Wilhelm Bleek
VORMÄRZ
Deutschlands Aufbruch in die Moderne
Szenen aus der deutschen Geschichte
1815–1848
C.H.BECK
Der Vormärz hat einen schlechten Ruf. Die Jahre zwischen 1815 und 1848 gelten als Zeitalter der Restauration und Repression, als verlorene Übergangsepoche, die auf die Umwälzungen der Französischen Revolution und der Napoleonischen Herrschaft folgte. Kulturell gelten die Jahre des Vormärz zudem als Zeit des Biedermeier, in der sich der deutsche Michel mit Schlafrock und Zipfelmütze ins Private zurückzog und einer behäbigen Spießigkeit hingab. Doch wurden damals zugleich auf vielen Feldern die Grundlagen für die rasante Modernisierung gelegt, die Deutschland in der zweiten Jahrhunderthälfte durchlief. Das Bürgertum legte ein gehöriges Selbstbewusstsein an den Tag, förderte Innovationen und bereitete der Obrigkeit durch ein lebendiges Vereinswesen großes Kopfzerbrechen. Goethe verfasste den zweiten Teil des Faust, die ersten Eisenbahnlinien entstanden, der Telegraf wurde erfunden, die Naturwissenschaftler organisierten und vernetzten sich in neuer Form, Sängervereine provozierten mit nationalen Liedern, Universitäten entstanden, und der preußische König weckte anlässlich der Wiederaufnahme der Arbeiten am Kölner Dom nationale Hoffnungen. Die Epoche mündete in die gescheiterte Revolution von 1848/49. Doch jenseits dieses Scheiterns legte sie die Grundlagen für Deutschlands Aufbruch in die Moderne. Wilhelm Bleek holt die Epoche des Vormärz aus ihrem Schattendasein und lässt sie in ihrer faszinierenden Vielfalt und Widersprüchlichkeit wiederaufleben.
Wilhelm Bleek ist Professor em. für Politikwissenschaft an der Universität Bochum. Bei C. H.Beck sind von ihm lieferbar: «Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland» (2001), (Hg., zus. mit Hans J. Lietzmann) «Klassiker der Politikwissenschaft» (2005), «Friedrich Christoph Dahlmann» (2010).
VORWORT
DER WIENER KONGRESS (1814/15) – Fürsten und Diplomaten verhandeln über eine europäische Gleichgewichtsordnung, tanzen miteinander und spionieren sich gegenseitig aus
DIE VERFASSUNG VON SACHSEN-WEIMAR-EISENACH (1816) – Ein kleines thüringisches Fürstentum geht beim konstitutionellen Fortschritt voran
DAS WARTBURGFEST (1817) – Studenten zelebrieren zum 300. Jahrestag der Reformation einen patriotischen Gottesdienst und verbrennen anschließend Bücher
DIE GRÜNDUNG DER BONNER UNIVERSITÄT (1818) – Der protestantische König von Preußen errichtet eine akademische Bastion im katholischen Rheinland
DIE ERMORDUNG AUGUST VON KOTZEBUES DURCH CARL SAND (1819) – Ein Theologiestudent ersticht einen Lustspieldichter aus nationalistischem Glaubenswahn
DIE URAUFFÜHRUNG VON WEBERS «DER FREISCHÜTZ» (1821) – Romantische Liebesgeschichte im mythischen deutschen Wald
DIE GRÜNDUNG DER VERSAMMLUNG DEUTSCHER NATURFORSCHER UND ÄRZTE (1822) – Akademische Vereinsbildung zwischen Geselligkeitsbedürfnis und Wissenschaftsfortschritt
DER TOD VON FRIEDRICH KRUPP (1826) – Nach dem Ableben des Gründers führen seine Witwe und ihr minderjähriger Sohn eine bankrotte Fabrik zu Weltrang
DER BAU VON BREMERHAVEN (1827) – Die Hansestadt Bremen legt einen neuen Zugang zum Meer an
DIE WIEDERAUFFÜHRUNG DER MATTHÄUS-PASSION (1829) – Der junge Felix Mendelssohn Bartholdy erweckt Johann Sebastian Bach zu neuem Leben
DIE ERSTVERÖFFENTLICHUNG DES «BAEDEKER» (1832) – Ein Reiseführer läutet den modernen Massentourismus ein
GOETHES LEBENSENDE (1832) – Der Dichterfürst vollendet den zweiten Teil seiner Faust-Tragödie und stirbt
DAS HAMBACHER FEST (1832) – Dreißgtausend feiern den europäischen Völkerfrühling
DIE ERFINDUNG DES ELEKTROMAGNETISCHEN TELEGRAPHEN (1833) – Ein Astronomie- und Mathematikprofessor und sein Physikkollege spannen einen Draht über Göttingen
DIE PROTESTATION DER GÖTTINGER SIEBEN (1837) – Professoren gewinnen ihre Auseinandersetzung mit dem hannoverschen König dank der Unterstützung durch die gesamtdeutsche Öffentlichkeit
DER BAU DER EISENBAHN ZWISCHEN LEIPZIG UND DRESDEN (1837/39) – Ein neues Verkehrsmittel beschleunigt das allgemeine Zeitgefühl
DAS KÖLNER DOMBAUFEST (1842) – Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. legt den Grundstein zur Vollendung des Kölner Doms als einem deutschen Nationaldenkmal
KARL MARX UND DIE «RHEINISCHE ZEITUNG» (1843) – Der radikale Philosoph spielt als Redakteur einer liberal-bürgerlichen Zeitung Katz und Maus mit der preußischen Zensur
BETTINE VON ARNIMS «DIES BUCH GEHÖRT DEM KÖNIG» (1843) – Eine exzentrische Freifrau macht den preußischen König auf die Misere der Armen vor den Toren Berlins aufmerksam
DAS SCHLESWIG-HOLSTEIN-LIED (1844) – Nationale Sehnsucht aus deutschen Männerkehlen
DIE EINWEIHUNG DER MÜNCHENER ST. LUDWIGSKIRCHE (1844) – Der bayerische König setzt sich mit dem Bau einer Prachtstraße ein Denkmal
DIE HUNGERUNRUHEN (1847) – Die Armen besorgen sich ihr «täglich Brot»
DIE ERÖFFNUNG DER DEUTSCHEN KONSTITUIERENDEN NATIONALVERSAMMLUNG (18. MAI 1848) – 384 Abgeordnete ziehen mit «Zuversicht und Hoffnung» in die Paulskirche ein
RESÜMEE
DANKSAGUNG
ANHANG
BILDNACHWEIS
LITERATURVERZEICHNIS
EINZELDARSTELLUNGEN ZU DEN VORMÄRZSZENEN
DER WIENER KONGRESS (1814/15)
DIE VERFASSUNG VON SACHSEN-WEIMAR-EISENACH (1816)
DAS WARTBURGFEST (1817)
DIE GRÜNDUNG DER UNIVERSITÄT BONN (1818)
DIE ERMORDUNG KOTZEBUES DURCH CARL SAND (1819)
DIE URAUFFÜHRUNG VON CARL MARIA VON WEBERS «DER FREISCHÜTZ» (1821)
DIE GRÜNDUNG DER VERSAMMLUNG DEUTSCHER NATURFORSCHER UND ÄRZTE (1822)
DER TOD VON FRIEDRICH KRUPP (1826)
DER BAU VON BREMERHAVEN (1827)
DIE WIEDERAUFFÜHRUNG DER MATTHÄUS-PASSION (1829)
DIE ERSTVERÖFFENTLICHUNG DES «BAEDEKER» (1832)
DAS LEBENSENDE GOETHES (1832)
DAS HAMBACHER FEST (1832)
DIE ERFINDUNG DES ELEKTROMAGNETISCHEN TELEGRAPHEN (1833)
DIE GÖTTINGER SIEBEN (1837)
DER BAU DER EISENBAHN ZWISCHEN LEIPZIG UND DRESDEN (1837/39)
DAS KÖLNER DOMBAUFEST (1842)
KARL MARX UND DIE «RHEINISCHE ZEITUNG» (1843)
BETTINE VON ARNIMS «DIES BUCH GEHÖRT DEM KÖNIG» (1843)
DAS SCHLESWIG-HOLSTEIN-LIED (1844)
DIE EINWEIHUNG DER MÜNCHENER ST. LUDWIGS-KIRCHE (1844)
DIE HUNGERKRISE (1845/46)
DIE ERÖFFNUNG DER KONSTITUIERENDEN DEUTSCHEN NATIONALVERSAMMLUNG (18. MAI 1848)
GESAMTDARSTELLUNGEN
PERSONENREGISTER
Die deutsche Geschichte zwischen 1815 und 1848 hat keinen guten Ruf. An ihrem Anfang steht der Wiener Kongress, auf dem eine neue Friedensordnung für Europa beschlossen wurde. Damit sollte das vorangegangene turbulente Vierteljahrhundert überwunden werden, einschließlich der Ideen der Französischen Revolution von 1789 und des nachfolgenden Schreckensregimes sowie der Unterwerfung fast des ganzen europäischen Kontinents unter die Herrschaft des französischen Kaisers. Die Jahrzehnte, die danach kamen, werden daher oft auf den Nenner einer «Restauration» gebracht. So wird ausgedrückt, dass vorrevolutionäre Grundstrukturen von Politik und Gesellschaft wiederhergestellt werden sollten, dass konservative, wenn nicht reaktionäre Ziele vorherrschten. Es wird unterstellt, dass die Zeit eine Ära des politischen Stillstands, wenn nicht Rückschritts war. Auf der anderen Seite werden die 33 Jahre von 1815 bis 1848, zumindest die 18 Jahre nach 1830, oft als «Vormärz» bezeichnet, als eine Zeit, die mit dem Erstarken des Bürgertums und der von ihm angeführten Einheits- und Verfassungsbewegung zur deutschen Revolution im März 1848 hinführte. Damit werden sie auf eine Vorläuferrolle reduziert und ihrer historischen Eigenständigkeit beraubt. Beide Epochenbegriffe, sowohl die Bezeichnung als Restaurations- wie auch als Vormärzzeit, stammen aus dem Bereich der Politik.
Aus kulturgeschichtlicher Perspektive hingegen hält sich bis heute die Epochenbezeichnung des «Biedermeier». Der Begriff stammt aus dem Jahrzehnt nach der Mitte des 19. Jahrhunderts, als in von den Münchener «Fliegenden Blättern» veröffentlichten Gedichten die fiktive Figur eines «Gottlieb Biedermeier» zum Symbol für spießbürgerliche Gemütlichkeit und Kleingeisterei wurde. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gewann der Terminus eine neutralere, positivere Bedeutung beim Verständnis der vormärzlichen Literatur- und Theaterproduktion, im breitesten Sinne seiner kulturellen Errungenschaften. So werden seitdem Biedermeiermöbel als Ausdruck eines behaglichen, eleganten und eher schlichten Lebensgefühls geachtet, im Kontrast zu den bombastischen und erdrückenden Erscheinungen der nachfolgenden viktorianischen und wilheminischen Zeit.
Doch bis heute hält sich auch die kritische Vorstellung vom Biedermeier als einer Zeit, in der sich die Mehrheit des Bürgertums aus Frustration über die politischen Einschränkungen in die private Idylle des häuslichen Familienlebens und die Geselligkeit der unpolitischen Freundschaftskränzchen zurückzog. Die zeitgenössischen Gemälde von Carl Spitzweg und Karikaturen vom deutschen Michel mit seiner Schlafmütze sind bildhafter Ausdruck dieser abschätzigen Sicht. Dies wird aber der Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit der Vormärzzeit nicht gerecht. So war der in weiten Kreisen des Bürgertums zu beobachtende Bedeutungszuwachs von Musik und insbesondere dem Gesang von Liedern keineswegs auf die Hausmusik im familiären Kreis beschränkt. Schon in den vorangegangenen Befreiungskriegen waren die Söhne der Nation mit patriotischen Liedern auf den Lippen in die Schlacht gezogen. Deren Absingen wurde von der vormärzlichen Obrigkeit unterdrückt, doch die aufblühenden (Männer-)Gesangsvereine verstanden es, halböffentlich den Funken patriotischer Geselligkeit am Glimmen zu halten. Viele noch so unpolitisch erscheinende Zusammenkünfte in der Vormärzzeit trugen durch gemeinschaftiches Singen zur Entstehung des deutschen Nationalgefühls bei.
Gleichzeitig ereigneten sich in dieser Periode politischer Stagnation und Repression große gesellschaftliche, technologische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Umwälzungen, für deren Charakterisierung zu Recht auch der Revolutionsbegriff verwandt wird. Seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und bis in die zweite Hälfte des nachfolgenden Jahrhunderts kam es zu einer Bevölkerungsexplosion, die allgemein als eine demographische Revolution bewertet wird. Die Folgen waren dramatisch, es entstand eine große Unterschicht von Armen, die an und unter der Grenze des Existenzminimums vegetieren mussten.
Hoffnungen auf eine Bewältigung dieser sogenannten sozialen Frage verbanden sich mit dem Beginn des frühindustriellen Zeitalters. Dessen bahnbrechende Erfindung der Dampfmaschine war zwar bereits im 18. Jahrhundert in England gemacht worden, doch dauerte es Jahrzehnte, bis die neuartige Energiequelle auch in Deutschland zum Einsatz kam. Zum wichtigsten Motor beim Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft wurde die dampfgetriebene Eisenbahn, die sich in Mitteleuropa seit Ende der 1830er Jahre durchsetzte. Das entstehende Eisenbahnnetz bewirkte eine revolutionäre Veränderung nicht nur im Güter- und Warenverkehr, sondern auch und besonders in der Kommunikationserfahrung der Zeit.
Begleitet wurden diese demographischen und technologischen Umwälzungen zwischen 1815 und 1848 von einem vielschichtigen und nachhaltigen Wandel in der Gesellschaftsordnung. Beruhte die in den vorangegangenen Jahrhunderten vorherrschende ständische Ordnung auf den statischen Prinzipien von Geburt und Hierarchie, so gewannen nun Bildung und Besitz als bürgerliche Mobilitätskriterien des sozialen Aufstiegs, aber auch des Abstiegs immer mehr an Bedeutung. Unterhalb von Adel und Bürgertum lebte die Bauernschaft nach der vom Staat verordneten Agrarreform weiterhin in einer eher prekären Existenz, sahen sich die Landwirte den Ungewissheiten von Markt und Kapital ausgesetzt.
Bei allem politischen Stillstand war die deutsche Geschichte zwischen dem Wiener Kongress und der Märzrevolution also eine Zeit mannigfacher Veränderungen, von Neuerungen und Fortschritten, aber auch von Krisen auf den Gebieten von Gesellschaft, Kultur, Wissenschaft, Technologie und Wirtschaft. Diese vielschichtigen Lebenslagen und Lebensgefühle der Deutschen zwischen 1815 und 1848 will das vorliegende Buch anhand einer Reihe von Miniaturen illustrieren. Bei der Auswahl der historischen Ereignisse, die diesen Szenen zugrunde liegen, ist versucht worden, die Unterschiedlichkeit der Geschehnisse und Milieus zu berücksichtigen, in denen sich die Multiperspektivität der geschichtlichen Wirklichkeit widerspiegelt.
Das politische Geschehen ist dabei nur einer unter vielen Entwicklungssträngen, keineswegs der dominierende. Es mag bei der Herkunft des Verfassers aus der akademischen Politikwissenschaft verwundern, doch hängt er nicht der weitverbreiteten Vorstellung einer Dominanz der politischen Sphäre über die anderen Bereiche der gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Realität an. Umgekehrt lässt sich gerade an den deutschen Jahren zwischen 1815 und 1848 die politische Bedeutung von scheinbar außerpolitischen und privaten Lebensräumen wie Arbeit, Familie, Geselligkeit, Wissenschaft und dergleichen mehr aufzeigen.
Die Begrenzung des Buchumfangs und die schichtenspezifischen Unterschiede der Zugänglichkeit von historischen Quellen, aber auch die relative Kompetenz des Autors haben sicherlich manche Hintansetzung von weiteren Themen bewirkt, die ebenso der Ausleuchtung wert gewesen wären. Allgemein sind keine Episoden berücksichtigt worden, die sich in Österreich abgespielt haben. Damit wird nicht der problematischen Tendenz gefolgt, die deutsche Geschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der späteren nationalstaatlichen Separierung zwischen preußisch dominiertem Deutschen Reich von 1871 und österreichischer Monarchie her zu sehen. Zum Deutschen Bund, der 1815 die Nachfolge des alten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation antrat, gehörte selbstverständlich auch die deutschsprachige Hälfte der Habsburgermonarchie. Doch die Abläufe in diesem Territorium und vor allem die Intentionen der dort herrschenden politischen Führung mit dem Fürsten Metternich an der Spitze waren so unterschiedlich von der Entwicklung in Nord-, Ost- und Westdeutschland, dass ihre Berücksichtigung den Rahmen dieses Buches gesprengt hätte. Auf der anderen Seite wurden die preußischen Provinzen Ost- und Westpreußen sowie Posen, aber auch das Herzogtum Schleswig einbezogen, die in den Vormärzjahren – noch – nicht zum deutschen Staatsverband gehörten, aber bereits eine große, wenn auch umstrittene Rolle bei der Entfaltung der nationalstaatlichen Entwicklung Deutschlands spielten.
Dieses Buch will keine historische Fachstudie sein oder die geschichtswissenschaftlichen Diskussion voranbringen. Es versteht sich vielmehr als eine Überblicksdarstellung zur deutschen Geschichte zwischen 1815 und 1848, die wie beim Blick durch ein Kaleidoskop wechselhafte und farbenprächtige Bilder der Vielfältigkeit, der Widersprüchlichkeit und vor allem der Eigenständigkeit der vormärzlichen Jahrzehnte vermitteln soll. In der allgemeinen Öffentlichkeit, aber auch in der geschichtswissenschaftlichen Forschung vorherrschende Klischees über den Charakter der deutschen Vormärzzeit zwischen 1815 und 1848 sollen infrage gestellt werden, ohne dabei neue Generalisierungen vorschlagen zu wollen. Das soll dem inspirierten Urteil des Lesers überlassen bleiben. Wenn dabei trotz der anfangs genannten Bedenken gegen den Begriff des Vormärzes an seiner Verwendung festgehalten wird, so geschieht das nur in Ermangelung eines anderen eingeführten Wortes.
Am wichtigsten ist dem Verfasser die Hoffnung, dass die Lektüre dieser historischen Miniaturen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dem Leser einen ähnlichen Erkenntnisgewinn und vor allem auch Vergnügen vermittelt, wie er es selbst während seiner Arbeit erfahren konnte.
Toronto, im November 2018 Wilhelm Bleek
Fürsten und Diplomaten verhandeln über eine europäische Gleichgewichtsordnung, tanzen miteinander und spionieren sich gegenseitig aus
Diese französische Karikatur von Anfang 1815 nimmt die bekannte Charakterisierung des tanzenden Wiener Kongresses auf. In der Mitte vergnügen sich die Monarchen der drei Siegermächte (v. l. n. r.) Österreich, Russland und Preußen mit einer Quadrille, rechts von ihnen hält der König von Sachsen an seiner Krone fest, auf der linken Seite tanzt der britische Außenminister Castlereagh etwas isoliert und plumb eine Jig, und ganz linksaußen schaut gelassen der französische Außenminister zu. Ganz rechtsaußen springt die Republik Genua in Gestalt einer mit der phrygischen Mütze behüteten Frau empört in die Höhe, sie erwartet ihre Eingliederung in das sardinische Königreich. Alle Tänzer tragen Tanzschuhe mit Ausnahme der Reitstiefel des preußischen Königs. Die Details des Stichs erlauben seine Datierung auf die ersten Tage des Januar 1815, am 9. Januar wurde Talleyrand in das Direktionskomitee des Kongresses aufgenommen. Karikaturen als ironische Kommentare zum Zeitgeschehen erlebten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Aufschwung, vor allem in England und Frankreich. In Deutschland hingegen war ihre Veröffentlichung bis 1848 durch die Zensurpolitik gehemmt, spielte danach in der Märzrevolution 1848/49 aber eine umso fulminantere Rolle.
Im September des Jahres 1814 machte sich ein Riesentross von Fürsten, Staatsmännern, Mitarbeitern und Bediensteten aus Deutschland und Europa mit Karossen aller Art auf den langwierigen Weg ins spätsommerliche Wien. In der barocken Haupt- und Residenzstadt des österreichischen Kaiserreiches konnte Franz I. als Gastgeber nicht nur den russischen Zaren und den preußischen König begrüßen, sondern auch viele weitere gekrönte Häupter nebst deren Gattinnen, Kronprinzen und Prinzen wie die Könige von Bayern, Dänemark und Württemberg, die Großherzöge von Baden und Oldenburg, den Kurfürsten von Hessen sowie zahlreiche deutsche Fürsten, deren Herrschaften 1803 mediatisiert worden waren. Weitere Dutzende von Staaten und Herrschaften wurden durch bevollmächtigte Gesandte repräsentiert, unter denen Talleyrand als Vertreter des wiederhergestellten französischen Königreichs der Bourbonen das größte diplomatische Geschick bei der Sicherung des Einflusses auf Europa bewies – umso bemerkenswerter, als sein Land doch erst kurz zuvor besiegt worden war. Diesen Herrschern standen Spitzendiplomaten zur Seite, angefangen vom Fürsten Metternich als österreichischem Außenminister, Graf Nesselrode als russischem Staatsmann und Fürst Hardenberg als preußischem Staatskanzler.
Das fürstliche und diplomatische Gefolge vervollständigten zahlreiche Berater, so in der preußischen Delegation Wilhelm von Humboldt und in der russischen Karl Freiherr vom und zum Stein, beide Väter der vorangegangenen preußischen Reformen. Der noch nicht dreißigjährige Jacob Grimm, der in Kassel seinem Kurfürsten als Bibliothekar diente, langweilte sich in Wien als kurhessischer Legationsrat acht Monate lang mit dem Verfassen und Abschreiben von Aktenvoluten, nahm Anstoß an den teuren Preisen, an dem Gewirr von «Grobheiten, Welthöflichkeiten, Intriguen», wie er seinem Bruder Wilhelm schrieb. Lediglich seine germanistischen Bücherkäufe und die Lektüre der neu erworbenen Schätze versetzten den studierten Juristen in bessere Stimmung.
Auch zahlreiche prominente Vertreter gesellschaftlicher Interessen waren an den Kongressort geeilt, um für ihre Anliegen zu antichambrieren. So warben die Buchhändler und Verleger Bertuch aus Weimar und Cotta aus Stuttgart für die Urheberrechte und die Zensurfreiheit Repräsentanten der jüdischen Gemeinden in Deutschland setzten sich für die Gleichberechtigung ihrer Glaubensgenossen ein. Aus Berlin reiste der «Turnvater» Friedrich Ludwig Jahn an, um sein patriotisches Wunschbild von Großdeutschland zu propagieren.
Nach dem vorangegangenen turbulenten Vierteljahrhundert mit seinen revolutionären Umbrüchen, kriegerischen Verwicklungen und allgemeinen Entbehrungen unternahmen der österreichische Kaiser und noch mehr sein Außenminister alles, um an die vorangegangene glanzvolle und lebensfrohe Zeit des opulenten Rokokos anzuknüpfen. Das erste große Ereignis, mit dem der Wiener Kongress gesellschaftlich eröffnet wurde, war ein Hofball am 2. Oktober 1814, bei dem im Schein von 8000 Wachskerzen im großen und kleinen Redoutensaal der kaiserlichen Hofburg zwölftausend Menschen Polonäsen tanzten und sich an überbordenden Buffets labten. Zahlreiche weitere Tanzveranstaltungen, unter anderem in der großen Villa des Fürsten Metternich, schlossen sich an, bei denen bald der Walzer als moderner Paartanz die gezirkelten Polonäsen ablöste.
Zwischendurch besuchte die in der europäischen Musikmetropole versammelte auswärtige und einheimische Hautevolee Konzerte. Ludwig van Beethoven stand 1814/15 auf der Höhe seines Ruhmes. Der inzwischen sehr schwerhörige Komponist konnte am 29. November 1814 im großen Redoutensaal in Anwesenheit der siegreichen Herrscher und ihrer Spitzendiplomaten neben seiner kurz zuvor komponierten VII. Symphonie die Kantate «Der glorreiche Augenblick» mit ihrem Eingangschor «Europa steht! Europa steht» dirigieren. Auch seine Oper «Fidelio», deren Erstaufführungen in den vorangegangenen Kriegsjahren durchgefallen waren, erlebte nun eine vielbeklatschte Wiedergeburt und stand in den Monaten des Kongresses zehnmal auf dem Spielplan. Eine weitere Attraktion war «Die Hochzeit des Figaro» von Wolfgang Amadeus Mozart, der schon im Revolutionsjahr 1791 gestorben war. Doch der beliebteste Komponist war in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts der 1809 verstorbene Joseph Haydn – Beethoven hatte viele Bewunderer, galt aber anderen Musikliebhabern als «zu modern».
In den zahlreichen Wiener Theatern standen unter anderem die historischen Dramen Friedrich Schillers auf dem Programm. Leichteren Genuss bot der Besuch der Lustspiele August von Kotzebues, eines populären deutschen Dramatikers, der zeitweilig immer wieder in Diensten des russischen Zaren stand. Sehr beliebt waren die «lebenden Bilder», in denen Damen und Herren der oberen Schichten prominente Gemälde nachstellten. Der absolute Höhepunkt der offiziellen Vergnügungen während des Wiener Kongresses war aber am 23. November 1814 das «Große Karussel» in der Hofreitschule, vom Geist des Spätmittelalters inspirierte Ritterspiele. Wer die unmittelbaren Sinnesfreuden liebte, der konnte sich an den Feuerwerken erfreuen, beginnend mit dem Eröffnungsspektakel am 29. September 1814 im Prater. In diesem Ausflugsgelände an den Auen der Donau gingen oft die drei Spitzen des Kongresses, der österreichische Kaiser, der russische Zar und der preußische König, unter Anteilnahme der ganzen Bevölkerung spazieren. Sie unternahmen Kutsch- und später in den ersten Monaten des neuen Jahres Schlittenfahrten in der Wiener Umgebung, auch Hofjagden standen auf dem Programm.
Für dieses große Veranstaltungs- und Vergnügungsprogramm stützten sich die hochgestellten Kongressteilnehmer auf ein großes Heer an Dienstpersonal. Neben den Sekretären und Schreibern für die eigentlichen politischen Verhandlungen kümmerten sich Leibärzte, Frisöre, Lakaien und Beichtväter um das persönliche Wohl der Teilnehmer; Köche und Stallburschen versorgten den ganzen Haushalt. Viele dieser Bediensteten wirkten auch als Zuträger und Spione für die österreichische Polizeibehörde und die anderen Delegationen. Und nicht zuletzt die Kokotten, die Vertreterinnen des ältesten Gewerbes der Welt, die in Wien während der Zeit des Kongresses von den meisten Teilnehmern sehr rege frequentiert wurden, ließen sich in dieses umfassende nachrichtendienstliche Netzwerk einspannen. Es wurde von der «Obersten Polizei und Censur Hofstelle» organisiert, die ihren Sitz in einem Dachgeschoss der Hofburg oberhalb der Prunkgemächer der prominentesten Gäste hatte. Zur Ausstattung dieser Spionagezentrale gehörten auch Einrichtungen zum Aufdampfen von Briefen und zum Kopieren von Siegelabdrücken, mit denen die abgefangenen Korrespondenzen wieder verschlossen wurden. Die Berichte, die auf diesen geheimdienstlichen Aktivitäten beruhten, enthielten allerdings kaum diplomatische oder politische Geheimnisse, sondern zumeist nur Alltagstratschereien, die zur Unterhaltung des österreichischen Kaisers beitrugen und uns heute Einblicke in das gesellschaftliche Ambiente des Wiener Kongresses ermöglichen.
Das einfache Volk der österreichischen Metropole litt zwar unter der fünfzigprozentigen Erhöhung der Erwerbssteuer, die ihm von seinem Kaiser für diese europäische Konferenz auferlegt worden war, nahm aber mit seinem gleichermaßen grantigen wie lebenslustigen Naturell an diesem großen Schauspiel regen Anteil. Der Wiener Kongress war ein großes Gesellschaftstheater, bei dem die Feudalwelt des 18. Jahrhunderts wiederauferstand. Wie kein anderer hat der alte österreichische Feldmarschall und geistvolle Schriftsteller Karl Joseph von Ligne dieses Flair des Kongresses auf den Begriff gebracht: «Le Congrès danse beaucoup». Und hat, was weniger häufig zitiert wird, hinzugefügt: «mais il ne marche pas»: Der Kongress tanzt viel, aber er kommt nicht voran. Als der alte Bonvivant, von dem dieses bis heute wirkungsmächtige Bonmot stammt, Mitte Dezember 1814 starb, wurde seine prunkvolle Beerdigung ein Teil des bewunderten Festprogramms des Wiener Kongresses.
Bei allen diesen Vergnügungen kamen Diplomatie und Politik keineswegs zu kurz, sondern gingen mit diesen eine für den Wiener Kongress typische enge Verbindung ein. Die anschaulichste Verkörperung für diese Symbiose war Fürst von Metternich, den der russische Zar Alexander mit leicht sarkastischem Unterton den «beste(n) Zeremonienmeister der Welt» nannte. Clemens Lothar Wenzel Graf von Metternich stammte aus einem uralten rheinischen Adelsgeschlecht, wurde 1773 in Koblenz geboren. Schon sein Vater stand als Minister der österreichischen Niederlande in Diensten des Wiener Kaisers. Sein Sohn folgte ihm in die diplomatische Laufbahn, wurde österreichischer Gesandter zunächst in Dresden, dann in Berlin und schließlich ab 1806 Botschafter in Paris. Nach der Niederlage Österreichs im Sommer 1809 übernahm Metternich das Außenministerium, fädelte die Heirat der österreichischen Kaisertochter Marie-Louise mit dem französischen Kaiser ein und lavierte das Wiener Kaiserreich durch die turbulenten Zeiten der europäischen Herrschaft Napoleons, schloss Österreich nach dessen Rückzug aus Russland und der Bildung der russisch-preußischen Allianz dieser antinapoleonischen Koalition an. Nach der Völkerschlacht von Leipzig vom Oktober 1813 erhob der österreichische Kaiser seinen Außenminister zum Dank in den Rang eines Fürsten.
Für den Lebenskünstler Metternich war Diplomatie eine Kunst der gesellschaftlichen Unterhaltung und der spielerischen Intrige. Maskenbälle, Amüsements und Boudoirabenteuer waren für ihn die Fortsetzung der Politik mit anderen, friedlicheren Mitteln als den an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert dominierenden Kriegen. Er verkehrte gerne mit Diplomaten, Herrschern und Fürsten und nicht zuletzt mit schönen Frauen. Der Beau Metternich, mit der Tochter des verstorbenen österreichischen Staatskanzlers verheiratet, verfolgte das Ideal der «freien Liebe» des 18. Jahrhunderts, hatte zeit seines Lebens polyamouröse Affären, aus denen auch zahlreiche uneheliche Nachfahren hervorgingen. Während des Wiener Kongresses war er mit der Herzogin Wilhelmine von Sagan liiert, deren vormittäglicher Besuch zumeist am Anfang seines Arbeitstages stand. Dass seine Geliebte im selben Palast wie die Mätresse des russischen Zaren, die Fürstin Bagration, wohnte, erleichterte Metternichs Salon- und Schlafzimmerpolitik. Über ein Netzwerk von gesellschaftlichen und intimen Kontakten erfuhren die Herren des Wiener Kongresses, was die vormaligen kriegerischen Gegner sowie ihre Verbündeten und jetzigen diplomatischen Konkurrenten vorhatten. Vom bürgerlichen Arbeitsethos geprägten Staatsmännern wie Wilhelm von Humboldt, der sich in Akten vergrub und Denkschriften ausarbeitete, war diese spielerische Form der Staatskunst höchst suspekt, er sah im Fürsten Metternich ein prinzipienloses und zerstreutes Relikt des Ancien Régime. Bordellbesuche gehörten allerdings auch lebenslang zu seiner Routine.
Modernere Zeiten kündigten sich im Salon Fanny von Arnsteins an, der während des Wiener Kongresses seinen Höhepunkt erlebte. Fanny kam aus einer reichen jüdischen Familie Berlins, das musikalische Wunderkind Felix Mendelssohn war ihr Großneffe. Durch die Heirat mit Nathan Arnsteiner, einem österreichischen Hofbankier, der später als Freiherr von Arnstein geadelt wurde, kam sie nach Wien. Dort führte sie, im Geiste der Berliner jüdischen Aufklärung aufgewachsen, die Tradition nicht nur des Weihnachtsbaumes, sondern auch die des literarischen Salons ein. In ihrem Haus trafen sich in den Kongressmonaten des Jahres 1814/15 zahlreiche Diplomaten, Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler. Fanny von Arnstein setzte sich in diesem Kreis nicht nur für die preußischen Interessen ein, sondern förderte auch die Prinzipien der Gleichberechtigung, wurde zur Protagonistin der Emanzipation der Juden wie der Frauen.
Trotz all dieser Vergnügungen unterschiedlichster Art ließen die vom September 1814 bis Juni 1815 in Wien versammelten Monarchen, Staatsmänner und Diplomaten das politische Geschäft nicht zu kurz kommen. Dabei standen, wie bei Friedenskonferenzen nach langen kriegerischen Auseinandersetzungen üblich, Territorialfragen im Vordergrund, ging es den Kriegsgewinnern doch um geopolitische Beute hinsichtlich der Größe und Lage ihrer Zugewinne. Als die härtesten Nüsse erwiesen sich die Entscheidungen über die Zukunft Polens und Sachsens. Der russische Zar Alexander I., der sich als der eigentliche Befreier Europas von der napoleonischen Knute empfand, wollte die Herrschaft über ganz Polen übernehmen. Preußen, das in diesem Fall wie Österreich Gebietsgewinne aus den vorangegangenen drei Teilungen Polens hätte aufgegeben müssen, wollte sich durch die Totalannexion Sachsens schadlos halten, hatte der sächsische König doch bis zum bitteren Ende an dem Bündnis mit Napoleon festgehalten. Gegen diese großen Gebietsansprüche hatten Österreich im Hinblick auf die deutsche Konkurrenz mit Preußen sowie England hinsichtlich der Gefährdung des kontinentalen Gleichgewichts gravierende Bedenken. Dem französischen Außenminister Talleyrand gelang es, eine diplomatische Allianz mit diesen beiden Mächten zu schließen, die seinem Land die Anerkennung als fünfte europäische Großmacht sicherte. Zeitweise drohte um die Jahreswende 1814/15 sogar ein Krieg zwischen den eben noch verbündeten Mächten, zwischen Russland und Preußen auf der einen und Österreich, Großbritannien und Frankreich auf der anderen Seite.
Das große diplomatische Drohspiel führte schließlich im Februar 1815 zu einem Kompromiss: Österreich behauptete das während der ersten Teilungen Polens gewonnene Galizien, Preußen behielt die Provinz Posen, während der Großteil Polens, das sogenannte Kongress-Polen, vom russischen Zaren als «König von Polen» regiert werden sollte. Das Königreich Sachsen verlor zwar zwei Fünftel seines Territoriums an Preußen, blieb aber erhalten. Das protestantische Preußen erhielt Schwedisch-Vorpommern und in Westdeutschland ganz Westfalen und das Rheinland, zum Missfallen der dort überwiegend katholischen Bevölkerung. Metternich spekulierte 1815 darauf, dass die weit auseinanderliegenden preußischen Besitzungen in Ost- und Westdeutschland den Konkurrenten um die Vormacht in Deutschland schwächen würden. Doch in Wirklichkeit war damit der Weg Preußens zu einer gesamtdeutschen Macht eingeschlagen, das vormalig ost- und mitteldeutsche Königreich übernahm die Sicherung der deutschen Westgrenze gegenüber Frankreich. Österreichs Gewinne lagen vor allem in Norditalien und am Adriatischen Meer. Nur Großbritannien verzichtete auf territoriale Gewinne, seinem Wiener Verhandlungsführer Lord Castlereagh lag vor allem an der «Balance of Power», dem Gleichgewicht der Mächte, das den Einfluss des Vereinigten Königreichs auf dem europäischen Kontinent sichern würde.
Als das Kongressgerangel um Territorialfragen am Rande einer kriegerischen Auseinandersetzung stand, beschlossen die Parteien, den Konflikt durch Sachverständige in einem Statistischen Komitee zu entschärfen. Es trat erstmals am 24. Dezember 1814 zusammen und hatte die Aufgabe, die exakte Einwohnerzahl jener Ländereien zu ermitteln, die verteilt werden sollten. So bestand der preußische König auf Wiedererlangung der Herrschaft über jene 10 Millionen «Seelen», über die sein Königreich vor der Niederlage in der Schlacht bei Jena und Auerstädt (1806) verfügt hatte. Das Komitee konnte schon am 19. Januar 1815 eine komplette Liste der Bevölkerungszahlen in den umstrittenen Territorien vorlegen. Führender Kopf in diesem Expertenausschuss war der preußische Staatswissenschaftler Johann Gottfried Hoffmann. Dieser engste Berater des preußischen Staatskanzlers personifizierte die Befähigungen und Tugenden jener hohen Beamten, die zu Anfang des 19. Jahrhunderts in Preußen neben leitenden Staatsmännern wie dem Fürsten Hardenberg, Wilhelm von Humboldt und dem Freiherrn vom Stein die umfassenden Reformen von Verwaltung, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und des Heeres durchgeführt hatten. Hoffmann, ein Anhänger der neuen nationalökonomischen Ideen von Adam Smith, war nach einer Tätigkeit in der ostpreußischen Verwaltung und an der Königberger Universität 1810 als Professor an die neugegründete Universität zu Berlin berufen worden. Gleichzeitig wurde er der Gründungsdirektor des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus, das unter seiner Leitung zum Vorbild für die Etablierung von Anstalten der administrativen Statistik in den meisten deutschen Staaten, aber auch in zahlreichen europäischen Nachbarstaaten wurde. Ziel Hoffmanns war es, die wirtschafts- und sozialpolitischen Aktivitäten der Regierung auf eine verlässliche empirische Grundlage zu stellen. Der Staatswissenschaftler Hoffmann knüpfte dabei an die ältere Tradition der Kameralistik als der Verwaltungslehre des frühneuzeitlichen Staates an, doch gleichzeitig kündigte sich in seinen weitgespannten Tätigkeiten schon das moderne Phänomen der wissenschaftlichen Politikberatung an.
In zahlreichen weiteren Ausschüssen arbeiteten während des Wiener Kongresses Diplomaten und Sachverständige ihren Monarchen und Staatsmännern zu. So beschäftigte sich ein Komitee mit den Grenzen der Schweiz und ihrer Kantone, entwickelte auch die vom Wiener Kongress verkündete «immerwährende Neutralität» der Eidgenossenschaft. Der Ausschuss für Internationale Flüsse führte zu einem Reglement über die Freiheit der Schifffahrt auf dem Rhein, die bis dahin, vor allem am Mittelrhein, durch zahlreiche Zunftrechte und Zollgrenzen behindert worden war. Auf Veranlassung von William Wilberforce, der 1807 im Londoner Parlament ein Verbot das Sklavenhandels durchgesetzt hatte, ließ der britische Außenminister Castlereagh vom Wiener Kongress ein Komitee einsetzen, das ein europaweites Verbot des «Negerhandels» vorbereitete. Und nicht zuletzt formulierte ein Ausschuss das noch heute geltende Reglement der diplomatischen Rangordnung einschließlich der Bestimmung, dass beim Empfang von Botschaftern in einem ausländischen Außenministerium beide Flügel der Eingangstür, bei Gesandten hingegen nur eine Seite zu öffnen sind.
Dieses Kaleidoskop europäischer Fragen und Themen arbeitete der Wiener Kongress in gewissenhafter, aber auch gemächlicher Detaildiplomatie ab, als Anfang März 1815 in Wien die Nachricht von der Flucht Napoleons aus dem ihm im ersten Pariser Frieden zugewiesenen Exil auf der Mittelmeerinsel Elba wie ein Blitz einschlug. Jacob Grimm hatte in einem Brief an seinen Bruder Wilhelm schon am 8. Oktober 1814 vorausgesagt: «Der Himmel muß diese Faulheit und falsche Arbeit wie ein Eis brechen, dann wird es freilich holterpolter hergehen.» Die in Wien versammelten Herrscher reagierten auf Napoleons triumphale Rückkehr in die französische Hauptstadt nicht nur mit der Mobilisierung ihrer Armeen, sondern trieben ihre Verhandlungsführer auch zum beschleunigten Abschluss der Kongressberatungen an. Dazu gehörten vor allem Beschlüsse über die zukünftige Gestalt Deutschlands nach dem vorangegangenen Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Lediglich der Freiherr vom Stein setzte sich als Berater des russischen Zaren für die Wiederbelebung des ehrwürdigen deutschen Kaisertitels ein.
Für die Regelung der deutschen Verfassungsfragen hatte der Kongress nach seinem Zusammentritt Mitte Oktober ein Deutsches Komitee etabliert, das aus Österreich, Preußen, Bayern, Württemberg und Hannover bestand. Doch aufgrund der obstinaten Widerstände Bayerns und insbesondere Württembergs wurde dieses Gremium schon einen Monat später ausgesetzt. Im Februar 1815 wurde es um das inzwischen wiederhergestellte Königreich Sachsen, Hessen-Darmstadt, die Niederlande (deren König in Personalunion als Großherzog in Luxemburg regierte) und Dänemark (dessen König auch Herzog von Holstein war) erweitert. Unter dem Zeit- und Kompromissdruck kamen Vorschläge für einen starken Bundesstaat, wie vor allem Wilhelm von Humboldt sie einbrachte, nicht zum Zuge, sahen doch die deutschen Mittelstaaten ihre soeben errungene Souveränität bedroht. Lediglich eine staatenbündische Verfassung Deutschlands erwies sich als akzeptabel.
Der Deutsche Bund wurde am 8. Juni 1815, einen Tag vor der Unterzeichnung der Kongressakte, in der Wiener Staatskanzlei mit der Verabschiedung der Deutschen Bundesakte konstituiert. Ihm gehörten 39 Mitglieder an, 35 souveräne Fürsten und vier Freie Städte. Österreich und Preußen traten ihm nur mit den Landesteilen bei, die schon vor 1806 zum alten Reich gehört hatten. Die Bundesakte war nur ein Rahmenvertrag. Die Regelung der Details der Verfassung des Deutschen Bundes wurde Ministerialkonferenzen anvertraut, die 1819/20 in Wien tagten und zur Wiener Schlussakte führten, die unter dem Einfluss der zwischenzeitlichen Ereignisse wesentlich restriktiver ausfiel, als 1815 noch erhofft werden konnte. So wurde die in Art. 13 der Bundesakte versprochene Einführung von landständischen Verfassungen in allen Bundesstaaten nur von den süddeutschen Monarchen und dem Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach umgesetzt. Die Bundesakte wurde der am Tag nach ihrer Verabschiedung fertiggestellten Schlussakte des Wiener Kongresses eingefügt. Das war durchaus symbolträchtig, zeigte es doch, dass der Verfassung Deutschlands, dem Kernland des Kontinents, eine europäische Bedeutung zukam. Schon die Deutschland betreffenden Gebietsentscheidungen waren nicht von dem Kreis der deutschen Herrscher, sondern von den führenden europäischen Mächten, nicht zuletzt neben Österreich und Preußen auch von Russland, Großbritannien und dem bourbonischen Königreich Frankreich, getroffen worden.
Eine Woche nach dem Abschluss des Wiener Kongresses erlitt Napoleon, das französische Militärgenie und für fast zwei Jahrzehnte der Herrscher über ein europaweites hegemoniales Reich, am 18. Juni 1815 bei Waterloo seine letzte und vernichtende Niederlage. Einen Monat später bestieg er in Portsmouth das britische Kriegsschiff, das ihn auf die weitentfernte Insel St. Helena im Südatlantik brachte. Die fünfundzwanzigjährige Epoche der Französischen Revolution und des napoleonischen Kaiserreiches war damit zu Ende, das vom Wiener Kongress austarierte System bestimmte für die nächsten 33 Jahre, weitgehend sogar bis 1867/70, streckenweise sogar für die folgenden 100 Jahre bis zum Ersten Weltkrieg, die europäische Politik.
Auf Vorschlag des russischen Zaren schloss dieser mit dem österreichischen Kaiser und dem preußischen König Ende September 1815 eine «Heilige Allianz», welche die vorangegangenen politischen Beschlüsse des Wiener Kongresses mit einem christlich-spirituell inspirierten Fundament brüderlicher Liebe und Solidarität untermauern sollte, de facto aber zum symbolischen Ausdruck der bald einsetzenden Politik der Unterdrückung aller konstitutionellen und liberalen Bestrebungen wurde.
Schon bald nach dem Ende des Wiener Kongresses sind seine Beschlüsse und ihre Umsetzung in den anschließenden 15 Jahren unter den Begriff der «Restauration» gefasst worden. Er verdankt sich dem vielbändigen Werk des Berner Politikers und Publizisten Karl Ludwig von Haller, das seit 1816 unter dem Titel «Restauration der Staats-Wissenschaft» erschien. Restauration meint die Wiederherstellung der alten Verhältnisse, die zwischenzeitlich durch revolutionäre und kriegerische Ereignisse zerstört worden waren. In der Tat knüpfte der Wiener Kongress, wie schon an seinem gesellschaftlichen Ambiente abzusehen ist, an die Zeit vor 1789 an, vor dem Umsturz der sozialen und politischen Ordnung des feudalen Rokokos durch die demokratischen und nationalistischen Bestrebungen der Französischen Revolution. Zentrales Element dieser Wiederherstellung des Ancien Régime war die Restauration des Monarchischen Prinzips, wie es 1820 in Artikel 57 der Wiener Schlussakte ausdrücklich verankert wurde. Zur Verteidigung dieses Prinzips der Legitimität von kraft Geburt ausgeübter Herrschaft von oben gegen Ideen der Veränderung von unten wurden in den Jahren nach dem Wiener Kongress polizeistaatliche Gesetze und Maßnahmen eingesetzt, die dem Begriff einer Restaurationszeit bis heute einen anstößigen Hautgout geben.
Doch verkennt man die Bedeutung des Wiener Kongresses, wenn man ihn in toto unter das Prinzip der Restauration rubriziert. Vielmehr wurden die alten, vorrevolutionären Verhältnisse in wichtigen Aspekten nicht nur modifiziert, sondern auch aufgegeben. Dazu gehörte vor allem die Verfassung Deutschlands. Das komplexe Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das 1806 nach tausendjähriger Existenz untergegangen war, wurde nicht erneuert, sondern durch den moderneren staatenbündischen Aufbau des Deutschen Bundes ersetzt. Die zahlreichen geistlichen Fürstentümer und weltlichen Herrschaften, die 1803 noch im Alten Reich mediatisiert worden waren, wurden trotz heftiger Bemühungen ihrer Lobbyisten auf dem Wiener Kongress nicht wiederhergestellt, so schrumpfte die Zahl der Territorien des Alten Reiches von 314 souveränen Herrschaften auf 39 Staaten des Deutschen Bundes. Die zahlreichen territorialen Flurbereinigungen, die in der napoleonischen Zeit insbesondere in Süddeutschland vorgenommen worden waren, führten zusammen mit den anschließend auf dem Wiener Kongress ausgehandelten Gebietsarrondierungen zu jenem territorialen Zuschnitt Deutschlands, der seine politische Karte bis in die heutige Zeit bestimmt.
Karl Ludwig von Haller verstand in seinem begriffsprägenden Buch unter Restauration die Wiederherstellung eines, wie er meinte, natürlichen Zustandes der patrimonialen Herrschaft, wie sie im Mittelalter bestanden hatte, und die Überwindung aller künstlichen, auf den Vertragsideen der Neuzeit beruhenden Staatskonstruktionen. Der Wiener Kongress ist diesem hochkonservativen, wenn nicht reaktionären Programm nicht gefolgt. Der Kongress und Fürst Metternich als sein leitender Staatsmann waren vielmehr bestrebt, durch Anpassungen an die gewandelten Zeitumstände die Grundstrukturen der alten Ordnung wieder zum Tragen zu bringen. Der Kongress blickte sowohl in die Vergangenheit, vor allem bei der Regelung der politischen Grundstrukturen, als auch in die Zukunft, vor allem bei territorialen und wirtschaftlichen Detailfragen. Die Wiener Zusammenkunft von 1814/15 spiegelte damit jene Ambivalenz von beharrenden Tendenzen und fortschrittlichen Entwicklungen wider, die zur Signatur der folgenden Jahrzehnte wurden.