Marc Augé
Das Glück des Augenblicks
Liebeserklärung an den Moment
Aus dem Französischen von Michael Bischoff
C.H.Beck
Marc Augé erzählt von zarten Glücksmomenten, flüchtigen Sinneseindrücken und zerbrechlichen Erinnerungen. Als Anthropologe des Augenblicks spürt er den glücklichen Momenten nach, die allen Widrigkeiten trotzen und um derentwillen es sich zu leben lohnt – egal wie unscheinbar sie daherkommen.
Glück ist eine Ware geworden, an deren Verfertigung sich viele Fachleute versuchen: von den Vereinten Nationen bis zum Boulevard wird mit Glücksrezepten hantiert. Marc Augé, der altersweise Ethnologe des Nahen mit dem Blick hinter die Hochglanzfassaden, weiß, dass solche Glücksrezepte leere Versprechen sind. Er spürt den großen und kleinen Momenten der Menschlichkeit nach, die uns glücklich machen. Denn die wahren Glücksmomente sind immateriell. Gerade unspektakuläre Alltagserfahrungen – eine Schweizer Landschaft, ein französisches Liebeslied, eine italienische Pasta – sind Schätze der Erinnerung. Sie erschließen uns die Bedeutung des Lebens. Denn erst wenn diese flüchtigen Augenblicke des Glücks vergangen sind, wird uns klar, wie notwendig und wertvoll sie sind.
Marc Augé, der Begründer einer Ethnologie des «Nahen», war viele Jahre Präsident der Pari-ser École des Hautes Études en Sciences Sociales. Von ihm liegen bei C.H.Beck vor: «Lob des Fahrrads» (2017) und «Nicht-Orte» (2014).
Prolog
Das Glück als Trend
Glück im Plural
1: Glücksmomente, die allen Widrigkeiten trotzen
2: Sein oder Nichtsein?
3: Glück und Schaffen
4.: Hin und zurück
5: Odysseus oder die unmögliche Heimkehr
6:Das erste Mal
7: Begegnungen
8: Chansons
9: Gesang und Geschmack Italiens
10: Landschaften
11: Freuden des Alters
Epilog
«Das sind die Augenblicke, um derentwillen sich’s zu leben lohnt.»
Stendhal, Lucien Leuwen
Bonheur du jour – «Glück des Tages» – so nannte man einen kleinen Damenschreibtisch, der erstmals 1760 hergestellt wurde. Es handelt sich um ein Tischchen mit einem Aufsatz am hinteren Ende, der zur Aufnahme von Büchern und Papieren bestimmt ist. Um des Vergnügens willen zu schreiben galt damals als etwas spezifisch Weibliches. An der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert haben große Frauen wie Madame de Montespan und Madame de Maintenon eine bedeutende Rolle im politischen, literarischen und wirtschaftlichen Leben Frankreichs gespielt. Im 18. Jahrhundert protegierte die Favoritin Ludwigs XV., die aus dem Bürgertum stammende Marquise de Pompadour, geborene Poisson, sowohl Voltaire als auch Montesquieu. Sie setzte sich dafür ein, dass in Versailles weniger am Rokoko orientierte Möbel Einzug hielten. Die aus noch bescheideneren Verhältnissen stammende Comtesse du Barry, die Madame de Pompadour als Favoritin des Königs ablöste, betätigte sich gleichfalls als Förderin der Literatur und der schönen Künste. Martin Carlin, damals der Kunstschreiner à la mode, fertigte eigens für sie ein Bonheur du jour aus Rosenholz.
Im 18. Jahrhundert veränderte sich in den höchsten Kreisen die Innenausstattung der Wohnungen. Im Boudoir, dem ganz privaten, allein den Damen vorbehaltenen Salon, fanden sich nun zahlreiche Kleinmöbel wie die Chaiselongue, der Nähtisch oder das Nähschränkchen. Ihr Erscheinen ist Ausdruck einer Weiterentwicklung des Empfindens und der Sitten, eines wachsenden weiblichen Einflusses auf das soziale, kulturelle und politische Leben wie auch einer Veränderung in den Vorstellungen von Sexualität und Erotik. (De Sades Philosophie im Boudoir erschien 1795.) Als materielle Übersetzung bürgerlichen Glücks ist der Bonheur du jour auch Symbol eines allgemeineren Bestrebens und vor allem eines Geschmacks an jener Literatur und Psychologie, die Madame de La Fayette mit ihrer 1678 anonym veröffentlichten Prinzessin von Kleve eingeführt hatte. Erst 1780 erschien eine Ausgabe, die den Namen der Autorin trug.
Im Namen des Glücks habe man im Zeitalter der Aufklärung die moralisierenden Utopien geschaffen und zynisch das Ansehen des Luxus und des Geldes gerechtfertigt, behauptet Robert Mauzi in seiner Dissertation von 1965, die bis heute als Standardwerk über das Glück und das 18. Jahrhundert gelten darf. Aber auch die freiheitlichen Ideen schöpften ihre Kraft aus diesem Streben nach Glück.
Haben wir diese Illusionen, diese Widersprüche und – trotz allem – auch diese Erwartungen inzwischen hinter uns gelassen?
«Das Glück liegt im Trend» titelte Le Parisien Magazine am 28. Oktober 2016, um etwas vorsichtiger mit der Frage fortzufahren: «Soziale Veränderung oder Marketingtrend?»
Die Vorsicht war weise, aber Erfolgsautoren wie Laurent Gounelle oder Frédéric Lenoir, die in ihren Werken das Thema Glück in Szene setzen und als «soziale Veränderung» präsentieren, haben genau deshalb Erfolg und ein breites Publikum. Die Frage nach dem individuellen Glück wird zumindest in unseren Breiten als eine Frage empfunden, die man stellen kann und soll.
Die Vereinten Nationen, so erinnert uns dieselbe Zeitung, haben das Glück ins Zentrum der Entwicklungspolitik gerückt. Sie schufen eine internationale Einrichtung zur Erforschung des Glücks, die sich der Aufgabe widmet, den Gedanken des «gesellschaftlichen Glücks» zu popularisieren. Allenthalben herrscht Optimismus. Sieht man sich die Texte oder Verlautbarungen der Botschafter des Glücks an, gewinnt man rasch den Eindruck, man könne den Weg dorthin in drei Rezepten zusammenfassen: Wer glücklich sein möchte, sollte sich selbst kennen, auf den Augenblick achten und sich als nützlich für andere empfinden. Ein gewaltiges Programm, diese Synthese aus stoischer Weisheit und christlicher Nächstenliebe! Der Unternehmer Alexandre Jost gründete 2010 eine «Fabrique Spinoza», ein Ideenlabor, das das «Glück der Bürger», wie es in der Zeitung heißt, durch Konferenzen, Workshops und «positive Lobbyarbeit» bei Institutionen aus Politik und Wirtschaft fördern möchte. 2016 entwickelte man dort einen auf insgesamt 47 Fragen basierenden vierteljährlichen Glücksindex.
Wie wir weiter erfahren, entsteht gerade ein neuer Beruf. Nach Laurence Vanhée, die ihre berufliche Laufbahn als Leiterin einer Personalabteilung begonnen hatte, bevor sie die Stellung einer «Beauftragten für Glück» übernahm, hat der chief happiness officer eines Unternehmens die Aufgabe, Instrumente zur Förderung der beruflichen Entfaltung der Beschäftigten zu entwickeln: Flexibilität, Homeoffice, Neuzuschnitt der Aufgaben …
Die Idee ist nicht wirklich neu. Schon vor mehreren Jahren hat man damit in einem Betrieb von L’Oréal in Aulney experimentiert. Dort löste man sich von der Fließbandfertigung und erweiterte den Aufgabenbereich der einzelnen Positionen, sodass die jeweiligen Arbeiter eine ganze Phase im Produktionsprozess übernehmen konnten. Es bleibt allerdings zu klären, ob solche Veränderungen auch in großem Maßstab vorstellbar sind und tatsächlich realisiert werden. Und es darf nicht übersehen werden, dass eine solcherart im Rahmen des Unternehmens und nur in diesem Rahmen verstandene «Entfaltung» des Menschen die Glücksforschung gänzlich abhängig macht vom bestehenden politisch-ökonomischen System.
Zahlreiche Forschungen aus jüngerer Zeit haben deutlich gemacht, dass die neuen Arbeitsformen in Wirklichkeit zu immer größerer Isolierung führen. Die in mehreren französischen Unternehmen beobachteten Selbstmordwellen lassen erkennen, dass Behauptungen, wonach «das Glück in der Arbeit eine Grundtendenz darstellt», sich in erster Linie an die Verantwortlichen auf den Führungsebenen wenden und sie davon überzeugen sollen, dass ein glücklicher Beschäftigter besser arbeitet. Sie sind gleichermaßen eine Kritik an den Managern und ein Appell an jene, die von ihnen abhängen.
Daher sollte man diesen Glücksaposteln weniger den Vorwurf machen, im Dienst des Systems zu stehen (sie sind nicht die einzigen und können, falls sie denn bei den Verantwortlichen Gehör finden, sogar Reformen und Anpassungen anregen, die durchaus von Nutzen für all jene sind, die das Glück haben, in Arbeit zu sein), als den Vorwurf, Worte zu verwenden, deren Bedeutung ihnen kaum klar ist. Was ist Glück?
In ihrem World Happiness Report versuchen die Vereinten Nationen, objektive Kriterien wie Bruttoinlandsprodukt und Lebenserwartung zu definieren und sie mit der Wahrnehmung ebendieser Größen zu kreuzen. Auf der Rangliste für das Jahr 2016 ist Frankreich auf Platz 32, wie die Zeitung anmerkt, ein «schlechter Schüler», es rangiert hinter Kolumbien, der Tschechischen Republik und Staaten wie Brasilien, Mexiko, Chile, Argentinien oder Uruguay [und Deutschland, das Platz 16 belegte] – sämtlich Länder, die ich ein wenig kenne. Ich schätze die Freundlichkeit der Menschen, die mir dort begegneten, aber ich muss gestehen, dass sie mir nie übermäßig optimistisch hinsichtlich der unmittelbaren Zukunft zu sein schienen. Frédéric Lenoir, der diese Rangliste für Le Parisien Magazine kommentiert, beklagt die kritische Einstellung der Franzosen, die stets nur sähen, was schlecht läuft, und bemängelt ihren «Individualismus»: «Die glücklichsten Länder Europas sind jene», so fügt er hinzu, «in denen die Solidarität am stärksten ausgeprägt ist, zum Beispiel die skandinavischen Länder, in denen der Gemeinsinn hoch entwickelt ist, oder auch die Länder Südeuropas, in denen die familiäre Solidarität große Bedeutung besitzt.»
Die für die nordeuropäischen Länder angeblich typische Wertschätzung des «Gemeinsinns» (tatsächlich belegt Dänemark im weltweiten Glücks-Ranking den ersten und Schweden den zehnten Platz) bestätigt die Sozialpolitik dieser Länder, sagt aber wenig über das Glück des Einzelnen. Statt auf Ingmar Bergmans Filme zu verweisen, deren bittere Schönheit ergreifende Bilder von Einsamkeit in Szene setzt, begnüge ich mich hier mit dem Hinweis auf die Unaufmerksamkeit Frédéric Lenoirs, der lächelnd auf einer halbseitigen Farbfotografie posiert, deren Untertitel seinen Gedanken zusammenfasst: «Die glücklichsten Länder sind jene, in denen die Solidarität am stärksten ausgeprägt ist.» Leider hat er vergessen, einen Blick auf die Rangplätze der südeuropäischen Länder im Bericht der Vereinten Nationen zu werfen: Spanien (Platz 37) schneidet schlechter ab als Frankreich, Italien belegt Platz 50, Portugal Platz 94 und Griechenland Platz 99. Offenbar bringt die familiäre Solidarität nur wenig Gewicht auf die Waage. Aber was wurde hier überhaupt gemessen?
Bemerkenswert an alledem ist, dass recht bald schon niemand mehr weiß, wovon die Rede ist. Muss zum Beispiel Individualismus notwendig als Weigerung verstanden werden, sich für andere Menschen zu interessieren, oder aber im Sinne der Stoiker als Ausrichtung an einem Ich-Ideal?
Was nun das Glück betrifft, so scheint man mangels einer präzisen Definition anzunehmen oder zu postulieren, dass es sich dabei um einen dauerhaften Zustand handelt, den anzustreben ganz normal ist. Eine lange, von den Stoikern ausgehende Tradition setzt dieser unterstellten Dauerhaftigkeit des Glückszustands die fiebrige Erregung der Unruhigen entgegen (denen es an der Ruhe und Gelassenheit des Weisen fehlt). Das Christentum fügte dem das Versprechen ewigen Glücks hinzu. Das Streben nach glücklicher Heiterkeit kontrastiert heute natürlich mit dem permanenten Wettbewerb im siegreichen Kapitalismus, aber auch mit dem vergeblichen Protest der an den Rand Gedrängten und aus dem System Ausgeschlossenen. Laurent Gounelle fasst die gegenwärtige Krise und die von ihm vorgeschlagene Lösung so zusammen: «In all meinen Romanen begeben sich meine Leser selbst auf Sinnsuche. Sie möchten sich verwirklichen, sie glauben nicht mehr an das versprochene Ideal der Konsumgesellschaft.» Und er schließt mit einem Optimismus, der ganz dem Lächeln entspricht, das auch er auf einem großen Foto in der Zeitung zeigt: «Wir erleben eine Zivilisationskrise, die zu einem auf der Selbstverwirklichung des Menschen basierenden Gesellschaftsmodell führen wird.»
Es ist aufschlussreich, dass eine Boulevardzeitung mehrere Seiten einer «Untersuchung» über das Glück widmet, und auch, dass sie so klug ist, nicht Partei zu ergreifen, und eine gewisse Zurückhaltung gegenüber jenen übt, die Glücksrezepte vorschlagen und dabei zugleich für ihre Bücher werben. Eine Seite befasst sich mit dem jüngsten Buch von Luc Ferry. Auch er hat Anrecht auf ein Foto, aber er missbilligt die These, wonach das Glück nicht von der Realität abhängt, sondern davon, wie man sie sieht, und er warnt, dass die Aufforderung, glücklich zu sein, das Risiko einer gefährlichen Täuschung in sich berge.
Dieselbe Ambivalenz zeigt sich auch in der Konsumgesellschaft, die ihrer selbst sicher genug ist, um auch jene zu fördern, die deren Exzesse und Perversität verdammen. Aber jenseits der Erwägungen, bei denen es letztlich stets und unabhängig von den Motiven ihrer Urheber um Ertrag und Produktivität geht, wird eine allgemeine Frage nach dem Sinn des individuellen Daseins sichtbar, die man zweifellos als metaphysisch bezeichnen darf. Auf intellektueller Ebene sind Krisensituationen für solche Fragestellungen förderlich: Der Sinn des eigenen Lebens hängst zunächst einmal von dem Verhältnis zum anderen ab. Jegliche gesonderte Identität erwächst aus der Beziehung zum anderen, die sich als konstitutiv für sozialen Sinn erweist. Wenn wir den Ausdruck «Sinn» in seiner weiten und vagen Bedeutung verwenden (wie etwa in dem Ausdruck «Sinnkrise»), geht es oft um diesen ersten «Sinn», diese erste «Bedeutung», die hier tatsächlich im Spiel ist und als Auslöser für eine weiterreichende und vagere Frage nach dem Sinn des Daseins fungiert.
So scheint es denn nicht nur legitim, sondern geradezu unerlässlich zu sein, in groben Umrissen eine Anthropologie des Glücks zu skizzieren, verstanden als «angewandte Wissenschaft des Subjekts» (Michel de Certeau), die jenseits besonderer Umstände die Wege erforscht, auf denen der Einzelne in seinem Alltag versucht, seine Verbindung zu anderen aufrechtzuerhalten und neue Bande zu knüpfen.
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Unter diesen Umständen scheint es paradox, dass es zu der Bedeutungserweiterung, die manche Autoren veranlasst, sich an die Erforschung des Glücksbegriffs zu machen (von Luc Ferry mit seinen sieben Arten, glücklich zu sein, bis zu Alain Badious Philosophie des wahren Glücks), ausgerechnet in einer Zeit wachsender Beunruhigung kommt, in der Gründe für Ängste aller Art angesichts der politischen, ökonomischen, sozialen und auch moralischen Lage tagtäglich ans Licht treten. Während die Beunruhigung angesichts diverser drückender Bedrohungen zunimmt, spricht man in Europa über das Glück. Es handelt sich jedoch nur scheinbar um ein Paradox, denn in ungewissen Zeiten ist es ganz normal, nach einem Rettungsanker zu suchen.
Dieses Buch handelt nicht vom Glück schlechthin, sondern von Glücksmomenten, also gleichsam vom Glück im Plural.