Hans-Ulrich Thamer
DIE FRANZÖSISCHE
REVOLUTION
C.H.Beck
Kaum ein Ereignis hat die Geschichte der Moderne so tief geprägt wie die Französische Revolution von 1789 bis 1799. Sie eröffnete eine Phase grundstürzender Veränderungen der politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse in Frankreich. Als ein epochales Ereignis hat die Französische Revolution weit über den nationalen Rahmen hinaus tiefe Spuren in der politischen und sozialen Entwicklung anderer Länder hinterlassen. Sie wurde zum Motor des Verfassungswandels und der Entstehung liberaler politischer Kulturen.
Hans-Ulrich Thamer lässt in diesem Band noch einmal Ursachen, Verlauf und Folgen dieses zentralen Ereignisses der europäischen Geschichte Revue passieren, stellt die Hauptakteure und ihre Motive vor und erklärt wichtige Strukturmerkmale der Französischen Revolution wie beispielsweise die besondere Rolle der Metropole Paris, das Ringen der Revolutionäre um eine Verfassung sowie die blutige Herrschaft der Terreur.
Hans-Ulrich Thamer ist Professor emeritus für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Die Französische Revolution sowie in diesem Zusammenhang insbesondere die Fragen nach Macht und Ritual, symbolischer Herrschaft und politischer Kommunikation bilden Schwerpunkte seiner Forschung. Bei C.H.Beck ist ferner von demselben Autor lieferbar: Die Völkerschlacht bei Leipzig (2013) und Adolf Hitler, Biographie eines Diktators (2018).
1. Die Französische Revolution – ein Gründungsereignis
2. Die Krise des Ancien Régime
2.1. Struktur und Wandel des Ancien Régime
2.2. Die kulturellen Ursprünge der Revolution
2.3. Die Reformunfähigkeit der Monarchie
2.4. Die Pré-Révolution
2.5. Eine Krise des «alten Typs»
3. Drei Ereignisse – eine Revolution: Der Sommer 1789
3.1. Von den Generalständen zur Nationalversammlung: Die Verfassungsrevolution
3.2. Brot und Freiheit: Die städtische Volksrevolution
3.3. Die Grande Peur oder Die antifeudale Revolution der Bauern
3.4. Die Verschränkung der drei Revolutionen
4. Die Rekonstruktion Frankreichs 1789–1791
4.1. Nation und Verfassung
4.2. Parlament und Klubs, König und Volk: Die Verteilung der Macht
5. Die Zweite Revolution 1792
5.1. Das Scheitern der parlamentarischen Monarchie
5.2. Krieg und Revolution: Die Verschärfung der innen- und außenpolitischen Konflikte
5.3. Revolution und Gewalt
6. Die Revolution in der Schwebe 1793
6.1. Die Verfassung der Republik
6.2. Der Prozess gegen den König
6.3. Krieg und Bürgerkrieg
6.4. Der Kampf um die Macht: Girondisten, Montagnards und Sansculotten
7. Die Terreur: Revolutionäre Verteidigung oder Herrschaft der Ideologie?
7.1. Jakobiner und Sansculotten
7.2. Die Legalisierung der Terreur
7.3. Der Sturz Robespierres und die Bilanz der Terreur
8. Die politische Kultur der Revolution
8.1. Die Entstehung einer neuen Welt
8.2. Eine demokratische Kultur
8.3. Eine Medienrevolution
8.4. Die Selbstdarstellung der Revolution: Die Feste der Revolution
9. Die Revolution wird beendet 1795–1799
9.1. Die Politik des Vergessens und ihr Scheitern
9.2. Retten und Bewahren
Zeittafel
Auswahlbibliographie
Abbildungsnachweis
Personenregister
Sachregister
Für Jutta
Kaum ein Ereignis hat die Geschichte der Moderne so tief geprägt wie die Französische Revolution von 1789 bis 1799. Sie eröffnete eine Phase grundstürzender Veränderungen der politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse in Frankreich. Als ein epochales Ereignis hat die Französische Revolution weit über den nationalen französischen Rahmen hinaus tiefe Spuren in der politischen und sozialen Entwicklung anderer Länder hinterlassen. Sie wurde zum Motor des Verfassungswandels und der Entstehung liberaler politischer Kulturen. Sie wurde zum Laboratorium der Moderne, indem sie in der kurzen Spanne eines Jahrzehnts die unterschiedlichsten Verfassungsformen entwickelte, die für das 19. und 20. Jahrhundert wirkungsmächtig werden sollten, von der konstitutionellen Monarchie über die Republik bis zur bonapartistischen Diktatur; indem sie die Grundlagen einer bürgerlich-individualistischen Eigentums- und Gesellschaftsverfassung schuf; indem sie zum ersten Mal eine demokratische politische Kultur entfaltete und damit den Durchbruch zur politischen Freiheit erkämpfte; indem sie einen fundamentalen Prozess der Politisierung der Gesellschaft und der Ideologisierung der politischen Sprache auslöste und dabei zugleich die Selbstgefährdung demokratischer Ordnung demonstrierte. Ihre historisch-politische Bedeutung reicht darum bis in die Gegenwart.
In historischer Perspektive lässt sich die Französische Revolution zugleich als ein herausragendes Ereignis in einer langen Phase des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels vom alteuropäischen Ancien Régime in die Moderne deuten, in dem die allgemeinen strukturellen Veränderungen anderen Zeitrhythmen folgen als dramatische politische Ereignisse. Kurzfristige Revolutionsereignisse werden dabei in langfristig ablaufende Prozesse sozialen Wandels eingebettet und die politischen Prozesse des Revolutionsjahrzehnts zum strukturellen Wandel in Beziehung gesetzt. Dadurch werden neben den Phänomenen der historischen Zäsur und des Neubeginns auch Elemente der Kontinuität stärker in den Blick genommen, die bereits im 18. Jahrhundert entwickelt waren und sich in der Revolution fortgesetzt oder vollendet haben und die in den Diskursen und in der Gesetzgebung zwar vorbereitet, aber erst im Laufe des 19. Jahrhunderts umgesetzt wurden. Dies gilt vor allem für den Strukturwandel von Wirtschaft und Gesellschaft, der den Gesetzen der langen Dauer und damit anderen Handlungsbedingungen unterliegt als die Politik. Dies gilt beispielsweise für die Fortsetzung politisch-administrativer Zentralisierung, die mit dem Ausbau absolutistischer Staatlichkeit begann und mit der Jakobinerherrschaft und ihren Kommissaren einen weiteren, nun freilich mit dem Prinzip der Volkssouveränität legitimierten Kulminationspunkt erreichte. Die Revolution bedeutet darum auch Rhetorik und Ankündigung, hinter der die Wirklichkeit zurückblieb. So vollzog sich 1789 nicht die «Geburt der bürgerlichen Gesellschaft», sondern die Organisation eines neuen Frankreich bedeutete allenfalls einen wichtigen, vor allem rechtlichen Schritt in diesem Prozess, der in seiner ökonomischen und sozialen Dynamik bereits vor 1789 begonnen und sich weit in das 19. Jahrhundert erstreckt hat. Beim Aufstieg der industriellen Welt spielte die Französische Revolution allenfalls eine Nebenrolle, manche Historiker halten die Revolution für die industrielle Modernisierung sogar für abträglich; sie habe England bei der Durchsetzung der industriellen Revolution einen entscheidenden Vorsprung verschafft, den es vor 1789 nicht gegeben habe.
Was macht dann das Umstürzende, das Innovative und die Wirkungsmacht der Revolution auch in der Perspektive der longue durée aus, wenn ein solcher Bruch, wie ihn die Rhetorik der Revolution beanspruchte, für den Bereich von Wirtschaft und Gesellschaft nur bedingt zu erkennen ist? Die moderne Forschung der vergangenen zwanzig Jahre findet die Antwort darauf im Politischen, in der Entwicklung von Verfassungen und neuen Formen der Legitimation von Herrschaft, in der Proklamation von Menschen- und Bürgerrechten und in der Funktion der Revolution als Gründungsereignis für eine demokratische politische Kultur, in der Entfaltung neuer Formen der politischen Repräsentation und Integration. Dazu gehört auch die Entwicklung von neuen Formen der politischen Rituale und Kommunikation, mit denen das Prinzip der Volkssouveränität von seiner abstrakten Ebene in die politische Praxis übersetzt und sichtbar gemacht werden sollte, mit denen die politischen Fraktionskämpfe ausgeformt und ausgetragen wurden. Diese Perspektiven und Ergebnisse einer neuen Politik- und Kulturgeschichte, die Varianten ihrer Deutungs- und Erinnerungsgeschichte entlang einer Erzählung der Ereigniskette Französische Revolution vorzustellen, sind Leitfaden und Thema der vorliegenden Darstellung.
Die Erfindung neuer politischer Ausdrucksformen und einer modernen politischen Begriffswelt gehört zu den schöpferischen Leistungen der Revolution und zu ihrem Erbe an unsere Gegenwart. Mit der Französischen Revolution entsteht ein neuer Begriff von Revolution. Revolution war nicht mehr das, was das 18. Jahrhundert darunter verstanden hatte: eine allgemeine staatliche Veränderung, ein geistiger Fortschritt, eine Veränderung im Denken. Nun verband sich mit dem Begriff «Revolution» die Erfahrung eines dramatischen, von Gewalt begleiteten umfassenden Wandels in Politik und Gesellschaft mit dem Anspruch, eine neue gerechte Ordnung zu schaffen und damit den geschichtlichen Fortschritt zu gestalten.
Die Dynamik des Umbruchs war schon den Zeitgenossen bewusst. «Wir haben in drei Tagen den Raum von drei Jahrhunderten durchquert», hieß es bald nach dem 14. Juli 1789. Zugleich verdichtete sich das historische Ereignis des Sturmes auf die Bastille zum politischen Symbol eines historischen Umbruchs. Dass dieser gedrängte politische Wandel mit Gewaltakten des Volkes verbunden war, führte zu einer tiefen Polarisierung in Wahrnehmung und Deutung der Revolution. Bei den Verteidigern der alten monarchischen Ordnung rief die gewalttätige Revolution Angst und Empörung hervor. Für die Patrioten, die Anhänger der Revolution, waren die Gewaltakte zunächst unerwünschte Begleiterscheinungen, die nichts mit der erhofften Erneuerung Frankreichs zu tun hätten und durch diese in naher Zukunft überflüssig würden. Bald sollten jedoch zum Begriff der Revolution nicht nur die Erfahrung extremer Beschleunigung, sondern auch Radikalisierung und der Einsatz von Gewalt als Instrument der Veränderung gehören. Die Revolution zeigte ihre Janusgestalt und ihre polarisierende Wirkung.
Die Ursachen und die Funktion von Gewalt in der Revolution gehören zu den Fragen, die noch immer heftig diskutiert werden und aus einem Ereignis der Vergangenheit einen kontroversen Bezugspunkt für die politische Orientierung und Traditionsbildungen der Gegenwart machen. An der revolutionären Diktatur und Gewalt schieden und scheiden sich die Geister, wie die Debatten aus Anlass der Zweihundertjahrfeier der Revolution bis hin zum versöhnenden «Sowohl-als-auch» des französischen Staatspräsidenten Mitterrand 1989 deutlich gemacht haben. Historische Deutungen und Kontroversen über die Revolution gehörten seit den ersten Versuchen, die Revolution zu beenden und die Erinnerung an sie zu begründen, zur Selbstdeutung der politischen Kultur Frankreichs und teilweise auch Europas. Die politische Orientierung oder Lagerzugehörigkeit eines geschichtsbewussten politischen Bürgers konnte man auch daran erkennen, auf welche Phase der konfliktreichen Geschichte der Revolution er sich in seiner Erinnerungspraxis oder Selbstidentifizierung bezog oder ob er die Revolution völlig ablehnte. Das hat sicherlich die Erinnerung an die Revolution wachgehalten, nach Meinung mancher Kritiker aber auch zu einer Selbstblockade der Revolutionshistoriographie geführt, die zwar unendlich viel an Quellenforschung und Quellenedition geleistet, an scharfsinnigen Analysen und großen Deutungen hervorgebracht hat, die Revolution aber nicht konsequent genug aus ihren historischen Bedingungen und selbstreferentiellen Entwicklungsabläufen interpretiert, sondern sie vor allem zum Objekt einer geschichtspolitischen Selbstdeutung und Legitimation für die jeweilige Gegenwart gemacht hat.
So war und ist die Geschichte der Französischen Revolution auch immer ein Lehrbeispiel für die Verschränkung von Geschichtsschreibung und Politik, bei der jede Generation ihre Gegenwartsdeutung in die Vergangenheit der Revolution gelegt hat, die dadurch selbst ein Stück der jeweiligen Gegenwart wurde. Es spricht vieles dafür, dass sich dieser Mechanismus von Gegenwartsverständnis und Geschichtsdeutung abgeschwächt hat, dass auch der Prozess der Historisierung der Französischen Revolution vorangeschritten, unser Blick auf die Revolution differenzierter geworden ist und ihre Widersprüche deutlicher benannt werden, ohne ihre Bedeutung als Gründungsereignis der politischen Kultur der Moderne dadurch herabzusetzen. Diese Deutungs- und Wirkungsgeschichte der Revolution kann in dem vorliegenden Überblick nicht behandelt und auch die großen wissenschaftlichen Kontroversen können nur ansatzweise angesprochen werden. Sie können aber erwähnt werden, um den Leser darauf aufmerksam zu machen, dass er sich stellenweise auf schwieriges Terrain begibt. Zu den nach wie vor umstrittenen Fragen gehört jene nach dem Verhältnis der Ursachen der Revolution zu ihrem weiteren Verlauf. Ergibt sich aus einer Analyse des komplexen Ursachenbündels ein Hinweis auf die sich später entwickelnde Dynamik und auf die Richtung der Revolution, oder folgt auf den politischen Zusammenbruch des Ancien Régime eine politische Veränderungs- und Rekonstruktionsphase mit einer eigenen Dynamik und Handlungslogik? War in den Ideen von 1789 das Abgleiten der Revolution in politische Gewalt und in eine systematische Politik der Terreur (Schreckensherrschaft) bereits angelegt? Wenn Entstehung und Verlauf der Revolution nicht das Ergebnis von Klassenkämpfen zwischen Adel und Bourgeoisie waren, wie das die marxistische Interpretation lange angenommen hat, was waren dann die Antriebskräfte für die revolutionäre Dynamik, die dazu führte, dass auch nach der Beobachtung der Zeitgenossen innerhalb von wenigen Tagen sich Dinge veränderten, neue Formen entwickelten, für deren Entfaltung und Durchsetzung man in «normalen» Zeiten Jahrzehnte benötigte? Wie wirkten sich die neuen Politik- und Verfassungsformen, die Rhetorik und die Konflikte, die Maßnahmen und Mobilisierungskampagnen der politischen Akteure von der Bildung politischer Klubs bis zur Teilnahme an Wahlen, vom neuen Kalender bis zur Einführung der Zivilehe, von politischen Festen bis zur Massenaushebung für den Krieg auf die Wahrnehmung und das Verhalten der Menschen in der Revolution aus?
Keiner dachte an eine Revolution, als der Premierminister des Königs, Loménie de Brienne, am 5. Juli 1787 die Einberufung von Generalständen ankündigte und eine öffentliche Diskussion über deren Form und Ziele eröffnete. Die Generalstände waren im vorrevolutionären Frankreich die Versammlung der Vertreter aller Provinzen, die sich aus Abgeordneten der Geistlichkeit, des Adels und des Dritten Standes zusammensetzte. Seit 1614 waren sie nicht mehr zusammengetreten, und nun sollte ausgerechnet eine uralte Institution in der öffentlichen Diskussion zum Kristallisationspunkt unbestimmter und widersprüchlicher Hoffnungen auf Reform werden. Anzeichen dafür, dass die Monarchie angesichts einer wachsenden Staatsverschuldung auf eine Finanz- und Staatskrise zutreiben könnte, gab es schon seit gut einem Jahrzehnt, und sie verdichteten sich zunehmend. Auch der innenpolitische Dauerkonflikt der Krone mit den Vertretungs- und Kontrollansprüchen der Parlamente, der alten Obergerichte, die die Rolle der institutionell nicht vorgesehenen Opposition einnahmen, hatte sich zugespitzt. Schließlich hatte sich die materielle Situation durch wachsende Spannungslagen zwischen Bevölkerungswachstum und zunehmender Knappheit an Erwerbsstellen, zwischen steigenden Preisen und stagnierenden Löhnen allmählich verschlechtert und wurde durch krisenhafte Entwicklungen im Textilgewerbe und in einer Serie von schlechten Ernten auf dem Lande verschärft. Die Krisenherde des Ancien Régime bündelten sich und stellten das politische System der absoluten Monarchie vor eine Herausforderung, der dieses nicht mehr gewachsen war, weil es sich zunehmend als reformunfähig erwiesen hatte. Darum wurden langfristige wirtschaftliche, soziale und politische Strukturprobleme zu einer zusätzlichen Belastung, als sie sich mit mittel- und kurzfristigen ökonomischen und finanziellen Krisen, dem erbitterten Widerstand der privilegierten Stände und der mangelnden Anpassungs- und Ausgleichsfähigkeit der Krone verschränkten und – was fast noch wichtiger war – in dem Mobilisierungsprozess der vorrevolutionären Ständekämpfe politisiert wurden.
Hinweise auf eine zunehmende soziale Unzufriedenheit und Unbotmäßigkeit hatte es in den 1780er Jahren immer wieder gegeben, aber auch schon im Jahrzehnt davor sprach man in der sozialkritischen Publizistik angesichts konjunktureller und struktureller Probleme von Revolten und einer möglichen Revolution. Aber sie war ausgeblieben. Dass eine dieser Revolten in einen offenen Aufstand übergehen würde, hielt Louis Sébastien Mercier, mittelloser Schriftsteller und Publizist, der in seinem «Tableau de Paris» ein waches Auge für die sozialen Verhältnisse bewiesen hatte, angesichts des absolutistischen Überwachungsapparates und angesichts der zahlreichen Verknüpfungen bürgerlicher Interessen mit denen des Hofes für unwahrscheinlich.
Einer der häufigen Kritikpunkte in der vorrevolutionären Publizistik und auch in den Beschwerdeheften des Frühjahrs 1789 war die «Feudalität». Was die Wortführer der antiständischen Kritik damit meinten, war nicht das mittelalterliche herrschaftliche Rechtssystem, das Verhältnis von Lehnsherr und Vasall, sondern ein sozioökonomisches System; ein System der Grundherrschaft, bei dem die Grundherren, die meist auch Gerichtsherren waren, die grundabhängigen Bauern zu Abgaben in Naturalien oder in Geld bzw. zu Mehrarbeit im Sinne von Herrendiensten verpflichteten. Es ging um feudale, genauer formuliert, um seigneuriale (Herren-)Rechte wie Abgaben, Frondienste und Reste von Leibeigenschaft. Was als belastend empfunden wurde, waren weniger die regelmäßigen Abgaben als die Sonderabgaben und die zusätzlichen Rechtstitel des Grundherren wie Frondienste, gerichtsherrliche Abgaben, das Jagdrecht des Grundherrn, zusätzliche Abgaben für die Nutzung der grundherrlichen Mühlen oder Keltern und Eingriffe in die Gemeinderechte. Die zunehmende Kritik an diesen Einrichtungen deutet darauf hin, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts viele Grundherren, zu denen nicht nur Adlige, sondern auch Bürgerliche gehörten, diese teilweise in Vergessenheit geratenen Rechte wieder in Anspruch nahmen. Viele dieser Rechtstitel wurden an kapitalkräftige Pächter vergeben, die ihrerseits moderne landwirtschaftliche Anbaumethoden praktizierten. Was wie eine Refeudalisierung aussah, war ein Stück Kommerzialisierung und Modernisierung der Landwirtschaft, an dem adlige Grundherren und bürgerliche Pächter gleichermaßen Anteil hatten. Adel und Bürgertum hatten auf dem Lande durchaus gleiche Interessen, nämlich den agrarischen Grundbesitz durch eine Rationalisierung in der Bewirtschaftung und die Nutzung des grundherrlichen Eigentums und der damit verbundenen Rechte optimal auszunutzen. Dazu dienten die Vergrößerung und verbesserte Kultivierung des Bodens wie die Usurpation von Allmenderechten – eigentlich den Rechten aller Dorfgenossen am Gemeindeeigentum – an Weide- und Waldflächen. Gefährdet wurden dadurch die traditionellen dörflichen Gemeinschaftsrechte. Der Agrarkapitalismus bediente sich der alten Eigentumsverfassung, der bäuerliche Protest richtete sich gegen die Intensivierung der grundherrlichen Abgaben. Allerdings waren es bis dahin eher passive Formen des Widerstandes: Man verweigerte die Zahlung der grundherrlichen Abgaben; man führte Prozesse gegen Grundherren und neue Agrarunternehmer; man zerstörte Hecken und Gräben, die die neu eingehegten Felder voneinander trennten. Es waren die Dorfgemeinden, die die antiständische Kritik auf ihre Weise betrieben und damit den Weg in die Bauernrevolution von 1789 eröffneten. Diese sollte eine ebenso bewahrende, antimodernistische Stoßrichtung haben wie die passiven Verweigerungsformen vor der Revolution.
Lässt sich dieses in den 1770er und 1780er Jahren aktuelle Phänomen der sog. feudalen Reaktion kaum als Ausdruck des Klassengegensatzes von Feudalaristokratie und Bourgeoisie erklären, so gilt dies auch für die klassische und in ihren Perspektiven sehr viel universalere sozialökonomische Erklärung, die die Revolution als eine Folge des Wachstums kapitalistischer Wirtschaftsformen und damit bürgerlicher Interessen verstehen wollte, die sich gegen Adel und Klerus auflehnten, weil diese verhinderten, dass kapitalistische Marktverhältnisse zur beherrschenden Produktionsweise würden. Die Revolution habe demnach ihre eigentlichen Ursachen in einem Klassengegensatz zwischen feudalaristokratischen und bürgerlichen Interessen und sei Ausdruck eines Klassenbewusstseins selbstbewusster bürgerlicher Schichten. Auch wenn ähnliche Thesen schon von Zeitgenossen und Akteuren der Revolution, wie von Antoine Barnave, einem der führenden Köpfe der Nationalversammlung und schließlich entschiedenen Verteidiger der konstitutionellen Monarchie, vorgetragen wurden, lässt sich diese Erklärung längst nicht mehr halten. Einzelne Adlige spielten sehr wohl eine aktive Rolle in der Modernisierung der Landwirtschaft (wie in der Montanwirtschaft, dem Bergbau), und sie unterschieden sich in dieser Zielsetzung kaum von bürgerlichen Grundeigentümern und Rentenbeziehern. Auch in ihren sozialen Zielen gab es kaum Differenzen, denn die bürgerlichen Eliten strebten nach denselben Rängen und Rechten, die der grundbesitzende Adel schon besaß. Adel und Bürgerliche strebten nach denselben Eigentumsformen, nämlich einem festen, gesicherten Besitz in Form von Grundbesitz oder einem rentenartigen Einkommen aus seigneurialen Rechten oder schließlich aus Ämtern, die man kaufen und deren Ertrag man nutzen konnte. Ähnlich wie bei dieser Gruppe von «nichtkapitalistischen» Besitzern von Eigentumstiteln gab es auch beim Handels- und Industriekapitalismus keine scharfen Trennlinien zwischen Adel und Bürgerlichen. Freilich entstanden dadurch neue Konkurrenzverhältnisse, und für den traditionsbewussten Adel bedeutete dieser bürgerliche Aufstiegswille eine Unterhöhlung des überkommenen adligen Status, wie umgekehrt die Wertschätzung aufgeklärter Lebens- und Denkformen in Akademien und Freimaurerlogen die Exklusivität des Adels unterminierte. Schließlich war es keineswegs so, dass durch die vermeintlichen ständisch-feudalen Schranken und Widerstände die französische Wirtschaft in langfristiger historischer Perspektive gefesselt und zurückgeblieben gewesen wäre, die durch einen bürgerlich-kapitalistischen Aufbruch und Umsturz sich von diesen Hemmnissen hätte befreien müssen. Sicherlich stand die französische Wirtschaft im Vergleich zur englischen nicht an der Spitze der Entwicklung; aber sie war auch nicht als rückständig zu charakterisieren, und die Revolution war keine Revolution des langfristigen wirtschaftlichen Niedergangs und der Armut.
Wirtschaft und Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren vielmehr in Bewegung geraten und entsprachen immer weniger dem traditionellen Ständeschema und dem damit verbundenen Standesethos. Der Kapitalismus drang überall durch die Ritzen der alten Ordnung und bediente sich ihrer Möglichkeiten. Die ökonomischen Grenzen verliefen vertikal, durch Adel und Bürgertum, nur in rechtlicher Hinsicht bestand nach wie vor eine horizontale Trennung. Die wirtschaftlichen Spannungen nahmen innerhalb der Stände stärker zu, auch wenn es nach wie vor zwischen den Angehörigen von Adel und Klerus einerseits und der Masse des Dritten Standes in Gestalt der Bauern große materielle und rechtliche Formen der Ungleichheit gab. Die scharfe antiständische Frontstellung zwischen den beiden privilegierten Ständen und dem Dritten Stand nach Ausbruch der Ständekämpfe 1788/89 lässt sich sicherlich nicht aus wirtschaftsgeschichtlichen Ursachen erklären, und zwar weder aus Widersprüchen in der Art und Weise des Wirtschaftens noch aus der langfristigen konjunkturellen Entwicklung.