Impressum
Covergestaltung: andersseitig
Bearbeitung: andersseitig
ISBN: 9783961189755
2019 andersseitig.de
andersseitig Verlag
Helgolandstraße 2
01097 Dresden
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Friedrich Glauser
Matto regiert
Friedrich-Glauser-Reihe Nr. 4
Eine Geschichte zu erzählen, die in Berlin, London, Paris oder Neuyork spielt, ist ungefährlich. Eine Geschichte zu erzählen, die in einer Schweizer Stadt spielt, ist hingegen gefährlich. Es ist mir passiert, daß der Fußballklub Winterthur sich gegen eine meiner Erzählungen verwahrt hat, weil darin ein Back vorkam. Ich mußte dann den Boys und anderen Fellows bestätigen, daß sie nicht gemeint waren.
Noch gefährlicher ist das Unterfangen, eine Geschichte zu erzählen, die in einer bernischen Heil- und Pflegeanstalt spielt. Ich sehe Proteste regnen. Darum möchte ich folgendes von Anfang an festlegen:
Es gibt drei Anstalten im Kanton Bern. – Waldau, Münsingen, Bellelay. – Meine Anstalt Randlingen ist weder Münsingen, noch die Waldau, noch Bellelay. Die Personen, die auftreten, sind frei erfunden. Mein Roman ist kein Schlüsselroman.
Eine Geschichte muß irgendwo spielen. Die meine spielt im Kanton Bern, in einer Irrenanstalt. Was weiter?… man wird wohl noch Geschichten erzählen dürfen?
Da wurde man am Morgen, um fünf Uhr, zu nachtschlafender Zeit also, durch das Schrillen des Telephons geweckt. Der kantonale Polizeidirektor war am Apparat, und pflichtgemäß meldete man sich: Wachtmeister Studer. Man lag noch im Bett, selbstverständlich, man hatte noch mindestens zwei Stunden Schlaf zugut. Aber da wurde einem eine Geschichte mitgeteilt, die nur schwer mit einem halbwachen Gehirn verstanden werden konnte. So kam es, daß man die Erzählung des hohen Vorgesetzten von Zeit zu Zeit unterbrechen mußte mit Wie? und mit Was? – und daß man schließlich zu hören bekam, man sei ein Tubel und man solle besser lose!… Das war nicht allzu schlimm. Der kantonale Polizeidirektor liebte kräftige Ausdrücke und schließlich: Tubel… B'hüetis!… Schlimmer war schon, daß man gar nicht recht nachkam, was man nun eigentlich machen sollte. In einer halben Stunde werde man von einem gewissen Dr. Ernst Laduner abgeholt; so hatte es geheißen, der einen in die Heil- und Pflegeanstalt Randlingen führen werde, wo ein Patient namens Pieterlen – ja: P wie Peter, I wie Ida, E wie Erich… – kurz ein Patient Pieterlen ausgebrochen war…
Das kam vor… Und zu gleicher Zeit, das heißt in der gleichen Nacht, sei auch der Direktor der Spinnwinde – so drückte sich der hohe Vorgesetzte aus, der nicht gut auf die Psychiater zu sprechen war – verschwunden. Alles Nähere werde man von Dr. Laduner erfahren, der gedeckt sein wolle, gedeckt von der Behörde. Und über das Wort ›gedeckt‹ hatte der kantonale Polizeidirektor noch einen Witz gemacht, der ziemlich faul war und nach Kuhstall roch… Laduner? Ernst Laduner? Ein Psychiater? Studer hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und starrte zur Decke. Man kannte doch einen Dr. Laduner, aber wo und bei welcher Gelegenheit hatte man die Bekanntschaft dieses Herrn gemacht? Denn – und das war das Merkwürdigste an der Sache – der Herr Dr. Laduner hatte nach dem Wachtmeister Jakob Studer gefragt, wenigstens hatte der Polizeidirektor dies behauptet. Und am Telephon hatte der Polizeidirektor nach dieser Mitteilung natürlich erklärt, er begreife das gut, Studer sei dafür bekannt, daß er ein wenig spinne, kein Wunder, daß ein Psychiater gerade ihn wolle… Das konnte man als Schmeichelei auffassen. Studer stand auf, schlurfte ins Badezimmer und begann sich zu rasieren. Wie hieß nur schon der Direktor von Randlingen? Würschtli? Nein… Aber ähnlich, es war ein I am Ende… – Die Klinge schnitt nicht recht, langweilig, denn Studer hatte einen starken Bart – … Bürschtli?… Nein… Ah ja! Borstli! Ulrich Borstli… Ein alter Herr, der knapp vor der Pensionierung stand…
Einerseits der Patient Pieterlen, der entwichen war… Anderseits der Direktor Ulrich Borstli… Und zwischen beiden der Dr. Laduner, den man kennen sollte, und der behördlich gedeckt sein wollte. Warum wollte er behördlich gedeckt sein und ausgerechnet durch den Wachtmeister Studer von der kantonalen Fahndungspolizei?… Immer mußte man dem Studer derartig angenehme Aufträge geben. Wie verhielt man sich in einer Irrenanstalt? Was konnte man da machen, wenn die Leute hinter den Gittern hockten und sponnen? Eine Untersuchung führen?… Der Polizeidirektor hatte gut telephonieren und Aufträge geben, spaßig war das Ganze sicher nicht…
Inzwischen war Frau Studer aufgestanden, ihr Mann merkte es, weil der Geruch von frischem Kaffee die Wohnung durchdrang.
»Grüeß Gott, Studer«, sagte Dr. Laduner. Er war barhaupt, sein Haar zurückgeschnitten, vom Hinterkopf stand eine Strähne ab wie die Feder bei einem Reiher. »Wir kennen uns doch, wissen Sie, von Wien her…«
Studer erinnerte sich immer noch nicht. Die familiäre Anrede erstaunte ihn nicht übermäßig, er war sie gewohnt, und er bat den Herrn Doktor sehr höflich und ein wenig umständlich, näher zu treten und abzulegen. Aber Dr. Laduner hatte nichts abzulegen. Darum ging er auch gleich ins Eßzimmer, begrüßte die Frau des Wachtmeisters, setzte sich – all dies mit einer Selbstverständlichkeit und Sicherheit, über die sich Studer wunderte.
Dr. Laduner trug einen hellen Flanellanzug, und zwischen den Kragenspitzen seines weißen Hemdes leuchtete der dick und lasch gebundene Knoten der Krawatte kornblumenblau. Er müsse leider den Herrn Gemahl nun entführen, sagte Dr. Laduner, Frau Studer möge das nicht übelnehmen, er wolle ihn wohlbehalten wieder abliefern. Es sei da eine Sache passiert, kompliziert und unangenehm. Übrigens kenne er den Wachtmeister schon lange und gut – Studer runzelte verlegen die Stirne –, er, Dr. Laduner, habe beschlossen, den Wachtmeister als lieben Gast zu behandeln – übrigens werde es nicht so schlimm werden…
Dr. Laduners Lieblingswort schien »übrigens« zu sein. Auch sprach er ein merkwürdiges Schweizerdeutsch – Ostschweizerisch, dazwischen schriftdeutsche Worte. Seine Sprache war gar nicht urchig. Ein wenig befremdend war sein Lächeln, das an eine Maske erinnerte. Es bedeckte den untern Teil des Gesichtes bis zu den Wangenknochen. Dieser Teil war starr – und nur die Augen und die sehr hohe und sehr breite Stirne schienen zu leben…
Danke, nein, er wolle nichts nehmen, fuhr der Arzt fort, seine Frau warte daheim mit dem Frühstück auf ihn, aber jetzt müßten sie pressieren, um acht Uhr sei Rapport, heute morgen müsse er auf die »große Visite«, das Verschwinden des Herrn Direktor ändere nichts an der Sache, Dienst sei Dienst und Pflicht sei Pflicht… Dr. Laduner machte mit seiner linken, behandschuhten Hand kleine Bewegungen, stand dann auf, packte Studer sanft am Arm und zog ihn mit sich fort. Auf Wiedersehen…
Der Septembermorgen war kühl. Die Bäume zu beiden Seiten der Thunstraße trugen vereinzelte gelbe Blätter. Dr. Laduners niederer Viersitzer benahm sich gesittet, fuhr ohne Geräusch an; durch die offenen Scheiben drang eine Luft, die leicht nach Nebel schmeckte, und Studer lehnte sich bequem zurück. Seine hohen schwarzen Schnürstiefel sahen ein wenig sonderbar aus neben den eleganten braunen Halbschuhen des Dr. Laduner.
Zuerst herrschte ein abwartendes Schweigen, und während dieses Schweigens dachte der Wachtmeister angestrengt über Dr. Laduner nach, den er doch kennen mußte… Von Wien her? Studer war ein paarmal in Wien gewesen, in jener fernen Zeit, da er wohlbestallter Kommissar bei der Stadtpolizei gewesen war, damals, als die Geschichte noch nicht passiert war, jene Bankaffäre, die ihn den Kragen gekostet hatte, so daß er wieder von vorne hatte anfangen müssen, als einfacher Fahnder. Es war eben manchmal schwer, wenn man einen zu ausgeprägten Gerechtigkeitssinn hatte. Ein gewisser Oberst Caplaun hatte damals seine Entlassung beantragt, und dem Antrag war ›stattgegeben worden‹. Es handelte sich um jenen Oberst Caplaun, von dem der Polizeidirektor in gemütlichen Stunden manchmal sagte, er würde niemanden lieber in Thorberg wissen; unnötig, an diese alte Geschichte weitere Gedanken zu verschwenden, man war kassiert worden, gut und schön, man hatte wieder von vorne angefangen, bei der Kantonspolizei, und in sechs Jahren würde man in Pension gehen. Eigentlich war alles noch gnädig verlaufen… Aber seit jener Bankaffäre lief einem der Ruf nach, man spinne ein wenig, und so war eigentlich der Oberst Caplaun daran schuld, daß man zusammen mit einem Dr. Laduner in die Heil- und Pflegeanstalt Randlingen fuhr, um das mysteriöse Verschwinden des Herrn Direktor Borstli und das Entweichen des Patienten Pieterlen aufzuklären…
»Besinnen Sie sich wirklich nicht, Studer? Damals in Wien?« Studer schüttelte den Kopf. Wien? Er sah immer nur die Hofburg und die Favoritenstraße und das Polizeipräsidium und einen alten Hofrat, der den berühmten Professor Groß gekannt hatte, die Leuchte der Kriminalistik… Aber er sah den Dr. Laduner nicht.
Da sagte der Arzt, und seine Augen blickten angestrengt auf die Landstraße:
»An Eichhorn erinnern Sie sich nicht mehr, Studer?«
»Exakt, Herr Doktor!« sagte Studer, und er war geradezu erleichtert. Darum legte er auch seine Hand auf den Arm seines Begleiters. »Eichhorn! Natürlich! Und Ihr seid jetzt bei der Psychiatrie? Ihr wolltet doch damals die Jugendfürsorge in der Schweiz reformieren?«
»Ach, Studer!« Dr. Laduner bremste ein wenig, denn ein Lastauto kam ihnen entgegen und hielt die Mitte der Straße. »In der Schweiz treffen sie nur Maßnahmen, und was das Traurigste ist, sie treffen sie gewöhnlich nicht einmal, sondern schießen daneben…«
Studer lachte; sein Lachen war tief. Dr. Laduner stimmte ein: das seine war ein klein wenig höher…
Eichhorn !…
Studer sah eine kleine Stube vor sich, darin acht Buben, zwölf- bis vierzehnjährig. Das Zimmer war ein Schlachtfeld. Der Tisch demoliert, die Bänke zu Brennholz zerkleinert, die Scheiben der Fenster zersplittert. Er stand unter der Tür und sah, wie gerade ein Bub auf einen andern mit dem Messer losging. »Ich mach dich hin!« sagte der Bub. Und in einer Ecke stand Dr. Laduner und sah zu. Als er Studer in der Türe bemerkte, winkte er ganz sanft mit der Hand ab – Machen lassen! Und der Bub warf plötzlich das Messer von sich, begann zu heulen, traurig und langgezogen, wie ein geprügelter Hund, während Dr. Laduner aus seiner Ecke hervorkam und mit ruhiger, sachlicher Stimme sagte: »Bis morgen ist dann das Zimmer in Ordnung und die Scheibe eingesetzt… Ja?« Und der Knabenchor sagte: »Ja!«
Das war in der Anstalt für Schwererziehbare in Oberhollabrunn gewesen, sieben Jahre nach dem Krieg. Eine Anstalt ohne Zwangsmittel. Und ein gewisser Eichhorn, ein unscheinbarer, hagerer Mann mit braunem, schlichtem Haar hatte es sich in den Kopf gesetzt, einmal ohne Pfarrer, ohne Sentimentalität, ohne Prügel zu versuchen, ob nicht aus der sogenannten verwahrlosten Jugend etwas herauszuholen sei. Und es war ihm gelungen. Das Erziehungswesen hatte damals gerade ein Mann unter sich, der zufälligerweise Grütze im Kopf hatte. So etwas kommt vor. In diesem besondern Falle war es also ein Mann gewesen, dem die höchst einfache Idee des Herrn Eichhorn eingeleuchtet hatte. Diese Idee war folgende: Die kleinen Vaganten kennen nur einen ewigen Kreislauf: Verfehlung, Strafe, Verfehlung, Strafe. Durch Strafe wird der Protest gereizt, und der Protest macht sich Luft, indem er zu neuen ›Schandtaten‹ treibt. Wie nun aber, wenn man die Strafe ausschaltet? Muß sich da der Protest nicht einmal leerlaufen? Vielleicht kann man dann von neuem beginnen, vielleicht aufbauen, ohne moralischen Schwindel oder, wie Dr. Laduner damals gesagt hatte: ›ohne religiösen Lebertran…‹
In Fachkreisen hatte man von den Eichhornschen Versuchen viel gesprochen, und als Studer damals nach Wien gefahren war, hatte man ihm empfohlen, sich die Sache einmal anzusehen.
Er war gerade in dem Moment erschienen, als der Protest bei der bösesten Bande ›am Ablaufen war‹. Und das hatte ihm Eindruck gemacht. Am Abend war noch etwas hinzugekommen. Als Landsmann hatte ihn Dr. Laduner, der bei Eichhorn als Volontär arbeitete, zu dem Direktor mitgenommen. Man hatte gesprochen, langsam, bedächtig. Studer hatte von Tessenberg erzählt, der Erziehungsanstalt im Kanton Bern, und wie bös es eine Zeitlang dort zugegangen sei… Da war es zehn Uhr, und es läutete an der Haustür. Eichhorn ging öffnen und kam mit einem Knaben zurück, sagte zu ihm: »Setzen Sie sich. Haben Sie Hunger?«, ging dann selbst in die Küche und brachte belegte Brote. Der Knabe war ausgehungert… Bis elf Uhr war er mit den drei Männern zusammen, dann führte ihn Eichhorns Frau ins Gastzimmer. Nachher erzählte Dr. Laduner, der Junge sei schon zum dritten Male durchgebrannt. Diesmal sei er freiwillig zurückgekommen. Darum der freundliche Empfang. Und Studer hatte für die beiden Männer, den Dr. Laduner und den Herrn Eichhorn, ehrliche Hochachtung empfunden…
»Was macht der Herr Eichhorn jetzt?« fragte Studer.
»Verschollen.«
So war das immer! Einer versuchte etwas Neues, Nützliches, etwas Vernünftiges, das ging zwei, drei Jahre… Dann war er plötzlich verschwunden, untergegangen. Nun, Dr. Laduner hatte zur Psychiatrie hinübergewechselt… Fragte sich nur, wie er mit dem alten Ulrich Borstli ausgekommen war, mit dem Direktor, der verschwunden war.
Einen Augenblick dachte Studer daran, nach den nähern Umständen des Verschwindens zu fragen, ließ es aber sein, denn das Bild des jungen Dr. Laduner in der Ecke des demolierten Zimmers vor dem Buben, der auf seinen Kameraden mit gezogenem Messer losging, wollte ihn nicht loslassen… Den psychologischen Moment erfassen, an dem eine Situation reif ist!… Er hatte damals schon allerhand verstanden, der Dr. Laduner!… Und Wachtmeister Studer fühlte sich geschmeichelt, daß er angefordert worden war, und daß er Dr. Laduners Gast sein sollte…
Eins war immerhin merkwürdig: Damals in Wien hatte der Arzt noch nicht das Maskenlächeln getragen, das Lächeln, das aussah, als sei es vor einem Spiegel aufgeklebt worden… Und dann: vielleicht war der Eindruck falsch, kontrollieren ließ er sich nicht, aber es schien doch, als hocke Angst in den Augen des Dr. Laduner.
»Da ist die Anstalt«, sagte der Arzt und zeigte mit der rechten Hand durch ein Seitenfenster. Ein roter Ziegelbau, soviel man sehen konnte in U-Form, mit vielen Türmen und Türmchen. Tannen umgaben ihn, viele dunkle Tannen… Nun war der Bau verschwunden, er tauchte wieder auf, da war das Hauptportal, und zum Eingangstor führten abgerundete Stiegen empor. Der Wagen hielt. Die beiden stiegen aus.
»Lesen Sie das«, sagte Dr. Laduner und reichte Studer ein Blatt Papier über den kleinen runden Tisch. Dann sank er zurück, stützte den Ellbogen auf die Armlehne seines Stuhles, das Kinn auf die Fingerknöchel.
Die Lampe trug einen pergamentenen Schirm, auf welchem Blumen in durchscheinenden Farben gemalt waren. Studer beugte sich vor und las:
»Ld. Unterbricht die Ausfrage des Polizisten mit keinem Blick; wenn man ihn anschaut, zieht ein sonderbar unmotiviertes Lächeln über sein Gesicht. Man fragt ihn, was heute für ein Tag sei, er denkt nach und sagt mit einem seltsamen Vorbei: ›Donnerstag.‹ Er habe sich zuerst besinnen müssen. In Haft sei er seit dem Februar, er habe viel Fieber. Auf die Frage, seit wann, sagt er wieder in einem sonderbaren Vorbei: ›Seit vier Jahren‹, und meint damit, er habe seit vier Jahren stets im Frühling erhöhte Temperaturen. Gekommen sei er wegen Mord – auch dazu lächelt er, völlig unberührt, sicherlich ganz unbeteiligt. Er verabschiedet sich auch nicht vom Polizisten. Pupillen ohne Befund, Zunge belegt, Hände kein Tremor, Patellarreflex lebhaft…«
»Bis dahin«, sagte Dr. Laduner, und nahm Studer das Blatt aus der Hand.
»Halt, schauen Sie noch das Datum an…«
»16. V. 1923…«
Laduner schwieg eine Weile, dann sagte er:
»Dafür habe ich vom Chef den ersten Rüffel bekommen. Er fand, der Aufnahmestatus sei poetisch, nicht sachlich-wissenschaftlich. Sie haben die beiden Buchstaben zu Beginn des Absatzes gesehen? Ld.? Das war der Ernst Laduner, der damals 30 Jahre alt war, jung, sehr jung… Und damals machte der junge Laduner die Bekanntschaft des Pierre Pieterlen. Es war sein erstes Gutachten…«
Laduner zündete eine Zigarette an, dann hielt er das rote flache Zündholz zwischen Daumen und Zeigefinger und schwenkte es wie einen winzigen, farbigen Dirigentenstab.
»Pieterlen Pierre, damals 26 Jahre alt, angeklagt wegen Mordes, weil er sein Kind bei der Geburt erstickt hatte. Und die Fragen der Bezirksanwaltschaft lauteten (ich kann sie Ihnen aus dem Gedächtnis hersagen), sie lauteten in ihrem verzwickten Deutsch:
1. War die Geistestätigkeit des Angeklagten im Zeitpunkt der Begehung der Tat in dem Maße gestört, daß er die Fähigkeit der Selbstbestimmung oder die zur Erkenntnis der Strafbarkeit der Tat erforderliche Urteilskraft nicht besaß?
2. Für den Fall der Verneinung dieser Frage, war der Angeklagte bei Begehung der Tat vermindert zurechnungsfähig und in welchem Grade?
– Zwei schöne Fragen… Glauben Sie, daß ich einmal von zehn Uhr abends bis ein Uhr früh über diesen Fragen gehockt bin, um ganz genau zu verstehen, was die Herrschaften eigentlich meinten? So dumm war ich damals… So dumm, daß ich nach diesem Fall die Psychiatrie an den Nagel hängen wollte. Aber man entgeht scheinbar nicht einer Auseinandersetzung. Ich sollte den Pieterlen nachher wieder treffen…
Unzurechnungsfähig und in welchem Grade?…
Wie soll man so etwas wissen, Studer? Weiß ich, ob Sie Urteilskraft besitzen? Ich kann sehen, wie Sie arbeiten, wenn Sie ein Verbrechen aufdecken, ich kann mir vielleicht eine Meinung bilden, ob Sie logisch denken, wie Sie Fakten feststellen und aneinanderreihen… Aber Ihre Urteilskraft? Denken Sie, für die Herren Juristen muß man den Besitz oder den Nichtbesitz der Urteilskraft in Prozenten ausdrücken! ›Seine Urteilsfähigkeit betrug 25 Prozent oder 50 Prozent.‹ Genau, wie wenn man sagt, die Standard Oil stehen 20 Prozent oder 30 Prozent über oder unter pari… Die Welt ist komisch.«
Schweigen. Dann war Tellergeklapper aus der Küche zu hören, und der Chaschperli fragte laut, draußen im Gang, ob er dem Vatti gute Nacht sagen dürfe. Darauf antwortete Frau Laduners Stimme, er solle noch ein wenig warten. Der Arzt nahm ein zweites Blatt aus der Mappe, reichte es über den Tisch.
»Schauen Sie zuerst das Datum an…« Studer tat es.
»2. IX. 26. – Zweiter September Neunzehnhundertsechsundzwanzig.«
Und er las weiter:
»TW. Aufnahmestatus. Steht mit Vollbart und in Sträflingskleidung, die Mütze auf dem Rücken in der Hand haltend, steif da, kümmert sich aber um seine Effekten, interessiert sich speziell für seine Bleistifte, die wolle er nicht verlieren. Das Geld könne der Direktor von R. behalten, sagt er mit einem steifen Lächeln. Auf Befragen: Er habe sich über nichts zu beschweren, er habe allerdings einen Brief an seinen Vormund, Dr. L., geschrieben. Darüber möchte er sich nicht weiter auslassen. Gehemmt, steif, verweigert dem sich verabschiedenden Arzt von R. die Hand. Nach den Gründen gefragt: Nach seiner Auffassung sei das kein Arzt, das können auch Gefühlssachen sein.«
Studer legte das Blatt auf den Tisch. Er wartete. Laduner sagte und bewegte sich nicht, sein Gesicht war im Schatten:
»Es dreht sich alles um den 2. September. Merkwürdig. Am 2. September stirbt Pieterlens Kind, im nächsten Jahr wird Pieterlen am 2. September wegen Mordes zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Obwohl unser – das heißt mein Gutachten günstig war, nur weil er sich nach Ansicht des Bezirksanwaltes frech benommen hatte…
Gut. Ich habe versucht, dem Herrn Bezirksanwalt, der die Untersuchung führte, die Schlüsse, zu denen ich gekommen war, daß nämlich Pieterlen an einer latenten Geisteskrankheit laboriere, begreiflich zu machen. Wir haben tüchtige Staatsanwälte in der Schweiz, wir haben andere, bei denen ich, müßte ich sie einmal begutachten, ganz unvoreingenommen von moralischer Debilität sprechen würde. Leute, bei denen es klar auf der Hand liegt, daß sie sich mit Verbrechen nur deshalb beschäftigen, damit sie nicht selbst Verbrecher werden. Wir nennen das in unserer Fachsprache: abreagieren… Vielleicht kennen Sie auch derartige Typen. Nun, der Bezirksanwalt in jener Industriestadt gehörte zu dieser Sorte. Dick, mit gekräuselten Haaren auf einem spitz zulaufenden Schädel, die Haare eingefettet – ich rieche noch jetzt den Geruch von Brillantine – Sammler von Kupferstichen und erotisch tätiger als beruflich. Bei jedem Angeklagten, es mochte sich um einen Einbrecher, eine Ladendiebin, einen Taschendieb oder eine Hochstaplerin handeln, erkundigte er sich zuerst nach den Liebeserlebnissen der Vorgeführten. Dicke Lippen, immer feucht.
Wenn Sie sich über das Interesse gewundert hätten, das er den Leintuchgeheimnissen entgegenbrachte, so hätte er Ihnen geantwortet, er tue dies aus psychologischem Interesse. Von den Ergebnissen einer modernen Schule ist ja allerhand in die Laienwelt durchgesickert. Die Juristen besuchen jetzt auch psychiatrische Vorlesungen, was dabei herauskommt, kann man sich lebhaft vorstellen; zum Beispiel solch ein Bezirksanwalt. Er war schlecht auf den Pieterlen zu sprechen, das merkte ich gleich. Denn der Pieterlen hatte auf alle Alkovenfragen keine Antwort gegeben. Hingegen war der Herr Bezirksanwalt gut auf die Frau zu sprechen. Die hatte wahrscheinlich, verschüchtert wie sie war, weniger Widerstand geleistet und allerhand ausgepackt, was für den Herrn Bezirksanwalt interessanter war, als die Kaltschnauzigkeit des Mannes. Der Herr Bezirksanwalt sagte: ›Was wollen Sie, Herr Doktor, der Pieterlen ist ein frecher Kerl, den sollte man mürbe machen; wie er uns zuerst an der Nase herumgeführt hat! Natürlich sind Sie ihm auf den Leim gekrochen…‹ Was sollte ich sagen? Ich versuchte zu erklären, daß Pieterlen ein kranker Mensch sei, daß ich nach bestem Wissen und Gewissen nur sagen könne, daß eine Strafe, eine Zuchthausstrafe, in diesem Falle ungünstig wirken würde… Vergebene Liebesmüh.
Der Herr Bezirksanwalt lachte mich aus. Er werde es dem Pieterlen schon einsalzen, meinte er, und erzählte mir in einem Atemzug von einer besonders hübschen Kellnerin im Bahnhofbüffet zweiter Klasse und einer Sammlung legerer Gravüren vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts, die er um ein Spottgeld gekauft habe. Und dann sprach er von einer illustrierten Ausgabe der Memoiren des Marquis de Sade… Es paßte zu ihm… Ich will nicht verallgemeinern, es gibt hochanständige Leute auch unter den öffentlichen Anklägern, aber es gibt manchmal auch solche Bezirksanwälte… Was sagte mein alter Chef immer? ›Wollen Sie mich dafür verantwortlich machen, Laduner, daß es auf der Welt unvernünftig zugeht? Glauben Sie mir, auch das Verständnis entgegengesetzter Standpunkte vermag die Gegensätze nicht aufzuheben…‹ Er war klug, mein alter Chef…
Ich sagte Ihnen, es drehe sich alles um den 2. September. Drei Jahre später, auf den Tag, am zweiten September, wird Pieterlen verrückt aus der Strafanstalt in die Heil- und Pflegeanstalt jenes Kantons eingeliefert, in welchem er verurteilt worden war. Er hatte mir gesagt, noch vor der Verhandlung, er hoffe mit drei Jahren davonzukommen, und ich hoffte es auch. Mein Gutachten hatte auf Totschlag im Affekt gelautet… Und drei Jahre später… Ein anderer Arzt hat die Aufnahme gemacht. Aber ich spiele trotzdem noch mit, ich bin der Vormund geworden des Pierre Pieterlen, ja, ich war der Dr. L., dem er von R. geschrieben hatte…«
»Und heute ist auch der zweite September« sagte Studer.
Fünf und drei sind acht und ein Jahr Untersuchungshaft macht genau neun Jahre. Neun Jahre war er eingesperrt.«
Studer saß da, vorgeneigt, die Unterarme auf den Schenkeln. So konnte er Laduner von unten her ins Gesicht blicken, und er war erstaunt: die Maske war nämlich gefallen. Es saß auf dem Stuhle dort ein jugendlich aussehender Mann, mit einem weichen Mund, die Stimme tönte weder nach: ›Das Bataillon hört auf mein Kommando!‹ noch erinnerte sie an den Ton ›Liebes Kind.‹ Das Gesicht war weich, der Mund sanft geschwungen, die Stimme warm…
Und noch ausgeprägter war die Veränderung, als die Türe aufging und der Chaschperli gute Nacht sagen kam. Er gab auch Studer die Hand.
Dann war es wieder still im Zimmer, der Rauch schlängelte sich unter den Rand des Pergamentschirms und quoll dann oben heraus, wie aus einem Kamin.
Laduner sagte:
»Zuerst hat der Pieterlen in der Strafanstalt Schreinereiarbeiten verrichten müssen, er machte Särge in seiner Zelle. Glauben Sie nicht, daß ich erfinde, ich kann Ihnen alles in den Akten zeigen. Als er ein Jahr, ganz allein in der Zelle, Särge angefertigt hatte, durfte er an Militärmäntel die Knöpfe und die Knopflöcher nähen. Zwei Jahre lang. Und dann…«
Laduner suchte in der Aktenmappe nach einem Blatt; er las mit der gleichen weichen Stimme:
»Bericht der Strafanstalt, Nr. 76, Pieterlen… Auffallende Veränderungen in seinem Verhalten: Arbeiten, die er früher ganz schön gemacht hatte, macht er auf einmal nachlässig und unbrauchbar, zum Beispiel Knopflöcher an Mänteln, statt am linken Teil rechts. Bestandteile an Kleidungsstücken mit der deutlich abstechenden Querseite nach außen. Er erklärte auf Reklamationen hin, die Sachen ändern zu wollen, machte aber wieder den gleichen Fehler. Am Abend bettete er unter dem Arbeitstisch und schlief auf diesem Lager…«
Das Blatt raschelte. Laduner zündete eine frische Zigarette am Stummel der ausgerauchten an, stand auf, ging zum Fenster, sah in die Nacht, die schwer und schwül über dem Land lag.
»Er hat sich verkrochen, er hat Knopflöcher falsch genäht… Nach drei Jahren: Das ist zweimal zweiter September… Ich bin nicht gefühlvoll, Studer, glauben Sie mir, aber der Pierre Pieterlen, das ist… das ist… eben, ein Demonstrationsobjekt« und versuchte ein Lachen, das mißlang.
Studer lauschte, lauschte… Der Fall des Patienten Pieterlen interessierte ihn – wenn er ehrlich sein wollte – nicht so sehr, als der Ton, in dem er erzählt wurde.
»Wie lange tragen Sie schon das Kummet, Studer? Zwanzig Jahre? Ja? Nun, bald winkt Ihnen die Pension… Aber in diesen zwanzig Jahren haben Sie viele Akten gelesen, nicht wahr? Viele Berichte verfaßt, nicht wahr? Jetzt werden Sie sich wundern, Studer, und ich weiß, daß Sie sich schon die ganze Zeit gewundert haben, warum ich so offen zu Ihnen bin, warum ich Sie zu mir eingeladen habe… Geben Sie es zu, es ist Ihnen reichlich sonderbar vorgekommen… Aber ich habe Ihre Laufbahn verfolgt, man hat mir von dem Kampfe erzählt, den Sie mit dem Obersten Caplaun ausgefochten haben, und dann habe ich fünf Rapporte von Ihnen gelesen, sie betrafen alle den gleichen Fall. Der Fall tut nichts zur Sache. Aber die Rapporte sind mir aufgefallen, ihr Ton, er war anders als der Ihrer Kollegen. Zwischen die Floskeln der Amtssprache hatte sich etwas eingeschlichen. Es klang, als ob Sie immer versuchen wollten, zu verstehen, und wenn Sie selber verstanden hatten, dann wollten Sie auch, daß der Leser verstehen sollte… Bin ich deutlich?… Und darum erzähle ich Ihnen vom Pieterlen Pierre, weil er für mich ein Demonstrationsobjekt ist, und weil ich weiß, daß Sie mich nicht auslachen werden… Früher, mein Gott, früher hat man mich auslachen können, mit Recht, und mein alter Chef hat es auch gründlich getan, damals beim ersten Gutachten. Er hat recht gehabt. Ich bildete mir nämlich ein, man könne den Herren von der Justiz etwas begreiflich machen, aber für sie kommt nur folgendes in Frage…«
Laduner nahm einen Bogen auf und las:
»Hierdurch hat sich der Angeklagte des Mordes im Sinne von Paragraph 130 des Strafgesetzbuches schuldig gemacht, denn er hat vorsätzlich und mit Vorbedacht sein am zweiten September 1923 in seiner Wohnung in Wülflingen von seiner Ehefrau, Klara Pieterlen, lebend zur Welt gebrachtes Kind rechtswidrig getötet, indem er ihm unmittelbar nach der Geburt ein Handtuch auf das Gesicht legte, mit der Hand drückte und es mit den Händen würgte, so daß es erstickte…«
Das Blatt flatterte zu Boden, Studer hob es auf, legte es auf den Tisch. Laduner verließ das Zimmer, sprach draußen leise mit seiner Frau, kam zurück, blieb in der offenen Türe stehen:
»Roten oder Weißen?«
»Weißen!« sagte Studer, ohne den Kopf zu heben. Er kam sich unhöflich vor, aber er konnte nicht anders…
»Haben Sie Schlaf, Studer?« fragte Laduner und schenkte die Gläser voll. Er stieß mit dem Wachtmeister an, zerstreut, wartete die Antwort gar nicht ab, sondern ging auf und ab: vom flachen Schreibtisch bis zur andern Ecke des Zimmers, wo der Bücherschrank stand.
»Die Frau war Kellnerin gewesen, Saaltochter, wie wir hier sagen. In Sitten. Der Pieterlen war damals Kondukteur an der Lötschbergbahn. Vier Jahre lang haben sich die beiden gekannt. Dann wollten sie heiraten. Aber der Pieterlen verlor seine Stelle. Er bekam einmal die Grippe; als es ihm besser ging, ist er mit seiner Braut z'Tanz, Kollegen haben ihn gesehen, ihn verrätscht, er wurde entlassen. Er war unbeliebt unter seinen Kollegen, der Pieterlen, man warf ihm seinen Stolz vor. Er ging dann in eine Industriestadt in der Ostschweiz und arbeitete als Handlanger in einer Maschinenfabrik. Vier Wochen vor der Geburt des Kindes heirateten die beiden…
Ich habe zwei Kinder, Studer. Der Pieterlen hat kein Kind gewollt. Das hat er offen und deutlich gesagt. Er hat es dem Bezirksanwalt gesagt, er hat es mir gesagt. ›Vorsätzlich und mit Vorbedacht‹… Das klingt doch schön? Finden Sie nicht?… Neunzehnhundertdreiundzwanzig… Fünf Jahre nach dem Krieg… Wieviel Menschen sind im Krieg umgekommen? Wissen Sie es? Rund ein Dutzend Millionen; nicht wahr? Und der Pieterlen wollte also kein Kind auf die Welt stellen… Nicht aus weltanschaulichen Gründen, obwohl der Pieterlen allerlei gelesen hatte… Lesen macht stolz, Studer, und Pieterlen war stolz. Das haben auch seine Kollegen behauptet und seine Vorgesetzten. Seine Kollegen lasen höchstens das Blättli, nicht einmal Detektivromane, sie jaßten; Pieterlen aber las Schopenhauer und Nietzsche und dachte über die Welt und die Menschen nach. Er zeichnete in seinen Freistunden… Er lernte Englisch, und Französisch konnte er schon… Sein Vater stammte aus Biel, dann war er Melker im Oberland, seine Mutter hat er nie gekannt, sie war an seiner Geburt gestorben…
Pieterlen wollte kein Kind auf die Welt stellen, weil er als Handlanger zuwenig verdiente. Er hatte eine Einzimmerwohnung mit Küche im Dorfe Wülflingen gemietet, weil die Wohnungen dort billiger waren als in der Stadt. Der Handlanger Pieterlen verdiente achtzig Rappen Stundenlohn…
Sie werden mir einwenden, es gäbe soundso viele Handlanger, die auch nicht mehr verdienen, und die doch Frau und Kinder haben… Sie werden mir einwenden, daß es in den umgebenden Ländern noch ärger zugeht als bei uns, denn wir haben Fürsorgestellen und Armendirektoren und Eheberatungsstellen und Trinkerheilanstalten und Gottesgnadasyle und Heil- und Pflegeanstalten und Armenanstalten und Trinkerfürsorge und Waisenhäuser… Wir sind sehr human. Wir haben auch Schwurgerichtssäle und Staatsanwälte und ein Bundesgericht und sogar der Völkerbund tagt bei uns, lieber Studer… Wir sind ein fortgeschrittenes Land. Warum also hat der Handlanger Pieterlen kein Kind gewollt?
Einfache Antwort: Weil er anormal war. Das sagt sich leicht. Ich habe in meinem Gutachten geschrieben…«
Laduner griff wieder nach einem Blatt und las:
»Seine Tat entspricht Motiven einer abnormen Charakteranlage. Er stand schon seit Monaten unter dem Einfluß einer heftigen Gemütsaufregung, die dann schließlich im gegebenen Moment den letzten Ansporn zum Verbrechen gab. Er kann keineswegs als eine Verbrechernatur bezeichnet werden. Vielmehr handelt es sich bei ihm um eine ausgesprochene, angeborene Charakterabnormität, nämlich um eine schizoide Psychopathie. Es wäre durchaus nicht verwunderlich, wenn später noch eine eigentliche Geisteskrankheit, nämlich eine Schizophrenie, bei ihm ausbräche…«
»Schizophrenie…« murmelte Studer. »Was heißt das?«
Die Worte kamen nur undeutlich, weil er das Kinn in die Hände gestützt hatte, und seine Finger den Mund verdeckten.
»Eigentlich heißt es: Spaltung, Gespaltensein«, sagte Laduner. »Eine geologische Angelegenheit. Sie haben einen Berg, er wirkt ruhig und geschlossen, er ragt aus der Ebene auf, er atmet Wolken und braut Regen, er bedeckt sich mit Gras und sprossenden Bäumen. Und dann kommt ein Erdbeben. Ein Riß geht durch den Berg, ein Abgrund klafft, er ist in zwei Teile zerfallen, er wirkt nicht mehr ruhig, geschlossen, er wirkt grauenhaft; man sieht in sein Inneres, ja, das Innere hat sich nach außen gestülpt… Denken Sie sich eine derartige Katastrophe in der Seele… Und wie der Geologe mit Bestimmtheit von den Ursachen spricht, die einen Berg gespalten haben, so sprechen wir mit Bestimmtheit von den psychischen Mechanismen, die eine Seele gespalten haben. Aber wir sind vorsichtig, lieber Studer, und wenn ich ›wir‹ sage, so denke ich an die paar Leute in unserer Zunft, die nicht meinen, daß mit einigen griechisch-lateinischen Sprachenmésalliancen das Rätsel der menschlichen Psyche gelöst sei…
Der Berg! Studer, denken Sie an den Berg! Sein Inneres ist plötzlich sichtbar… Ich werde Sie morgen ins U führen. Dort werden Sie manches verstehen. Unter anderem auch die merkwürdige Scheu, von der viele Menschen, auch die Gesundesten, befallen werden, sobald sie Geisteskranken gegenüberstehen.
Einer von uns hat einmal gesagt, das komme daher, daß man da buchstäblich bei dem Unbewußten zu Besuche sei… Unbewußt, Sie werden mich wieder fragen, was unbewußt ist. Unbewußt ist alles, was wir nicht an die Oberfläche gelangen lassen, was wir so schleunigst als möglich beiseiteschieben, sobald es nur den Versuch wagt, eine Ohrenspitze zu zeigen… Zeigen Sie mir einen einzigen Menschen, der nie in seinem Leben, sei es als Kind, sei es als Erwachsener, wenigstens in Gedanken einen Mord begangen hat, der nie im Traume getötet hat… Sie werden keinen finden… Glauben Sie, daß es sonst so ungeheuer leicht wäre, Menschen in den Krieg zu jagen? Bringen Sie mir den gütigsten Vater, die besorgteste Mutter, wenn sie ehrlich sind, werden sie beide mir zugeben müssen, daß sie nicht einmal, nein, oft gedacht haben: ›Wie leichter hätt' ich's ohne Kinder!‹ Aber wie wollen Sie Ihr schon vorhandenes Kind wegbringen, es sei denn, Sie brächten es um? Sie sind Vater, Studer, ehrlich, Hand aufs Herz: haben Sie früher nicht oft das Kind als eine Last empfunden, als eine Beschränkung Ihrer Freiheit? Nun?«
Studer grunzte. Es war ein böses Grunzen. Er liebte es nicht, daß man ihm so hart auf die Haut rückte. Natürlich hatte er solche Gedanken gehabt, als seine Tochter noch klein war, und er manchmal in der Nacht nicht schlafen konnte, weil das Kind schrie. Vielleicht hatte er sogar laut geäußert, der Teufel möge das verdammte Gof holen… Aber von einem solchen Ausspruch bis zu einem Kindsmord… Obwohl…
»Gedanken sind zollfrei«, sagte Laduner, und sein Lächeln war traurig. »Solange es Gedanken sind, solange es Wünsche sind und wir den Wünschen nicht nachgeben, ist alles recht und in Ordnung, und die Gesellschaft ist zufrieden…
Es darf einer in Büchern verkünden: ›Das Eigentum ist Diebstahl!‹ Es wird ihm wenig geschehen, wenigstens heutzutage. Aber leben Sie einmal nach dem Ausspruch, dann werden Sie sich selbst verhaften müssen, nicht? Schreiben Sie und verkünden Sie es in allen Zeitungen: ›Es ist ein Irrsinn, heutzutage Kinder auf die Welt zu stellen!‹ und schreiten Sie dann zur Tat. Sie brauchen kein Kind zu töten, nur einen verbotenen Eingriff zu machen. Dann können Sie ein paar Jahre in Thorberg darüber nachdenken, daß Sie irgendeinen Paragraphen übertreten haben. Pieterlen hat eben nicht an den Paragraphen gedacht. Er hat monatelang darüber nachgegrübelt, daß nun ein Kind zur Welt kommen solle, daß er das Kind mit seinen achtzig Rappen Stundenlohn nur schlecht werde erziehen können. Er schlug seiner Frau vor, nach Genf zu gehen… Sie wollte nicht…
Und dann kam er eines Nachts heim, er hatte Überstunden gemacht, es war kurz nach Mitternacht, und er sah Licht in seiner Wohnung…
Ich bin damals nach Wülflingen gefahren, das ist ein winziges Dorf, Hügel drum herum, und das Haus, in dem Pieterlen gewohnt hatte, lag etwas außerhalb des Dorfes. Ich mußte das Zimmer sehen, ich mußte die Frau sehen. Die Frau hätte ich mir ja kommen lassen können, aber ich wollte sie in der Umgebung sehen, in der sie gelebt hatte, vier Wochen lang, mit dem Pieterlen zusammen, ich wollte die Lampe sehen, die Lampe…«
Eifrig suchte Laduner nach einem Bogen, hielt ihn dann am unteren Rande, klopfte zweimal kurz mit der Hand auf das Blatt und las:.
»Die Frau konnte nicht in den Korb sehen, weil er die Lampe bis zum Boden heruntergezogen und mit Papier umwickelt hatte, so daß es im Zimmer sehr düster war. Nachher nahm er dann eine Pfannenschaufel und vergrub das Kind im Wald. Um sicher zu sein, daß es nicht lebend vergraben würde, hat er dem Kind eine Schnur um den Hals geknotet. Seine Frau wußte von alledem nichts…«
Pause.
Studer starrte auf den Lampenschirm. Er hatte beide Hände fest um die Armstützen seines Stuhles geschlossen. Es war ihm zumute, wie einmal bei einem Alpenflug: Das Flugzeug rutscht ab, unaufhaltsam, und dann kommt ein Gefühl in der Magengrube auf, nichts steht mehr sicher, alles ist schwankend… Auch damals hatte er sich verzweifelt mit beiden Händen festgehalten, obwohl er wußte, es nütze nichts… Schreibmaschinenbuchstaben auf weißem Papier… Worte, Worte, Sätze… Einer, der die Worte vorlas und die Sätze, und dann war das Zimmer da und die Frau im Bett und die Lampe an der langen Schnur und Pierre Pieterlen hatte einen Mord begangen: ›Vorsätzlich und mit Vorbedacht…‹
»Er hatte seine Frau dermaßen in der Gewalt«, las Laduner mit eintöniger Stimme, und doch war die Betonung so sonderbar, daß Studer ein wenig stutzte, »und er konnte so stark auf sie einwirken, daß sie nicht versuchte, sich seinem Willen zu widersetzen. Sie war damit einverstanden, weder eine Hebamme noch einen Geburtshelfer beizuziehen…«
Laduner räusperte sich trocken. Studer war zerstreut, ein paar Sätze verhallten, dann hörte er:
»…um es zu ersticken. Es gab nur einen kleinen Laut von sich, und er glaubte nicht, daß dieser von seiner Frau gehört werden könnte, weil er durch das Handtuch gedämpft war… Er zeigte ihr das Kind, ohne daß sie genau sehen konnte, ob es ein Mädchen oder ein Knabe war. In Wirklichkeit handelte es sich um ein lebend geborenes Mädchen, das vollständig ausgetragen war…«
Laduner versorgte das Blatt in der Mappe, klopfte die untere Kante auf den Tisch, um die Papiere zu ordnen, dann schob er die Mappe so lange zurecht, bis die Kante der Mappe mit der Tischkante parallel verlief. Er bedeckte die Augen mit der Hand und sprach weiter:
»Das Zimmer… Ein Doppelbett. Der Kalkverputz der Wände schmierig, stellenweise abgebröckelt. Drei Stühle; ein Tisch, mit einer giftiggrünen Decke, die mit Fransen gesäumt war… Die Frau sah müde aus, sie war ja auch verhaftet worden! Dann hatte man sie wieder laufen lassen, weil der Mann alles auf sich genommen hatte. Sie hockte am Tisch und spielte mit den grünen Fransen. Ich habe wenig mit ihr gesprochen. Ein einfacher Mensch, verstört. Sie hat mir nicht einmal in die Augen geblickt. Unter anderem sagte sie, daß ihr Mann eigentlich nur bei ihr glücklich gewesen und sehr selten aus sich herausgegangen sei, er habe keine Freunde gehabt… ›So 'ne Gschyter!‹ hat sie gesagt. Und als ich fortging, wußte ich, daß die Frau einverstanden gewesen war mit der Tat. Sie hat es ziemlich deutlich zu verstehen gegeben. Mir gegenüber. Vor dem Gericht hat sie alles geleugnet. Sie sagte: ›Mein Mann hat mich ganz in der Gewalt gehabt…‹ Was hätten Sie getan, Studer? Noch einen Menschen unglücklich gemacht? Es im Gutachten gesagt? Ich weiß, mein großer Kollege zum Beispiel, der aussieht wie der Schauspieler Bassermann, wenn er im Film ›Alraune‹einen geheimnisvollen Sanitätsrat zu spielen hat, mein großer Kollege ist jederzeit bereit, die Justiz zu unterstützen und ihr nach dem Mund zu reden. Er ist Richter und Arzt in einer Person. Schön! Wenn man so kumulieren kann… Ich kann es nicht. Ich bin ein bescheidener Mann, Studer, und wenn ich bescheiden sage, so ist das ein Zeichen, daß ich es eigentlich gar nicht bin. Aber ich glaube immer noch, daß jeder Schuster bei seinem Leisten bleiben soll. Schließlich, ich bin Arzt, Seelenarzt, wie man uns draußen mit einem ein wenig spöttischen Lächeln nennt, weil wir manchmal ein wenig komisch sind mit unsern Fremdwörtern. Aber das ist ja nebensächlich…
Laduner stand auf, ganz plötzlich; da er keinen Rock anhatte, hoben sich seine Hände, als er sie in die Seiten stützte, dunkel und braun vom weißen Stoffe des Hemdes ab.