Bruno Moebius
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Layout: Bruno Moebius
Covergestaltung: Karina Pfolz
Lektorat: Claudia Lengheim
© 2019, Karina Verlag, Vienna, Austria,
Bruno Moebius
Ich ließ mich rücklings auf das breite Bett fallen und stieß die Luft aus, bis der letzte Rest an verbrauchtem Atem meine Lungen verlassen hatte. Ich hatte gewusst, dass es schrecklich sein würde, aber nicht, wie schrecklich. Es war nicht die erste Katastrophe, in deren Sog ich mit Opfern, Hinterbliebenen und sonstigen Leidtragenden konfrontiert worden war, doch diesmal nahm es mich ärger mit als je zuvor.
Man meint, dass Journalisten mit den Jahren immer abgebrühter werden, ähnlich wie Notfallärzte, Polizisten, Feuerwehrleute oder Rotkreuzhelfer, doch an manches gewöhnt man sich nie und ich merkte soeben, dass ich mich nicht nur nicht daran gewöhnt hatte, sondern sogar noch empfindlicher geworden war.
Lag es daran, dass ich selbst eine schwere Zeit hinter mir hatte? Oder lag es vielmehr daran, dass ich mich noch mitten in dieser Zeit befand?
Meine Versetzung nach München war eine Art von Flucht gewesen, Flucht aus der Umgebung, die mich an die Trümmer meiner Ehe erinnerte, und aus dem Einflussbereich eines Mannes, mit dem mich zwar manches verband, der es aber verstanden hatte, mich an sich zu binden, als ich mich nicht mehr binden lassen wollte.
Es war auch die Flucht vor einem anderen Menschen gewesen, den ich verletzt hatte – gegen meine Absicht, aber unfähig, es nicht zu tun, als es an mir lag, zu ihm zu stehen und zu meiner Liebe zu ihm.
Es war eine Flucht vor mir selbst gewesen und sie dauerte immer noch an, wie ich nun wusste.
Ich hatte mich in München recht gut eingelebt, aber ein paar oberflächliche Affären und gelegentliche Besäufnisse konnten mich nicht darüber hinweg täuschen, dass ich mich einsam fühlte. Meine Arbeit, in die ich mich regelrecht gestürzt hatte, war ein Teil der anfänglichen Selbsttäuschung, denn wer den Journalismus im Blut hat, ist ein Junkie, der die Droge nicht lassen kann, auch wenn sie ihn kaputtmacht.
Also war ich unverzüglich in mein kleines Auto gestiegen und zum Flughafen gerast, als die Meldung von dem Absturz einer Chartermaschine beim Landeanflug auf den Franz-Josef-Strauß-Flughafen hereinkam.
Ich war schnell gewesen, aber nicht schnell genug, denn als ich ankam, war das Gelände schon gesperrt und ich hatte es allein deshalb geschafft, in die Ankunftszone zu gelangen, weil ich mich geistesgegenwärtig als verzweifelte Angehörige ausgab. Es hatte gereicht, mir die Haare zu raufen und meine Bluse weiter zu öffnen, als man es von einer anständigen Mittdreißigerin erwartete, und schon war ich dahin eskortiert worden, wo die wirklichen Angehörigen versammelt waren.
Und dann hatte ich, das kleine Diktiergerät in meiner Hand, da gestanden wie angewurzelt, unfähig, auch nur einen Schritt auf einen der Menschen zu zu machen, um ein paar Antworten auf meine Fragen aufzuzeichnen. Welche Fragen? Konnte man beim Anblick der rauchenden Trümmer jenseits der Landebahn auch nur eine einzige Frage stellen?
Irgendwie hatte ich es geschafft, aus dem Gebäude hinaus und zu meinem Auto zu gelangen, loszufahren, und dann hatte ich gespürt, dass ich am ganzen Leib zitterte. Es war mir unmöglich erschienen, in dieser Verfassung zurück nach München zu fahren, also hatte ich Freising, den nächstgelegenen Ort, angesteuert und diese Pension gefunden.
Ich atmete einige Male tief durch, dann setzte ich mich auf.
Nein, ich würde keinen meiner üblichen Berichte abliefern, auch wenn ich dazu keine Interviews gebraucht hätte. Ich konnte nicht mehr. Ich hatte endgültig genug!
Es musste noch etwas anderes im Leben geben, als die immer gleich erdrückende Verzweiflung in immer gleich unzureichenden Worten zu beschreiben, gemessen nach gedruckten Zeilen, für die man bezahlt wurde.
Mein Blick fiel auf die kleinen Bildchen von Heiligen, die ringsum an den Wänden hingen, auf die Bibel und ein zweites kleines Buch auf dem Nachtkästchen. Kurz entschlossen öffnete ich die Schublade des Schränkchens, um die Bücher darin zu verstauen. Ich legte sie überrascht wieder hin, als ich den Laptop darin sah.
Bisher hatte ich noch nie einen Laptop im Nachtkästchen eines Hotelzimmers vorgefunden und in dieser kleinen, abgelegenen Pension konnte das wohl keinesfalls zum Service gehören. Ich hob das Gerät aus der Schublade und legte es auf den Tisch in der Ecke des Zimmers. Ein grün leuchtender Mond auf dem Deckel verriet mir, dass sich der Computer im Schlafmodus befand, und ich schloss daraus, dass der vorherige Bewohner des Zimmers ihn wohl in der Schublade vergessen haben musste.
Mein erster Impuls war, das Ding zur Zimmervermieterin zu bringen, doch der Eigentümer des Laptops war bestimmt schon abgereist, sonst hätte ich das Zimmer ja nicht beziehen können, und da kam es doch wohl auf ein paar Minuten nicht an. Meine berufliche Neugier war erwacht und ich klappte den Deckel auf. Es dauerte etwa eine Minute, bis das Display zum Leben erwachte und das Bild einer attraktiven Frau mittleren Alters zeigte, die, in einen Bademantel gehüllt, auf einem Bett saß und dem Fotografen entgegenlachte. Ringsum waren Programmsymbole angeordnet, von denen mir die meisten vertraut waren. Ich klickte auf das Symbol für den Arbeitsplatz, und da erlebte ich die erste kleine Überraschung, denn außer den Verzeichnissen, die das Betriebssystem benötigte, war ein einziges zu sehen, das der Eigentümer des Laptops angelegt haben musste. Es hieß »Helene«.
Ich zögerte. Bis hierher konnte ich mich noch damit rechtfertigen, dass ich nach Hinweisen, wem der Computer gehören mochte, suchte, doch das Verzeichnis »Helene« roch förmlich danach, dass es sehr privat sein würde. Hatte ich nicht erst vor wenigen Minuten beschlossen, diesem Journalismus, der nicht vor intimen Gefühlen, vor privatem Leid haltmachte, adieu zu sagen? Hatte ich nicht festgestellt, dass ich mich in dieser schmutzigen Arbeit vergraben hatte, weil ich mich selbst schmutzig fühlte?
Ich klappte den Deckel zu und das Gerät versank wieder in Schlaf, doch der grüne Mond blinkte heftig. Die Batterie würde bald leer sein – und dann …
Würde man ein Passwort benötigen, um neu zu starten? Was dann?
Ich suchte in der Schublade nach einem Ladekabel, aber es war keines da. Ich brauchte dringend Strom für das Notebook! Mir fiel mein eigener Laptop ein, den ich im Auto hatte. Vielleicht passte ja das Ladekabel!
Ich rannte aus dem Zimmer, kehrte auf der Treppe um, weil ich den Autoschlüssel in meiner Handtasche hatte, die auf dem Bett lag, dann endlich hastete ich nach unten, riss die Notebooktasche an mich und rannte wieder nach oben.
Der Stecker des Ladekabels passte, und als ich das andere Ende in die Steckdose steckte, ertönte ein Piepton. Das Blinken des Mondes hörte auf.
Geschafft!
Mir wurde bewusst, dass ich das Gerät so unbedingt am Leben erhalten wollte, weil ich wissen musste, was sich in dem Verzeichnis »Helene« verbarg. Ich wollte kein Kapital mehr aus irgendwelchen privaten Geheimnissen schlagen; nur für mich wollte ich es wissen. Irgendetwas drängte mich dazu, als hätte der Laptop geradezu darauf gewartet, dass ich ihn entdecken würde.
Nun, da das Gerät wieder Strom hatte, kam ich ein wenig zur Ruhe. Ich holte eine Packung Zigaretten aus meiner Handtasche, rauchte mir einen Glimmstängel an und dann fiel mir erst ein, dass ich ja schon beim Betreten des Hauses überall Schilder mit dem Nichtraucherzeichen gesehen hatte. Auch hier im Zimmer, innen an der Tür, hing eines, aber auf der Veranda vor dem Zimmer sah ich ein kleines Tischchen, auf dem sogar zwei Aschenbecher standen.
Es war beinahe Ende Oktober, und obwohl es ein warmer, sonniger Tag gewesen war, war es jetzt, da die Sonne bald untergehen würde, schon ziemlich kühl geworden, also holte ich einen der Aschenbecher ins Zimmer herein und ließ die Tür einen Spaltbreit offen, um den Rauch abziehen zu lassen. Dann setzte ich mich an den kleinen Tisch und klappte den Deckel des Laptops erneut auf. Ich klickte auf das Ordnersymbol, worunter »Helene« stand, und als sich ein neues Fenster öffnete, zeigte es mir weitere Ordnersymbole mit den vier kleinen Vorschaubildern, die verrieten, dass sich Fotos oder Ähnliches darin befinden mussten. Jeder dieser Ordner trug einen Namen, in dem »Helene« vorkam.
Davon abgesehen war nur noch das Symbol einer einzigen Textdatei mit der Bezeichnung »Mails« zu sehen. Ich schwankte kurz zwischen der Neugier, wie Helene wohl aussehen mochte, und der, was in den Mails zu lesen wäre, und ich entschied mich für die Textdatei, da ich davon ausging, dass das Foto auf dem Desktop wohl Helene zeigte und ich somit ohnedies schon einen ersten Eindruck von ihrem Äußeren hatte.
Also klickte ich auf das Dateisymbol und die Datei öffnete sich …
*
Mittwoch, 15. April 2004
Liebe Helene,
ich wünsche Dir zu Deinem Geburtstag alles Liebe und Gute!
Ich hatte erst vor wenigen Tagen einen triftigen Grund, von Dir zu sprechen, und das war wohl ein Fingerzeig von oben, dass ich Dir nach so langer Zeit endlich einmal sagen sollte, dass du einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben bist, wo Du auch sein magst.
Lebe das Leben, denn Du hast nur eins, und genieße es, denn es ist viel zu kurz, um verschwendet zu werden!
Dein Paul.
*
Mittwoch, 15. April 2004
Hallo, lieber Paul,
dein E-Mail hat mich schon sehr überrascht, und es freut mich auch wahnsinnig, von dir zu hören.
Was treibst du denn so, wo lebst du?
Ich habe 1984 den Absprung aus meiner Ehe geschafft und mich 1985 auf den Weg gemacht um ein oder zwei Saisonen in Griechenland zu bleiben. Ich bin noch immer da, auf der schönen Insel Chios, bin seit 1986 verheiratet mit einem Griechen! Ich habe eine Shiatsu-Ausbildung gemacht – mit Diplom und allem Drum und Dran – und habe eine Praxis für verschiedene Körpertherapien.
Wenn du Lust hast, sieh dir meine Homepage unter helenewolf dot com an; da kannst du sehen, was ich so treibe.
Ich reise noch immer viel herum. Meine neue große Liebe ist Nepal, vor allem die Berge dort.
Ich bin richtig wandersüchtig.
Ich komme auch immer wieder gerne nach Wien, um Freunde zu sehen und um mich weiterzubilden.
Eben war ich zwei Monate in Wien und München. Ich würde mich sehr freuen, dich bei meinem nächsten Besuch zu sehen.
Schick’ doch bei Gelegenheit eine Telefonnummer, unter der ich dich dann erreichen kann. Ich weiß zwar nicht, wann ich wieder nach Österreich kommen kann, denn ich merke schon einen Geschäftsrückgang durch die Wirtschaftskrise, aber die Saison hat eben erst begonnen; das erwartete Ostergeschäft ist allerdings ausgeblieben.
Mich würde natürlich der triftige Grund, von mir zu sprechen, interessieren, und wie du zu meiner E-Mail-Adresse gekommen bist.
Ich fühle mich geehrt, dass ich ein so wichtiger Mensch für dich war und bin.
Ich hoffe, ich höre wieder von dir!
Anbei noch ein paar Fotos von der Umgebung, in der ich lebe.
Ich hoffe, du erkennst mich noch; ich bin leider auf den meisten Fotos nur sehr klein zu sehen.
Alles Liebe,
Helene
*
Datum und Inhalt der Mails waren in die Textdatei kopiert worden, und ich wusste nun, dass die beiden Briefschreiber Paul und Helene hießen, einander schon sehr lange kannten, aber zumindest seit einiger Zeit vor 1984 bis vor ein und einem halben Jahr keinen Kontakt zueinander gehabt hatten, ehe der Glückwunsch zum Geburtstag abgeschickt worden war. Wie war dieser Paul bloß darauf gekommen, nach offensichtlich mehr als zwanzig Jahren ohne Kontakt zu Helene, ihr zum Geburtstag zu gratulieren? Helene hatte sich das auch gefragt und ich war gespannt, ob und wie Paul darauf antworten würde, also scrollte ich nach unten und las weiter.
*
Samstag, 18. April 2004
Liebe Helene,
ich hatte schon vor längerer Zeit die Idee, dich mithilfe des Internets aufzuspüren, und es war auch nicht allzu schwer. Google macht’s möglich.
Daher wusste ich auch schon von deiner Shiatsu-Sache und kannte deine E-Mail-Adresse, aber erst jetzt konnte ich mich dazu durchringen, mich tatsächlich bei dir zu melden. Dein Geburtstag, den ich nie vergessen habe, war mir ein willkommener Anlass; vom anderen Anlass erzähle ich später.
Deinen »Absprung« aus der Ehe habe ich noch mitbekommen – wir sind einander ja eines Abends zufällig in Wien begegnet, falls du dich erinnerst, aber da war keine Gelegenheit, viel miteinander zu reden, weil Du in Begleitung warst. Gerüchteweise habe ich später auch vernommen, dass Du möglicherweise in Griechenland sein könntest, und ich fand, das passte zu Dir – besser, als in Wien zu ersticken.
Ich lebe noch immer in Wien. Und manchmal denke ich, dass ICH hier ersticke.
Glücklicherweise bin ich seit etwas mehr als einem Jahr »zweite Besetzung« in einem Tourneetheater, das heißt, dass ich schauspielern darf, wenn die »erste Besetzung« krank oder sonst wie verhindert ist, und da haben mich einige kurze Tourneen kreuz und quer durch Deutschland, Österreich und die Schweiz geführt.
Ich male auch noch immer.
Bald, nachdem wir uns getrennt hatten, nahm mich eine Galerie unter ihre Fittiche, und einige Jahre lang konnte ich so einigermaßen von meiner Kunst leben.
Warum auch immer – mit der Malerei lief es irgendwann nicht mehr so recht, also entschloss ich mich, zur Gebrauchsgrafik zu wechseln, was ich bis dahin immer verabscheute, und seither arbeite ich als freiberuflicher Werbegrafiker und Webdesigner.
Dadurch habe ich die Möglichkeit, meinen Arbeitsalltag flexibel zu gestalten, was mir sehr wichtig ist, vor allem wegen der Schauspielerei, aber auch, weil ich nicht in einem starren Betrieb eingesperrt sein will, wenn es nicht sein muss.
Ein paar Jahre war ich mit einer Werbetexterin zusammen. Es war eher eine praktische Zweckbeziehung von beiden Seiten als eine Liebesbeziehung, und etwa ein Jahr, nachdem wir das Private ausgeklammert hatten, lernte ich meine jetzige Ehefrau kennen. Es lief einige Jahre lang sehr gut, dann gab’s eine schwere Krise, dann lief es wieder einige Jahre recht gut, aber irgendwie versandete die Beziehung unter dem Einfluss von verschiedenen Problemen. Als vor knapp drei Jahren noch Zeit gewesen wäre, das Ruder herumzureißen, wurde ich ziemlich krank, konzentrierte mich mehr auf mein eigenes Problem als darauf, meiner Frau die Stütze zu sein, die sie brauchte, und nach einer relativ schweren Operation vor zwei Jahren lief in unserer Beziehung von ihrer Seite aus so gut wie nichts mehr.
Ich will dich nicht mit Details langweilen, deshalb schreibe ich viel oberflächlicher, als ich bin – nur so viel: Sie hat sich bereits vor etwas mehr als einem Jahr »entliebt« und in einen anderen verliebt. Ich erfuhr vor einigen Monaten davon. Erst sah es für mich so aus, als wäre noch etwas zu retten, aber es sah nur so aus – für sie war die Sache abgeschlossen. Das habe ich vor etwa zwei Monaten begriffen, und seither bin ich dabei, mir ein neues, eigenes Leben zu schaffen. Zurzeit wohne ich noch in unserer gemeinsamen Wohnung mit Blick auf einen schönen Park, aber sobald ich kann, ziehe ich aus.