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„Political Scholar“ – darunter wird in diesem Buch ein ganz bestimmter Typus des Wissenschaftlers verstanden, der durch das „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) bis ins Innerste geprägt wurde und der weit mehr war, als die heutige Berufsbezeichnung des „Politikwissenschaftlers“ meint. Diese Wissenschaftler wurden durch politische Verfolgung und Flucht, durch Exil und die Drohung des Holocaust aus ihrem angestammten Wirkungsfeld herausgerissen und mussten sich in einem anderen Umfeld neu orientieren. Es waren die Reflexion auf diese Bedingungen sowie die daraus resultierende Neujustierung des Verhältnisses von Theorie und Praxis, die aus ihnen einen Epochentypus gemacht haben.
Alfons Söllner skizziert die historische Formierung des „Political Scholar“, portraitiert seine einflussreichsten Vertreter und fragt nach ihrem Platz in der weiteren Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhunderts.

Alfons Söllner ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte und lehrte bis 2012 an der Technischen Universität Chemnitz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Wirkungsgeschichte der intellektuellen Hitler-Flüchtlinge: besonders Frankfurter Schule, Emigration der Politikwissenschaftler und Verwestlichung der politischen Kultur nach 1945.

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© ebook-Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2019
Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)
Coverabbildung: Franz & Inge Neumann, Golde & Leo Löwenthal,
Herbert & Sophie Marcuse, ca. 1937; © Foto Umschlagseite:
Peter und Harold Marcuse.
Für Überlassung des Fotos auf der Umschlagseite bedanken wir uns bei
Peter und Harold Marcuse und Peter-Erwin Jansen (Vertreter der
Rechteeigentümer).
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung
(auch fotomechanisch), der elektronischen Speicherung auf einem
Datenträger oder in einer Datenbank, der körperlichen und unkörperlichen
Wiedergabe (auch am Bildschirm, auch auf dem Weg der Datenübertragung)
vorbehalten.

ISBN 978-3-86393-548-1
Auch als gedrucktes Buch erhältlich, ISBN 978-3-86393-090-5

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de

Inhalt

Vorwort

I. Ursprünge: Religion und Politik in der Weimarer Republik

„Angelus Novus“ – Ein Versuch über „Benjamins Politik“

Der junge Leo Löwenthal – Vom neo-orthodoxen Judentum zur aufgeklärten Geschichtsphilosophie

Religion und Politik beim jungen Leo Strauss – Ein Königsweg in die politische Ideengeschichte?

II. Die Formierung des „Political Scholar“ in der Emigration (Erste Generation)

Vom Reformismus zur Resignation? Franz L. Neumann als Archetypus

Zwischen Europa und Amerika – Hannah Arendts Wanderungen durch die politische Ideengeschichte

Leo Löwenthal – Literatursoziologe der Frankfurter Schule

III. Übergänge und Perspektiven

Ideengeschichte, ihre Bedeutung für die Anfänge der deutschen Politikwissenschaft

Der Essay als Form politischen Denkens – Hannah Arendt und Theodor W. Adorno nach dem Zweiten Weltkrieg

„Agenten“ der „Verwestlichung“? Zur Wirkungsgeschichte deutscher Hitler-Flüchtlinge

IV. Politische Intellektuelle in der Bundesrepublik Deutschland (Zweite Generation)

„Mehr Universität wagen!“ – Helmut Schelsky als Hochschulpolitiker

Kurt Sontheimer: politikwissenschaftlicher Journalist

Jürgen Habermas als politischer Intellektueller

Drucknachweise

Vorwort

„Political Scholar“ – der titelgebende Begriff des hier vorgelegten Buches wurde mit Absicht nicht ins Deutsche übersetzt. Dahinter steht die Überzeugung des Verfassers, dass der „political scholar“ nicht nur etwas anderes, sondern weit mehr war, als es die heutige Berufsbezeichnung des „Politikwissenschaftlers“ meint. Was die ideengeschichtliche Tradition als den Konflikt zwischen Theorie und Praxis gekannt hat, hat im „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) sowohl eine existentielle Vertiefung als auch eine bisher unbekannte Verschärfung erfahren. Beide Faktoren haben den „political scholar“ bis ins Innerste geprägt, der damit zu einer bestimmten Gestalt des Wissenschaftlers wurde, zum Epochentypus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dieser Wissenschaftler wurde durch politische Verfolgung und Flucht, durch Exil und die Drohung des Holocaust aus seinem angestammten Wirkungsfeld herausgerissen und musste sich in einem ungewohnten Umfeld, oft im westlichen Ausland neu orientieren. Wenn er am mitgebrachten politischen Engagement festhielt, so erforderte dies ganz besondere Kraftanstrengungen: Waren sie erfolgreich, dann erwuchsen daraus große Wirkungsmöglichkeiten; scheiterten sie jedoch, dann konnte der Sturz in die Resignation besonders tief sein.

Es waren die Reflexion auf diese zeitgenössischen Bedingungen sowie die daraus resultierende Neujustierung des Verhältnisses von Theorie und Praxis, die zur Signatur des „political scholar“ geworden sind. Und vielleicht kann man sein Geheimnis ebenso wie das von ihm ausgehende Faszinosum durch eine seltsame Gleichzeitigkeit, durch die Koexistenz von Engagement und Enttäuschung erfassen. Es war kein Geringerer als Theodor W. Adorno, der in einem seiner letzten Radiovorträge darlegte (und sich dabei der Heidegger’schen Sprechweise auffällig annäherte), dass „Resignation“ weniger der Gegenpol des Engagements sei als vielmehr in einer besonderen Beziehung zum Denken überhaupt stehe. Freilich darf man diese Reflexion nicht vom zeitgeschichtlichen Kontext ablösen. Sie zielte auf die Abwehr des studentenbewegten „Aktionismus“ und war kein Widerruf des politischen Intellektuellen überhaupt. Es dürfte für die Zeit um „1968“ nicht schwer sein, ganz ähnliche Formulierungen bei Hannah Arendt zu finden, die Heidegger bekanntlich die Treue hielt und trotzdem zur Inkarnation des „political scholar“ wurde.

Damit sind zwei Köpfe genannt, die man ohne Umschweife als die Ikonen der politischen Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert bezeichnen kann: Sie sind es von der evidenten Wirkungsgeschichte her, aber auch wegen der vorgängig philosophischen – durchaus verschieden konditionierten – Imprägnierung ihres Schreib- und Argumentationsstils. In der vorliegenden Sammlung spielen sie gleichwohl nur eine prominente Nebenrolle. Das thematische Hauptkapitel rückt nämlich mit Franz L. Neumann einen dritten Kopf ins Zentrum, der wirkungsgeschichtlich im Schatten der beiden anderen verblieb und der trotzdem noch besser geeignet ist, den kairos (Karl Jaspers) zu verdeutlichen, aus dem der „political scholar“ entsprungen ist. Neumann, der nicht die Chance hatte, die Nachkriegsentwicklung längerfristig mitzugestalten, ist nach der Überzeugung des Verfassers der „Archetypus“ des politischen Intellektuellen im 20. Jahrhundert, und er hat diese Sonderstellung in einem exponierten, aber wenig rezipierten Vortrag aus dem Jahr 1952 eindringlich, sowohl lebens- wie theoriegeschichtlich begründet. Der Leser sollte daher mit dem Neumann-Kapitel beginnen, weil es das Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis denkbar konkret entfaltet und dennoch in eine gewisse Resignation mündet.

Damit ist sicherlich ein zum Widerspruch reizendes Szenario eröffnet, weil das auch behaupten heißt, dass alle anderen Figuren, die in diesem Essayband auftreten, in dieser oder jener Form Variationen dieses Typus sind. Das bedeutet zunächst, so begrenzt die hier behandelten Beispiele auch sein mögen, dass den intellektuellen Flüchtlingen aus Hitler-Deutschland – etwa im Vergleich zu Frankreich und England – eine Schlüsselstellung in der Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhunderts zukommt. Aber auch für die nachfolgenden Generationen macht der Gedanke Sinn, dass sie in einer bestimmten Relation zu ihm verbleiben. Sie mögen ihm nacheifern oder widersprechen, und selbst wenn sie ihn verachten, stehen sie zumindest moralisch in seinem Schatten. Und vielleicht kann man intern noch einmal ein Spannungsverhältnis subtilerer Art aufmachen: Während z. B. Franz Neumann sich die existentielle Vertiefung des „political scholar“ ohne konkretes, d. h. praktisches Engagement nicht vorstellen wollte, beschränkte Hannah Arendt ihre Definition des politischen Handelns auf seine „Sichtbarkeit“ im öffentlichen Raum – und doch führten beide etwas anderes im Schilde als der heutige Politikwissenschaftler, wenn er von der „Implementation einer politischen Idee“ spricht.

Das Eingangskapitel skizziert eine Problemlage, die der eigentlichen, der formativen Phase des „political scholar“ um ein Jahrzehnt vorausgeht. So wenig sie in einem Sammelband ausformuliert werden kann, besteht die zweite „starke Behauptung“ des Verfassers darin, dass man die Entstehung sowohl der Kritischen Theorie als auch anderer Kanonbildungen – etwa der „political theory proper“, wie sie Leo Strauss später polemisch gegen die amerikanische „political science“ gestellt hat – nur verstehen kann, wenn man ihr theologisches Wurzelgeflecht zu entwirren versucht. So verschieden sich diese Ursprünge bei Leo Strauss und dem älteren Walter Benjamin auch darstellen und so sperrige Denkwege daraus auch abgeleitet wurden – es könnte Leo Löwenthals intellektuelle Jugendgeschichte sein, an der sich der Übergang von einem orthodox-jüdischen Ausgangspunkt zu den geschichtsphilosophischen Grundlagen der kritischen Gesellschaftstheorie mit besonderer Prägnanz studieren lassen, eine delikate ideengeschichtliche Konstellation, die beim späten Horkheimer in veränderter Form wieder in Erscheinung tritt. Und dies rechtfertigt es auch, im Überblick über das Gesamtwerk von Löwenthal den „Literatursoziologen der Frankfurter Schule“ auszumachen und ihm somit einen Platz in der Geschichte des „political scholar“ zuzuweisen. Hier mag man die Anekdote anführen, dass diese beiden, Neumann und Löwenthal, Anfang der 1920er Jahre in Frankfurt am Main einen „sozialistischen Studentenbund“ gegründet haben.

Das andere Ende dieser Konstellation, sozusagen die „Auflassung“ der klassischen Phase des „political scholar“, ist nicht weniger vieldeutig, aber weitaus folgenreicher. So eindeutig das Ende des Dritten Reiches politisch auch war – von „Übergängen“ ist deswegen zu reden, weil der Eintritt in die Epoche des „Kalten Krieges“ zwar einer radikalen Umkonstellierung des politischen Globus gleichkam, aber die ideengeschichtlichen Schlussfolgerungen dennoch in viele und verschiedene Richtungen wiesen. Hier können nur zwei Stränge aufgenommen werden, an denen der „political scholar“ mehr oder weniger erfolgreich mitgewirkt hat, nämlich die Gründung der westdeutschen Politikwissenschaft auf der einen Seite und die Ausdifferenzierung der Kritischen Theorie auf der anderen Seite, die bei den Remigranten eine andere Richtung nahm als bei den in den USA Verbliebenen. Während für den ersten Strang das Spannungsfeld zwischen Re-education und amerikanischer political science maßgeblich wurde, ging die „Frankfurter Schule“, die erst jetzt so genannt wurde, eigene Wege. Für beide Entwicklungsstränge aber wurde die Orientierung am Modell der westlichen Demokratie – und spiegelbildlich gesehen: die kritische Distanz gegenüber den östlichen „Volksdemokratien“ – zum gemeinsamen Bezugspunkt, weil es zur westlichen Kulturhegemonie keine Alternative gab. Für die Remigranten, die in einer von der NS-Vergangenheit überschatteten Kultur zu operieren hatten, bedeutete das eine Steigerung ihrer Einflussmöglichkeiten, die sie für die „Verwestlichung“ der Bundesrepublik Deutschland nutzten. Eine kreative Balance zwischen Demokratiepraxis und politischer Theorie stellte sich gleichwohl nicht sofort ein.

Ein Theorie-Praxis-Problem gab es also auch noch in der zweiten Generation der westdeutschen Politik- und Sozialwissenschaft, und sei es nur in der Form, dass es sehr verschiedene Rezeptionsweisen und damit auch verschiedene Chancen für die bundesrepublikanische Anverwandlung des „political scholar“ gab. Das Letztere könnte man gut daran festmachen, dass Hannah Arendts Totalitarismus-Buch schon 1955 auf Deutsch herauskam, während die Übersetzung von Franz Neumanns „Behemoth“ bis 1977 warten musste, ein Buch, das Adorno 1967 als „das tiefste und wahrste Werk über den Nationalsozialismus“ pries. Dazu passt als eigenwilliger, aber auch erhellender Kommentar, dass die gegenseitige Abneigung zwischen Adorno und Hannah Arendt bekanntlich lebenslang anhielt, obwohl sich zeigen lässt, dass ihre Schreibweise, d. h. ihr eigentliches intellektuelles Handwerkszeug schon Ende der 1940er Jahre auffällige Ähnlichkeiten aufwies: Der Essay wurde zum wichtigsten Instrument, um der politischen Kritik eine eingängige Form zu verschaffen. Taxiert man von hier aus die gegenwärtige Ausstattung der politischen Philosophie, so erhält man den Eindruck, als ob das Bild von Adorno sich in der Rezeption wieder mehr dem des reinen Kulturkritikers angenähert hat, während Hannah Arendt allenthalben als die Grande Dame des politischen Denkens gefeiert wird. Verglichen mit der Brillanz und dem philosophischen Freistil dieser beiden konnte ein tatsachenfixierter, ein so nüchterner und uneitler Denker wie Franz Neumann nur verlieren.

Das abschließende Kapitel, in dem einige typische, aber auch markante Vertreter der bundesrepublikanischen Politik- und Sozialwissenschaft portraitiert werden, mag „angehängt“ wirken. Da es sich um die Lehrergeneration des Verfassers handelt – bei Kurt Sontheimer habe ich 1977 in München promoviert, und zwar ausgerechnet mit einer Arbeit über die frühe Kritische Theorie –, ist eine subjektive Tönung der Darstellung wohl unvermeidlich. Dennoch wird hoffentlich deutlich, dass das Format des „political scholar“, besonders seine normative Ausstattung einerseits immer noch präsent war, andererseits aber das Insistieren auf Theorie sehr verschieden verteilt war. Dass der historische Übergang aus den „Mühen des Gebirges“ in die „Ebenen“ der demokratischen Praxis (Bertolt Brecht) nicht nur zu einer Nivellierung, sondern geradezu zur Theoriefeindschaft führen konnte – dafür ist Kurt Sontheimer besonders signifikant. Aber sein Beispiel zeigt auch, dass für eine nachhaltige „Erziehung zur Mündigkeit“ (Adorno) journalistische Wendigkeit und eine verständliche Sprache von großem Nutzen sind. In mancher Hinsicht das Gegenbeispiel ist Jürgen Habermas, heute sicherlich der „theoriestärkste“ Intellektuelle im deutschen Sprachraum, dessen große internationale Ausstrahlung vielleicht auch damit zu tun hat, dass er sich dem Bannkreis der Frankfurter Dioskuren Horkheimer/Adorno zu entziehen verstand und trotzdem in jeder der öffentlichen Kontroversen präsent war, die in der Bundesrepublik und in Europa ausgefochten wurden.

Noch ein Wort zur Form des vorliegenden Buches: Die hier abgedruckten Texte sind mit wenigen Ausnahmen in den vergangenen sechs Jahren entstanden, d. h. nach meiner aktiven Zeit als Professor für politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Chemnitz. Wie man sieht, hat der Autor es auch nach seiner Emeritierung nicht verstanden, sein Lebensthema, die politische Wirkungsgeschichte der intellektuellen Hitler-Flüchtlinge, hinter sich zu lassen. In der vorliegenden Sammlung schlägt sich dies in manchen Überschneidungen mit früheren Publikationen nieder, aber vielleicht erzeugt der etwas wehmütige Blick zurück eine eigene Stimmungslage, die den zwölf Essays einen neuen und gemeinsamen Charakter verleiht. Sie sind zu verschiedenen Anlässen und oft sogar beiläufig entstanden: als Vortrag auf einer Konferenz, als Beitrag zu einem Lexikon oder als nur mehr privat motivierte Reflexion. Sie folgen keiner einheitlichen Darstellungsweise, sondern variieren die Form der ideengeschichtlichen Portraitskizze. Dennoch ist aus ihrer thematischen Ordnung und ihrer Zusammenstellung zu den vier Kapiteln so etwas wie ein historisches Mosaik entstanden, das der unübersichtlichen Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhunderts eine erhellende Perspektive hinzufügt.

Die Anregung zu diesem Buch stammt von Irmela und Axel Rütters, bei der Erstellung des Druckformats hat mir Mareike Fricke tatkräftig geholfen. Die im Anhang aufgeführten Verlage haben mir durch ihre zuständigen Lektoren freundlicherweise die Nachdruckerlaubnis erteilt. Ihnen allen möchte ich einen herzlichen Dank aussprechen.

I. Ursprünge: Religion und Politik in der Weimarer Republik

„Angelus Novus“ – Ein Versuch über „Benjamins Politik“

„Walter Benjamins ,Angelus Novus‘“ – das war für mich lange Zeit nur mehr ein politischer Erinnerungsrest aus der Dämmerung der Studentenbewegung. Doch als ich vor einigen Jahren zum Kongress der Internationalen Walter-Benjamin-Gesellschaft in Frankfurt1 eingeladen war, machte ich die ziemlich deprimierende Erfahrung einer Insider-Gemeinde aus theologisch interessierten Jungakademikern, emeritierten Salonmarxisten und immerhin neugierigen Philosophiestudierenden. Und als ich mich davon durch den Blick in die Benjamin-Literatur etwas erholen wollte, fand ich mich schnell in einem wahren Labyrinth wieder. Ich sah mich konfrontiert mit einer hochtourigen akademischen Deutungsindustrie, die bereits mehrere Konjunkturen durchlaufen hatte und zuletzt, im Zuge der kulturwissenschaftlichen Institutionalisierung des postmodernen Zeitgeistes sogar in eine Schleife der Repolitisierung eingetreten war.

Ist der „Angelus Novus“ zu einer Ikone geworden, die aus einem jüdischen Intellektuellenschicksal der Zwischenkriegszeit den Mut der Verzweiflung schöpft und daraus akademisches Kapital für die Gegenwart schlagen will – oder taugt er auch als Überbringer von Lichtblicken? Gibt es einen Ariadnefaden, der wenigstens aus dem Labyrinth der Benjamin-Literatur herausführt? Ich vermute ihn in der Suche nach möglichen Alternativen zu der geschichtsphilosophischen Grundierung, die Benjamins Denken damals geprägt hat und die es heute – vielleicht aus anderen Gründen – so unwiderstehlich wie missverständlich macht. Diese Suche wird freilich nur dann erfolgreich sein, wenn man sich eingesteht, dass Benjamins Denken selber nichts weniger als ein Labyrinth war, so unheimlich, dass vielleicht nur kritische Engelsgeduld aus dem herausführt, was man „Benjamins Politik“ nennen könnte.

Konjunkturen der Benjamin-Rezeption

Man kann die mittlerweile unüberschaubare Wirkungsgeschichte Benjamins kaum aus der Eindeutigkeit eines Flüchtlingsschicksals erklären, das durch einen selbstmörderischen Kurzschluss an der Grenze nach Spanien sein Ende fand und über dessen Symbolkraft natürlich kein Zweifel besteht. Offensichtlich war es aber neben der disziplinären Fülle und der programmatischen Multimedialität seines Werks auch eine fundamentale Zweideutigkeit, die dem Faszinosum Benjamin immer neue Nahrung zugeführt hat. Im Zentrum von Benjamins Leben und Schaffen stand, so werde ich im Folgenden behaupten und mich dabei der Blickbeschränkung des politischen Ideenhistorikers schuldig machen, eine philosophische Auffassung von Geschichte, die sich zwischen Marxismus und Theologie nicht entscheiden konnte und deren Aufklärungspotential sich – möglicherweise deswegen – in der Zwischenkriegszeit bereits erschöpft hatte. Dass er den analogen Widerspruch zwischen politischem Handlungswillen und messianischer Heilserwartung auch nicht lösen wollte, ist eine Behauptung, die vor einem auf der Hut sein muss: vor dem Zynismus des Überlebens, der zu verkennen droht, wie dicht das jüdische Exil gerade in seiner französischen Endphase vor dem Holocaust zu stehen kam.

Kristallisiert findet sich diese verzweifelte Konstellation bekanntlich an exponierter Stelle, in den berühmten Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ von 1940, die Benjamins letzte Aufzeichnungen waren.2 Sie sind sein Testament geworden und ein Schlüssel für seine Wirkungsgeschichte. In diesen Thesen wiederum, die Benjamin Gretel Adorno mit dem ihm eigenen Charme als einen „auf nachdenklichen Spaziergängen eingesammelten Strauss flüsternder Gräser“ ankündigte, aber ausdrücklich nicht publiziert haben wollte, weil sie „dem enthusiastischen Missverständnis Tor und Tür öffnen würden“, 3 findet sich unter der Ziffer Neun der einigermaßen rätselhafte Passus, in dem Benjamin den „Angelus Novus“ von Paul Klee als Vorlage nimmt, um seine Auffassung von Geschichte in einer Allegorie zu verdichten. So wurde aus einer Zeichnung, die Benjamin im Jahr 1921 selber erworben und seitdem auf allen weiteren Lebensstationen mit sich geführt hatte, der „Engel der Geschichte“.

Die Deutungen dieses Denkbildes sind Legion. Dennoch gibt es – offen oder verschwiegen – einen Konsens, der sich als eine Art Generalklausel für die Interpretation der „Thesen“ festgesetzt hat. Danach steht der „Angelus Novus“ nicht nur für eine Kritik der Fortschrittsidee, die von Benjamin mit dem sozialdemokratischen Reformglauben und der Kontinuitätsvorstellung des Historismus identifiziert wird, sondern verkörpert ein katastrophisches Geschichtsbild: Die Apokalypse ist bereits eingetreten; denn in den schreckensgeweiteten Augen der Engelsfigur stellt sich die Geschichte insgesamt als eine einzige Serie von Katastrophen dar. Zwar beschwört der Text an anderer Stelle eine Gegenkraft, ein „Katechon“, könnte man in theologischer Terminologie sagen, nämlich den revolutionären Kampf des Proletariats und die dazugehörige Theorie des historischen Materialismus. Aber dessen Aussichten bestehen eigentlich nur in der pathetischen Beschwörung eines wenig konkreten „Ausnahmezustandes“, der in der „messianischen Stillstellung des Geschehens […] eine revolutionäre Chance im Kampf für die unterdrückte Vergangenheit“ sucht, aber sich des Sieges ebenso wenig sicher sein kann wie des Zieles. Zwar gibt es eine „messianische Kraft“ in der Geschichte, aber sie ist schwach und nur „als Splitter in die revolutionäre Jetztzeit eingesprengt“, ebenso wie dem historischen Materialismus auch durch die Theologie nicht mehr auf die Beine zu helfen ist; denn die ist „heute bekanntlich klein und hässlich und darf sich ohnehin nicht mehr blicken lassen“.4

So unwiderstehlich die in diesen Formulierungen wirksame Strahlkraft war, so verschieden gestaltete sich ihre Brechung in den drei Phasen der Benjamin-Rezeption, die sich mittlerweile unterscheiden lassen: Für die Ausgangslage, sozusagen die heroische Phase geht man nicht fehl, wenn man die posthume Wirkung Benjamins durch den erbitterten Erbschaftsstreit zwischen Adorno einerseits und Hannah Arendt andererseits charakterisiert, sekundiert und schließlich in gewisser Weise geschlichtet durch die biographischen Interventionen von Gershom Scholem, des engsten der Freunde von Walter Benjamin. Spielte hier der „Angelus Novus“ eine Art Vermittlerrolle, die sich dann nicht zufällig in der Titelgebung für den zweiten Band der deutschen Erstausgabe niederschlug,5 so setzte in der zweiten Phase der Benjamin-Rezeption eine forcierte Politisierung ein. Jetzt tritt die marxistische Seite an Benjamins Geschichtsauffassung hervor, die nicht in der Engelsgestalt selber, aber in anderen – und durchaus gewichtigen Passagen der „Geschichtsphilosophischen Thesen“ greifbar ist und in der Regel auf den Einfluss von Bertolt Brecht und der Lettin Asja Lacis zurückgeführt wird.

In einer dritten Phase schließlich, die durch die kritische Gesamtausgabe und eine immer detailliertere Werkphilologie geprägt ist, zeigt sich eine Entwicklung, die nichts weniger als ein Paradox darstellt, jedenfalls wenn man an Benjamins eigene Auffassung des „dialektischen Bildes“ zurückdenkt, deren vielleicht eindrucksvollste Verkörperung eben der „Engel der Geschichte“ selber ist: Waren die „Geschichtsphilosophischen Thesen“ mit „Jetztzeit“ aufgeladen, d. h. auf die Aktualität des antifaschistischen Kampfes zu Beginn des Zweiten Weltkrieges hin geschrieben, so ergab sich aus der Logik der akademischen Rezeption eine Kanonisierung, die eine beinahe unendliche Differenzierung nach innen mit einer zunehmenden Glättung der Außenwirkung erkaufte. So ist es kein Zufall, dass die vielbändige und jetzt abgeschlossene „Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur“ ein eigenes und sogar ausführliches Stichwort „Angelus Novus“ aufführt,6 ebenso wie den Autoren des voluminösen Benjamin-Handbuchs von 2006,7 so verschieden ihr Zugang sonst auch sein mag, ein stiller Konsens in eine ähnliche Deutungsrichtung unterlegt scheint.

Walter Benjamin auf dem hohen Sockel einer akademisch abgesicherten Gedächtniskultur? Und sein „Angelus Novus“ als Ikone einer weihevollen Verehrung, die längst internationale Ausstrahlung erreicht hat? In der Tat möchte man fragen, ob nicht mittels der hochgehängten Figur Walter Benjamins so etwas wie ein korrekt-linkes Geschichtsbild festgeschrieben zu werden droht, ob im „Angelus Novus“ nicht zum Erinnerungsbild erstarrt ist, was am wenigsten der intellektuellen Intention entsprach, die Benjamin 1940 mit ihm im Sinn hatte. Wenn der „Angelus Novus“ tatsächlich zur Ikone geworden ist – muss sie nicht entsakralisiert, in Benjamins Worten „entauratisiert“ werden? Diese Frage gewinnt in jüngster Zeit an Dringlichkeit, weil sich im Zuge der postmodernen Benjamin-Lektüre eine erneute Politisierung abzeichnet, die zuerst über Jacques Derrida vermittelt und dann durch den italienischen Philosophen Giorgio Agamben zur Mode geworden ist.8

Auffällige Merkmale dieser Reaktualisierung sind ihre dezidiert internationale Ausrichtung, die Gleichzeitigkeit mit dem Aufkommen der militanten globalisierungskritischen Bewegungen sowie eine hohe Internetpräsenz des damit verbundenen Diskurses, die heute als besonders sensibler Seismograph für die Veränderungen des politischen Bewusstseins zu gelten hat. Noch auffälliger aber und eine signifikante Verschiebung des Blicks auf Walter Benjamin ist die penetrante Fixierung auf das Problem der Gewalt, was sich nicht zuletzt darin ausdrückt, dass Walter Benjamin regelmäßig als eine Art intellektueller Zwillingsbruder von Carl Schmitt figuriert. Die politische Gegenwart erscheint als die Wiederholung der „geistesgeschichtlichen Lage“ der Weimarer Republik, genauso düster und ähnlich krisensüchtig, nur eben globalisiert. Der dazu passende Text stammt nicht mehr aus den Thesen von 1940, sondern findet sich in Benjamins „Kritik der Gewalt“ von 1921, der einzigen längeren Abhandlung zur Politik, die er geschrieben hat.9

Gershom Scholem – Fürsprecher des „Angelus Novus“

„Wenn man von einem Genius Walter Benjamins sprechen darf, so war er in diesem Engel konzentriert, und in dessen saturnischem Lichte verlief Benjamins Leben selber, das auch nur aus ,Siegen im Kleinen‘ und ,Niederlagen im Großen‘ bestand […].“10 Was die Stellung von Klees Engelsbild in Benjamins Lebensgeschichte betrifft, so ist Gershom Scholem die nicht zu übertreffende Informationsquelle, er ist zugleich die maßgebliche Interpretationsautorität vor allem für den jüdisch-theologischen Resonanzraum seines Werks. Scholem hat Benjamins Werdegang bis zu seiner Emigration nach Palästina aus größter Nähe begleitet, er blieb mit ihm in intensivem Briefwechsel über alle Stationen der Wanderjahre vor und nach 1933 ebenso verbunden, wie er den Kontakt in der späteren Pariser Zeit nicht abreißen ließ, auch wenn ihn jetzt Benjamins Sympathien zu kommunistischen Intellektuellen zunehmend irritierten.

Vielleicht wird man der ganz besonderen Beziehung zwischen dem angehenden Kaballaforscher in Jerusalem und dem in jeder Hinsicht „freischwebenden Intellektuellen“ (Karl Mannheim), zu dem Benjamin nach dem Scheitern seiner Habilitation 1925 geworden war, am ehesten gerecht, wenn man sich vor Augen hält, dass Scholem ihm Ende der 1920er den Ausweg nach Palästina ganz konkret vorbereitet hat. Die Wahrnehmung dieses Angebots hätte Benjamin vermutlich das Leben gerettet. Wie berechtigt Scholems Fürsorge war, hinter der die Einfühlung in Benjamins ausgesprochen prekäre Lebensverhältnisse stand – die lange Abhängigkeit von den Eltern, das Scheitern seiner Ehe, der Kampf ums finanzielle Überleben als Journalist –, ist z. B. daraus ersehen, dass er der einzige war, der von Benjamins ersten Selbstmordplänen im Jahr 1932 Kenntnis erhielt. Kein Zufall auch, dass er bei dieser dann abgewendeten Existenzkrise den „Angelus Novus“ als Erbstück zugewidmet bekam.11

Aus solcher Intimität ergaben sich die höchst aufschlussreichen Deutungen der Engelsfigur, die Benjamins persönliche Tragik betonten, einschließlich des Blicks hinter die Fassade eines Charakters, der zu Geheimniskrämerei und zu produktiver, aber auch destruktiver Selbstmystifikation neigte. Scholem ist sicherlich darin zuzustimmen, dass es über alle Schaffensperioden hinweg – oder besser: unter ihnen hindurch – eine kontinuierliche Unterströmung an Themen, Motiven und Denkfiguren aus der Tradition der jüdischen Theologie gab, die natürlich durch Scholems Forschungen zur jüdischen Mystik gefärbt waren. Nicht zu unterschätzen ist aber auch das Fortwirken der religiösen oder quasi-religiösen Überzeugungen aus der Jugendzeit vor und nach 1914, die durch eine Fülle von Kontakten zu jüdischen Studentenzirkeln dokumentiert sind und sich in den meist unpubliziert gebliebenen „metaphysisch-geschichtsphilosophischen Schriften“ der Zeit um 1920 niedergeschlagen haben.12

Wie aber steht es um Scholems Zeugenschaft für Benjamins politische Ansichten, für das, was ich „Benjamins Politik“ genannt habe? Ich möchte diese Frage nicht an den späten „Thesen über den Begriff der Geschichte“ diskutieren, sondern an den Ausgangspunkt zurückgehen, an dem Klees Engelsbild in Benjamins Lebensgeschichte sozusagen eintritt. Aus dem Briefwechsel mit Scholem ergibt sich, dass Benjamin, der bereits vorher ein Faible für den Maler Paul Klee hegte, im Frühsommer 1921 den „Angelus Novus“ in München erwarb. Sofort wird das ebenso kryptische wie erklärungsheischende Engelsbild zum Anlass einer lebhaften „Angelologie“, teils um die bereits im Gang befindlichen philosophischen Debatten fortzuführen und theologisch zu vertiefen, teils auch um sich in ironisch-liebenswürdigen Frotzeleien zu ergehen, die zwischen den ungleichen Freunden wieder die gebotene Distanz herstellen. Nicht zu vergessen auch das lange und recht eingängige Gedicht, mit dem Scholem dem Älteren den theologischen Sinn der Engelsfigur nahebringen will (eine Strophe daraus wird Benjamin 1940 seiner Neunten These voranstellen!).13

Dieses Werben fruchtet auch wirklich, freilich auf einem anderen Gebiet, auf dem der Jüngere noch nicht mithalten kann: Der „Angelus Novus“ beflügelt Benjamins Publikationspläne – der Name, den Klee seiner Zeichnung gegeben hat, wird titelgebend für ein ehrgeiziges Zeitschriftenprojekt, das bekanntlich unrealisiert geblieben ist. Erhalten ist aber der Prospekt dieses „Angelus Novus“, in dem Benjamin sich in ebenso allgemeinen wie esoterischen Spekulationen darüber ergeht, wie er seine Zeitschrift aufzumachen gedenkt und vor allem, was er damit bewirken will. Auffällig an Benjamins Programmatik ist ein seltsames Gemisch: einerseits höchste Ansprüche an die philosophische Kritik, andererseits starke Reserven gegenüber dem Publikumsgeschmack, ein Widerspruch, der durch den beschwörenden Rekurs auf eine wenig konkrete „Aktualität“ geschichtsphilosophisch aufgelöst, oder besser: eingelöst werden soll. Benjamin spricht von „dem Ephemeren“ und illustriert es durch den flüchtigen Charakter der talmudischen Engel, von denen es heißt, dass sie „nachdem sie vor Gott ihren Hymnus gesungen, aufhören und in Nichts vergehen“.14

Gedankengänge wie diese, vor allem die Gleichzeitigkeit von angestrengter Argumentation und dunkler Anspielung haben als typisch für Benjamins Denkstil um die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zu gelten. Und vielleicht kann man die Texte aus diesen Jahren insgesamt durch eine merkwürdige Widerspruchskonstellation charakterisieren: Angefangen von dem noch in das Jahr 1917 zurückreichenden „Programm der kommenden Philosophie“ und eindringlich verdichtet in der Studie zu „Schicksal und Charakter“ (1919) sieht man ein Denken am Werk, das vom Methodenideal des Neukantianismus ausgeht, diesem eine überscharfe Pointe gibt, um von hier aus den Absprung in eine „andere Wirklichkeit“ zu machen, d. h. „eine noch kommende neue und höhere Art der Erfahrung“ einzuklagen15, die regelmäßig und vergleichsweise unvermittelt in theologische Gefilde führt. Da ist die Rede von der „reinen Erkenntnis“, als deren „Inbegriff die Philosophie Gott denken kann und muss“16, da wird eine pathetische Charakterlehre entworfen, die zwischen mythischer Schuldverstrickung und schicksalhaftem Glück aufgespannt ist17. In der Einleitung zu den Baudelaire-Übersetzungen von 1923 wird die „hohe“ Lyrik (wie die von Hölderlin, George oder eben Baudelaire) durch ihre Beziehung auf die „reine Sprache“ definiert, die ihrerseits auf die „Offenbarung“ verweist.18 Am rätselhaftesten aber, weil bis zur Unkenntlichkeit verknappt liest sich das sog. „Theologisch-politische Fragment“, in dem die Kategorie des „Messianischen“ an oberster Stelle rangiert19. Dieser apokryphe Text von 1920 ist deswegen von besonderem Interesse, weil er manche der späteren geschichtsphilosophischen Gedanken beinahe wörtlich vorwegnimmt. Nicht umsonst hat Adorno, auch gegen den Einspruch Scholems, der es besser wusste, auf der zeitlichen Nähe dieses frühen Fragments zu den späten „Thesen zum Begriff der Geschichte“ beharrt. Und wenn Benjamin in dem zitierten Brief an Gretel Adorno nicht weniger kryptisch andeutet, dass er die Thesen „an die zwanzig Jahre bei mir verwahrt, ja, verwahrt vor mir selber gehalten habe“, so wird er vor allem dieses Fragment und die in ihm festgehaltenen Chiffren im Sinn gehabt haben. In einem sachlichen Sinn hat Adorno also recht behalten.20

Zur Kritik der „Kritik der Gewalt“

Wenn es zutrifft, dass theologische Spuren in Benjamins Denken und Schreiben zu Beginn des Zweiten Weltkriegs einerseits allpräsent, andererseits schwer dingfest zu machen sind – wie stellt sich diese delikate Konstellation dar, wenn man nach den frühen Manifestationen dessen sucht, was man „Benjamins Politik“ nennen könnte? Gibt es sie überhaupt, und wenn ja, wie fügt sie sich in Benjamins Schaffensbiographie ein? „Fernere Attraktionen in Berlin: eine kleine Klee-Ausstellung am Kurfürstendamm und ,Zur Kritik der Gewalt‘ in den Korrekturbögen“, vermeldet Benjamin seinem Freund Anfang April 1921,21 kurz bevor er in München den „Angelus Novus“ erwirbt und sich dann frohgemut nach Heidelberg aufmacht, wo er Kontakte für sein Zeitschriftenprojekt knüpft, die Möglichkeiten einer Habilitation an der Universität sondiert und sich auf das Erscheinen seines ersten größeren Aufsatzes freut. In denselben Wochen versucht er sich der Jugendfreundin Jula Cohn wieder anzunähern, eine vergebliche Liebeswerbung, die seiner Ehe zum Verhängnis werden wird, aber ihn auch zu seinem großen Essay über Goethes Wahlverwandtschaften anregt, mit dem er sich, wenige Jahre später und vermittelt über Hugo von Hofmannsthal, als Literaturkritiker etablieren wird.

Nach der Publikation seiner Schweizer Dissertation verfolgte Benjamin größere Pläne zum Thema der Politik, aber fertiggestellt wurde nur ein einziger Text, die um 1920 geschriebene „Kritik der Gewalt“. Was so ein isoliertes Stück im Gesamtwerk von Walter Benjamin geblieben ist, ragt dennoch als Solitär heraus, weil hier ein Thema aufgegriffen wurde, das in den politischen Nachkriegsturbulenzen und im Gefolge der Russischen wie der deutschen Revolution hochaktuell war, jedenfalls unmittelbar politisch verstanden werden konnte. Das war vielleicht auch der einzige Grund, weshalb der Aufsatz im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ zur Publikation angenommen wurde, immerhin eines der Hauptorgane der deutschen Sozialwissenschaft, das u.a. von Max Weber redigiert worden war.22 Wenn man sich nämlich in die etwas mehr als 20 Seiten hineinliest, die der Text in der Gesamtausgabe umfasst, so kann man nur erstaunt sein: einerseits wie schematisch und hochabstrakt Benjamins Argumentation daherkommt, andererseits wie dunkel oder sogar mystifizierend der Assoziationshorizont sich gestaltet, in den sie eingelassen ist.

Hier ist sie wieder, die bereits angedeutete Konstellation von Kritizismus und Mystifizierung, von Neukantianismus und spekulativer Geschichtsphilosophie, die jetzt aber eine bemerkenswerte Konkretisierung erfährt. Benjamin geht aus von der Unterscheidung zwischen Recht und Gerechtigkeit und korreliert sie mit der noch abstrakteren Unterscheidung von Zweck und Mittel. Nachdem er die beiden maßgeblichen Denktraditionen der Rechtstheorie – das Naturrecht einerseits, den Rechtspositivismus andererseits – zwar angesprochen, aber gleich wieder verworfen hat, stellt er die Generalthese auf, dass alle menschengesetzte Rechtsordnung, die moderne vernunftbegründete eingeschlossen, aus einer Gewaltsetzung hervorgegangen ist, ja hervorgehen muss; denn selbst der Versuch, ein Äquilibrium zwischen legalen Mitteln und gerechten Zwecken herzustellen, hat noch denselben gewaltförmigen Ursprung. Unter dieser Prämisse stehen alle weiteren Differenzierungen, sowohl die funktionalen (wie Rechtssetzung und Rechtserhaltung) als auch die institutionellen (wie Polizei und Strafe, Kriegsrecht und Todesstrafe). Sie alle sind von Grund auf gewaltkontaminiert, verdorben, ja sündhaft – oder wie Benjamin generalisiert: Sie sind „mythischen Ursprungs“.23

Dieser vom „Mythos“ umklammerten Kasuistik kleiner Antithesen tritt nun ein ganz anderes Ordnungsprinzip als große Antithese gegenüber, nämlich die „göttliche Gerechtigkeit“. Auch sie wird nicht als gewaltlos vorgestellt, vielmehr ist sie durch eine andere Form der Gewalt definiert, die sowohl gegenüber dem Recht wie gegenüber jeder Rechtfertigung frei und gerade dadurch „rein“ und „gerecht“ ist. Die göttliche Gerechtigkeit ist „heilig“, sie hat ihren Ursprung in der „reinen Gewalt“ und ist „rein“ vor allem deswegen, weil sie dem Zweck-Mittel-Schema insgesamt entzogen ist. Dieses wiederum steht für die Verstrickung in einen tragischen Schuldzusammenhang, von dem die menschliche Geschichte insgesamt durchwirkt ist und an dem jeder Versuch einer Versöhnung durch Recht abprallt. An dieser Stelle wird unübersehbar, dass hinter den rechtstheoretischen Überlegungen von Walter Benjamin eine tragische Geschichtsmetaphysik steht. Wenn als der „Ursprung“ aller Rechtsverhältnisse wie der Geschichtsentwicklung insgesamt der Mythos erscheint, so wird dieser Konstruktion zwar durch die „göttliche Gerechtigkeit“ entgegengearbeitet, beide aber sind gewaltförmig und unterscheiden sich lediglich darin, dass die eine an das Zweck-Mittel-Schema gebunden bleibt, während die andere „reine Manifestation“, „grundlose Willensäußerung“ ist. 24

Den Aufriss dieser „Kritik der Gewalt“ so dichotomisch, als pures Nebeneinander von immanenter und transzendenter Kritik stehen zu lassen, wäre freilich nicht vollständig25; denn Benjamin kennt sehr wohl gewisse Übergänge, die in der Mitte des Textes eingeführt werden, jetzt auch konkreter Bezug auf die politische Gegenwart nehmen. Während die „gewaltlose Beilegung von Konflikten“, wie sie in der „Kultur des Herzens“, in der „Technik ziviler Übereinkunft“ oder ganz allgemein in der Sprache als der „eigentlichen Sphäre der Verständigung“ nur nebenher erwähnt werden, tritt ins Zentrum der „revolutionäre Generalstreik“. Er wird vom „normalen“, d. h. dem der Zweck-Mittel-Logik der Interessensvertretung unterworfenen Gewerkschaftskampf scharf unterschieden – einmal durch die radikale Lahmlegung sämtlicher Produktions- und Reproduktionsmechanismen und die Herbeiführung des gesellschaftlichen „Ausnahmezustandes“, zum andern dadurch, dass er auf die „Vernichtung der Staatsgewalt“ zielt, d. h. auf die Aufhebung jener Institution, in der sich die Gewaltförmigkeit des Rechts konzentriert.26

Den Begriff des Generalstreiks ebenso wie dessen emphatische Hervorhebung übernimmt Benjamin bekanntlich von Georges Sorel und fügt sie zunächst wenig modifiziert in seine eigene Begriffswelt ein. Im Verlauf seiner Deduktion aber, und besonders an ihrem Ende erhält er, in Gestalt des „revolutionären Umsturzes“, etwas von jenen Attributen zugesprochen, die eigentlich nur in der Sphäre der „göttlichen Gewalt“ zu Hause sind. Es ist, schreibt Benjamin, die „revolutionäre Gewalt, mit welchem Namen die höchste Manifestation reiner Gewalt durch den Menschen zu belegen ist“, die also eine Art irdischer Repräsentation der göttlichen Gerechtigkeit ist oder jedenfalls am ehesten als Schritt zu deren Verwirklichung aufgefasst wird.27

Mit welchem Recht, möchte man fragen? Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die damit gegebene Konkretisierung der geschichtsphilosophischen Grundlagen bei Benjamin mehr angedeutet als wirklich ausgeführt ist, dürfte ein Urteil wie das folgende nicht zu streng sein: Diese „Analyse“ des Problems von Recht und Gewalt ist wenig diskursiv und macht sich einer politischen Haltung schuldig, die man als voluntaristisch oder gar als dezisionistisch bezeichnen muss, sie ist durchzogen von suggestiven Gedankenblitzen und extremen Formulierungen, die eine gewisse Schockwirkung hatten, wenn nicht sogar intendierten, ansonsten aber in der zeitgenössischen Debatte nicht aufgenommen wurden. Benjamins Beitrag zu einer rationalen Aufklärung der ganz erheblichen politischen Probleme am Anfang der Weimarer Republik war offensichtlich gering, er verwies weder auf rechtspolitische Alternativen noch zeigte er sich besorgt um die Zukunft der deutschen Demokratie.

Noch zwielichtiger erscheint die „Kritik der Gewalt“, wenn man sich vergegenwärtigt, worauf der so hoch gehängte Anspruch auf eine „philosophische“ Kritik in theoretischer Hinsicht hinausläuft – ziemlich genau auf das Gegenteil dessen, was die Anspielung auf Kant suggeriert: nicht die Zurückführung auf Vernunftpostulate und eine strenge Form der logischen Deduktion, sondern Rekurs auf mythische und theologische Ursprungsmächte – unter souveräner Missachtung der historischen Umstände und der politischen Aktualitäten, die in Deutschland auf die Chancen (und die Schwierigkeiten) einer demokratischen und sozialen Neuordnung lauteten. Vor allem fehlt jedes Gespür für die Voraussetzungen und die Möglichkeiten einer gesellschaftskritischen Durchdringung der Problematik von Recht und Gewalt. In dieser „Kritik der Gewalt“ steckt nichts weniger als ein gerüttelt Maß an politischem Irrationalismus, der sich in einer pessimistischen Geschichtsmetaphysik genüsslich eingerichtet hat. Ihre spezifische Einbettung in religionsphilosophische oder theologische Traditionen hat dieses Defizit eher noch befördert.

Alternativen des Geschichtsdenkens

Eine solche Metakritik der Gewalt mag wohlfeil und im Falle Walter Benjamins sogar müßig sein. War es nicht gerade seine Bereitschaft, die widersprüchlichsten Impulse aufzunehmen und zu neuen Synthesen zu bringen, seine Fähigkeit, hochabstrakte und wenig greifbare und in dem Sinne „irrationale“ Denkmotive zusammenzuführen, woraus sich die schier unerschöpfliche Fülle seiner intellektuellen Produktion und vor allem ihre atemberaubende Dynamik ergab? Die Rückbindung seines Denkens an theologische Motive, der vom Anfang bis zum Ende durchgehaltene Bezug auf ein messianisches Ende der Geschichte gehörte dazu ebenso wie die Orientierung an einem paradoxen Motto wie dem Satz von Karl Kraus: „Ursprung ist das Ziel!“ Dennoch gibt es im Geschichtsdenken von Walter Benjamin problematische Ambivalenzen und Indifferenzen, die auch in den „Thesen zum Begriff der Geschichte“ nicht etwa gelöst sind, sondern verstärkt wiederkehren. In der Tat ist gerade für die geschichtsphilosophische Grundierung von „Benjamins Politik“ eine hohe Kontinuität zwischen Anfang und Ende der sog. Zwischenkriegszeit anzunehmen.

Vielleicht kommt man in der Auseinandersetzung mit Benjamins Geschichtsphilosophie am besten voran, wenn man sie in den Horizont der frühen Weimarer Republik rückt und dort den Vergleich mit anderen, ähnlich gelagerten Problemstellungen sucht. Tatsächlich wird man da rasch fündig, war doch der religionsphilosophische „Diskurs“, wie man das heute nennt, nicht nur weit verbreitet, sondern im jüdischen Milieu geradezu konzentriert. Dazu gehört die religionsphilosophische Wendung, die der führende Vertreter des Neukantianismus, Hermann Cohen mit seiner nachgelassenen „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“ macht,28 ebenso wie Franz Rosenzweigs fulminanter „Stern der Erlösung“ 29 oder selbst Ernst Blochs „Geist der Utopie“,30 sofern man sich an seine theologischen Untertöne hält. Ihnen allen liegt neben einer schmerzlichen Krisenempfindung das starke Verlangen zugrunde, aus dem „Tal der Tränen“ in eine lichtere Zukunft zu blicken, und welche Denkfigur konnte sich dafür besser eignen als eine Geschichtskonstruktion, die auf das Kommen des Messias hoffte.

Ein bislang wenig beachteter Repräsentant dieser Tendenz zu einer jüdischen Geschichtsphilosophie ist Leo Löwenthal, der später als Literatursoziologe der sog. Frankfurter Schule Karriere gemacht hat. Er empfiehlt sich als Vergleichsfigur zu Walter Benjamin zunächst aus einem biographischen Zufall: Benjamin wohnte nämlich in eben dem kritischen Sommer, in dem der „Angelus Novus“ in sein Leben eintrat, für ein paar Wochen in Löwenthals Heidelberger „Studentenbude“31, dort konzipierte er sein Zeitschriftenprojekt und wartete auf die Publikation der „Kritik der Gewalt“. Während Benjamin in der Folgezeit hauptsächlich an seinem Goethe-Essay arbeitete, kam Löwenthal in der Festschrift für den Frankfurter Rabbiner Nehemias Nobel mit seiner ersten Publikation heraus, die unter dem Titel „Das Dämonische“ den ziemlich abenteuerlichen Entwurf einer messianischen Geschichtsspekulation vorlegte.32 1923 besann er sich dann auf einen akademischen Abschluss und promovierte an der Universität Frankfurt mit einer Arbeit über Franz von Baader, die das Kunststück fertigbrachte, aus einem katholisch-restaurativen Ordnungsdenken den Funken einer kritischen Religionssoziologie zu schlagen, die sich der „sozialen Frage“ nicht verweigerte – und er konnte dies mittels einer rationalen Rekonstruktion, die noch den „theologischsten“ Elementen von Baaders System einen diskursiven Sinn abzugewinnen verstand.33

Wirklich interessant wird es, wenn man Löwenthals weiteren Denkweg in die 1920er Jahre hinein verfolgt: Nach einer Phase des sozialen Engagements für ostjüdische Emigranten verfasste er nämlich 1926 eine Staatsexamensarbeit für den Preußischen Gymnasialdienst, die sich genau demselben Thema wie Benjamins „Kritik der Gewalt“ stellte, es aber auf eine ganz andere Art zu bearbeiten wusste: „Gewalt und Recht in der Staats- und Rechtsphilosophie Rousseaus und der deutschen idealistischen Philosophie“ – so der lange Titel – ist eine knappe, aber höchst instruktive Abhandlung, die von einer soliden Bestandsaufnahme der rechtsphilosophischen Debatte ausgeht, sodann aus dem Rousseau’schen Freiheitsgedanken eine vertragstheoretische Begründung des Staates entwickelt, in der das Recht die zentrale Instanz darstellt. Die Schlussfolgerung ist ganz eindeutig, aber geradezu konträr zu Benjamin: „Gewalt begründet nie Recht; rechtsbegründende Gewalt ist eine contradictio in adjecto“ – und umgekehrt: „Recht allein kann Gewalt begründen.“34

Dieser Grundsatz, der dann über Kant und Fichte fortgeführt und modifiziert wird, bedeutet keineswegs die umstandslose Anerkennung aller positiven oder historischen Rechtssetzungen, ganz im Gegenteil: Er dient zu deren Kritik. Dennoch geht die Rechnung nicht in einer einfachen, d. h. idealistischen Vorstellung vom Fortschritt des Menschengeschlechts mittels Freiheit und Recht auf. Löwenthal verweist sowohl auf Goethe als auch auf Marx als kritische Instanzen für den Verlauf der bürgerlichen Gesellschaft und kommt am Ende doch ohne messianische Heilserwartung nicht aus, die in der „Ahnung von einem völlig gewaltfreien Zustand“ besteht.35 Löwenthals letzter Satz liest sich fast wie ein wörtliches Zitat aus Benjamins dämonischer Reduktion des Rechts auf den Mythos: „Die Geschichte der Korrelation ,Gewalt und Recht‘ von Rousseau bis Fichte ist zugleich die Geschichte der immer anwachsenden Aktualisierung der rechtsphilosophischen Probleme.“36 Aber nicht Benjamins apokalyptische Vision ist damit gemeint, vielmehr hatte er dessen Versuch, dem „Problem mit messianischen Kategorien beizukommen“, schon in der Einleitung mit der ironischem Bemerkung beiseitegeschoben, dass sie „etwas gewalttätig“ sei.37

Sieht man sich die Schriften an, mit denen sich Walter Benjamin akademisch qualifiziert hat oder qualifizieren wollte und von denen die „Kritik der Gewalt“ gleichsam eingerahmt wird: die Dissertation zur Romantik (1919/20)38 und die (abgelehnte) Habilitationsschrift über das barocke Trauerspiel (1925),39