mama – es nicht sahen, würde all das sie zu einer großartigen Mutter machen.
Ich hätte nicht übel Lust gehabt, sie zu fragen, ob wir unser Kind – Sohn oder Tochter – Future nennen könnten.
Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir den Baby-Zug schon auf unserer Hochzeitsreise bestiegen. Stellt euch nur vor: Wir in einem Pfahlhaus mit Glasboden über dem Ozean, wo wir aus dem Bett nicht mehr herauskamen. Ich wusste gar nicht, dass es so was überhaupt gibt, aber ich tat total begeistert, als Celestial mir den Prospekt zeigte, und sagte, dass ich schon immer davon geträumt hätte. Da waren wir also, entspannten uns über dem Meer und freuten uns aneinander. Die Hochzeit lag mehr als einen Tag zurück, weil Bali einen dreiundzwanzigstündigen Erste-Klasse-Flug entfernt war. Für den großen Tag war Celestial in eine Puppenversion ihrer Selbst verwandelt worden. All das wilde Haar hatte man in einen Ballerina-Knoten gezwungen, und durch das Make-up sah es so aus, als würde sie erröten. Als ich sie den Gang entlang auf mich zuschweben sah, kicherten sie und ihr Daddy, als wäre das Ganze nur eine Kostümprobe. Ich stand so ernst da wie vier Herzinfarkte und ein Schlaganfall, aber dann blickte sie zu mir hoch, schürzte ihre rosa bemalten Lippen zu einem kleinen Kuss, und ich verstand den Witz. Sie ließ mich wissen, dass all das – die kleinen Mädchen, die ihre Schleppe trugen, mein Cut, sogar der Ring in meiner Tasche – nur Show war. Echt war das Licht, das in ihren Augen tanzte, und das Rauschen unseres Bluts. Da lächelte ich auch.
Auf Bali war der Ballerina-Knoten längst verschwunden, sie präsentierte einen Afro wie aus einer Siebzigerjahre-Ausgabe von Jet und trug nichts als Body Glitter.
»Lass uns ein Baby machen.«
Sie lachte. »So willst du mich das fragen?«
»Ich mein’s ernst.«
»Noch nicht, Daddy«, sagte sie. »Aber bald.«
Zu unserer papiernen Hochzeit schrieb ich auf ein Blatt Papier: »Bald im Sinne von jetzt?«
Sie drehte es um und schrieb zurück: »Bald im Sinne von gestern. Ich war beim Arzt, und er meinte, wir können loslegen.«
Aber ein anderes Stück Papier bremste uns aus: meine eigene Visitenkarte. Wir waren gerade von unserem Hochzeitstagessen im Beautiful Restaurant zurückgekommen, einer Mischung aus Diner und Cafeteria an der Cascade Road. Nichts Schickes, aber dort hatte ich ihr den Antrag gemacht. Sie hatte geantwortet: »Ja, aber steck den Ring weg, bevor uns einer ausraubt!« An unserem ersten Hochzeitstag gingen wir also wieder hin, für ein Festmahl aus Rippchen, Makkaroni-Auflauf und Maispudding. Zum Dessert machten wir uns auf nach Hause, wo zwei Stück Hochzeitstorte seit 365 Tagen im Gefrierfach darauf warteten, ob wir das erste Jahr überstehen würden. Unfähig, es dabei bewenden zu lassen, öffnete ich mein Portemonnaie, um ihr das Foto von ihr zu zeigen, das ich dort stecken hatte. Als ich das Bild aus der Hülle zog, fiel meine Visitenkarte heraus und landete sanft neben den beiden Stückchen Amaretto-Torte. Auf der Rückseite standen in lila Tinte der Vorname einer Frau und eine Telefonnummer, was an sich schon schlimm genug war. Doch Celestial bemerkte noch drei zusätzliche Ziffern, von denen sie annahm, dass sie zu einem Hotelzimmer gehörten.
»Ich kann dir das erklären.« Die Wahrheit war einfach: Ich liebte die Frauen. Ich genoss es, zu flirten, den Nervenkitzel. Manchmal sammelte ich Telefonnummern, als wäre ich noch im College, aber in 99,997 Prozent der Fälle war das alles. Es tat mir einfach gut zu wissen, dass ich es noch draufhatte. Harmlos, oder?
»Dann erklär mal«, sagte sie.
»Sie hat sie mir in die Tasche geschoben.«
»Wie konnte sie dir deine eigene Karte unterschieben?« Celestial war wütend, und das machte mich ein bisschen an, wie das Klicken des Gasherds, bevor die Flamme anspringt.
»Sie hat mich nach meiner Karte gefragt. Ich habe mir nichts dabei gedacht.«
Celestial stand auf, räumte die schwer mit Kuchen beladenen Untertassen ab und warf sie in den Müll, scheiß auf das Hochzeitsservice. Sie kam wieder an den Tisch, nahm die Flöte mit Rosé-Champagner und kippte den Schampus wie einen Tequila. Dann riss sie mir mein Glas aus der Hand, trank es ebenfalls aus und warf die langstieligen Gläser den Tellern hinterher in den Müll. Als sie zerbrachen, klirrten sie wie Glöckchen.
»Du bist so ein Arsch.«
»Aber wo bin ich jetzt?«, sagte ich. »Hier bei dir. In unserem Zuhause. Ich bette meinen Kopf jede Nacht auf dein Kissen.«
»Ausgerechnet an unserem Scheiß-Hochzeitstag.« Jetzt zerrann ihre Wut zu Traurigkeit. Sie setzte sich auf ihren Frühstücksplatz. »Warum heiraten, wenn man fremdgehen will?«
Ich wies sie nicht darauf hin, dass man verheiratet sein musste, damit Ehebruch überhaupt möglich war. Stattdessen sagte ich ihr die Wahrheit. »Ich habe das Mädchen nie angerufen.« Ich setzte mich neben sie. »Ich liebe dich.« Ich ließ es wie einen Zauberspruch klingen. »Alles Gute zum Hochzeitstag.«
Sie ließ zu, dass ich sie küsste, was ein gutes Zeichen war. Ich konnte den Rosé-Champagner auf ihren Lippen schmecken. Wir hatten uns schon ausgezogen, als sie mir fest ins Ohr biss. »Du bist so ein Lügner.« Dann streckte sie sich zu meinem Nachttisch hinüber und holte ein glänzendes Alupäckchen hervor. »Schön einpacken, Mister.«
Es gibt sicher Leute da draußen, die behaupten würden, dass unsere Ehe in Schwierigkeiten steckte. Die Menschen reden viel, wenn sie nicht wissen, was hinter verschlossenen Türen, unter der Bettdecke und zwischen Abend und Morgen passiert. Aber als Zeuge und sogar Beteiligter unserer Ehe habe ich keinen Zweifel, dass das Gegenteil der Fall war. Es war von Bedeutung, dass ich sie mit einem Stück Papier wütend machen und sie mich mit einem Kondom um den Verstand bringen konnte.
Ja, wir waren ein verheiratetes Paar, aber wir waren noch jung und verzaubert. Nach einem Jahr loderte das Feuer immer noch in blauen Flammen.
Es war nur so: Die Version 2.0 zu sein stellt eine Herausforderung dar. Auf dem Papier sind wir College Fieber: Was machen sie heute? Whitley und Dwayne ganz erwachsen. Aber Celestial und ich sind etwas, was sich Hollywood nie ausgemalt hat. Sie war begabt, und ich war ihr Manager und ihre Inspiration. Wobei ich nicht im Adamskostüm herumlag, damit sie mich zeichnen konnte. Nein, ich lebte nur mein Leben, und sie sah zu. Als wir verlobt waren, gewann sie einen Wettbewerb mit einer Glasskulptur, die sie geschaffen hatte. Aus der Ferne sah sie aus wie eine große Murmel, aber wenn man nah heranging und sie aus dem richtigen Winkel betrachtete, konnte man sehen, wie die Linien meines Profils sich darin wanden. Jemand bot ihr fünftausend Dollar dafür, aber sie gab sie nicht her. So was passiert nicht, wenn eine Ehe gefährdet ist.
Sie war für mich da, und im Gegenzug sorgte ich für sie. Früher, als man arbeitete, damit die Ehefrau es nicht musste, nannte man das »seine Frau hinsetzen«. Big Roy hatte immer das Ziel, Olive hinzusetzen, aber es gelang ihm nie so ganz. Ihm zu Ehren und vielleicht mir selbst zu Ehren arbeitete ich den ganzen Tag, damit Celestial zu Hause bleiben und Puppen machen konnte, ihre bevorzugte künstlerische Betätigung. Ich stehe mehr auf die museumstauglichen Murmeln und die feinen Zeichnungen, aber die Puppen waren etwas, womit man die normalen Leute kriegen konnte. Meine Vision war eine Stoffpuppen-Serie, die wir über den Großhandel vertreiben würden. Man konnte sie dekorativ auf ein Regal setzen oder sie so lange knuddeln, bis die Füllung herauskam. Die hochwertigen Maßanfertigungen und Kunstwerke würde es weiterhin geben. Damit erzielte man spielend fünfstellige Summen. Aber mit den Alltagspuppen würde sie groß herauskommen, erklärte ich ihr. Und wie man sieht, sollte ich recht behalten.
Ich weiß, dass seitdem viel Zeit vergangen ist, und zwar nicht freundlich plätschernd. Aber fairerweise muss ich die ganze Geschichte erzählen. Wir waren nur ein Jahr und ein paar Monate verheiratet, aber es war ein gutes Jahr. Selbst sie müsste das zugeben.
Ein Meteor zerstörte unser Leben am Labor-Day-Wochenende, als wir nach Eloe fuhren, um meine Eltern zu besuchen. Wir nahmen das Auto, weil mir nach einem Roadtrip war. Flugzeuge verband ich mit meinem Job. Damals war ich Vertreter für einen Lehrbuchverlag, der sich auf Mathebücher spezialisiert hatte, obwohl mein eigenes Zahlenverständnis kaum über das Einmaleins hinausging. Ich machte meine Sache gut, weil ich wusste, wie man etwas verkaufte. In der Woche zuvor hatte ich einen schönen Abschluss an meiner Alma Mater erzielt, und ich war noch im Rennen für einen weiteren an der Georgia State. Das machte mich nicht zum Multimillionär, aber ich sah einem saftigen Bonus entgegen, sodass wir über den Kauf eines neuen Hauses nachdenken konnten. Wobei an unserer damaligen Bleibe nichts auszusetzen war, einem soliden eingeschossigen Haus in einer ruhigen Gegend. Es war nur so, dass es sich um das Hochzeitsgeschenk ihrer Eltern handelte, genau genommen um das Haus, wo sie aufgewachsen war, das die beiden ihrer einzigen Tochter, und zwar ihr allein, übertragen hatten. So wie es Weiße machten, eine Starthilfe auf amerikanische Art. Aber irgendwie wollte ich meinen Hut gern an einen Haken mit meinem eigenen Namen hängen.
Das hatte ich im Hinterkopf, aber nicht im Sinn, als wir die I-10 Richtung Eloe entlangfuhren. Nach unserem Hochzeitstagscharmützel hatten wir uns wieder beruhigt und in unseren Rhythmus zurückgefunden. Hip-Hop alter Schule wummerte aus der Anlage unseres Honda Accord, einer Art Familienkutsche mit zwei leeren Plätzen auf der Rückbank.
Sechs Stunden später setzte ich den Blinker an der Ausfahrt 163. Als wir auf einen zweispurigen Highway abfuhren, nahm ich eine Veränderung an Celestial war. Ihre Schultern saßen etwas höher, und sie knabberte an ihren Haarspitzen.
»Was ist los?«, fragte ich und stellte das großartigste Hip-Hop-Album aller Zeiten leiser.
»Ich bin bloß nervös.«
»Wieso?«
»Kennst du das Gefühl, vielleicht den Herd angelassen zu haben?«
Ich drehte die Lautstärke auf irgendetwas zwischen Wummern und dumpfem Stampfen. »Dann ruf deinen Kumpel Andre an.«
Celestial fummelte an ihrem Anschnallgurt, als würde er an ihrem Hals scheuern. »So fühle ich mich immer, wenn wir bei deinen Eltern sind – unsicher, weißt du.«
»Bei meinen Leuten?« Olive und Big Roy sind die bodenständigsten Menschen der Weltgeschichte. Celestials Eltern waren dagegen nicht unbedingt das, was man zugänglich nennen würde. Ihr Vater war ein kleiner Kerl, eine halbe Portion mit einem gewaltigen Frederick-Douglass-Afro samt Seitenscheitel – und zu allem Überfluss auch noch ein genialer Erfinder. Ihre Mutter arbeitete im Bildungsbereich, nicht als Lehrerin oder Schulleiterin, sondern als stellvertretende Schulaufsicht für das gesamte Schulsystem. Und habe ich erwähnt, dass ihr Dad zehn oder zwölf Jahre zuvor eine Goldgrube aufgetan hatte, als er ein Mittel erfand, das Orangensaft daran hindert, sich so schnell abzusetzen? Er hat das Baby an Minute Maid verkauft, und seitdem planschen die beiden nackt in einer Wanne voll Geld. Ihre Mama und ihr Daddy, die sind ein schwieriges Publikum. Im Vergleich dazu sind Olive und Big Roy ein Kindergeburtstag. »Du weißt, dass meine Leute dich lieben«, sagte ich.
»Sie lieben dich.«
»Und ich liebe dich, also lieben sie dich. Das ist elementare Mathematik.«
Celestial sah aus dem Fenster, während die dürren Kiefern vorbeisausten. »Ich habe kein gutes Gefühl, Roy. Lass uns nach Hause fahren.«
Meine Frau hat einen Hang zur Dramatik. Doch ihre Worte kamen mit einem kleinen Stocken, das ich nur als Angst beschreiben kann.
»Was ist denn nur?«
»Ich weiß es nicht. Aber lass uns umkehren.«
»Wie soll ich das meiner Mutter erklären? Du weißt doch, dass sie das Abendessen längst auf dem Herd hat.«
»Gib mir die Schuld. Sag ihr, es wäre alles meine Schuld.«
Wenn ich daran zurückdenke, ist es so, als würde man einen Horrorfilm gucken und sich fragen, warum die Figuren so hartnäckig alle Warnsignale ignorieren. Wenn eine Geisterstimme sagt, VERSCHWINDE, dann sollte man darauf hören. Aber im echten Leben weiß man nicht, dass man in einem Gruselfilm steckt. Man hält seine Frau für übertrieben emotional. Im Stillen hofft man, der Grund dafür sei, dass sie schwanger ist, denn man braucht ein Baby, um dieses Etwas einlochen und den Schlüssel wegwerfen zu können.
Als wir bei meinen Eltern eintrafen, wartete Olive auf der Veranda. Meine Mutter hatte eine Vorliebe für Perücken, und diesmal trug sie Locken in der Farbe von Dosenpfirsich. Ich fuhr das Grundstück hinauf bis dicht an die Stoßstange von Daddys Chrysler, stellte den Schalthebel auf Parken, warf die Tür auf und stürmte zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hoch, um meine Mama auf halber Strecke in die Arme zu schließen. Sie war winzig, also lehnte ich mich zurück und holte sie von den Füßen, und sie lachte so melodisch wie ein Xylofon.
»Little Roy«, sagte sie. »Du bist zu Hause.«
Sobald ich sie abgesetzt hatte, sah ich mich um, entdeckte aber nur peinliche Leere, sodass ich wieder zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinuntertrabte. Ich öffnete die Wagentür, und Celestial reichte mir ihren Arm. Ich schwöre, dass ich hörte, wie meine Mutter die Augen verdrehte, als ich meiner Frau aus dem Honda half.
»Es ist eine Dreiecksbeziehung«, erklärte Big Roy, als wir im Fernsehzimmer einen Cognac nahmen, während Olive in der Küche zugange war und Celestial sich frisch machte. »Ich hatte Glück«, sagte er. »Als ich deiner Mama begegnete, waren wir beide frei und ungebunden. Meine Eltern lebten schon nicht mehr, und ihre wohnten weit weg in Oklahoma und taten so, als hätte es sie nie gegeben.«
»Sie werden sich schon zusammenraufen«, erklärte ich Big Roy. »Celestial braucht ein bisschen, um sich an Leute zu gewöhnen.«
»Deine Mutter ist auch nicht gerade Doris Day«, sagte er zustimmend, und wir stießen auf die schwierigen Frauen an, nach denen wir verrückt waren.
»Es wird bestimmt besser, wenn wir erst mal ein Kind haben.«
»Das stimmt. So ein Enkelkind kann ein wildes Biest besänftigen.«
»Wen nennst du da ein Biest?« Meine Mutter tauchte aus der Küche auf und setzte sich auf Big Roys Schoß wie ein Teenager.
In der anderen Tür erschien Celestial, frisch, bezaubernd und nach Mandarinen duftend. Da ich gemütlich im Lehnstuhl fläzte und meine Eltern wie Turteltauben auf dem Sofa saßen, gab es für sie keinen Platz, also klopfte ich mir aufs Knie. Tapfer hockte sie sich auf meinen Schoß, und das Ganze bekam etwas von einem verkrampften Pärchenabend anno 1952.
Meine Mutter richtete sich auf. »Celestial, wie ich höre, bist du berühmt.«
»Ma’am?«, sagte sie und drehte sich etwas, um von meinem Schoß zu steigen, aber ich hielt sie fest.
»Die Zeitschrift. Warum hast du uns nicht erzählt, dass du so hohe Wellen schlägst?«
Celestial wirkte verlegen. »Es ist nur ein Ehemaligen-Blättchen.«
»Es ist eine Zeitschrift«, sagte meine Mutter, holte die glänzende Ausgabe unter dem Sofatisch hervor und schlug sie auf einer Seite mit Eselsohr auf, auf der Celestial mit einer Stoffpuppe zu sehen war, die Josephine Baker darstellte. »Künstler im Kommen«, verkündeten kräftige Lettern.
»Ich hab sie ihnen geschickt«, gab ich zu. »Was soll ich sagen? Ich bin stolz.«
»Stimmt es, dass Leute fünftausend Dollar für deine Puppen bezahlen?« Olive schürzte die Lippen und blickte mit schmalen Augen indigniert zur Seite.
»Normalerweise nicht«, sagte Celestial, aber ich übertönte sie.
»Es stimmt. Ich bin ihr Manager, müsst ihr wissen. Würde ich etwa zulassen, dass jemand meine Frau übers Ohr haut?«
»Fünftausend Dollar für eine Babypuppe?« Olive fächelte sich mit der Zeitschrift Luft zu, was ihr Dosenpfirsich-Haar hochwehen ließ. »Ich schätze, dafür hat Gott die Weißen erfunden.«
Big Roy kicherte, und Celestial wand sich wie ein Käfer auf dem Rücken, um von meinem Schoß loszukommen. »Das Foto wird ihr nicht gerecht«, sagte sie und klang wie ein kleines Mädchen. »Die Perlen des Kopfschmucks sind von Hand draufgestickt und –«
»Für fünftausend Dollar bekommt man eine Menge Perlen«, bemerkte meine Mutter.
Celestial sah mich an, und in dem Versuch, Frieden zu stiften, sagte ich: »Mama, du solltest nicht die Spieler verachten, sondern das Spiel.« Wer eine Frau hat, merkt gleich, wenn er etwas Falsches gesagt hat. Irgendwie verändert sie die Anordnung der Ionen in der Luft, und man kann nicht mehr so gut atmen.
»Es ist kein Spiel; es ist Kunst.« Celestials Blick blieb an den afrikanisch inspirierten Drucken an den Wohnzimmerwänden hängen. »Ich meine, wahre Kunst.«
Big Roy, ganz der versierte Diplomat, sagte: »Wenn wir mal eine in echt sehen könnten, vielleicht …«
»Wir haben eine im Auto«, sagte ich. »Ich hole sie.«
Die in eine weiche Decke gehüllte Puppe sah tatsächlich aus wie ein Säugling. Das war eine von Celestials Macken. Für eine Frau, die der Mutterschaft, gelinde gesagt zögerlich gegenüberstand, begegnete sie ihren Stoffschöpfungen mit einem ziemlich ausgeprägten Beschützerinstinkt. Ich versuchte, ihr zu vermitteln, dass sie eine andere Haltung einnehmen müsste, wenn wir unser Geschäft eröffneten. Die poupées, wie wir sie nannten, würden wir für einen Bruchteil des Preises verkaufen, den Kunstwerke wie jenes, das ich in den Händen hielt, erzielten. Sie würden schnell genäht werden müssen, und wenn es erst einmal lief, in die Massenproduktion gehen. Kein Kaschmirdecken-Getue mehr. Aber diese Puppe ließ ich ihr durchgehen, denn sie war eine Auftragsarbeit für den Bürgermeister von Atlanta, der sie seiner Stabschefin schenken wollte, die um Thanksgiving herum ein Kind erwartete.
Als ich die Decke aufschlug, damit meine Mutter das Gesicht der Puppe sehen konnte, holte sie scharf Luft. Ich zwinkerte Celestial kaum merklich zu, und sie war so nett, die Ionen neu zu ordnen, sodass ich wieder atmen konnte.
»Das bist du«, sagte Olive und nahm mir die Puppe aus den Händen, wobei sie darauf achtete, ihren Kopf abzustützen.
»Sein Bild hat mir als Vorlage gedient«, schaltete Celestial sich ein. »Roy ist meine Inspiration.«
»Deshalb hat sie mich geheiratet«, scherzte ich.
»Nicht nur deshalb«, sagte sie.
Es ist stets ein magischer Moment, wenn meiner Mutter kein Wort mehr über die Lippen kommt. Ihre Augen waren auf das Bündel in ihren Armen geheftet, während mein Vater sich zu ihr gesellte und ihr über die Schulter starrte.
»Ich habe Strass-Steine fürs Haar verwendet«, fuhr Celestial fort, der die Begeisterung jetzt anzumerken war. »Drehen Sie sie, damit das Licht darauf fällt.«
Meine Mutter tat wie geheißen, und der Puppenkopf schimmerte, als das Licht unserer gewöhnlichen Glühbirnen von der kleinen Kappe aus schwarzen Perlen zurückgeworfen wurde. »Es ist wie ein Heiligenschein«, sagte meine Mutter. »So ist das, wenn man wirklich ein Baby hat. Man hat seinen eigenen Engel.«
Jetzt ging meine Mutter zum Sofa und legte die Puppe auf ein Kissen. Es war irgendwie schräg, weil mir die Puppe wirklich ähnlich sah oder zumindest meinen Babyfotos. Es war, als würde man in einen Zauberspiegel starren. Ich konnte die Sechzehnjährige in Olive erkennen, viel zu früh Mutter geworden, aber sanft wie der Frühling.
»Und die könnte ich dir abkaufen?«
»Nein, Mama«, sagte ich, und Stolz wallte in mir auf. »Das ist eine Auftragsarbeit. Zehntausend. Schnell und schmutzig, von deinem Liebling ausgehandelt!«
»Natürlich.« Meine Mutter legte die Decke über der Puppe zusammen wie ein Leichentuch. »Was soll ich mit einer Puppe? Eine alte Frau wie ich?«
»Sie können sie haben«, sagte Celestial.
Ich bedachte sie mit einem Blick, den sie meine Gary-Coleman-Miene nennt. Der Vertrag nannte ausdrücklich einen Liefertermin Ende des Monats. Die Deadline war mehr als fix; sie war in dreifacher Ausführung mit schwarzer Tinte beglaubigt. Es gab keine Klausel für schwarzes Zeitempfinden.
Ohne mich auch nur anzusehen, sagte Celestial: »Ich kann noch eine machen.«
Olive sagte: »Nein, ich will dich nicht in Verzug bringen. Sie sieht Little Roy einfach nur so ähnlich.«
Ich fasste nach der Puppe, aber meine Mutter mochte sie nicht recht loslassen, und Celestial machte es auch nicht gerade leichter. Sie kann niemandem widerstehen, der ihre Arbeit zu schätzen weiß. Auch daran würden wir arbeiten müssen, wenn wir ein Geschäft mit den Puppen machen wollten.
»Behalten Sie sie«, sagte Celestial, als hätte sie nicht drei Monate an dieser Puppe gearbeitet. »Ich kann eine neue für den Bürgermeister machen.«
Jetzt war es an Olive, die Ionen aufzuscheuchen.
»Oh, der Bürgermeister. Na, entschuldige!« Sie reichte mir die Puppe. »Leg sie wieder ins Auto, bevor ich sie schmutzig mache. Ich möchte schließlich keine Rechnung über zehntausend Dollar von dir bekommen.«
»So habe ich es nicht gemeint.« Celestial sah mich entschuldigend an.
»Mama«, sagte ich.
»Olive«, sagte Big Roy.
»Mrs Hamilton«, sagte Celestial.
»Essen ist fertig«, sagte meine Mutter. »Ich hoffe, kandierte Süßkartoffeln und Senfkohl esst ihr immer noch.«
Wir aßen zwar nicht in völliger Stille zu Abend, aber ohne uns zu unterhalten. Olive war so wütend, dass sie den Eistee versaute. Ich nahm einen großen Schluck, erwartete den weichen Abgang von Rohrzucker und verschluckte mich am stechenden Geschmack von grobem Salz. Kurz danach fiel mein Highschool-Abschlusszeugnis von der Wand, und ein Sprung zog sich quer über das Glas. Omen? Vielleicht. Aber ich dachte in dem Moment nicht an himmlische Botschaften. Ich war zu abgelenkt, weil ich zufällig zwischen zwei Frauen geraten war, die ich über alles schätzte. Es ist nicht so, dass ich mir in so einer Situation nicht zu helfen wüsste. Jeder Mann kennt das Gefühl, es allen recht machen zu wollen. Doch bei meiner Mutter und Celestial zerriss es mich förmlich. Olive hatte mich zur Welt gebracht und mich gelehrt, der Mann zu sein, als den ich mich kannte. Aber Celestial war die Pforte zum Rest meines Lebens, die glänzende Tür zum nächsten Level.
Zum Nachtisch gab es Puffer mit Zimtfüllung, meinen Lieblingskuchen, aber vom Gerangel um die Zehntausenddollarpuppe war mir der Appetit vergangen. Trotzdem kämpfte ich mich durch zwei zimtdurchzogene Stücke, denn mit einer Südstaatenfrau verscherzt man es sich nur noch mehr, wenn man ihr Essen verschmäht. Also haute ich rein wie ein Geflüchteter, genau wie Celestial, obwohl wir beide gelobt hatten, uns von raffiniertem Zucker fernzuhalten.
Sobald wir den Tisch abgeräumt hatten, fragte Big Roy: »Wollen wir jetzt das Gepäck reinholen?«
»Nein, Chef«, sagte ich leichthin. »Ich habe uns ein Zimmer im Piney Woods gebucht.«
»Du übernachtest lieber in diesem Loch als in deinem Zuhause?«, fragte Olive.
»Ich möchte mit Celestial zurück zu den Anfängen.«
»Dazu musst du doch nicht da übernachten.«
Aber genau das musste ich. Es ging um eine Geschichte, die fern von den revisionistischen Neigungen meiner Eltern erzählt werden musste. Nach einem Jahr Ehe verdiente meine Frau zu erfahren, mit wem sie verheiratet war.
»War das deine Idee?«, fragte meine Mutter Celestial.
»Nein, Ma’am. Ich bleibe auch gern hier.«
»Das habe ich ganz allein beschlossen«, sagte ich, obwohl Celestial froh darüber gewesen war, dass wir im Hotel absteigen würden. Sie sagte, es käme ihr nicht richtig vor, in einem Bett unter dem Dach unserer jeweiligen Eltern zu übernachten, obwohl wir offiziell verheiratet waren etc. Als wir das letzte Mal in Eloe gewesen waren, hatte sie sich ein Nachthemd wie aus Unsere kleine Farm übergezogen, obwohl sie normalerweise nackt schlief.
»Aber ich habe das Zimmer hergerichtet.« Olive fasste plötzlich nach Celestial. Die Frauen sahen sich auf eine Weise an, wie es zwei Männer nie tun würden. Für einen Augenblick waren sie ganz allein im Haus.
»Roy.« Celestial wandte sich seltsam verängstigt an mich. »Was meinst du?«
»Wir sind morgen früh wieder da, Mama«, sagte ich und gab ihr einen Kuss. »Weiche Brötchen und Honig.«
Wie lange brauchten wir, um das Haus meiner Mutter zu verlassen? Vielleicht wirkt es im Rückblick anders, aber alle außer mir schienen die Taschen voll Steine zu haben. Als wir schließlich durch die Tür traten, reichte mein Vater Celestial die eingehüllte Puppe. Er hielt sie unbeholfen, als könnte er sich nicht entscheiden, ob sie ein Ding war oder ein Lebewesen.
»Lass ihm etwas Luft«, sagte meine Mutter und zog die Decke zurück. Die untergehende orangerote Sonne brachte den Heiligenschein zum Leuchten.
»Sie können sie haben«, wiederholte Celestial. »Wirklich.«
»Die ist für den Bürgermeister«, sagte Olive. »Du kannst mir eine andere machen.«
»Oder noch besser, das Ganze in echt«, sagte Big Roy und fuhr sich mit seinen großen Händen über einen unsichtbaren Babybauch. Sein Lachen brach den zähen Bann, der uns ans Haus fesselte, und wir konnten uns auf den Weg machen.
Nachdem wir ins Auto gestiegen waren, taute Celestial auf. Was auch immer sie geplagt hatte, ein Fluch oder Furcht, verflüchtigte sich, sobald wir wieder auf dem Highway waren. Sie löste die geflochtenen Zöpfe über ihren Ohren, lockerte und entwirrte sie mit dem Kopf zwischen den Knien. Als sie sich aufrichtete, war sie wieder sie selbst, wildes Haar und durchtriebenes Lächeln. »O mein Gott, war das ein Krampf«, sagte sie.
»Stimmt«, pflichtete ich ihr bei. »Keine Ahnung, worum es eigentlich ging.«
»Babys. Ich glaube, die Sehnsucht nach Enkelkindern lässt sogar vernünftige Eltern durchdrehen.«
»Deine Eltern bestimmt nicht«, sagte ich und dachte an ihre Leute, kühl wie Eistorte.
»Oh, doch, meine auch. Vor dir beherrschen sie sich nur. Aber sie gehören alle in Therapie.«
»Aber wir wollen ja Kinder«, sagte ich. »Was macht es schon, wenn sie auch welche wollen? Ist es nicht gut, etwas gemeinsam zu haben?«
Auf dem Weg zum Hotel hielt ich am Straßenrand an, direkt vor einer Hängebrücke, die für das, was die Karte als Aldridge River bezeichnete, völlig überdimensioniert war, denn es handelte sich nur um einen munteren Bach.
»Was hast du an den Füßen?«
»Keilabsätze«, sagte sie stirnrunzelnd.
»Kannst du darin laufen?«
Sie schien sich für ihre Schuhe zu schämen, kleine Bauwerke aus gepunkteten Bändern und Kork. »Mit flachen Schuhen hätte ich deine Mutter wohl kaum beeindruckt.«
»Keine Sorge, es ist nicht weit«, sagte ich und schob mich die weiche Böschung hinunter, während sie mit Tippelschritten folgte. »Halt dich an meinem Hals fest«, sagte ich, als ich sie wie eine Braut hochhob und den restlichen Weg trug. Sie schmiegte ihr Gesicht an meinen Nacken und seufzte. Ich würde es ihr nie erzählen, aber mir gefiel es, stärker zu sein als sie, so stark, dass ich sie buchstäblich von den Füßen holen konnte. Und auch wenn sie es genauso wenig zugegeben hätte, war mir klar, dass sie es ebenfalls zu schätzen wusste. Als ich das Ufer des Wasserlaufs erreichte, setzte ich sie auf dem weichen Boden ab. »Du wirst schwer, Mädchen. Sicher, dass du nicht schwanger bist?«
»Haha, sehr witzig«, sagte sie und blickte hoch. »Ziemlich viel Brücke für das bisschen Wasser.«
»Bevor sie den Damm gebaut haben und der Wasserspiegel absank, sind mein Daddy und ich samstags immer mit unseren Angeln und Ködern hierhergekommen. Das ist es doch irgendwie, was Vaterschaft bedeutet: Mortadellasandwiches und Traubenlimonade.« Sie kicherte, unsicher, wie ernst ich es meinte. Über uns fuhr ein Auto über das Metallgitter, und der Wind, der durch die Lücken pfiff, erzeugte einen musikalischen Ton, als würde man den Mund an einen Flaschenhals legen und sanft pusten. »Wenn viele Autos drüberfahren, klingt es fast wie ein Lied.«
»Georgia«, sagte ich, nannte sie beim Spitznamen. »Meine Familie ist komplizierter, als du denkst. Meine Mutter …« Aber ich brachte den Satz nicht zu Ende.
Sie drehte sich zu mir um, und wir küssten uns wie Teenager, die unter der Brücke rummachen. Es fühlte sich wunderbar an, erwachsen zu sein und doch jung. Verheiratet, aber nicht gesetzt. Gebunden und doch frei.
Meine Mutter übertrieb. Das Piney Woods hatte in etwa das Niveau eines Motel 6, anderthalb Sterne, objektiv betrachtet, aber man muss noch einen Stern dazugeben, weil es das einzige Hotel am Platz war. In einem anderen Leben hatte ich nach einem Schulball ein Mädchen hergebracht, in der Hoffnung, endlich meine Unschuld zu verlieren. Ich hatte eine Menge Lebensmitteltüten im Supermarkt gepackt, um das Zimmer, die Flasche Asti Spumante und weitere romantische Accessoires bezahlen zu können. Ich war sogar beim Waschsalon vorbeigegangen und hatte mir einen Stapel Quarters besorgt, um das Massagebett anwerfen zu können. Aber die Nacht geriet zu einer Komödie der Irrungen. Das Massagebett fraß sechs Quarters, bevor es schließlich ansprang, und dann ratterte es so laut wie ein Rasenmäher. Außerdem trug mein Date einen Südstaatenreifrock wie aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg, der hochklappte und mir gegen die Nase schlug, als ich versuchte, mich besser bekannt zu machen.
»Hat was von Camping«, sagte ich.
Ich sah ihr im Spiegel in die Augen und begann zu reden. »Ich wäre fast in diesem Hotel zur Welt gekommen. Olive hat hier mal gearbeitet, als Putzfrau.« Damals hieß das Piney Woods Inn noch Rebel’s Roost, wogegen nichts zu sagen war, aber in jedem Zimmer hing die Konföderiertenflagge. Meine Mama schrubbte gerade die Badewanne, als die Wehen einsetzten, aber sie war fest entschlossen, dass ich mein Leben nicht unter den Stars and Bars beginnen würde. Sie presste die Knie zusammen, bis sie der Motelbesitzer, trotz der Fahnen ein anständiger Mann, die dreißig Meilen nach Alexandria fuhr. Es war der 4. April 1969, und ich verbrachte meine erste Nacht auf einer rassisch gemischten Neugeborenenstation. Darauf war meine Mama stolz.
Die Frage war der Grund, warum wir überhaupt hier waren, warum also fiel es mir so schwer, ihr zu antworten? Ich hatte sie zu dieser Frage geführt, aber sobald sie gestellt war, verstummte ich wie ein Stein.
Celestial hatte im Bett sitzend weitere Perlen an der Puppe für den Bürgermeister festgenäht, aber mein Schweigen ließ sie aufmerken. Sie biss den Faden ab, verknotete ihn und verrenkte sich, um mich direkt anzusehen. »Was hast du denn?«
die
»Big Roy ist nicht mein richtiger Vater.« Das war der eine kurze Satz, den ich, so hatte ich meiner Mutter versprochen, nie aussprechen würde.
»Biologisch betrachtet.«
»Er hat mich zu seinem Junior gemacht, als ich noch ein Baby war.«
»Wie lange weißt du das schon?«
»Erzählst du mir deshalb jetzt davon? Damit ich es nicht auf der Straße erfahre?«
Sie ging nicht auf meinen erbärmlichen Toast ein, sondern stellte den Becher auf den zerkratzten Nachttisch und hüllte die Puppe des Bürgermeisters sorgsam wieder in die Decke. »Roy, warum machst du so was? Wir sind seit über einem Jahr verheiratet, und es ist dir bisher nie in den Sinn gekommen, mir davon zu erzählen?«
»Roy, du machst das absichtlich.«
das
»Das ist keine Bombe. Was ändert es schon?« Ich ließ es wie eine rhetorische Frage klingen, aber ich gierte nach einer echten, wahren Antwort. Ich musste von ihr hören, dass es nichts änderte, dass ich ich war und nicht mein knorriger Stammbaum.
»Mit dir stimmt etwas nicht«, sagte sie. Ihr Gesicht im von Schlieren überzogenen Spiegel war hellwach und wütend.
»Das Problem ist, dass du es mir nicht erzählt hast. Dass du nicht weißt, wer dein Daddy ist, ist mir egal.«
»Jetzt dreh mir nicht das Wort im Mund um. Du bist derjenige, der ein Geheimnis mit sich rumgetragen hat, das so groß ist wie Alaska.«
»Verzerr doch nicht alles.«
»Ich rede von dir und mir. Wir sind verheiratet. Verheiratet! Es ist mir scheißegal, wie er heißt. Und sehe ich etwa so aus, als würde es mich kümmern, was deine Mutter …«
»17. November«, presste ich heraus, bevor sie zu Ende überlegen konnte.
17
Ich stand auf und nahm den Plastikkübel für Eiswürfel. »Ich fülle den mal auf.«
Während sie Dre gegenüber Dampf abließ, ging ich in den ersten Stock, stellte den Kübel unter die Maschine und betätigte den Hebel. Eiswürfel prasselten stockend heraus. Während ich wartete, machte ich die Bekanntschaft einer Frau ungefähr in Olives Alter, korpulent, mit einem freundlichen Gesicht voller Grübchen. Ihr Arm lag in einer Schlinge. »Rotatorenmanschette«, sagte sie und erklärte, dass Autofahren eine Herausforderung sei, aber ein Enkelkind in Houston auf sie warte, ein Enkelkind, das sie mit ihrem gesunden Arm hochzuheben gedachte. Als der Gentleman, zu dem meine Mama mich erzogen hatte, trug ich ihr das Eis zurück in ihr Zimmer, Nummer 206. Wegen ihrer Verletzung fiel es ihr schwer, das Fenster zu öffnen, also hob ich den Rahmen an und klemmte eine Bibel dazwischen. Ich hatte noch weitere sieben Minuten, deshalb ging ich ins Bad und spielte Klempner, brachte die Toilette in Ordnung, deren Spülung rauschte wie die Niagarafälle. Als ich ging, wies ich sie darauf hin, dass der Türgriff lose war und sie hinter mir unbedingt ordentlich abschließen solle. Sie dankte mir; ich nannte sie Ma’am. Es war 20 Uhr 48. Das weiß ich, weil ich auf die Uhr blickte, um zu sehen, ob es an der Zeit war, zu meiner Frau zurückzukehren.
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