Franz Neumanns „Behemoth“ gilt heute als ein „moderner Klassiker“ der Sozialwissenschaft. 1942, in der Entscheidungsphase des Zweiten Weltkrieges publiziert, war das Buch die erste Gesamtdarstellung Hitler-Deutschlands aus Emigranten-Feder und diente den amerikanischen Behörden zeitweilig als Handbuch für die Kriegsführung gegen die Achsenmächte. Die empirische Analyse der vier Säulen der NS-Gesellschaft, die Behauptung vom fortgesetzt privatkapitalistischen Charakter der totalitären Wirtschaft und die kühne These von der chaotischen Struktur des nationalsozialistischen „Unstaates“, auf die der Name aus der jüdischen Mythologie verweist, sind eine Herausforderung für die historische NS-Forschung geblieben.
Die vorliegende Neuedition basiert auf der deutschen Übersetzung von Gert Schäfer und Hedda Wagner aus dem Jahr 1977 und ist seitenidentisch mit der vergriffenen Taschenbuch-Ausgabe in der Schwarzen Reihe des S.Fischer-Verlages. Das neue Vorwort von Alfons Söllner skizziert die Biographie von Franz Neumann als Formierung eines epochentypischen Wissenschaftlers – des „political scholar“. Das neue Nachwort von Michael Wildt stellt den „Behemoth“ in den Kontext der internationalen NS-Forschung und fragt besonders, weshalb die Neumann-Rezeption in der historischen Holocaust-Forschung keine Entsprechung im Nachkriegs-Deutschland fand.
Alfons Söllner ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte und lehrte bis 2012 an der Technischen Universität Chemnitz. Buchpublikation u.a.: Fluchtpunkte. Studien zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Baden-Baden 2006.
Michael Wildt ist Professor für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus und lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin. Buchpublikation u.a.: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002.
Nach dem 1963 bei Octagon Books, Inc., New York, erschienenen Neudruck aus dem Amerikanischen übersetzt von Hedda Wagner und Gert Schäfer.
© ebook-Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2019
Diese von Alfons Söllner und Michael Wildt herausgegebene Neuausgabe
folgt der deutschen Erstausgabe.
© Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1977
Coverabbildung: Wolfgang Mattheuer (1927–2004), Jahrhundertschritt, 1984/2006,
Bronze, bemalt, 500 x 300 x 500 cm
Museum Barberini, Potsdam
Fotografie: Helge Mundt
Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung
(auch fotomechanisch), der elektronischen Speicherung auf einem Datenträger
oder in einer Datenbank, der körperlichen und unkörperlichen Wiedergabe
(auch am Bildschirm, auch auf dem Weg der Datenübertragung) vorbehalten.
ISBN 978-3-86393-549-8
Auch als gedrucktes Buch erhältlich, ISBN 978-3-86393-048-6
Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de
Für meine Frau
Inhalt
Vorbemerkung der Herausgeber
Alfons Söllner
Vom Reformismus zur Resignation?
Franz L. Neumann als „political scholar“
(Vorwort zur Neuausgabe)
Bemerkung zum Namen Behemoth
Vorwort zur ersten Auflage (1942)
Vorwort zur zweiten Auflage (1944)
Einleitung:
Der Zusammenbruch der Weimarer Republik
1. Das Kaiserreich
2. Die Struktur der Weimarer Demokratie
3. Die sozialen Kräfte
4. Der Niedergang der organisierten Arbeiterbewegung
5. Die Konterrevolution
6. Der Zusammenbruch der Demokratie
7. Versuch einer Zusammenfassung
Erster Teil:
Die politische Struktur des Nationalsozialismus
Einführende Bemerkungen über den Wert der nationalsozialistischen Ideologie
I. Der totalitäre Staat
1. Die Techniken antidemokratischer Verfassungstheorie
2. Der totalitäre Staat
3. Die Gleichschaltung des politischen Lebens
4. Der totalitäre Staat im Krieg
II. Die Revolte der Partei und der Staat der »Bewegung«
1. Der ideologische Protest gegen den totalitären Staat
2. Der dreigegliederte Staat
3. Partei und Staat
4. SS und Hitlerjugend
5. Die Partei und der andere öffentliche Dienst
6. Partei und Staat in Italien
7. Die rationale Bürokratie
8. Die Partei als Verwaltungsapparat
III. Der charismatische Führer im Führerstaat
1. Die verfassungsmäßige Funktion des Führers
2. Luther und Calvin
3. Die wundertätigen Könige
4. Die Psychologie des Charisma
IV. Das »Volkstum« als Quelle des Charisma
1. Nation und Rasse
2. Rassismus in Deutschland
3. Antisemitische Theorien
4. »Blutschutz« und »Judengesetze«
5. »Arisierung« jüdischen Vermögens
6. Die Ideologie des Antisemitismus
V. Das Großdeutsche Reich
»Lebensraum« und deutsche Monroe-Doktrin
1. Das Erbe des Mittelalters
2. Geopolitik
3. Bevölkerungsdruck
4. Das neue Völkerrecht
Die Fesseln des Versailler Vertrages sprengen
Neue Neutralität und gerechter Krieg
Die deutsche Monroe-Doktrin
»Volksgruppenrecht« gegen Minderheitenschutz
Das völkische internationale Recht und die Staatssouveränität
5. Gebiet und Wesen des Großdeutschen Reiches
VI. Die Theorie des Rassenimperialismus
1. Demokratie und Imperialismus
2. Proletarisches Volk gegen Plutokratien
3. Pseudomarxistische Elemente der sozialimperialistischen Theorie
4. Nationalistische Vorläufer des Sozialimperialismus
5. Der deutsche Imperialismus
6. Sozialdemokratie und Imperialismus
7. Der Rassenimperialismus und die Massen
Zweiter Teil:
Die totalitäre Monopolwirtschaft
I. Eine Ökonomie ohne Ökonomie?
1. Staatskapitalismus?
2. Eine nationalsozialistische Wirtschaftstheorie: der Mythos vom Ständestaat
II. Die Organisation der Wirtschaft
1. Die politische Stellung der Wirtschaft in der Weimarer Republik
2. Die politische Organisation der Wirtschaft unter dem Nationalsozialismus
Die Gruppen
Die Kammern
Der Exekutivapparat des Staates
Der Rationalisierungsapparat
Rohstoffkontrolle
Zusammenfassung
III. Die Monopolwirtschaft
1. Eigentum und Vertrag (Ökonomie und Politik)
2. Die Kartellpolitik des Nationalsozialismus
Die Diktatur Brünings und die Kartelle
»Selbstreinigung«
Zwangskartellierung
Aufrüstung, Krieg und Kartelle
Kartelle und Gruppen
3. Das Wachstum der Monopole
Arisierung
Germanisierung
Technologischer Wandel und Monopolisierung
Die Finanzierung der neuen Industrien
Die Beseitigung des Kleinunternehmertums
Die körperschaftliche Struktur der Kapitalgesellschaften
Wer sind die Monopolisten?
IV. Die Befehlswirtschaft
1. Der verstaatlichte Sektor
2. Der Parteisektor (Göring-Konzern)
3. Preiskontrolle und Markt
4. Gewinne, Investitionen und »das Ende des Finanzkapitals«
5. Außenhandel, Autarkie und Imperialismus
6. Die Kontrolle der Arbeit
Die Nutzung menschlicher Arbeitskraft
Der Kampf um höhere Produktivität
7. Schluß
Die Leistungskraft
Das Gewinnstreben
Die Struktur
Das Versagen demokratischer Planung
Dritter Teil:
Die neue Gesellschaft
I. Die herrschende Klasse
1. Die Ministerialbürokratie
2. Die Parteihierarchie
3. Beamtentum und Partei
4. Wehrmacht und Partei
5. Die Industrieführung
6. Die Agrarführung
7. Die »Kontinentale-Öl-Gesellschaft« als Modell für die neue herrschende Klasse
8. Die Erneuerung der herrschenden Klasse
II. Die beherrschten Klassen
1. Nationalsozialistische Organisationsprinzipien
2. Die Arbeiterklasse in der Weimarer Demokratie
3. Die »Deutsche Arbeitsfront«
4. Das Arbeitsrecht
»Betriebsgemeinschaft« und »Betriebsführer«
Der Betrieb
»Soziale Ehre« der Arbeit und Ehrengerichtsbarkeit
5. Die Reglementierung der Freizeit
6. Löhne und Einkommen als Mittel der Massenbeherrschung
7. Propaganda und Gewalt
8. Nationalsozialistisches Recht und Terror
Behemoth
1. Hat Deutschland eine politische Theorie?
2. Ist Deutschland ein Staat?
3. Wie sehen die strukturellen Entwicklungstendenzen des nationalsozialistischen Regimes aus?
Anhang (1944)
Erster Teil:
Die politische Struktur des Nationalsozialismus
I. Der totalitäre Staat im Krieg
1. Die Reichsführung
2. Die politische Willensbildung
3. Generalinspektoren, Reichskommissare und Reichsregierung
4. Das Reichsministerium des Innern
5. Der regionale Verwaltungsaufbau des Reiches
6. Vereinheitlichung. Das Vordringen des Gaues als Verwaltungsmodell und die Bestellung von Reichsverteidigungskommissaren
II. Die Partei als Verwaltungsapparat
1. Die Reichsleitung
2. Prominente Nationalsozialisten in der Reichsregierung
3. Die Gauleiter
4. Die Partei außerhalb Deutschlands
5. Die Parteimitglieder
III. Der Aufstieg Himmlers. Polizei und SS
1. Die Polizei
Ordnungspolizei
Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst
2. Die SS
IV. Der Antisemitismus
V. Gebiet und Wesen des Großdeutschen Reiches
1. Gebietstypen unter deutscher Kontrolle – ein Überblick
2. Die nazistische Theorie der Militärverwaltung
3. Die administrative Kontrolle der besetzten Territorien
Das Reichsministerium des Innern als koordinierende Instanz
Annektierte und eingegliederte Territorien
Territorien im Annexions- und Eingliederungsprozeß
Angeschlossene Territorien
Besetzte Gebiete
4. Die Ausbeutung des besetzten Europa
Politische Kontrollen
Wirtschaftliche Kontrollen
5. Das Streben nach Kooperation mit dem besetzten Europa
Zweiter Teil:
Die totalitäre Monopolwirtschaft
Zur Einführung
Die Reorganisation von 1942 und der Erlaß vom 2. September 1943
I. Kontrollinstitutionen
1. Die zentralen Kontrollinstitutionen und das Ministerium für Rüstung und Kriegsproduktion
Die Planämter
Das Ministerium für Rüstung und Kriegsproduktion
2. Die Wehrwirtschaft und das Rüstungsamt beim Oberkommando der Wehrmacht
3. Das Amt für den Vierjahresplan
4. Die Hitler unmittelbar verantwortlichen Kommissare
5. Das Wirtschaftsministerium
6. Das Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft
7. Transport-, Energie- und Baukontrolle
8. Die Selbstverwaltung der Industrie
9. Kartelle
10. Reichsvereinigungen
II. Kontrollmethoden
1. Die Rohstoffkontrolle
2. Preis- und Gewinnkontrollen
III. Die Konzentration des Kapitals
1. Rationalisierung
2. Das Auskämmen
3. Konzerne und Kapitalgesellschaften
IV. Kontrollen der Arbeit
1. Die obersten Kontrollbehörden
2. Die Arbeitsämter und Treuhänder der Arbeit
3. Die Arbeitskammern der Deutschen Arbeitsfront
4. Fremdarbeiter
Dritter Teil
Die neue Gesellschaft
1. Die soziale Schichtung nach der Volkszählung von 1939
2. Die Mittelschichten
3. Der öffentliche Dienst
4. Die Justiz
5. Die herrschende Klasse
Michael Wildt
Franz Neumann und die NS-Forschung
(Nachwort zur Neuausgabe)
Namens- und Sachregister
Vorbemerkung der Herausgeber
Franz L. Neumanns „Behemoth“ gilt heute als ein „moderner Klassiker“ der Sozialwissenschaft und ist gleichwohl für die Öffentlichkeit ein Geheimtipp aus der Geschichte der Hitler-Flüchtlinge geblieben. Die hier vorgelegte Neuausgabe folgt der deutschen Erstausgabe aus dem Jahr 1977, erschienen in der Europäischen Verlagsanstalt, auf der auch die mittlerweile vergriffene Edition in der Schwarzen Reihe des S. Fischer-Verlages beruhte, die seit 1984 in mehreren Auflagen nachgedruckt wurde. Die späte Übersetzung aus dem Englischen, die erst auf das energische Betreiben Herbert Marcuses zustande kam, hatten Gert Schäfer und Hedda Wagner besorgt, sie benutzten den 1963 bei Octagon Books, New York erschienenen Neudruck als Grundlage, der seinerseits auf die erste und (für den ausführlichen Anhang) auf die zweite Auflage bei der Oxford University Press aus dem Jahr 1942 bzw. 1944 zurückging. Diese schwierige Publikationsgeschichte und die stark verzögerte Ankunft des Buches im Nachkriegs-Deutschland lassen bereits erkennen, welch immense Aufgabe bei der deutschen Erstausgabe zu bewältigen war.
Dass die äußerst verdienstvolle Übersetzung von Gert Schäfer und Hedda Wagner über 40 Jahre hinweg ohne jeden Tadel Bestand hatte, gibt uns die Möglichkeit, den Text der Fischer-Ausgabe bruchlos zu übernehmen. Übernommen wird auch das dort hinzugefügte ausführliche Register, ergänzt lediglich um Namen aus den vorliegenden Vor- bzw. Nachworten der Herausgeber. Dass wir jedoch das materialreiche und mit überlangen Anmerkungen gespickte Nachwort von 1977 nicht übernehmen, bedarf einer kurzen Begründung: Schäfers Text lebt von der Erfahrung der Wiederentdeckung eines lange vergessenen „Urtextes“ aus dem Exil, und er garniert diese Freude nicht nur mit der Hervorhebung der marxistischen Aspekte von Neumanns NS-Analyse, sondern fundiert diese auch durch den kritischen Vergleich mit der westdeutschen NS-Forschung, die bekanntlich in den ersten Nachkriegsjahrzehnten nur schleppend in Gang kam. Diese Konstellation war typisch für die Nachwirkung der sog. Studentenbewegung und ist heute selber Geschichte geworden.
Das bedeutet nicht, dass der „Behemoth“ mit seiner strukturalistischen Konzeption und seiner klaren politischen Zielsetzung an wissenschaftlicher Anregungskraft verloren hat. Die Herausgeber sind im Gegenteil davon überzeugt, dass es gerade die gegenwärtig zu beobachtende Wiederkehr nationalistischer Gefühle ist, gegen die Neumanns subtile Analyse und vor allem ihr weiter internationaler Horizont in Stellung zu bringen sind. Dementsprechend erfolgt die unerlässliche Kontextualisierung eines immerhin 75 Jahre alten Buches arbeitsteilig: Den Vorspann der Neuedition bildet eine biographische Skizze, die Neumanns politisch-intellektuelle Entwicklung hin zu einem epochentypischen Gelehrten, als Genese des „political scholar“ schildert. Während hier der „Behemoth“ als Markstein der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erscheint, konzentriert sich der Nachspann auf seine Bedeutung für bzw. seine Vernachlässigung durch die historische NS- und Holocaust-Forschung, für die Neumanns Studie nach wie vor beachtenswerte Perspektiven in sich birgt. Bei der Neulektüre des „Behemoth“ stellt sich heraus, dass in der Ahnung des destruktivsten Kerns des Nationalsozialismus das eigentliche Geheimnis des Buches zu suchen ist.
Für die Realisierung der Neuedition möchten wir danken: Herrn Christian Wöhrl für sein gründliches Lektorat, Frau Mareike Fricke für die zuverlässige Kommunikation und, ganz besonders herzlich, Frau Irmela Rütters für die Idee zu dem Projekt und seine geduldige verlegerische Betreuung.
Alfons Söllner / Michael Wildt
Februar 2018
Alfons Söllner
Vom Reformismus zur Resignation?
Franz L. Neumann als „political scholar“
Im Frühjahr 1952 veranstaltete die University of Pennsylvania in Philadelphia, also abseits von den akademischen Zentren der USA, eine Vorlesungsreihe, aus der weit mehr hervorging als ein zufälliges Gelegenheitsprodukt aus der Nachgeschichte des Exils. Zusammen mit anderen „big shots“ der Emigration, wie Erwin Panofsky und Paul Tillich, lieferte der amerikanische Politikwissenschaftler Franz L. Neumann, der den trockenen Gestus des deutschen Juristen nie ganz abgelegt hatte, ein wahres Feuerwerk von historischen, soziologischen und kulturtheoretischen Einfällen, die ganz unvermutet zu einem existentiellen Bekenntnis zusammenschossen.1 Was gleichzeitig eine wissenschaftsgeschichtliche Standortbestimmung und eine politische Selbstreflexion war, wurde dadurch so beredt, dass Neumann seine eigene Lebensgeschichte als Anschauungsbeispiel verwendete, um einen ganz bestimmten Typus von Wissenschaftler zu charakterisieren.
Neumann nennt diesen Typus den „political scholar“ und erläutert seine Gestalt zunächst an einer historischen Skizze des politischen Exils von Ovid über Dante und Marsilius von Padua bis zu Spinoza und Karl Marx, um dann auf seinen eigenen akademischen Werdegang zu sprechen zu kommen. Er erinnert sich, wie er als Student der Rechtswissenschaft die Erfahrung machen musste, dass die in der Tradition Humboldts stehenden deutschen Professoren mehrheitlich politisch „reaktionär“ und antisemitisch waren, somit aktiv an der Zerstörung der ersten deutschen Demokratie beteiligt. Dieses Erlebnis hatte ihn während des Regimewechsels vom Kaiserreich zur Weimarer Republik sozusagen „politisch erweckt“. Dennoch blieb er während des Studiums primär den deutschen Traditionen des Idealismus und Historismus ausgesetzt und war somit auf eine Mischung aus Theoriegläubigkeit und historischem Relativismus fixiert, die auch der Reformismus der Arbeiterbewegung bei aller Orientierung am Marxismus nicht überwinden konnte. Diese Haltung kam erst in die Krise, als die deutschen Emigranten sich in das ganz andere amerikanische Wissenschaftssystem einpassen mussten.
Um mit dem bedrängenden Kulturschock fertig zu werden, boten sich drei prinzipielle Möglichkeiten an, die Neumann typologisch ausbuchstabiert2: Der emigrierte Wissenschaftler kann sich der neuen Welt entweder umstandslos anpassen und seine Herkunftswelt verleugnen; oder er kann an seiner Herkunft starr festhalten und sich der neuen Welt verweigern; am produktivsten aber findet Neumann eine dritte Haltung, die er deswegen auch normativ auszeichnet: Sie besteht im Versuch der Synthese zwischen der alten und der neuen Welt, die freilich auch eine besondere Herausforderung bleibt. Dieser Wissenschaftler, wie ihn Neumann fordert, kann sich weder aus der Theorie noch aus der Politik davonstehlen, er darf weder von der Realität der Macht noch von der Macht der Ideen absehen, er wird den Dämon, von dem Max Weber die Politik beherrscht sah, in seine Seele einlassen, um ihn mit den Mitteln der Wahrheit zu besiegen.
Das aber birgt ein hohes Risiko: Weil der „political scholar“ vom theoretischen Denken ebenso wenig lassen kann wie vom politischen Handeln, ist seine Existenz bis ins Innerste geprägt durch den Konflikt mit den Herrschenden der jeweiligen Gesellschaftsordnung. Sein Lebensnerv ebenso wie seine soziale Funktion besteht in der Kritik der bestehenden Verhältnisse, und das kann im Zeitalter der totalitären Diktaturen auf seine Verfolgung, im Extremfall auf die physische Auslöschung hinauslaufen. Und auch wenn die aktuelle Erfahrungslage sich aufgehellt hat und die Weltverhältnisse wenigstens zu einem „kalten Krieg“ stabilisiert scheinen – hintergründig spielt Neumann mit dem Umkehrschluss: Ein Intellektueller, der in Frieden mit den Herrschenden leben will, hat sich seiner wahren Mission bereits begeben. Und das gilt eben nicht nur für die Diktatur, sondern auch für die Demokratie.3
Der folgende Essay skizziert den Lebensweg von Franz Neumann in politik- und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive und will gleichzeitig exemplarisch herausarbeiten, welche Faktoren an der Herausbildung des „political scholar“ im 20. Jahrhundert mitgewirkt haben. Der Aufriss der vier Stationen – Arbeitsrechtler in der Weimarer Republik; politischer Exilant in London und New York; Kampf gegen Hitler während und nach dem Zweiten Weltkrieg; Politikprofessor in New York und Berlin – muss vor allem eines vermeiden: die finalistische Glättung einer ebenso rasanten wie kurvenreichen Lebensgeschichte, die durch große Erfolge, aber auch durch Enttäuschungen und Widersprüche geprägt war. Wenn sich dennoch unverwechselbar herauskristallisieren wird, was man Neumanns „Identität“ nennen kann, so sagt dies ebenso viel über einen starken, den widrigen Verhältnissen trotzenden Charakter wie über die Gründe und Abgründe, von denen das 20. Jahrhundert, die deutsche Zeitgeschichte zumal, geprägt war.
I. Arbeitsrecht und Wirtschaftsdemokratie – reformistische Politik in der Weimarer Republik
Eine exponierte Karriere war Franz Neumann nicht in die Wiege gelegt und zeichnete sich doch bald ab: Im Jahr 1900 im schlesischen Kattowitz geboren und in einer jüdischen Handwerkerfamilie aufgewachsen, entfernte er sich rasch von seinem Herkunftsmilieu und nahm mit 18 Jahren das Studium der Jurisprudenz auf, zuerst in Breslau und dann in Leipzig. Im Revolutionswinter beteiligte er sich dort am Barrikadenkampf der revolutionären Soldaten und Arbeiter, schlug sich dann aber nicht auf die Seite der Rätedemokratie, sondern sah seine politische Zukunft bei der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften. Damit wurde auch die berufliche Ausrichtung seines juristischen Studiums erkennbar, das er in Rostock fortsetzte und 1923 in Frankfurt am Main mit einer Promotion abschloss.4
Die Schnelligkeit, mit der Franz Neumann sich in der keineswegs schon gefestigten Berufswelt nach dem Ersten Weltkrieg zurechtfand, mag mit seinem Aufstiegswillen zu tun gehabt haben, erstaunlich bleibt die Zielsicherheit, die einen jungen Mann aus der östlichen Provinz genau dort andocken ließ, wo eines der interessantesten Reformprojekte der Weimarer Republik Gestalt annahm: die Entwicklung eines modernen Arbeitsrechts und dessen Ausgestaltung zur Wirtschaftsdemokratie. Noch während er seine Referendarzeit absolvierte, wurde Neumann Assistent bei Hugo Sinzheimer, der bereits 1919 im Verfassungsausschuss bei der Neuregelung der Arbeitsverhältnisse Pate gestanden hatte und jetzt an der Frankfurter Universität Arbeitsrecht lehrte. Hier und in der benachbarten „Akademie der Arbeit“ tat sich ein Wirkungsfeld auf, das gleichzeitig eine politische Gesinnungsgemeinschaft und ein höchst produktiver Arbeitszusammenhang war, aus dem später so kantige Männer hervorgingen wie Ernst Fraenkel und Otto Kahn-Freund.
In diesem Kreis erwies sich Franz Neumann rasch als einer der kreativsten und wendigsten Köpfe. Hat man Hugo Sinzheimer als den „Vater des Weimarer Arbeitsrechts“ bezeichnet, so erwies sich sein Schüler als der Jungpionier, der dieses juristische Fachgebiet nicht nur verfassungsrechtlich und rechtsdogmatisch präzisierte, sondern auch auf neue Detailfragen wie das Arbeitsvertrags- und Tarifrecht, die Stellung der Gewerkschaften gegenüber den Arbeitgebern, die Kartell- und Monopolkontrolle und die normsetzende Rolle der Rechtsprechung ausdehnte. Maßgeblich für Neumanns frühe Sichtbarkeit war nicht zuletzt, dass seine Tätigkeit zu gleichen Stücken praktisch ambitioniert und theoretisch munitioniert war: Seit Mitte der 20er Jahre ist Neumann in den einschlägigen Fachzeitschriften präsent, im Jahr 1928 wird er Syndikus der Bauarbeitergewerkschaft in Berlin und eröffnet ein Anwaltsbüro zusammen mit Ernst Fraenkel, der seinerseits die Rechtsvertretung der Metallarbeitergewerkschaft übernimmt.
Vielleicht versteht man das enorme Selbstbewusstsein und den Zukunftselan dieser beiden Männer am besten, wenn man sich vorstellt, wie sie ab 1930 am Halleschen Ufer im hochmodernen Gewerkschaftshaus „residierten“, das der Bauhausarchitekt Erich Mendelsohn entworfen hatte. Von hier aus führte Neumann etliche Schlüsselprozesse bis hinauf zum 1927 eingerichteten Reichsarbeitsgericht in Leipzig, beteiligte sich also, immer an der Seite der Gewerkschaften, an der Rechtsfindung durch die Justiz oder formulierte sogar Vorlagen für Gesetzentwürfe. Gleichzeitig legte er eine geradezu explodierende Publikationstätigkeit an den Tag, die sich jetzt von den Spezialthemen löste und sowohl juristisch wie politisch ins Allgemeinere ausgriff: „Die politische und soziale Bedeutung der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung“ (1929); „Die soziale Bedeutung der Grundrechte in der Weimarer Verfassung“ (1930); „Über die Voraussetzungen und den Rechtsbegriff einer Wirtschaftsverfassung“ (1931); „Koalitionsfreiheit und Reichsverfassung“ (1932) – so lauteten jetzt die Titel seiner Aufsätze und Broschüren, von denen die letztere Buchlänge hatte und u.a. im Seminar von Carl Schmitt diskutiert worden war.5
Die Öffnung des juristischen Diskurses hin zu Fragen der Sozialpolitik war natürlich keine Erfindung von Neumann und seinen Mitstreitern, sondern dem Arbeitsrecht von Anfang an inhärent. Wie Hugo Sinzheimer, der sich seinerseits auf die Studien des Österreichers Karl Renner berief, schon vor 1918 gefordert hatte, war die rechtliche Regulierung der Lohnarbeit ein zentrales Ziel der politischen Arbeiterbewegung gewesen und damit ein langfristiges Projekt, das der marxistischen Kritik am Kapitalismus entsprang und untrennbar mit dem Fernziel einer sozialistischen Gesellschaft verbunden war.6 Neu und vielversprechend war aber die Konstellation, die sich durch die vergleichsweise starke Stellung von Sozialdemokratie und Gewerkschaften ergeben hatte: Sie hatten, gestärkt auch durch die Niederschlagung der Novemberrevolution, bei der Aushandlung der Weimarer Verfassung weitreichende politische und soziale Grundrechte durchsetzen können.
Wenn man den Weimarer Reformismus insgesamt durch seine legalistische Strategie charakterisieren kann, d.h. durch den Glauben, dass die Rechtsform das geeignete Instrument zur Herbeiführung des Sozialismus sei, so steckte darin nichts weniger als eine geschichtsphilosophische Heilserwartung. Es ist von einiger Bedeutung, sowohl den Voraussetzungen wie den Folgen dieser Utopie im zeitgeschichtlichen Horizont nachzuspüren. Der Weimarer Reformismus setzte primär – und unterschied sich genau damit von der „permanenten Revolution“ der Kommunisten (Trotzki) – auf den progressiven Ausbau des Rechtsstaates, er sah in der Rechtsform die historische „Dialektik von politischer und sozialer Demokratie“ in Gang gesetzt und brach damit der marxistischen Geschichtsauffassung, die nach wie vor die Leitideologie auch der Sozialdemokratie war, gleichsam die Spitze ab. Sie war reformorientiert, blieb aber eben auch in den „historischen Block“ der bürgerlichen Klassengesellschaft eingebunden, wie Antonio Gramsci es genannt hat.
Neumanns wissenschaftliche und politische Anfänge in der Weimarer Republik passten sich in diese Konstellation ein, wobei man jedoch den ebenfalls von Gramsci geprägten Begriff des „organischen Intellektuellen“ nicht umstandslos auf ihn anwenden sollte: Der Aufbau des Arbeitsrechts ebenso wie die Idee der gewerkschaftsgebundenen Wirtschaftsdemokratie entsprachen sicherlich eher den zentristischen, wenn nicht den konservativen Kräften innerhalb der Arbeiterbewegung7, doch stechen an Neumanns Beiträgen zu diesen Politikfeldern, die gewiss gesellschaftspolitisch hochsignifikant waren, vor allem zwei Eigenschaften hervor: Sie enthalten sich großenteils der ideologischen Begründung aus dem Fundus der marxistischen Weltanschauung, und sie sind dementsprechend über weite Strecken rein technisch-juristisch gehalten, was als ihre Stärke gemeint war, aber sich bald als Schwäche erweisen sollte.
So ist z.B. Neumanns Situationsanalyse im Krisenjahr 1929 immer noch in die nüchterne Formel gepackt, es sei „die rechtliche Formulierung für eine Situation zu finden, die nicht mehr rein kapitalistisch, aber auch nicht sozialistisch ist“.8 In diesem Zwischenreich, das mehr ein logischer Ermöglichungsraum als ein realpolitischer Handlungsraum war, sah er die Hoffnungen angesiedelt, die sich mit der Institutionalisierung und der rechtlichen Ausgestaltung der Wirtschaftsdemokratie verbanden. Als seine Grundpfeiler sollten die freien Gewerkschaften auf der einen Seite, die großen Wirtschaftsverbände auf der anderen Seite fungieren, die paritätisch, aber unter strenger Aufsicht des Staates die sozialen Machtverhältnisse zugunsten der Arbeiterschaft umgestalten sollten. Mehr oder weniger ausgespart war dabei, wie sehr die tatsächlichen Wirtschaftsstrukturen längst in Richtung auf Monopol- und Kartellbildung verändert, wie schwach also die Arbeiterorganisationen bereits waren, bevor sie von den dramatischen Turbulenzen der Weltwirtschaftskrise erfasst wurden. Es war bekanntlich die Unlösbarkeit der wirtschaftspolitischen Konflikte, die den schon vorher bemerkbaren republikfeindlichen Tendenzen Oberwasser verschafften und ihnen dann ab 1930 zum Durchbruch im Staatsapparat selber verhalfen.
Man kann die politische Arglosigkeit, wenn nicht die Selbsttäuschung der Reformstrategen am Ende der Weimarer Republik recht gut durch eine Anekdote erläutern. Franz Neumann hatte 1930 auf die pessimistische Krisendiagnose der Weimarer Verfassung, die sein jungsozialistischer „Genosse“ Otto Kirchheimer vorgelegt hatte, negativ reagiert: Vordringlich sei nicht die marxistische Kritik des gegebenen Staates, vielmehr sei es „die zentrale Aufgabe der sozialistischen Staatstheorie, den positiven sozialen Gehalt des zweiten Teils der Weimarer Verfassung zu entwickeln und konkret darzustellen … Wenn Kirchheimer in seiner Überschrift, die sehr stark kommunistischen Gedankengängen nahekommt, ,Weimar – und was dann?‘ fragt, dann kann die Antwort nur lauten: ,Erst einmal Weimar‘!“9
Franz Neumann hat diese defensive Haltung in wirtschaftspolitischen Dingen lange beibehalten, während sich Kirchheimer bekanntlich seit 1930 daran machte, das ganze Ausmaß der antidemokratischen Reaktion zu dokumentieren: In der Justizpraxis ebenso wie im akademischen Staatsrecht, in der Verselbständigung der Bürokratie gegenüber dem Parlament ebenso wie im Notverordnungsregime des Reichspräsidenten sah er Kräfte am Werke, die das Legalitätsgerüst der Weimarer Republik unterminierten und auf einen autoritären Staat hinarbeiteten.10 Erst als Neumann 1932 neben seiner Gewerkschaftsarbeit zusätzlich als Syndikus der SPD tätig wurde, positionierte er sich in der größeren politischen Öffentlichkeit und ergriff Partei z.B. gegen die Einschränkungen der Pressefreiheit.11
II. Im Exil: Radikalisierung der Theorie und Analyse des Nationalsozialismus
Die Machtergreifung Hitlers erlebte Franz Neumann als Schock. Jetzt war er so exponiert, dass er sofort in den Fokus der nationalsozialistischen Verfolgung geriet: Als am 2. Mai 1933 SA-Schergen sein Büro im Kreuzberger Gewerkschaftshaus stürmten, entging er nur knapp der Verhaftung und machte sich wenig später auf den Weg nach London. Wieder ist es erstaunlich, wie schnell er sich im englischen Exil zurechtfand: Neumann hielt sich nicht lange mit der schmerzlichen Zerstörung seines beruflichen Wirkungsfeldes auf, vielmehr nutzte er seine wohl schon vorher bestehenden Beziehungen zur englischen Labour-Party, um sich neu zu orientieren. Durch die Vermittlung von Harold Laski erhielt er ein Stipendium und begann ein Promotionsstudium an der London School of Economics, in dem sich seine bisherigen Erfahrungen in Deutschland im angelsächsischen Wissenschaftssystem sozusagen zu spiegeln begannen. Vorher Gegner jedes politischen Radikalismus, verwandelte sich der deutsche Gewerkschaftsjurist nicht nur in einen fulminanten Kritiker des Hitler-Regimes, sondern stürzte sich atemlos in die theoretische Arbeit. Er nutzte das Exil für eine grandiose Ausweitung der theoretischen Perspektive.
Bereits im Herbst 1933 war Neumann mit einem englischen Aufsatz hervorgetreten, der den „Decay of German Democracy“ mit dem Ausdruck der Verzweiflung konstatierte und dabei sowohl analytisch aufs Ganze ging als auch mit herber Selbstkritik nicht sparte. Es folgte eine Reihe von Interventionen und Pamphleten, die unter dem Pseudonym „Leopold Franz“ nach Deutschland eingeschmuggelt wurden, um den Widerstand gegen Hitler zu unterstützen. Das interessanteste von ihnen ist eine kleine, aber scharfgeschnittene Geschichte der deutschen und europäischen Gewerkschaftsbewegung, die mit einer knappen eigentumsrechtlichen Grundlegung beginnt und dann ihre Etappen – von der Entstehung über die rechtliche Anerkennung im Liberalismus bis zur Instrumentalisierung durch die fortschreitende Monopolisierung des Kapitals – im Einzelnen schildert. Am Ende dieser Entwicklung steht die schrittweise und schließlich die völlige Vernichtung der freien Gewerkschaften, die der totalitäre Staat und besonders seine extreme Ausformung im Nationalsozialismus durchgesetzt haben. Geradezu diabolisch stieß Neumann dabei die Tatsache auf, dass dieser Destruktionsprozess noch mit denselben theoretischen Mitteln analysiert werden konnte wie die Zukunftsversprechungen, die vorher damit verbunden gewesen waren.12
Es war also ein Selbstzerstörungsvorgang allergrößten Ausmaßes, der sich als der eigentliche Schock entpuppte, und er wirkte umso nachhaltiger, als die daraus entspringende Selbstreflexion die theoretische Anstrengung befeuerte. Vielleicht muss man einen krassen Widerspruch dieser Art ins Zentrum rücken, um die Ausrichtung und Reichweite, aber auch die Wucht und den inneren Widerstreit zu verstehen, die sich in Neumanns theoretischem Denken in den 1930er Jahren Ausdruck verschafften. Er folgerte daraus einerseits entschieden die notwendige Rückkehr zur marxistischen Gesellschaftstheorie, differenzierte diesen Schritt aber andererseits durch Annahmen aus der zeitgenössischen soziologischen und politischen Theorie, für die Harold Laski und Karl Mannheim Pate standen. Die Dissertation, mit der Neumann 1936 an der London School of Economics promoviert wurde, orientiert sich ganz an diesem zweifachen Methodenprogramm und entwirft eine großflächige Strukturgeschichte der Rule of Law bzw. des Rechtsstaates in der bürgerlichen Gesellschaft:
Beginnend mit einer pointierten Methodenkritik des Weimarer Staatsrechts, wird in einem weit ausgreifenden Exkurs die „Entzauberung des Rechts“ (Max Weber) an der Ideengeschichte des abendländischen Rechtsdenkens von Thomas von Aquin bis zu Hegel durchdekliniert – mit dem lapidaren Ergebnis, dass der Konflikt zwischen Recht und Macht, zwischen Freiheitssphäre und Staatsouveränität zwar jeweils verschieden artikuliert wurde, aber theoretisch durchgehend ungelöst blieb. Der zweite, der Hauptteil der Arbeit konzentriert sich auf die neuere Entwicklung seit dem Liberalismus und entwirft ein Theoriemodell, das speziell dem Gesetzesrecht drei Hauptfunktionen zuweist: Das Gesetz (definiert durch Allgemeinheit, Bestimmtheit und Nicht-Rückwirkung) ist staatlich gesetztes Recht (im Gegensatz zum Naturrecht) und garantiert erstens die Berechenbarkeit der Ökonomie, es sorgt zweitens politisch für die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Eigentumsordnung und verdeckt dies gleichzeitig, und es steht drittens für ein ethisches Minimum, das im individuellen Rechtsschutz kristallisiert ist.
Dieses Konstrukt aber, so wird unmissverständlich behauptet, ist selber nur ein Idealtypus, eine theoretische Abstraktion, die zwar im englischen Parlamentarismus und im deutschen Rechtsstaatsverständnis eine gewisse Realisierung erreichte, deren wirkliche Geschichte aber anders verlief und anders verlaufen musste – zum einen, weil schon der liberale Staat sich seines irrationalen Machtüberschusses niemals entledigt hatte, und zum andern, weil dieser Staat und sein Recht im Zuge der Industrialisierung zunehmend unter das Diktat des Kapitals und seines inneren wie äußeren Expansionsstrebens gerieten. Das Letztere wird besonders deutlich greifbar an der jüngsten Entwicklung in Weimar-Deutschland, in dem das Gesetzesrecht zunehmend nicht nur für die Aufrechterhaltung des Monopolkapitalismus instrumentalisiert, sondern damit auch seiner formalen Eigenschaften beraubt wurde, um schließlich, mit dem Übergang vom autoritären zum totalitären Staat, ganz kassiert zu werden.13 Diese Diagnose war sicherlich einigermaßen grobmaschig gewebt, aber sie hielt auch ein ganzes Arsenal scharfgeschliffener analytischer Instrumente bereit, um zu verstehen, was die politische Stunde geschlagen hatte.
Jedes politische Exil ist per se oder zumindest in den meisten historischen Fällen eine schwierige, wenn nicht ruinöse Konstellation, was erfolgreiches politisches Handeln betrifft, ebenso oft erweist es sich für viele intellektuelle Leistungen, für künstlerische oder wissenschaftliche Ideen zumal als eine Wüste der Sprach- und Wirkungslosigkeit. Für Franz Neumann trifft das nur teilweise zu: Da er in England keine Perspektive mehr für sich sah, wanderte er 1937 in die USA weiter und erhielt in New York, vermittelt durch Harold Laski, eine Anstellung in Max Horkheimers Institute of Social Research. Zwar ist es von einiger Aussagekraft, dass Neumann seine Londoner Dissertation weder in den 1930er Jahren noch später publiziert hat, als er selbst Professor an der Columbia University geworden war – immerhin hat er in gekürzter Form einige ihrer Ergebnisse in der Zeitschrift für Sozialforschung publiziert, auch wenn dabei der aufreizende Theorieimpuls und seine methodischen Folgerungen deutlich abgeschwächt wurden.14 Das aber hinderte Neumann nicht daran, sein ureigenes Projekt weiterzutreiben. Obwohl er hauptsächlich für die Finanzangelegenheiten engagiert worden war, verstand er es, die Kontaktmöglichkeiten des Instituts zu nutzen und in eine lebhafte Forschungs- und Diskussionsgemeinschaft vor allem mit Otto Kirchheimer und Herbert Marcuse einzutreten, die schon vorher zum Institut gestoßen waren.
Trotzdem ist es nach wie vor ein Geheimnis, wie es für Neumann in so kurzer Zeit möglich war, das Werk zu schreiben, das die erste große Publikation des Instituts für Sozialforschung in den USA werden und sein eigenes „magnum opus“ bleiben sollte: Das Buch trug, in gleichzeitiger Anspielung auf das Alte Testament und auf Thomas Hobbes, den Titel „Behemoth“ und erschien 1942 bei Oxford University Press.15 Es versprach eine kompakte Darstellung von Politik und Gesellschaft des Nationalsozialismus, löste diesen Anspruch auch voluminös ein und wurde daher in der amerikanischen Öffentlichkeit sofort als Standardwerk über die neueste Entwicklung in Deutschland begrüßt. Und da die USA gerade der Anti-Hitler-Koalition beigetreten waren, stand das Buch eines bislang unbekannten Exilanten aus Deutschland auch für eine politische Botschaft, die ebenso klar war, wie sie mit bemerkenswerten Ambivalenzen aufwartete: Neumann gab sich wenig Mühe, seine marxistische Grundorientierung zu verbergen, modifizierte diese lediglich durch neuere Theorien aus Soziologie, Rechtswissenschaft und Ideengeschichte und behauptete mit großer Verve, dass nur so das politische Ungeheuer, als das der Nationalsozialismus von vielen Zeitgenossen empfunden wurde, historisch zu verstehen, analytisch zu bewältigen und moralisch zu bändigen sei. Zu besiegen aber sei es nur, wenn die Westmächte mit ihrer Kriegserklärung gegen Hitler Ernst machen würden.16
Die folgenden Zeilen können keine inhaltliche Würdigung eines mehr als 600 Seiten umfassenden Buches sein, sondern wollen lediglich die Leitbegriffe herausstellen, die Neumanns Analyse den Weg weisen und die am Ende zu einem Gesamturteil verknüpft werden.17 Vielfältig in der Tat, ja überbordend ist, was da an historischen Zusammenhängen, an neuesten Gesetzestexten und Verwaltungsverordnungen, an ökonomischen und sozialen Daten, schließlich an kriegerischen Machenschaften referiert wird, um „Germany’s New Order“ anschaulich zu machen.18 Aber erst aus der Zusammenschau der politischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen ergibt sich das ganze Bild: Nur so wird greifbar, wie die nationalsozialistische Bewegung historisch auf den Weg kam, die politische Macht eroberte und dann die deutsche Gesellschaft, so rasch wie folgenreich, zu einem Regime aus Ideologie und Terror verschmelzen konnte, das die innere Opposition beseitigen, Europa mit Krieg überziehen und nichts weniger als ein rassistisches und genozidales Imperium errichten konnte. Neumanns Analyse gliedert sich in drei große Abschnitte: das politische System des Nationalsozialismus, die Organisation der Wirtschaft und die Sozialstruktur der deutschen Gesellschaft.
Einleitend schildert Neumann noch einmal die Ausgangslage der Weimarer Republik und hebt die Faktoren hervor, die von Anfang an Verunsicherung und Instabilität mit sich brachten. Was die Rolle der reformistischen Arbeiterbewegung betrifft, so erscheint ihm das Ende der ersten deutschen Demokratie sowohl selbstverschuldet als auch das logische Ergebnis der Aufkündigung des Klassenkompromisses durch Junkertum und Großindustrie, auch wenn die „nationale Revolution“ ihre eigenen Wege einschlug und dann von der völkisch-antisemitischen Bewegung überholt wurde.
Die Analyse des politischen Systems des Nationalsozialismus im engeren Sinn setzt auf eine These, die bereits die Exposition von Neumanns Gesamtinterpretation ist: Zwar sei die Feindschaft gegenüber Liberalismus und Demokratie in die Rhetorik des „totalen Staates“ gehüllt worden, doch bedeute das nicht, dass der Anspruch der NS-Bewegung auf die Subordination der staatlichen Gewalt umstandslos verwirklicht worden sei. Vielmehr gehen Staat und Partei eine schwer definierbare Symbiose ein, die in heftig umkämpften Kompromissen schließlich zur erfolgreichen Gleichschaltung des politischen wie des sozialen Lebens führt. Noch am ehesten wird für Neumann dieses neuartige Gebilde aus alltäglicher Gewalt und bürokratischer Rationalität beschreibbar, wenn man sich an den Weber’schen Begriff der charismatischen Führerherrschaft hält und diesen durch eine ausführliche Bestandsaufnahme der ideologischen Formierung und der praktischen Anwendung der NS-Weltanschauung anreichert. In diesem Sinne rekonstruiert Neumann die Ursprünge der Begriffe Volk und Rasse im deutschen 19. Jahrhundert sowie ihre „Modernisierung“ zum politischen Antisemitismus, vor allem aber interessiert er sich für ihre Benützung zur rechtlichen und ökonomischen Diskriminierung der Juden. Der Feinderklärung nach innen entsprechen nach außen die Theorien vom deutschen „Lebensraum“ und von der Überlegenheit der germanischen Rasse, die nicht nur das Völkerrecht zerstörten, sondern im Zweiten Weltkrieg schreckliche Wirklichkeit wurden.
Die Analyse des Wirtschaftssystems ist Neumann ein besonderes Anliegen. Das marxistische Plädoyer für den methodischen Primat der Ökonomie und die Annahme vom fortgesetzt kapitalistischen Charakter des Wirtschaftens unterm Nationalsozialismus führen indes nicht dazu, die großen Umbrüche der 30er und frühen 40er Jahre zu verkennen. Detailliert wird ausgeführt und an der Reorganisation der Wirtschaft im Kraftfeld zwischen Staat und Großindustrie demonstriert, dass sich die machtvoll erstarkende Konjunktur im Nebeneinander und Ineinander von zwei großen Regelkreisen bewegt: Während der privatkapitalistische Sektor vor allem durch rapide Monopolisierung charakterisiert ist, die exakt dadurch eine ungeahnte Dynamik entfalten konnte, dass die dirigistischen Eingriffe des Staates (mittels Zwangskartellen, Preiskontrollen und nicht zuletzt der Regulierung des Arbeitsmarktes) für die Steigerung des Profitstrebens eingesetzt wurden, funktionierte der ebenfalls wachsende staatliche Sektor zwar direkt als Befehlswirtschaft, ohne jedoch die gesamte Ökonomie planwirtschaftlich zu transformieren. Im Gegenteil, die Pointe von Neumanns empirienaher Argumentation geht darauf, dass der aus der Logik der Rassenideologie folgende staatliche Eigentumsraub, konkret die „Arisierung“ der jüdischen Vermögen und die „Germanisierung“ der fremdländischen Industrien, vor allem den privaten Wirtschaftsgiganten zugute kam. In der zweiten Auflage des Buches von 1944, angesichts der fortgeschrittenen Kriegswirtschaft, wird dann nicht so sehr die Umkehrung dieses Gedankens erwogen, sondern die Verschmelzung von Politik und Wirtschaft im kollektiven Verbrechen konstatiert: „Die Praktiker der Gewalt werden mehr und mehr Unternehmer und die Unternehmer Praktiker der Gewalt“.19
Der dritte Teil des „Behemoth“ buchstabiert aus, was das soziologisch bedeutet, und entfaltet zu diesem Zweck eine kombinierte Klassen- und Elitentheorie, die später als „Polykratie-Theorie“ bekannt wurde: Neumann sieht in Deutschland eine neue und scharfgeschnittene Herrschaftsstruktur entstanden, die mit direkter Gewalt und ideologischem Terror durchgesetzt wurde und nur mit denselben Mitteln aufrechterhalten werden kann. Trotzdem erscheint die herrschende Klasse weniger als eine einheitliche Formation, sondern als ein wüstes Konglomerat von politischen, sozialen und ökonomischen Machtklumpen, deren Interessenkonkurrenz nur mühsam durch die in sich selber gestaltlose Volkstumsideologie überdeckt wird – einig sind sie sich lediglich in der rücksichtslosen Gewaltanwendung nach innen und außen. Den vier zentralen Säulen des Regimes – Partei, Staatsbürokratie, Armee und Wirtschaftsführung – steht die Masse der Bevölkerung macht- und hilflos gegenüber: Wie die Zerschlagung der demokratischen Institutionen zur Zerstörung der autonomen sozialen Milieus geführt hat, so ist die Arbeiterklasse dem direkten Diktat des Kapitals und der Ministerialbürokratie ausgeliefert – Zwangsorganisationen wie die „Deutsche Arbeitsfront“ sind nur gleißende Fassade, hinter der Lohndumping und Sklavenarbeit stattfinden.
Dass Neumanns Analyse der nationalsozialistischen Gesellschaftsordnung schließlich einmündet in einen rechts- und staatstheoretischen Traktat, war natürlich seiner Vorbildung als deutscher Jurist geschuldet – und ebenso wenig war es ein Zufall, wie dieser Traktat theoretisch munitioniert war und worauf er am Ende abzielte: Er kulminiert in der ebenso erschreckten wie erschreckenden These, dass die raison d’être des Regimes in der gezielten Zerstörung rechtlich garantierter Freiheiten greifbar und das dadurch entstehende Vakuum gefüllt wird durch den blanken Einsatz von Propaganda und Terror. Dementsprechend entsetzt lautet die Schlusspointe, die Neumann mit großem Gestus ausführt, dass der Nationalsozialismus ein organisiertes Chaos, ein „Non-State“ und damit ein so neuartiges wie monströses Gebilde sei, das im Kontrast zur gesamten europäischen Ideengeschichte stehe. Wenn also das Wesen des Nationalsozialismus vor allem in seiner unerhörten Destruktivität nach innen und in der kriegerischen Aggression nach außen besteht, was bedeutet das für seine Gegner und wie lässt sich der Kampf gegen einen solchen Aggressor überhaupt führen?
III. Krieg und Nach-Krieg: Politikberatung und Deutschlandpolitik
In der Tat muss man die nun folgende Strecke in Neumanns Lebensgeschichte insgesamt als Antwort auf diese Frage verstehen: Sie führte ihn ab 1942 nach Washington und in die Institutionen des amerikanischen war-effort, zuerst in den Board of Economic Warfare und dann in den neugegründeten Geheimdienst, das Office of Strategic Services (OSS), wo er sich rasch als die leitende Figur in der Research and Analysis Branch etablierte. Zwar war dieser Schritt auch durch die finanziellen Engpässe des Instituts für Sozialforschung mitbedingt, aber maßgeblicher dafür wurden die politischen Zielvorstellungen, die Neumann mitbrachte und die sich am Ende des „Behemoth“ in aller Deutlichkeit formuliert finden: Neumann stellte sich unmissverständlich hinter die Politik der Alliierten, verband diese Parteinahme aber nicht nur mit der Forderung nach der militärischen Niederwerfung des Hitler-Regimes, sondern erklärte, dass ein nachhaltiger Sieg nur erreichbar sei, wenn er den demokratischen Wiederaufbau in Deutschland zum Hauptziel erhebe, dieser aber seinerseits einen veränderten sozio-ökonomischen Unterbau erhalte. In dieser Verklammerung steckte nichts weniger als ein Konflikt, der sich in dem Maße dramatisieren sollte, wie der Krieg gegen Hitler eskalierte und sich die Nachkriegsziele der amerikanischen Politik konkretisierten.
Das halbe Jahrzehnt, das Franz Neumann im amerikanischen Staatsdienst verbrachte, war lange Zeit skandalumwittert. Heute gehört es zu den am besten erforschten Episoden nicht nur einer speziellen Fraktion der sog. Frankfurter Schule, sondern der Ideengeschichte der sozialwissenschaftlichen Emigration nach 1933 insgesamt20: Wie Franz Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer in den Geheimdienst überwechselten, wie sich eine ganze Truppe weiterer Emigranten zu ihnen gesellte, in welche Richtung die hochkompetenten Deutschlandexperten die Direktiven ihrer Auftraggeber zu lenken verstanden und wie weit sie mit der Verfolgung eigener politischer Ziele kamen – mit dergleichen Fragen lässt sich die gigantische Masse an Stoffsammlungen, Strategiepapieren und politischen Expertisen aufschlüsseln, die einerseits als wissenschaftliche „Feindanalysen“ gedacht waren und andererseits Handlungsanweisungen dafür geben sollten, was zunächst militärisch und dann politisch gegen Hitler-Deutschland zu tun sei. Hier können nur zwei der brisantesten Themenkreise erwähnt werden, die im Laufe des Krieges und besonders gegen sein Ende im Frühjahr 1945 ins Zentrum der Aufmerksamkeit getreten sind:
Während die Neumann-Gruppe anfangs davon ausgegangen war, dass die innere Opposition gegen Hitler noch über einen gewissen Handlungsraum verfügte und die deutsche Bevölkerung durch die Kriegsverluste vielleicht auf Distanz zum Regime gehen könnte, verflüchtigte sich diese Hoffnung rasch. Ein markanter Anhaltspunkt ist der 100-seitige Anhang, den Neumann 1944 der zweiten Auflage des „Behemoth“ hinzufügte, auch weil hier die neuesten Lageberichte des OSS bereits Eingang gefunden hatten, die ein weit negativeres Bild ergaben: Im Zuge der Kriegswirtschaft und besonders der Expansion nach Osten sah Neumann eine progressive Verschmelzung der vier Herrschaftseliten am Werke, wobei der Einfluss von Parteiführung und Wirtschaftsmonopolisten auf Kosten der Staatsbürokratie gesteigert erschien und der direkte Befehl und die Ausweitung des Terrors zu unwiderstehlichen Herrschaftsinstrumenten geworden waren. Die Schlusspointe lautete jetzt, dass die anarchische Struktur des „Behemoth“ zur Vollendung gebracht, die perverse Pluralität der Herrschaftseliten im kollektiven Verbrechen zusammengeschweißt war, und zwar mittels eines hochsignifikanten Vorgangs, den Neumann mit der „Speerspitzentheorie des Antisemitismus“ zu verstehen versuchte.21
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