Deutsche Erstausgabe
Erste Auflage 2018
© der deutschen Ausgabe
Scoventa Verlagsgesellschaft mbh
Diese Veröffentlichung wird zugleich als »Veröffentlichungen der Aue-Stiftung, 37« verzeichnet.
Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwendung des vorliegenden Werkes, einschließlich aller Bilder und ggf. Grafiken, sowie von Auszügen desselben bedürfen der vorherigen schriftlichen Genehmigung. Dies gilt auch für sämtliche Formen medialer Verwendungs- und Aufführungsmöglichkeiten.
Originaltitel: Saksalainen Suomi 1918 (Erstveröffentlichung 2016 bei Siltala, Helsinki)
Copyright © Marjaliisa Hentilä ja Seppo Hentilä 2017
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Finnischen von Benjamin Schweitzer
Lektorat: Miriam Uhr
Gestaltung & Satz: Anja Fuchs, www.anjafuchs.com
Druck & Bindung: Pustet, Regensburg
ISBN 978-3-942073-48-6
eISBN 978-3-942073-47-9
www.scoventa.de
DAS DEUTSCHE
FINNLAND
VORWORT
HERAUSGEBERVORWORT
EINLEITUNG
Finnland rettete sich erst mit und dann vor Deutschlands Hilfe
KAPITEL 1
Finnland und Deutschland im Ersten Weltkrieg
Wie fiel Finnland Deutschland in den Schoß?
Deutschland stolpert auf dem Weg zur Anerkennung Finnlands
Das Gros der Jägertruppen kehrt heim
Wer war Wilhelm Thesleff?
Vaasa-Berlin und zurück
KAPITEL 2
»Wir sind erfreut, wenn wir euch helfen können«
Ein Notruf aus Helsinki
Deutschland ruft sich selbst Finnland zur Hilfe
Der Vaasaer Senat verschluckt sich an Deutschlands Hilfe
Warum akzeptierte Mannerheim das deutsche Hilfsangebot?
Hilfe aus Deutschland, um jeden Preis
Hjelts Politik auf eigene Verantwortung
Svinhufvuds Berlinreise
Deutschland eröffnet eine Gesandtschaft in Finnland
KAPITEL 3
»Das wäre reine Polizeiarbeit«
Gegen wen zogen die Deutschen in Finnland in den Krieg?
Hochbetrieb im Danziger Hafen
Wer war Rüdiger von der Goltz?
Internationales Treffen auf den Åland-Inseln
Das rote Finnland sucht Kontakt zu Deutschland
Die deutsche Linke und die Finnlandfrage
Die deutschen Gegner der Intervention unternehmen einen letzten Versuch
Es war nicht nur ein Segeltörn nach Hanko
Was packte ein Finnlandkämpfer in seinen Tornister?
KAPITEL 4
Die deutschen Kriegshandlungen
Kühne Landung im Rücken der Roten
Oberbefehlshaber Mannerheim und die Deutschen
Im Eilmarsch durch das westliche Uusimaa
Nun kommen die Deutschen doch!
Die Einnahme von Helsinki
»Sie waren wie die Ruhe und die Kraft selbst«
Die deutsche Siegesparade am 14. April 1918
Die Abteilung Brandenstein – von Loviisa nach Lahti
Kämpfe im Herzen von Häme
Waren die Deutschen an Hinrichtungen von Roten beteiligt?
Deutsche Gefallene, Gräber und Denkmäler
In Finnland beerdigte deutsche Soldaten und Gedenksteine
Das Schauspiel vom 16. Mai
Entschied die deutsche Intervention den Bürgerkrieg?
KAPITEL 5
Finnland unter dem Kommando eines deutschen Generals
»Früher war’s der Russe, heut ist’s der Deutsche«
Von der Goltz und die Elite Finnlands
Warum trat Mannerheim zurück?
Mannerheims Spiel mit den Deutschen
Die Abwiegelungspolitik der Sozialdemokraten
Hungersommer und Hungerherbst in Finnland
Deutschland und die roten Gefangenen
KAPITEL 6
Alltag, Freizeit und Festlichkeiten unter »Waffenbrüdern«
Die Zeitung Suomi-Finnland
Helsinki beherbergt und bewirtet
»Lang erwartete liebe Gäste«
Kultur, Vergnügungen und Propaganda
Die Versuchungen von Helsinki
»Besorkkaus« – diese Kunst beherrschten die Deutschen
Schmuggel auf den Tallinner Postschiffen
Die soldatische Disziplin bröckelt
KAPITEL 7
Finnland sollte die Eisenfaust des Nordens werden
Eine Armee nach deutschem Vorbild
Ein deutscher Offizier und Gentleman
Militärische Aufklärung und Reisen über Land
Ein König aus Deutschland für Finnland
Deutschland und »Groß-Finnland«
Die deutsch-finnischen Militärbündnisprojekte
Finnland als »Kolonie«
KAPITEL 8
Die Ostseedivision muss Finnland verlassen
Finnlands Deutschlandorientierung gerät ins Wanken
Die Soldaten radikalisieren sich
Wehmütiger Abschied
Auch der letzte deutsche Soldat muss aus Finnland abziehen
KAPITEL 9
»Waffenbrüder« lässt man nicht im Stich
Die Erinnerung an den 12. April 1918
»Ich bin mit dem Volke zufrieden gewesen und das Volk ist mit mir zufrieden gewesen«
Ein Pass für den »Kommerzienrat Lindström«
Frauen helfen Waisen und Kriegsinvaliden
Finnland bezahlt seine »Ehrenschuld«
Nikolaus von Falkenhorst – zweimaliger »Waffenbruder«
NACHWORT
Uneigennützige Helfer oder gierige Imperialisten?
FINNLAND UND DEUTSCHLAND IM ERSTEN WELTKRIEG
QUELLEN UND LITERATUR
PERSONENVERZEICHNIS
Bezüglich der Namen von Städten und Ortschaften wurde folgendes Prinzip angewandt:
Generell wird für Orte in Finnland die finnische, für alle anderen die deutsche Namensform verwendet, wenn diese sowohl etabliert als auch heute noch geläufig ist. Andere relevante Namensformen werden beim ersten Auftreten mit genannt; bei finnischen Orten mit heute noch überwiegend schwedischer Einwohnerschaft also der schwedische Ortsname. Der schwedische Name »Helsingfors« für die finnische Hauptstadt wurde dort beibehalten, wo er Bestandteil von Werktiteln u. dgl. ist. Eine politische Konnotation ist in keinem Fall mit der Wahl der Namensform verknüpft.
Finnische Straßennamen wurden im Allgemeinen nicht eingedeutscht. Wenn der Namenszusatz der finnischen Straßennamen allgemein verständlich ist – finn. katu bedeutet ›Straße‹ – werden die finnischen Straßennamen verwendet. Benötigt man für das Verständnis des Textes jedoch den genauen Wortlaut einer Übersetzung, so wurden die Straßennamen ins Deutsche übertragen.
Bei der Wiedergabe von Originalzitaten wurde die ursprüngliche Gestalt beibehalten, ohne dass orthographische oder syntaktische Eigenheiten überall ausdrücklich als solche gekennzeichnet wurden. Die im Text zitierten Gedichte und Lieder wurden so ins Deutsche übertragen, dass deren poetische Gestalt und Stilebene nachvollziehbar bleibt.
Am 6. Dezember 1917 erklärte sich Finnland für unabhängig. Bereits einen guten Monat später geriet das Land in einen Bürgerkrieg zwischen aufständischen Roten und den Weißen, die die legitime Regierung verteidigten. Deutschland beschloss im Februar 1918 auf Bitten der weißen finnischen Regierung, eine militärische Hilfsexpedition zu entsenden, die den Namen »Ostseedičsion« erhielt. Die Haupttruppe landete im von den Roten kontrollierten Südfinnland und befreite innerhalb von vier Wochen die Hauptstadt Helsinki und einen großen Teil der südlichen Gebiete.
Auf Seiten der Weißen glaubte man blauäugig, dass die Deutschen den Finnen aus purer Gutherzigkeit zur Hilfe gekommen waren. Die Deutschen, allen voran der Kommandant der Ostseedivision, General Rüdiger von der Goltz, wurden als große Helden gefeiert. Der Mythos vom uneigennützigen Helfer wurde bis heute gepflegt, obwohl er jeder Grundlage entbehrt. Die Deutschen kamen aus eigenem militärischen Interesse nach Finnland: Sie wollten und mussten die Initiative der Entente, an der Eismeerküste eine neue Front gegen Deutschland zu eröffnen, verhindern. Die Hilfe für die Weißen im finnischen Bürgerkrieg diente ihnen als willkommener Vorwand.
Nach dem Ende des Bürgerkriegs mit dem Sieg der Regierungstruppen Anfang Mai 1918 blieben die Deutschen in Finnland. Sie verließen das Land erst im Dezember 1918, nachdem Deutschland an der Westfront geschlagen worden war. Dieser Zeitraum zwischen Frühjahr und Advent 1918 war Gegenstand unserer Forschungen. Die Deutschen erhielten von der finnischen Führung freie Hand, sich das Land zu einem Staat zu formen, der Deutschlands politischen, militärischen und wirtschaftlichen Interessen in Nordeuropa dienen sollte. Nur Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg bewahrte Finnland vor dem Schicksal eines kolonialen Protektorats.
Das »deutsche Finnland« des Jahres 1918 ist überraschend wenig erforscht. Was taten die Deutschen in Finnland, nachdem die Kampfhandlungen vorüber waren? Den Alltag unter »Waffenbrüdern«, die Begegnungen mit den Finnen und die Erinnerungskultur hat Marjaliisa Hentilä erforscht. Die Untersuchung der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Beziehungen und ihre Einordnung in den Kontext des Weltkriegs stand im Zentrum von Seppo Hentiläs Arbeit.
Wir sind sehr erfreut darüber, dass unser Buch in Finnland so erfolgreich war – neben anderen Auszeichnungen wurde es zum Geschichtsbuch des Jahres 2016 gewählt – und dort bereits die vierte Auflage erschienen ist. Das hundertjährige Jubiläum des Bürgerkriegs von 1918 hat das Interesse einer breiten Öffentlichkeit an fundierter historischer Forschung geweckt.
Wir danken der Aue-Stiftung Helsinki, deren Vorsitzender Dr. Sinikka Salo und ihrem Forschungsleiter Dr. Robert Schweitzer für die Unterstützung der Übersetzung. Der Übersetzer Benjamin Schweitzer hat den Stil unseres Buches glänzend ins Deutsche übertragen. Prof. Dr. Dörte Putensen gilt unser Dank für ihre Unterstützung und zahlreiche wichtige Anmerkungen zu Details der Übersetzung. Wir danken dem Scoventa-Verlag und der Verlegerin Sonja Hintermeier dafür, unser Buch in ihr Programm aufzunehmen.
Espoo, 1. Mai 2018
Marjaliisa Hentilä |
Seppo Hentilä |
Das 100-jährige Jubiläum der Unabhängigkeit Finnlands im vergangenen Jahr 2017 hat bereits unter vielen Aspekten die Rolle Deutschlands in den Fokus gerückt. Es bestand daher eine hohe Erwartung in der Öffentlichkeit, wie die Ereignisse 100 Jahre nach dem deutschen Eingreifen in den Finnischen Bürgerkrieg 1918 bewertet werden können. Das zeigte das überwältigende Interesse, das in Finnland der Untersuchung von Marjaliisa und Seppo Hentilä unter dem Titel »Saksalainen Suomi 1918« über das »Deutsche Finnland« des Jahres 1918 entgegenschlug.
Aber schon vor dieser eindrucksvollen Bestätigung bestand die uneingeschränkte Bereitschaft der Aue-Stiftung, die Übersetzung des Buches ins Deutsche zu fördern. Hier ist wieder einmal ein zentrales Thema aus dem Aufgabenfeld der Stiftung getroffen, die ja die Erforschung der Wechselwirkungen zwischen deutschsprachigem Raum und europäischem Nordosten fördert. Das Autorenpaar hat in enger Zusammenarbeit mit dem Übersetzer die passende Umsetzung des Textes für ein deutschsprachiges Publikum begleitet.
In Deutschland herrschte unter den Finnlandinteressierten lange ein sehr harmonisches Bild von der Rolle der Deutschen im finnischen Bürgerkrieg 1918. Es stand im Zeichen der Traditionspflege für die Ausbildungsstätte der finnischen Jäger im deutschen Hohenlockstedt und der Bezeichnung »Waffenbrüderschaft« für das deutsch-finnische Zusammengehen 1918 und 1941-1944. Eine weit verbreitete positive Bewertung dieser Erscheinungen, auch in Finnland, hat die Sichtweise der Deutschen auf das beidseitige Verhältnis verstärkt. Zwar sind nach dem Zweiten Weltkrieg von der finnischen und internationalen Forschung notwendige zusätzliche Analysen geleistet worden. So hat man das militärische und wirtschaftliche Kalkül hinter der deutschen Intervention 1918 ebenso aufgedeckt wie das Entgegenkommen der finnischen Führungsschicht gegenüber diesen Interessen. Aber diese Studien lagen in ihrer ganzen Breite kaum in deutscher Sprache vor.
Das Werk des Ehepaars Hentilä, das Detailforschung mit wissenschaftlich fundierter Synthese zum Gesamtkomplex verbindet, wird durch die Genauigkeit der Dokumentation die Fachleute überzeugen und durch die lebendige Detailschilderung das Publikum fesseln. Es informiert die deutschsprachige Leserschaft umfassend über die Beziehungen zwischen beiden Ländern um das Jahr 1918 und schildert dabei ganz konkret die Begegnung zwischen Deutschen und Finnen. Damit ist es ein wichtiger Beitrag in diesem »Jubiläumsjahr der dunklen Seite« der Unabhängigkeit Finnlands, ein Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung - wichtig für uns alle.
Allen, die zum Gelingen dieser Ausgabe beigetragen haben, gilt unser tiefer Dank. Unser besonderer Dank geht an Verlegerin Sonja Hintermeier, die ein weiteres Mal den Ball für den Scoventa-Verlag aufnahm, eine von der Aue-Stiftung geförderte Übersetzung dem deutschen Buchmarkt zuzuführen. Für die Aue-Stiftung ist es eine Ehre, die Ausgabe als Stück ihrer Schriftenreihe zählen zu dürfen und damit diese erfolgreiche Zusammenarbeit zu dokumentieren.
Im Sinne der Ziele unserer Stiftung hoffen wir, dass dieses Buch die Fähigkeit stärken wird, aus der Geschichte zu lernen und Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen – diese ist auch heute dringend vonnöten, in Europa und weltweit.
Dr. Sinikka Salo |
Dr. Robert Schweitzer |
Vorstandsvorsitzende |
Forschungsleiter |
der Aue-Stiftung |
der Aue-Stiftung |
Wer über die Ereignisse des Jahres 1918 in Finnland halbwegs informiert ist, dem ist die Vorstellung geläufig, dass Deutschlands militärische Hilfe Finnland gerettet habe. Ohne Zweifel verhalf die Landung der deutschen Ostseedivision im Rücken der Roten im April 1918 den Weißen, also der legitimen Regierung des Landes, zum Sieg über die aufständischen Roten. Die deutsche Hilfe entschied zwar vielleicht nicht allein den Krieg, aber sie verkürzte ihn und begrenzte damit auch die Zahl der Todesopfer. Finnland rettete sich im Frühjahr 1918 mit Deutschlands Hilfe, aber sehr viel weniger Beachtung wurde der Tatsache geschenkt, dass es sich im Herbst 1918 auch vor Deutschlands Hilfe retten musste. Der Austausch einer kleinen Präposition1 ermöglicht dieses Wortspiel, mit dem man die bedeutenden Umbrüche in Finnlands staatlicher Souveränität im Jahr 1918 kurz und treffend darstellen kann.
Mit Deutschlands Hilfe – das ist klar, aber warum auch vor Deutschlands Hilfe? Nach dem Ende der Kampfhandlungen Anfang Mai 1918 blieb die Ostseedivision, über 10.000 Mann, noch mehr als ein halbes Jahr in Finnland. Durch die militärische Hilfe und als Preis dafür legte Finnlands weiße Regierung ihr Schicksal bedingungslos in die Hände des deutschen Kaiserreiches. Die Staatsverträge, die Anfang März 1918 mit Deutschland abgeschlossen wurden, hätten aus Finnland eine Kolonie gemacht, deren Außenhandel und Ressourcen sich Deutschland nahezu unbegrenzt hätte zunutze machen können. Die Deutschen blieben in Finnland, um eine Armee zu gründen, die die »Eisenfaust des Nordens« zur dauerhaften Verteilung der militärischen Interessen Deutschlands in Nordosteuropa werden sollte.
Anfang Oktober wählten die Finnen einen deutschen Prinzen zum König, wodurch die »Waffenbrüderschaft« durch Blutsbande gefestigt werden sollte. Bereits im Sommer 1918 wurden Verhandlungen über ein deutsch-finnisches Militärbündnis geführt, mit dessen Abschluss Finnlands Armee völlig unter die Befehlsgewalt des deutschen Generalstabs geraten wäre. Vor dieser »Hilfe« rettete sich Finnland nur, weil Deutschland an der Westfront eine Niederlage erlitt, in deren Folge das Kaiserreich Anfang November 1918 zusammenbrach.
Die Zeit von der Unabhängigkeitserklärung bis zum Ende des Bürgerkriegs gehört zu den am intensivsten erforschten Phasen der politischen Geschichte Finnlands. Der Entscheidungsprozess, der zu Deutschlands militärischer Hilfe führte, ist auf Basis deutscher Originalquellen bereits mehrfach untersucht worden, etwa von Yrjö Nurmio (1957), Juhani Paasivirta (1957), Manfred Menger (1975) und Anthony Upton (1981). Tuomo Polvinen hat in seinen hervorragenden Arbeiten die deutsch-finnischen Beziehungen im Ersten Weltkrieg und im Zusammenhang mit der russischen Revolution erforscht (1967,1971). Matti Lackmans Abhandlung zur Geschichte der Jägerbewegung (2000) und Harri Korpisaaris Dissertation über das von der sogenannten Alten Garde finnischer Offiziere gegründete Militärkomitee (2009) sind Ecksteine der Forschung zu den finnischen Unabhängigkeitsaktivisten und ihrer Hinwendung zu Deutschland. Hannu Rautkallio hat in seiner bahnbrechenden Dissertation (1977) die nackten militärisch-wirtschaftlichen Interessen Deutschlands erbarmungslos ans Licht gezogen. Vesa Vares (1998) hat die einzige wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Arbeit zur finnischen Königsfrage vorgelegt.
Die Ergebnisse dieser Forschungen werden hier nicht alle noch einmal wiedergegeben, aber es soll ein Gesamtbild davon gezeichnet werden, wie Finnland sich unter deutsche Bevormundung begab. Was brachte Finnlands Staatsführung dazu, sich Deutschland bedingungslos in die Arme zuwerfen? Was waren die Motive des Senatsvorsitzenden Pehr E. Svinhufvud und seiner Regierung? Was dachten die Deutschen über Gustaf Mannerheim, der Ende Mai 1918 vom Posten des Oberbefehlshabers verdrängt worden war?
Die praktische Durchführung der deutschen Intervention – vom Zusammenziehen der Truppen in Danzig (Gdansk) über die Ausrüstung einer Armada von 171 Schiffen bis zum Transport von über 10.000 Mann und 4.000 Pferden über die vereiste Ostsee – ist bisher nicht eingehend dargestellt worden. Auch der Einfluss von Deutschland als Vorbild beim Aufbau finnischer Strukturen im Sommer und Herbst 1918 ist kaum Gegenstand der Forschung gewesen. Die Militärhistoriker Reino Arimo (1991) und Jarl Kronlund (1988) haben die Gründungsphase der finnischen Armee unter deutscher Führung untersucht. Arimo und Tuomas Hoppu (2013) haben über die Kampfhandlungen der Deutschen in Finnland gearbeitet.
Aber was haben mehr als zehntausend junge deutsche Männer während ihrer über sechsmonatigen Finnland-Expedition sonst noch getan? Wie begegneten Deutsche und Finnen einander? Solchen Fragen ist dieses Buch nachgegangen. Die Offiziere pflegten sicherlich Umgang mit der deutschlandfreundlichen Elite, aber die Anwesenheit der »Waffenbrüder« war auch im einfachen Volk sichtbar und kam in dessen Alltag und Festtagen zum Tragen – besonders in jenen Ortschaften, in denen die Truppen der Ostseedivision stationiert waren. Die dankbaren Finnen richteten für die Deutschen allerhand Festivitäten und Zeitvertreibe aus, vom Dorftanz bis zur Hochkultur. Sie bewirteten die lieben Gäste auch aus ihren geringen Vorräten. In dem von schwerem Mangel gebeutelten Finnland entstanden auch Schwarzmärkte. Es blühten Schmuggel und Diebstahl sowie die deutsche Kunst, sich Dinge zu »organisieren« – darin waren viele Männer der Ostseedivision äußerst geschickt. Der Alltag unter »Waffenbrüdern«2 war insgesamt bunt und abwechslungsreich, auch wenn bisweilen das Kasernenleben abstumpfte und der Mangel an vernünftiger Tätigkeit den Männern zu schaffen machte.
Im Sommer und Herbst 1918 herrschte in Finnland ein einziges Durcheinander. In den etwas mehr als drei Monaten des Bürgerkrieges waren etwa 9.000 Finnen gefallen, und in etwa die gleiche Zahl an Todesopfern hatten der weiße und der rote Terror gefordert. Noch einmal beinahe 12.000 Rote starben nach den Kämpfen in Gefangenenlagern. In Finnland herrschte Hungersnot, und die Spanische Grippe fuhr ihre grausame Ernte ein.
Finnland suchte sich einen deutschen Prinzen als König, und im Land herrschte de facto ein deutscher General. Nicht allein blieb die Ostseedivision im Land – die Deutschen übernahmen auch die finnische Armee, oder vielmehr wurde ihnen diese übertragen, um sie nach ihrem Modell aufzubauen. Finnische Freischärler unternahmen Streifzüge über die Ostgrenze im Zeichen der Idee eines Groß-Finnlands. Ihretwegen geriet Finnland beinahe noch in einen Krieg mit Großbritannien, dessen Truppen an der Eismeerküsten und entlang der Murmanbahn stationiert waren. In St. Petersburg regierten die Bolschewiki unter Lenin, von denen man befürchtete, sie würden ihre Revolution auf Finnland ausdehnen. Die Zeitgenossen konnten in dieser chaotischen Situation kaum erkennen, geschweige denn verstehen, was kommen würde. Die einzige Sache, auf die die meisten felsenfest vertrauten, war Deutschlands Sieg im Weltkrieg. Die Unsicherheit der Zeit gipfelte darin, dass gerade dieses Szenario nicht eintraf.
1Im Original spielen die Autoren hier mit dem Wechsel zwischen dem finnischen Adessiv, der auch Ausdruck eines Mittels sein kann (Saksan avulla – mit Deutschlands Hilfe) und dem Ablativ, der die räumliche Trennung ausdrückt (Saksan avulta – vor Deutschlands Hilfe). [Anm. d. Übers.]
2Der Begriff »Waffenbruder« (finnisch aseveli) samt seinen Derivationen wurde durchgehend in Anführungzeichen gesetzt, auch wenn er zum seinerzeitigen Sprachgebrauch gehörte. Dies reflektiert die Tatsache, dass die kriegsrechtliche Definition von Waffenbrüderschaft nicht problemlos auf das Verhältnis zwischen finnischen und deutschen Truppen im Jahr 1918 übertragen werden kann. Zudem ist der Begriff sowohl im finnischen wie auch im deutschen Sprachgebrauch durch die deutsch-finnische militärische Zusammenarbeit im Zweiten Weltkrieg belastet (vgl. hierzu Jonas 2011, insbes. S. 294ff.). [Anm. d. Übers.]
Anfang der 1890er Jahre begannen sich die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland abzukühlen. Seitdem hatte Deutschland zumindest halböffentlich die Revolten und Abspaltungsbestrebungen der Minderheitenvölker an den Rändern des Zarenreichs unterstützt. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 arbeitete Deutschland noch zielstrebiger als bisher daran, Russland zu schwächen, indem es die entstandenen antirussischen nationalen Befreiungsbewegungen und politischen Oppositionsgruppen unterstützte. Auch das Großfürstentum Finnland als Teil des Zarenreiches war mit diesem strategischen Prozess verbunden, den man bildhaft als Revolutionierung« bezeichnete.3 Im Hinblick auf Finnland konnte Deutschland jedoch lange Zeit nicht viel erreichen, da die Finnen trotz der sogenannten »Unterdrückungszeit« und der »Russifizierung«4 von den Minderheitenvölkern die vielleicht loyalsten Untertanen des Zaren blieben. Der Widerstand kleiner Aktivistengruppen und die nationale Bewegung des Generalstreiks vom Oktober 1905 ließ die Hoffnungen der Deutschen nur kurz aufflammen.5
Der Ausbruch des Krieges weckte in Finnland eine beinahe patriotische Begeisterung dafür, das russische Kaiserreich zu verteidigen. Der Grund dafür war weniger eine Erstarkung prorussischer Gesinnung als vielmehr die Angst vor einem deutschen Angriff. In Helsinki (Helsingfors) versuchten Tausende Finnen in Panik, vor dem Krieg zu fliehen.6 Eine ins Extrem getriebene Treue gegenüber Russland zeigte sich in dem Mitte August 1918 aufgekommenen Vorschlag, eine 100.000 Mann starke finnische Truppe für die Armee des Zaren auszurüsten. Für diese Initiative zeichnete Wilhelm Alexander Lavonius verantwortlich, der Direktor der Versicherungsgesellschaft Suomi und Politiker der bürgerlich-liberalen Jungfinnischen Partei (Nuorsuomalainen puolue) war. Er glaubte, dass die Finnen dank dieser Loyalität bessere Voraussetzungen für die Forderung nach Wiederherstellung ihrer Autonomie schaffen könnten. Zudem war Lavonius der Ansicht, dass die Finnen sich selbst darauf vorbereiten sollten, einen deutschen Angriff abzuwehren, statt sich einer Verteidigung Finnlands durch die Russen zu unterstellen.7
Die Werbung von Freiwilligen fand jedoch nicht annähernd im von Lavonius vorgeschlagenen Umfang statt. Tuomas Hoppu zufolge schlossen sich etwa 700 Finnen der russischen Armee an, zum größten Teil im September 1914.8 Die Rekrutierung wurde von denjenigen Kreisen aus Industrie und Kapital unterstützt, die signifikante Interessen an den mit der russischen Kriegswirtschaft entstandenen Märkten hatten. Anfang 1916 schlug Generalleutnant Gustaf Mannerheim, der wegen der geringen Erfolge Russlands im Krieg besorgt war, während seines Urlaubs in Finnland seinen alten Offizierskameraden vor, gar eine 200.000 Mann starke Freiwilligenarmee in Finnland zu rekrutieren. Mannerheim, der Finnland über drei Jahre nicht betreten hatte, war in dieser Phase bedingungslos loyal zur Herrschaft des Zaren.9 Er glaubte, dass Finnland nach einem Sieg der Ententestaaten über Deutschland und dessen Verbündere eine bessere Zukunft innerhalb des russischen Imperiums bevorstand.
Der größte Teil der politisch einflussreichen Kreise Finnlands war bis zum Spätherbst 1917 der Ansicht, dass es ausreichen würde, die Autonomierechte zurück zu erhalten. Von einer Lossagung von Russland und vollständiger Unabhängigkeit träumten in Finnland nach Ausbruch des Krieges nur die Aktivisten, also die Anhänger einer aktiven Widerstandslinie gegen die Maßnahmen Russlands, die Finnlands Autonomie einschränkten. zur Einschränkung der finnischen Autonomie. Im Gegensatz zu Mannerheim dachten sie, ein deutscher Sieg Finnland die Freiheit bringen würde. Viele Aktivistenveteranen der ersten »Russifizierungszeit« sahen eine neue Gelegenheit gekommen. Ihnen schlossen sich die studentischen Aktivisten an, die sich im Herbst 1914 organisiert hatten. Das Ziel stand ihnen von Anfang an klar vor Augen: Finnland muss sich von Russland lösen, aber ohne außenpolitische Unterstützung wird dies nicht gelingen. Militärische Hilfe war entweder von Schweden oder von Russlands Hauptgegner Deutschland zu erwarten. Zur Enttäuschung der Aktivistenbewegung fand eine deutsche Landung in Finnland nicht statt, von einem Sturm auf St. Petersburg ganz zu schweigen. Während der ersten drei Kriegsjahre, bis zum Spätherbst 1917, blieb Finnland innerhalb der deutschen Kriegsziele in erster Linie eine nicht eingelöste Option. Mit dem Beginn einer militärischen Ausbildung für finnische Jäger in den sogenannten Pfadfinder-Kursen im Februar 1915 im Lager Lockstedt bei Hamburg griff Deutschland den finnischen Aktivisten erstmals in relevantem Umfang unter die Arme.10
Die Geschichte der finnischen Unabhängigkeit und das Streben der Aktivisten nach Deutschlands Seite ist grundlegend erforscht worden, und dem ist hier nichts hinzuzufügen.11 Im Folgenden wird daher nur eine komprimierte Betrachtung als Hintergrund dafür gegeben, warum Deutschland im Frühjahr 1918 beschloss, die sich mit den Aktivisten bietende Option einzulösen und eine militärische Intervention in Finnland zu unternehmen. Wie wurde aus Finnland im Jahr 1918 das deutsche Finnland?
Abb. 1: Organisation der finnischen Unabhängigkeitsaktivisten 1917. (Quelle: Korpisaari 2009, 125.)
Die beiden Hauptrichtungen der sich auf Deutschland stützenden Unabhängigkeitsbewegung waren die Aktivisten (bisweilen auch »Neuaktivisten«) genannte Bewegung sowie das »Militärkomitee« (fi. Sotilaskomitea, schwed. Militärkommitté, kurz M.K.) aus ehemaligen Offizieren der 1901 aufgelösten finnischen Armee. In der Aktivistenbewegung agierten zwei Generationen parallel: Die Veteranen der »Russifizierungszeit« und die studentischen Aktivisten. Die Veteranen bildeten Anfang 1915 den sogenannten »Rat der Alten«. Hierzu gehörten unter anderem die Staatsräte Edvard Hjelt und Alexis Gripenberg sowie der Juraprofessor Rafael Erich. Aus ihnen bestand das »Zentralkomitee« (fi. Keskuskomitea, schwed. Centralkommitté, kurz C.K.) genannte Führungsorgan. In Schweden agierte mit deutscher Unterstützung die Auslandsdelegation zur Befreiung Finnlands, deren Bevollmächtigte die Veteranen Herman Gummerus und Jonas Castrén waren. Der »Rat der Alten« ging bald in das »Aktivkomitee« (fi. Aktiivinen komitea, schwed. Aktivkommitté, kurz A.K.) auf, das zur Unterstützung der Jägerbewegung gegründet worden war. Diesem Komitee unterstanden, neben der Rekrutierung der Jäger, auch die Verbindungen der Unabhängigkeitsbewegung nach Schweden und Deutschland.
Die Aktivitäten der Jägerbewegung in Berlin organisierte anfangs der deutschstämmige Jurist Fritz Wetterhoff, der in Finnland die Schule besucht hatte. Viele der Unabhängigkeitsaktivisten waren besondere Persönlichkeiten, aber Wetterhoff, ein »Ritter von der traurigen Gestalt« in der Art des Don Quijote, war in seiner Eigenwilligkeit unvergleichlich. Er musste wegen seiner Schulden und zahlreicher Vergehen aus Finnland fliehen, seine Anwaltspraxis blieb aber auch in Berlin erfolglos, und er lebte zeitweise in Armut. Aber Wetterhoff war weltgewandt und vermochte es, die Offiziere des deutschen Generalstabs zu überzeugen. Er wurde als preußischer Staatsbeamter bezahlt, um das Büro der finnischen Aktivisten in Berlin zu betreuen. Die Tatsache, dass die Jägerausbildung in Lockstedt fortgeführt und ausgeweitet wurde, wird zum großen Teil Wetterhoffs Verdienst zugeschrieben. Dieser zerstritt sich jedoch bald mit dem Vorsitzenden der Stockholmer Delegation, Adolf von Bonsdorff, und die deutsche Behörden beschuldigten ihn der Verschwörung mit den Feinden des Reiches. Nach kurzer Haft wurde Wetterhoff im Herbst 1916 als einfacher Soldat an die Westfront abkommandiert.12
Dem Soldatenkomitee, dass von Absolventen der 1903 aufgelösten Kadettenschule Hamina (Fredrikshamn) gegründet worden war, gehörten anfangs etwa ein Dutzend Offiziere an.13 Unter ihnen waren vor allem die Rittmeister Hannes Ignatius und Mauritz Gripenberg damit befasst, Verbindungen nach Deutschland zu knüpfen. Ignatius hatte später eine einflussreiche Position als Hauptquartiermeister Mannerheims und Gripenberg als Militärattaché der finnischen Botschaft in Berlin. Nach der russischen Februarrevolution 1917 wurde das Soldatenkomitee deutlich aktiver, und sein Tätigkeitsschwerpunkt verlagerte sich nach Stockholm. Zugleich intensivierte sich die Zusammenarbeit zwischen den beiden Unabhängigkeitsbewegungen, den Aktivisten und dem Soldatenkomitee. Im Frühjahr 1917 reiste Ignatius gemeinsam mit drei weiteren Offizieren, darunter der als neues Mitglied zum Komitee gestoßene Oberst Nikolai Mexmontan, nach Stockholm, wo sie Verbindung mit den örtlichen Aktivisten, schwedischen Militärs und Agenten der politischen Abteilung des deutschen Generalstabs aufnahmen. Deren Leiter war Hauptmann Ernst von Hülsen, und als seine Beauftragten in Stockholm waren Hans Steinwachs und Rudolf Schmidt tätig. Sie kümmerten sich in Schweden um Deutschlands Waffengeschäfte und vertraten generell Interessen der Mittelmächte. Major Werner Crantz, der als Ludendorffs persönlicher Gesandter in Stockholm eingetroffen war, komplettierte die Gruppe. Insbesondere von Hülsen, Steinwachs und Crantz hatten sich bereits während der vorangegangenen Jahre dienstlich mit der Finnland-Frage befasst. Ihre Zusammenarbeit mit den Finnen wurde während der Planung und Durchführung der deutschen Intervention 1918 noch intensiver. Crantz war in Finnland als Verbindungsmann der Ostseedivision zu Mannerheims Hauptquartier tätig und wurde nach dem Bürgerkrieg deutscher Militärattaché in Helsinki. Herr dieser Herren und deren Strippenzieher war General Erich Ludendorff, Hauptquartiermeister der Obersten Heeresleitung. Er hielt Deutschlands Finnland-Option und zugleich die Hoffnungen der Finnen auf Deutschlands Militärhilfe beharrlich aufrecht.
Zwischen den Aktivisten und dem Soldatenkomitee gab es einen kleinen Wettbewerb um Ludendorffs Gunst. Mexmontan, der im Frühjahr 1917 als Vertreter des Soldatenkomitees in Stockholm geblieben war, übernahm zunächst deutlich die Führung in diesem Zweikampf. Es gelang ihm, mit Hilfe seiner Mitarbeiter einen Plan zum Aufbau einer finnischen Armee auszuarbeiten, für den sich Ludendorff sehr begeisterte. Hauptman Nils Rosén erhielt im Juni 1917 sogar eine Einladung ins damals in Kreuznach gelegene deutsche Hauptquartier, um die Pläne vorzustellen, die unter Mexmontans Leitung entstanden waren. Diese sollen hier jedoch nicht eingehender betrachtet werden. Allen Plänen gemeinsam war, dass sie auf einem in Finnland zu lancierenden Volksaufstand basierten, den die deutsche Armee mit einer Landung an der nördlichen Küste des Bottnischen Meerbusens unterstützen sollte. Die Vorbereitungen zu diesem Volksaufstand setzten die Bildung von Schutzkorps und umfassende Musterungen überall im Land voraus. Die Bewaffnung für die zu gründende finnische Armee sollte aus Deutschland kommen.
Es gab mehrere solcher großangelegter Pläne, aber für deren wichtigsten Bestandteil, eine deutsche Landungsoperation zur Unterstützung der Finnen, wurde zu keiner Zeit eine endgültige Zusage erreicht. Der in seinen Dimensionen maßloseste dieser Pläne wurde »Kommandogruppe Litauen« genannt.14 Im August 1917 sollte der Plan eines Volksaufstands in Finnland mit Hilfe einer Armee von 100.000 Freiwilligen umgesetzt werden. Den Finnen war es gelungen, die Deutschen glauben zu machen, dass es möglich wäre, eine Truppe dieser Größe auf die Beine zu stellen. Für diese Operation begannen die Deutschen, im Hafen von Danzig von den Russen erbeutete Waffen und Munition für 100.000 Mann zu sammeln, um sie nach Finnland zu verschiffen. Zudem sollte das finnische Jägerbataillon für die Durchführung in die Heimat verlegt werden. Ein Aspekt war jedoch nicht abschließend vereinbart worden, nämlich die Landung von mindestens 20–25.000 Deutschen an der Küste des Bottnischen Meerbusens, in den Abschnitten nördlich von Vaasa. Ohne eine signifikante militärische Hilfe von deutscher Seite hätte die ganze Operation nicht glücken können. In Finnland waren im Sommer 1917 mindestens 100.000 russische Soldaten stationiert, und angesichts dessen hatte man in Deutschland ein zu optimistisches Bild von den Vorbereitungen des Volksaufstands vermittelt. Da es immer noch keine Informationen über eine deutsche Militärhilfe gab, stoppte der entsetzte Mexmontan eilig die Durchführung des Planes. Wenn die »Kommandogruppe Litauen« umgesetzt worden wäre, hätte dies unter anderem den sicheren Untergang des finnischen Jägerbataillons bedeutet. Wegen dieser Konfusion verloren die Deutschen das Vertrauen in Mexmontan und wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Die Auseinandersetzung führte zu gegenseitigen Anschuldigungen. Aus Mexmontans Sicht waren von Hülsen und seine Leute in Stockholm die Hauptschuldigen an der Verwirrung. Diese nämlich hatten den Informationen geglaubt, die ihnen von Jonas Castrén und Kai Donner übermittelt worden waren, jedoch jeglicher Tatsachengrundlage entbehrten.
Mitte Oktober 1917 kam es zu einem Regierungswechsel in Schweden, und der anglophile Liberale Nils Edén wurde Ministerpräsident. Der neue Außenminister Johannes Hellner war parteilos, von seiner Haltung her jedoch ein gemäßigter Konservativer. Aber aufgrund von Schwedens Handelsinteressen sympathisierte er mehr mit den Westmächten. An der Regierung waren zudem erstmals drei Sozialdemokraten beteiligt. Der Regierungswechsel bedeutete, dass Schweden noch beharrlicher als zuvor an seiner Neutralität festhielt und den finnischen Einflüsterungen kein Ohr lieh. Die Finnen verstanden, dass man vergeblich auf militärische Hilfe von dieser Regierung hoffen würde.
Am 7. November 1917 ereignete sich andernorts ein in vielerlei Hinsicht bedeutungsvollerer Regierungswechsel, nämlich in Russland, als die von Wladimir Iljitsch Lenin angeführten Bolschewiki die provisorische Regierung stürzten. Obwohl anfangs kaum jemand – wohl nicht einmal Lenin selbst – glaubte, dass diese an der Macht bleiben würden, waren die geistigen Auswirkungen des als Oktoberrevolution bekannten Ereignisses tiefgreifend. Der Gedanke, sich von Russland loszulösen, bekam in den bürgerlichen Kreisen Finnlands enormen Aufschwung. Eigentlich begann die finnische Bourgeoisie nun erst in geeinter Front die vollständige Unabhängigkeit ihres Landes zu unterstützen. Man könnte hier darüber spekulieren, ob sich Finnland ohne die Machtübernahme der Bolschewiki überhaupt schon im Dezember 1917 für unabhängig erklärt hätte. Finnlands Parteien hätten andernfalls wohl weiter auf bessere Zeiten an der Seite Russlands gewartet.
Das politische Finnland war in der neuen Situation deutlich zwiegespalten. Die Sozialdemokraten wollten die Unabhängigkeit in Zusammenarbeit mit Russlands Arbeiterbewegung verwirklichen. Die Unabhängigkeitspolitik der bürgerlichen Seite sollte von dem am 27. November konstituierten Senat unter Leitung von Pehr Evin Svinhufvud umgesetzt werden. Dessen Bildung war durch die bürgerliche Mehrheit der Parlamentswahlen vom Oktober 1917 ermöglicht worden. Sechs der Senatoren – Svinhufvud eingeschlossen – waren Jungfinnen, zwei gehörten der Finnischen Partei an, zwei der Agrarunion (Maalaisliitto) und einer der Schwedischen Volkspartei (Svenskt Folkepartie/Ruotsalainen kansanpuolue). Die politische Spaltung zeigte sich in der Parlamentsabstimmung am 6. Dezember, in der die 100 bürgerlichen Abgeordneten die zwei Tage zuvor vom Senat veröffentlichte Unabhängigkeitserklärung unterstützten und die 88 Sozialdemokraten dagegen stimmten. So wurde aus der Regierung Svinhufvud der »Unabhängigkeitssenat«, als der er bekannt wurde. Das erste außenpolitische Ziel der Regierung bestand darin, die Regierungen anderer Staaten zur Anerkennung der Unabhängigkeit zu bewegen und die russischen Truppen aus Finnland zu vertreiben. Bei Bedarf würde man auf deutsche Militärhilfe vertrauen.
Auch viele finnische Offiziere, die in Russland Dienst getan hatten, zogen ihre Schlüsse aus dem Machtwechsel in Russland. Sie wollten sich nicht dem Befehl der Bolschewiki unterstellen. Gustaf Mannerheim war die bedeutendste Persönlichkeit unter denen, die aus diesem Grund aus der russischen Armee ausschieden. Er kam zu Weihnachten 1917 in Helsinki an und traf sich mit seinen Offizierskameraden aus dem Soldatenkomitee. Wahrscheinlich trat er selbst am 11. Januar 1918 dem Komitee bei. Mannerheims Entente-freundliche Haltung und seine Abneigung gegenüber Deutschland waren bekannt, aber dennoch hielt Hannes Ignatius als einflussreiches Mitglied des Komitees ihn für geeignet, dessen Führung zu übernehmen. Mannerheims Kenntnisse über Finnlands Lage waren lückenhaft; erst jetzt erhielt er verlässliche Informationen über die Jägerbewegung und die zu gründenden Schutzkorps. Er war von der unmilitärischen Organisation des Soldatenkomitees und dessen Entscheidungsschwäche enttäuscht. Nachdem er drei Tage Mitglied des Komitees gewesen war, hatte er genug, »zündete sich eine Zigarre an und verschwand«. Selbstbewusst wie er war, benutzte er seine Austrittsdrohung auch später viele Male, um seinen Willen durchzusetzen. Als die anderen Offiziere ihm völlige Handlungsfreiheit gaben, um eine effiziente Arbeitsweise des Komitees herzustellen, stimmte er der Ernennung zum Vorsitzenden zu. Er verkündete, sich als erstes der Beschaffung von Waffen zu widmen – jedoch nicht nur von Deutschland, sondern auch von den Entente-Mächten. Das Soldatenkomitee informierte Svinhufvud am 15. Januar 1918 von dem Wechsel an seiner Spitze.15 So wurde gesichert, dass Mannerheim der Oberbefehlshaber der Truppen des Senates wurde. Fünf Tage später war er bereits in Vaasa und stellte Schutzkorps auf, um die Russen zu entwaffnen.
Die Machtübernahme durch die Bolschewiki korrelierte hervorragend mit den Kriegszielen Deutschlands. Hatte die provisorische russische Regierung über ein halbes Jahr lang den hoffnungslosen Kampf gegen die Mittelmächte fortgesetzt, so erfüllten die Bolschewiki nahezu als erste Handlung ihre Zusage und boten einen Waffenstillstand an. Ihre Position war so schwach, dass sie so rasch wie möglich eine Atempause erreichen mussten. Das Waffenstillstandsangebot war, wie erwähnt, auch der deutschen Obersten Heeresleitung willkommen. Damit würde sich Deutschland von dem erschöpfenden Zweifrontenkrieg befreien und alle beweglichen Kräfte an der Westfront konzentrieren, wo der Feind mit dem Kriegseintritt der USA spürbar stärker geworden war. Die deutschen Kraftreserven wurden auch dadurch beansprucht, dass seine Verbündeten Österreich-Ungarn und Bulgarien durch den Krieg stark geschwächt waren. Deutschland war in die Situation geraten, eigene Divisionen abtreten zu müssen, um deren Kampffähigkeit aufrecht zu erhalten. Bei der Einschätzung der Situation an der Westfront kam Ludendorff Mitte November 1917 zu dem Ergebnis, dass Deutschland den Krieg noch gewinnen könnte, wenn es gelänge, alle Kräfte in einem heftigen Schlag an der Westfront zu bündeln.16
Sowohl die Aktivisten als auch das Soldatenkomitee beschlossen im Herbst 1917 auf von Hülsens Rat, den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit nach Berlin zu verlagern. Zum Bevollmächtigten des Komitees wurde, ein wenig überraschend, Oberstleutnant Wilhelm Thesleff ernannt, der in der russischen Armee gedient hatte und nur zwei Monate zuvor in Riga in deutsche Gefangenschaft geraten war (oder sich hineinbegeben hatte). Zu Thesleffs Verpflichtungen gehörte nun auch das Kommando über das finnische Jägerbataillon.
Hjelt, Erich und Adolf von Bonsdorff ließen sich Mitte November in Berlin nieder. Bereits nach einigen Tagen traf Hjelt von Hülsen in der politischen Abteilung des Generalstabs. Hülsen versprach, sich im Hauptquartier bei Ludendorff für Finnlands Sache einzusetzen.17 Für Hjelt wurde bald eine Einladung nach Kreuznach ins Hauptquartier arrangiert. Ludendorff empfing Hjelt und von Bonsdorff am 26. November 1917. Die Finnen hatten ein Sieben-Punkte-Programm für Finnlands Weg in die Unabhängigkeit vorbereitet:
1.Finnland ist ein deutschlandfreundliches Land, das während des Krieges den Mittelmächten selbstlos gedient hat.
2.Finnland muss sich von Russland befreien und ein Staat werden, der in enger Verbindung zu Deutschland steht.
3.Die Befreiung Finnlands ist auch im Interesse Deutschlands – politisch, historisch und kulturell. Ein unabhängiges Finnland wäre das nördlichste Glied einer Front, die eine Barriere gegen den Osten bilden würde.
4.Die wünschenswerteste Alternative zu einer Lossagung Finnlands von Russland wäre eine Landung deutscher Truppen. Ein Volksaufstand gegen Russland sei schon vorbereitet, so dass sich die Finnen den Deutschen anschließen würden.
5.Wenn diese Landung wegen der allgemeinen Weltlage nicht durchführbar sein sollte, wäre eine schnelle Besetzung der Åland-Inseln mit deutschen Truppen wichtig für Finnland.
6.Vorausgesetzt, dass der Waffenstillstand zwischen Russland und Deutschland schon bald zustande kommt, sollte Deutschland den Abzug der russischen Truppen aus Finnland fordern.
7.Die vollständige Unabhängigkeit Finnlands kann erst erreicht werden, nachdem Deutschland diese anerkannt hat.18
Ludendorff hörte genau zu und sagte dann: »Eine nur mit Hilfe von außen erreichte Freiheit kann nicht von Dauer sein.« Er riet dringend, dass die Finnen so rasch wie möglich ihr Land für unabhängig erklären und den Abzug der Russen fordern sollen. Ludendorff versprach auch, die Anerkennung von Finnlands Unabhängigkeit zu unterstützen. Deutschland könne Finnland Waffen liefern, aber einer militärischen Hilfe stand er ablehnend gegenüber und sah auch die Besetzung der Åland-Inseln in dieser Phase nicht als notwendig an.19
Am nächsten Tag berichtete Ludendorff Außenminister20 Richard von Kühlmann über seine Unterredung mit Hjelt und von Bonsdorff. Seine Erläuterung über den Inhalt der Diskussion entsprach vollkommen der Darstellung Hjelts in seinen Memoiren: »Die Herren berichteten, dass sie nach der Verkündigung des Waffenstillstands die finnische Unabhängigkeitserklärung präsentieren würden.« Die von den Finnen vorgeschlagene Landung auf den Åland-Inseln, geschweige denn auf dem finnischen Festland, sei Ludendorff zufolge schon der Witterungsverhältnisse wegen nicht vor dem kommenden Frühjahr möglich. Bis dahin wäre man vielleicht schon zu einem Waffenstillstand mit Russland gelangt, schätzte Ludendorff: »Unsere Waffenlieferungen werden fortgesetzt, und wir bereiten die Heimkehr des finnischen Bataillons vor.«21
Als Folge der Unabhängigkeitspolitik der Aktivisten war Finnland Ende des Jahres 1917 Deutschland praktisch in den Schoß gefallen. Aber die Aktivisten hatten immer noch keine bindende Zusage Deutschlands über militärische Hilfe erhalten. Die Eigeninteressen der Großmacht bestimmten die Marschrichtung, und die Sache des kleinen Finnland war natürlich nicht die wichtigste Angelegenheit auf dem Schreibtisch des mächtigen Ludendorff.
Als die Regierung Svinhufvud daran ging, die Anerkennung anderer Staaten für die vom Parlament am 6. Dezember 1917 verkündete Unabhängigkeit einzuholen, waren die Konsulnder skandinavischen Länder, Deutschlands, Großbritanniens und Frankreichs von ihren Heimatländern bereits angewiesen worden, den Finnen zu raten, dass sie sich zunächst um die Anerkennung durch Russlands amtierende Regierung bemühen sollten. Das bedeutete, sich an Lenins bolschewistische Regierung zu wenden. Kaum eine andere Angelegenheit dürfte zu dieser Zeit für Svinhufvud unangenehmer gewesen sein als dieser Ratschlag aus dem Ausland. Eine böse Enttäuschung für ihn war zudem, dass das schöne Versprechen deutscher Unterstützung für die finnische Unabhängigkeit, das Ludendorff nur wenige Wochen zuvor im Generalhauptquartier Hjelt und von Bonsdorff gegeben hatte, scheinbar schon wieder in Vergessenheit geraten war.
So einfach löste sich die Angelegenheit, und Deutschland musste nichts weiter unternehmen, als die Information nach Berlin zu übermitteln. Edvard Hjelt, den der Senat am 8. Dezember offiziell zum Gesandten in Berlin ernannt hatte,23 Die Deutschen sahen natürlich keine Veranlassung, Hjelts Missverständnis zu korrigieren. Yrjö Nurmio, der sich eingehend mit den deutschen Akten hierzu befasst hat, fand darin jedoch keine Spur davon, dass Deutschland »Finnlands Sache energisch vertreten«, geschweige denn die Russen »unter Druck gesetzt« hätte. Im Gegenteil – die Deutschen waren in dieser Angelegenheit sehr vorsichtig, ja geradezu passiv verfahren.25