Chris Doelderer, Regina Winkler

"Wenn Sie mich das heute fragen..."

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

WENN SIE MICH DAS HEUTE FRAGEN….

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WENN SIE MICH DAS HEUTE FRAGEN….





Wenn Sie mich das heute fragen…Nun diese Ohrfeigen erschienen mir auf der Skala des Schmerzes an der untersten Stufe angesiedelt. Vielmehr war es der Geruch bzw. der Anblick der handelnden Person der mich maßlos störte. Verhagelten sie ihm am Ende gar die angedachte Wirkung, stand groß in seinen Augen.

Diese Ohrfeigen, immer und immer wieder diese Ohrfeigen.

… Sie konnten oder wollten nicht aufblühen.

Aber alles der Reihe nach…

An einem Morgen, der mir wie immer viel zu früh daherkam, stand Bruder Paul, oder war es sein Gehilfe Bruder Protus, an meinem Bett.

Nein sie waren keineswegs Angehörige meiner Blutsverwandtschaft, vielmehr waren sie Eigentum einer entbehrlichen Glaubensgemeinschaft. Den Schulbrüdern wurden hohe Moralvorstellungen attestiert und wer diesbezüglich defizitär erschien, fand sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem ihrer Läden wieder…auch ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, meine Zelte hier aufschlagen zu müssen.

Also einer der Bekutteten, wie wir sie nannten stand an meinem aus stahlrohrgestähltem dünnmatratzigem Bett. Langsam schlich sich die knochige Hand des Gottgesandten unter die leicht urinverschmutzte Decke.

Mit geschlossenen Augen, die sich freiwillig dem offiziellen Anblick einer feuchten Möse verwehrten, erlaubte sich der Pater mein noch so junges Glied zu berühren.

Kalte Hand, bemerkte ich nicht sonderlich erschrocken. Mein in das Kissen vergrabenes Gesicht, machte mir die Identifikation unmöglich. Diese nur scheinbar leblosen Grapscher hatten die beiden mir bekannten falschen Aposteln zu gleichen Teilen. Diese blutleere Hand machte seine Handlung noch verwerflicher, wie ich aus ersten Wichsereien selbst erlernt hatte, ist eine warme Hand sehr viel zuträglicher.

Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen ob mir damals schon jeglicher Gehorsam abhandengekommen war, wie vielleicht anderen Menschen Stock oder Hut. Laut meiner älteren Geschwister dürfte diese Zeit der Startschuss der Stirnrunzel Jahrzehnte meiner Eltern gewesen sein.

Mein Vater begann auch unter einen schlechten Mundgeruch zu leiden, aber den lass ich mir nicht auch noch anhängen, denn auf keinen Fall! Immer wenn er auf mich eine Spur zu aufgeregt einredete, kam diese Abstand erzwingende Fahne. Das zurückweichen wurde stets als Respektlosigkeit gewertet und dafür gab es zur Aufmunterung eine oder zwei Ohrfeigen. Eher zwei!

Die hatten aber nicht dieselbe Qualität, wie die von Bruder Egidius im Heim, wenn ich ihm meine Bedenken wegen der unkontrollierten Hände schilderte.

Das Heim bot auch noch einer anderen Spezies Unterschlupf. Den Präfekten! Ein Erzieher im Allgemeinen und manchmal ein Sadist im Besonderen. Auch diesbezüglich hatte ich die zweite Wahl bekommen, zumindest für endlos scheinende zwei Jahre. Ich denke nicht, dass nur ein Haar ungekrümmt geblieben war, ganz abgesehen von den übermäßig durchblutenden Wangen.

Ein Beispiel dazu ist nicht nötig, weil am Ende euer Getuschel, dass es wohl Gründe gegeben haben müsse, mir am Arsch vorbeigeht.


SIE


Sie saß da die Beine übereinandergeschlagen und sah aus dem Fenster.

Während die Eisenbahn ruhig und gleichmäßig dahinfuhr, angelte sie sich vom Boden ihre Handtasche und öffnete sie.


Missmutig verzog sie den Mund und dachte sich: Das gleiche Chaos, wie in meinem Kopf!


Sie fing an zu suchen und legte Handy, Lippenstift, gebrauchte und ungebrauchte Taschentücher auf den Sitz neben ihr. Das Buch, das sie schon seit Monaten lesen wollte, legte sie daneben und endlich hatte sie gefunden, wonach sie suchte.


Sie schnalzte mit der Zunge und fischte einen Apfel aus der Tasche. Den Rest der Sachen packte sie wieder hinein und schloss den Reißverschluss. Sie biss in den Apfel und war froh, allein im Abteil zu sitzen und ihren Gedanken nachhängen zu können. Dicke Regentropfen klatschten gegen die Fenster. Mit geschlossenen Augen saß sie da und dachte nach. Wie immer hatte der Wecker um sechs Uhr morgens geklingelt und sie war rasch aufgestanden.


Diese Stille am Morgen gab ihr das Gefühl, sich auf einer einsamen Insel zu befinden. Als erstes brühte sie sich eine Tasse Kaffee und anschließend öffnete sie die Fenster in Küche und Wohnzimmer. Mit der Kaffeetasse in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand, stellte sie sich ans Küchenfenster und blickte in den Garten.


Wann werde ich mit diesem Mist wohl jemals aufhören? dachte sie ärgerlich.


Als sie die Zigarette fertig geraucht hatte, schnippte sie diese einfach zum Fenster hinaus und schlang ihre Arme um den Oberkörper. Das Gefühl am Nordpol zu stehen überkam sie, aber es war eigentlich gar nicht so schlimm diese morgendliche Kälte zu spüren.


Schnellen Schrittes ging sie zum Radio und schaltete es ein. Sie mochte Musik am Morgen, aber nicht zu laut. Wie jeden Tag goss sie sich noch eine zweite Tasse Kaffee ein und ging damit ins Bad. Dort zog sie sich das T-Shirt über den Kopf und stieg rasch aus dem Slip, danach stellte sie sich unter die Dusche und drehte das Wasser auf. Es musste sehr warm sein, denn sie hasste kaltes Wasser. Schnell verteilte sie das Duschgel auf ihrer Haut, um es gleich wieder abzuspülen.


Man konnte viel über Frauen sagen, die Stunden im Bad verbrachten, aber sie gehörte mit Sicherheit nicht dazu. Nachdem sie sich die Zähne geputzt hatte, zog sie sich an - warf einen Blick auf die Uhr, um festzustellen, dass sie schon wieder irgendwie spät dran war.


"Ich kann machen was ich will, im Endeffekt bin ich immer in Eile.", ärgerte sie sich.


Sie nahm den Schlüssel und ging zum Auto, fuhr zum Bahnhof, fand mit Glück gleich einen Parkplatz und rannte zum Zug. Und nun saß sie da mit geschlossenen Augen, die sie abrupt aufriss, als die Eisenbahn mit lautem Quietschen zum Stillstand kam. Sie stand auf, schnappte sich ihre Jacke und stieg aus.



MÄCHTIG WIRKT DIE ZEIT



Diese nie gegangenen Spuren verraten. Du nahmst Kurs zu den verlassenen Konflikten.

Noch einmal Eins werden, alles reformieren…, Schmelzwasserschwimmer!

Wissend um die vermissten Aufrechten hinter brüchiger Herzenswand, um ihre müden Blicke... die zu Boten wurden, Falten zu Kurieren.

Glutnester des Zweifelns dringen vor, geleckte Wunden im Gepäck. Besänftigt spreizest du ihre Schleusentore, milder Erguss deckt dies letzte Narbenfeld.

Ein Zwischenzeitenhoch steht nun zu Buche, lag es nur an deinem Sein?

Hoch dekoriert fließt neuer Mut, kein Zaudern stört den zarten Keim. Glückbesudelt kehrst du zurück, verwurzelst tief in weitem Land.

Nackt hängst du an deinem Fenster…verneigst dich vor den demaskierten Pfaden… lauerst, kauerst und wartest bis deine verwitternde Hoch Zeit kalbt.



DU MUSST JETZT GEHEN



Es war acht Uhr morgens, als Jana die Eingangshalle des Krankenhauses betrat. Sie lief die Treppe hinauf in den ersten Stock und ging langsam den Flur entlang.


Obwohl sie jeden Tag hier war, konnte sie sich nie an den Geruch von Erbrochenem und Urin, der ständig in der Luft lag gewöhnen. Sie steuerte das letzte Zimmer am Ende des Ganges an…, atmete tief durch, klopfte kurz an und betrat den Raum.


Helene lag in ihrem Bett und schlief. Sie war bis auf die Knochen abgemagert, nur ihr Bauch war unförmig aufgebläht. Ihre Haut hatte schon lange eine unnatürliche, intensive Gelbfärbung. Ihre dürren Hände waren übersät von blauen Flecken, die von unendlich vielen Infusionsnadeln herrührten, aber damit war es jetzt vorbei.


Das einzige, das sie jetzt noch bekam, war Vendal um sie möglichst schmerzfrei zu halten. Jana holte sich einen der Sessel, die für die Besucher bereitgestellt waren und stellte ihn ans Bett. Sie legte ihre Handtasche darauf, zog sich ihre Jacke aus und hängte sie über einen der Garderobenhacken neben der Türe. Wie jeden Tag ging sie zum Tisch, auf dem eine Blumenvase mit Sonnenblumen stand, leerte das Wasser aus und füllte frisches nach. Als sie die Blumen wieder zurückgestellt hatte, öffnete sie ihre Handtasche, holte ihr Buch heraus, setzte sich hin und schlug es auf. Sie fing an zu lesen, merkte aber schnell, dass sie sich überhaupt nicht auf das Gelesene konzentrieren konnte und legte das Buch neben sich auf den Boden.


Ihre Gedanken kreisten um das Telefonat, dass sie um sieben Uhr morgens mit dem Oberarzt der Onkologie geführt hatte.


„Jana, es tut mir unendlich leid, aber es geht ihr sehr schlecht, ich glaube es ist besser, wenn Sie so schnell wie möglich kommen. Das einzige, das wir noch tun können, ist es ihr so leicht wie möglich zu machen.“

„Wie lange noch?“, hatte sie ihn gefragt.


„Nach ihren Vitalfunktionen zu urteilen, höchstens 24 Stunden. Jana, helfen Sie ihrer Schwester zu gehen, loslassen zu können.“


Sie hatte aus dem Fenster in den Garten gesehen und sich gewünscht dieses Gespräch nicht führen zu müssen. Nachdem sie aufgelegt hatte, duschte sie, zog sich an und fuhr los.


Und nun saß sie an Helenes Bett und dachte daran zurück, wie harmlos doch alles begonnen hatte. Ihre Schwester hatte im Winter über Schmerzen in der Schulter geklagt, es aber auf das ständige Schneeräumen geschoben, das in diesem schneereichen Winter unvermeidbar war. Als die Schmerzen nicht besser wurden, ging sie zu Ihrem Hausarzt, der eine Entzündung vermutete und diese mit Tabletten behandelte, aber auch das änderte nichts an den Schmerzen. Helene ging zum Orthopäden, der sie zur Physiotherapie schickte, …ohne Erfolg! Zu guter Letzt landete sie im Krankenhaus und da endlich wurde die Ursache gefunden. Ein Tumor auf der Leber, der genau um die Hauptschlagader gewachsen war. Die Ärzte hier, hatten es noch niemals mit einem Tumor in derartiger Größe zu tun gehabt.


Sie wurde an die Uniklinik verwiesen, wo sie mit der Chemotherapie anfing. Es ging ihr sehr schlecht, ihre schulterlangen, blonden Haare fielen ihr aus.

Die Mundschleimhäute trockneten aus und sie hatte ständig Entzündungen im Mund, die ihr das Essen zur Hölle machten. Ihre Haut juckte, wurde ganz fleckig und sie erbrach sich ständig. Helene, war bei einer Größe von 1,70 m auf 40 kg abgemagert.


Zum Erstaunen aller hatte sich der Tumor abgekapselt. Nun wurde eine Operation erwogen.


Helenes Kommentar darauf: “Ich habe dem Arzt gesagt, wenn er mir den Tumor herausgeschnitten hat, will ich ihn sehen. Ich möchte wissen, womit ich es zu tun gehabt habe und werde mich von ihm verabschieden und ihm dankbar dafür sein, was er mich in dieser Zeit gelehrt hat.“


Die Operation wurde nicht durchgeführt. Nachdem ihre Befunde bis nach Amerika

weitergeleitet worden waren, erklärte ihr der Arzt, dass er keine Möglichkeit sah, den Tumor operativ zu entfernen. Trotz aller Rückschläge hatte Helene die Hoffnung nie aufgegeben, sie brach die Chemotherapie ab und vertraute sich der Alternativmedizin an.


Nicht ein einziges Mal sprach sie von der Möglichkeit sterben zu können, das hing vermutlich auch mit ihrer 15-jährigen Tochter Lisa zusammen. Sie hatte Lisa nachdem die Beziehung zu deren Vater gescheitert war jahrelang allein aufgezogen, was die Beiden auf magische Art zusammenschweißte. Sie hatten ein inniges und herzliches Verhältnis zueinander.


Vor 7 Jahren war ihr dann Alex begegnet. Ein lustiger, gutaussehender Mann, der sie zum Lachen brachte. Die beiden hatten sich ein Haus gekauft, aber nie geheiratet. Alex wollte Lisa bei sich behalten, dass wusste Jana, sie hatten darüber gesprochen. Vor zwei Wochen war Lisa mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert worden. Das Mädchen war schlichtweg verzweifelt, dass Helene so krank war und es war ihre Art dagegen zu rebellieren. Alex und Jana holten sie ab. Der behandelnde Arzt konnte sich einen bissigen Kommentar bezüglich der Aufsichtspflicht nicht verkneifen. Alex starrte zu Boden und sagte kein Wort.


Da ergriff Jana die Initiative und erklärte dem Arzt die Situation. Sichtlich peinlich berührt bat der sie einen Moment zu warten und kam mit der Visitenkarte eines Kinderpsychologen zurück. Er wünschte ihnen alles Gute und verabschiedete sich.


Jana sah auf die Uhr, es war bereits elf Uhr vorbei. Sie beschloss in die Krankenhauscafeteria zu gehen, um eine Kleinigkeit zu essen. Alex und Lisa wollten dann wie üblich vorbeikommen. Helenes Freund würde mit dem Mädchen wieder nach Hause fahren, da Lisa ihre Mutter nicht sterben sehen sollte und auch um Helene auch nicht misstrauisch zu machen. Sie wollte ihren Tod einfach nicht wahrhaben und kämpfte wie eine Löwin.


Alex liebte sie, respektierte das und litt. In der Cafeteria setzte sich Jana mit einem Sandwich und einem Kaffee an einen der freien Tische. Sie aß das halbe Sandwich und trank den Kaffee, danach stand sie auf und ging zum Zimmer ihrer Schwester zurück.


Helene öffnete die Augen und lächelte ihre Schwester an: “Ist dir so langweilig, dass du jeden Tag hier aufkreuzen musst?“


Jana lachte: “Bild dir da mal bloß nichts ein, bin einzig und allein wegen der attraktiven Ärzte hier, die ständig um dich herumtanzen.“


„Dann würde ich sagen, versprüh mal schnell deinen Charme, denn lange bin ich sicher nicht mehr hier, ich gedenke in nächster Zeit wieder Alex und Lisa das Leben zur Hölle zu machen.“


Die Schwestern liebten ihre trockenen Wortspielereien und trieben es damit besonders gerne bei Familienfeiern zum Exzess, um sich später über die entsetzten Verwandten zu amüsieren. Mittlerweile war es zwölf Uhr mittags und eine der Pflegehelferinnen brachte das Mittagessen.


Helene winkte ab: “Wollt ihr mich hier mit Gewalt umbringen? Wenn mich der Krebs nicht umbringt, dann sicher die schlabbrige Krankenkost hier!“


„Ach Helene, essen Sie doch wenigstens die Suppe.“, bettelte die Schwester.


„Nein danke, sobald ich hier raus bin, führt mich mein erster Weg in ein Hauben Lokal, damit ich das Trauma, dass ich von eurem Essen bekommen habe unter Einsatz von 100 Euro verarbeiten kann.“


Sie lachte. Die Schwester seufzte und nahm das Tablett wieder mit. Jana versorgte Helene nun mit dem neuesten Klatsch und Tratsch über gemeinsame Bekannte und versuchte ihre Schwester wenigstens zum Trinken zu bewegen, aber auch das lehnte Helene ab.


Um 14 Uhr ging die Türe auf und Lisa stürmte dicht gefolgt von Alex herein auf ihre Mutter zu, umarmte sie und gab ihr einen Kuss.

Alex, der eine Sporttasche in der Hand hielt, sagte mit einem Blick auf die Tasche: “Heute ist Waschtag Schatz, ich nehme dann mal deine schmutzigen Klamotten mit.“


Er öffnete den Kasten und fing an Kleidung in die Tasche zu stopfen.


Als er Helenes Jacke herausnehmen wollte, atmete diese hörbar durch: „Alex, die Jacke bleibt hier, womit stellst du dir vor soll ich nach Hause gehen?“


Er hing sie wieder in den Kasten und wandte sich an Jana.


“So ab in die Cafeteria mit dir, wir kommen in zwei Stunden nach und trinken mit dir noch einen Kaffee, bevor wir wieder nach Hause fahren.“


Dankbar nickte Jana und machte sich auf in Richtung Cafeteria, um auf andere Gedanken zu kommen und danach einen kleinen Spaziergang im Krankenhauspark zu machen. Gegen 16. °° kehrte sie wieder zurück, setzte sich an einen der größeren Tische und wartete auf Alex und Lisa. Die Beiden waren pünktlich und setzten sich zu ihr. Um Helenes Tochter nicht zu beunruhigen, sprachen sie über allgemeine Themen, wie das Wetter, die Arbeit und die neuesten Nachrichten.


Um 17°° stand Alex auf, sagte zu Lisa sie möge doch schon den Parkschein entwerten und wandte sich als diese weg war Jana zu.


„Ich danke dir dafür, dass du bei ihr bleibst. Ich habe nicht die Kraft dazu und ich denke, ich sollte bei Lisa sein. Du bist stark und wirst sie begleiten, dass weiß ich und ich spüre auch, dass sie mich nicht dabeihaben will.“


Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und ging. Als Jana im Zimmer angekommen war, schlief ihre Schwester wieder. Die Phasen, in denen sie munter war, wurden immer kürzer, dafür war sie bis jetzt nie verwirrt, oder apathisch gewesen, das lag wohl daran, dass sie sich nur so viel Morphium geben ließ, damit die Schmerzen erträglich waren. Sie atmete tief durch, nahm ihr Buch und begann zu lesen. Draußen war es schon dunkel geworden, als Helene um 20°° die Augen aufschlug.


Jana sah sie an und lächelte: “Na du Schlafmütze, wenn das so weitergeht, sollte ich mir eine Bibliothek mitnehmen.“


Helene starrte sie eigenartig an, dieser Blick ging Jana durch Mark und Bein. Plötzlich zog ihre Schwester rasselnd die Luft ein, sie wollte etwas sagen, doch es gelang nicht.

Jana sprang auf, drückte auf die Glocke und nahm Helenes Hand: “Es kommt gleich jemand“.

Die Türe flog auf und ein Arzt gefolgt von einer Schwester stürmte herein.


Er sah Helene an und sagte zur Krankenschwester: “Schnell, den Sauerstoff, sie bekommt keine Luft.“


Diese streifte Helene die Sauerstoffmaske über und der Arzt gab ihr eine Spritze. Helenes Gesicht entspannte sich und sie schloss die Augen.


Der Doktor und Jana gingen vor das Zimmer. „Jana, es wird jetzt rapide schlechter, ihre Vitalfunktionen gehen zurück, es war schon erstaunlich, dass sie bis jetzt noch so hier war, verstehen Sie, was ich meine?“


Jana nickte. „Bleiben Sie bei ihr, sie sollte nicht allein sterben, das sollte wohl niemand.“


Sie sah ihm an, wie leid es ihm tat, aber sie war auch dankbar, das ganze Team hier hatte alles Menschen Mögliche für ihre Schwester getan. Sie nickte dem Arzt zu,

drehte sich wieder um und ging zurück. Jana setzte sich an Helenes Bett, nahm deren Hand und wartete. Es war still…, schrecklich still. Jana legte ihren Kopf auf Helenes Bett und schloss die Augen. Sie war so müde, dass sie schnell einschlief.


Ein Geräusch ließ sie hochschrecken, Jana wusste momentan nicht wo es herkam, bis sie es wieder hörte ein lautes: “Puh“.


Sie sah zu Helene, die sich die Sauerstoffmaske vom Gesicht genommen hatte und grinste: “Habe ich dich erschreckt?“


Jana lachte, sie sah auf die Uhr, es war drei Uhr morgens. Ihre Schwester lag mit blassem Gesicht da…, Schweiß stand auf ihrer Stirn, Jana ergriff ihre Hand – diese war eiskalt.


„Kannst du bitte mir noch eine Decke holen, mir ist furchtbar kalt“, flüsterte Helene.


Jana holte aus dem Kasten eine Wolldecke. „Soll ich dir ein bisschen vorlesen?“

Ihre Schwester lächelte und nickte. Jana holte das Buch hervor und las. Als sie das nächste Mal zu Helene sah, war diese schon wieder eingeschlafen. Um fünf Uhr morgens riss Helene die Augen auf, sie verzog das Gesicht und Jana sah ihr an, dass sie furchtbare Schmerzen hatte. Sie läutete der Schwester, die kurz darauf mit einer Spritze in der Hand ins Zimmer kam. Sie gab Helene die Spritze und setzte ihr die Sauerstoffmaske wieder auf. Helene wehrte sich nicht, betäubt schlief sie wieder ein.

Als sie das nächste Mal die Augen aufschlug, war es bereits sieben Uhr morgens. Jana hatte sich vom Kaffeeautomaten einen Kaffee geholt und setzte sich gerade wieder zu ihr ans Bett.


Etwas war anders. Helene sagte nichts, sah Jana nur mit großen, schimmernden Augen an. Sie weinte. Jana nahm ihre Hand und streichelte sie. Helene wollte etwas sagen, Jana nahm die Sauerstoffmaske ab und beugte sich zu ihrer Schwester, aber sie konnte nicht verstehen, was diese ihr so verzweifelt mitteilen wollte.


„Helene es ist alles gut, mach dir keine Sorgen. Du darfst gehen, wenn du möchtest, wir werden uns um deine Tochter kümmern.“


Helene sah sie lange an, sie holte zweimal tief Atem und dann war es still.


Jana streichelte ihr über das Gesicht, küsste sie, nahm ihre Hand und sah sie lange an. „Du hast es geschafft, ich bin unglaublich stolz auf dich.“


Sie wischte sich die Tränen weg, stand auf und ging hinaus – sie musste Alex anrufen. Es war acht Uhr morgens.



BRANDSATZ



Während die U-Bahn mit einem Luftschwall als Vorbote in die Station einfuhr, bemühte sich ein Mann jenseits der 80 mit kleinen aber festen Schritten sich einer der Automatiktüren zu nähern. Zur falschen Zeit am falschen Ort, mag es ihm durch den Kopf gegangen sein.

Die Dynamik der Menschenmenge, in der er sich befand, spülte ihn jedoch rechtzeitig in einen der Wägen, bevor sich die Türen wieder schlossen. Im Inneren herrschte eine Melange aus Gedränge, starren Blicken, Gemurmel und Hinweisschildern, die darauf aufmerksam machten, Älteren und gebrechlichen Menschen die Sitzplätze zu überlassen!

Noch sieben Stationen und dann umsteigen, versicherte sich der betagte Mann selbst, während er sich nach einer Sitzgelegenheit umsah. Am Ende des Wagens erspähte er mit zusammengekniffenen Augen einen freien Platz, auf dem sich nur eine Schultasche befand und drei jugendliche Burschen, die daneben saßen und gelangweilt ihr Spiegelbild im Fenster betrachteten.


Als der Mann versuchte die Tasche auf den Boden zu stellen, fuhr ihn der mögliche Besitzer mit der Bemerkung an: „Die Tasche bleibt wo sie ist!“, das erntete dem Burschen bei seinen Freunden ein Grinsen ein, begleitet von einem Abklatschen vieler Hände.


„Warum wirfst du dich nicht gleich vor die Bahn?“, meinte einer der drei und fügte hinzu, dass dann sein lausiges Dasein wenigstens ein gutes Ende hätte.


Unterstützend seiner Forderung trat er in regelmäßigen Abständen mit seinem Stiefel auf den Knöchel des Mannes. Applaus der beiden anderen unterstrich den Rat. Der alte Mann stand da hielt sich an eine der Halteschlaufen fest und ließ die Beleidigungen unaufgeregt über sich ergehen. Die verblassende Tätowierung, die durch den etwas zurückgeschobenen Ärmel sichtbar wurde, schien aus längst vergangener Zeit zu sein. Sie bestand aus zwei gleichlautenden Buchstaben.


Seine Gedanken konnte man hingegen nicht erkennen.

Das war meine Zeit als ich jung war und entschied, wer mit welchem Zug wohin fährt!

Eine Durchsage des U-Bahn Führers holte ihn in die Gegenwart zurück.


„Endstation, bitte alles aussteigen!“


Die Türen sprangen auf und alle Fahrgäste verließen die Wägen.

Die Jugendlichen rannten laut lachend zur Rolltreppe, ihrer ungewissen Zukunft entgegen. Der alte Mann wartete nun inmitten einer neuen Menschenmenge auf seine Anschlussbahn nach Hause.

Nur leicht blutete sein Knöchel.



DER MORD



Er stand vor dem Spiegel im Badezimmer und betrachtete sich. Was er sah, gefiel ihm außerordentlich und nicht nur ihm, sondern auch vielen Frauen. Sein Körper war durchtrainiert, nicht zu muskulös, sondern eher der Body eines Ausdauersportlers.

Er war groß – 1,87 m, hatte schwarzes, etwas längeres Haar und unglaublich blaue Augen. Seine Lippen waren sinnlich, die Nase klassisch, aber nicht zu klein.


Ja du bist schön, dachte er sich und verzog den Mund zu einem hämischen Lächeln.


Er ging in die Küche, goss sich eine Tasse Kaffee ein, setzte sich an seinen Schreibtisch und öffnete den Laptop. Während der PC hochfuhr, kreisten seine Gedanken um den bevorstehenden Abend.