Johannes Krause
mit Thomas Trappe
Die
Reise
unserer
Gene
Eine Geschichte über uns
und unsere Vorfahren
Propyläen
Das Buch
Woher kommen wir? Wer sind wir? Was unterscheidet uns von anderen? Diese Fragen stellen sich heute drängender denn je. Johannes Krause und Thomas Trappe spannen den Bogen zurück bis in die Urgeschichte und erzählen, wie wir zu den Europäern wurden, die wir sind.
Migration und Wanderungsbewegungen sind keine Phänomene der Neuzeit: Seit der Mensch den aufrechten Gang beherrschte, trieb es ihn aus seiner Heimat Afrika in die ganze Welt, auch nach Europa. Bis vor Kurzem lag diese Urgeschichte noch im Dunkeln, doch mit den neuen Methoden der Genetik hat sich das grundlegend geändert. Johannes Krause, einer der führenden Experten auf dem Gebiet, erzählt gemeinsam mit Thomas Trappe, was uns die Gene über unsere Herkunft verraten: Gibt es „Urvölker“? Wann verloren die frühen Europäer ihre dunkle Haut? Welche Rolle spielte die Balkanroute in den vergangenen 40 000 Jahren? Eine große Erzählung, die zeigt: Ohne die Einwanderer, die über Jahrtausende aus allen Richtungen nach Europa kamen und immer wieder Innovationen mitbrachten, wäre unser Kontinent gar nicht denkbar.
Die Autoren
Johannes Krause, geb. 1980, ist Professor für Archäogenetik, Experte für die Entschlüsselung der DNA aus alten Knochen und Direktor des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena. 2010 entdeckte er auf Grundlage eines Mittelfingerknochens den Denisova-Menschen, einen neuen Urmenschen. Das Wissenschaftsjournal »Nature« bezeichnete Krause als »rising star in ancient-DNA research«. Er lebt in Leipzig.
Thomas Trappe, geb. 1981, ist Journalist und hat sich intensiv mit dem Rechtspopulismus beschäftigt. Er veröffentlichte in der »Süddeutschen Zeitung«, der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« und »Die Zeit«. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem mit dem Axel-Springer-Nachwuchspreis ausgezeichnet. Er lebt in Berlin.
Johannes Krause
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unserer
Gene
Eine Geschichte über uns
und unsere Vorfahren
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ISBN: 978-3-8437-2032-8
© 2019 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
Karten: Peter Palm
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
INHALT
Über das Buch und die Autoren
Titelseite
Impressum
PROLOG
KAPITEL 1
Ein Knochen auf dem Schreibtisch
Eine Billion am Tag
Fortschritt durch Mutationen
Es grüßt der Urmensch
Die Mutter aller Gene
Die wilden Jahre sind vorbei
Die Mär vom Urvolk
Die Reise von Pest und Cholera
KAPITEL 2
Urmenschen-Sex
Das Problem mit der Inzucht
Die Festung Europa fällt
Giftiger Regen am dunklen Horizont
Eine Brücke nach Osten
KAPITEL 3
Ein Platz an der Sonne
Das einfache Leben in der Wildnis
Natürliche Verhütung, archaische Rituale
Pioniere der Gentechnik
Die Leiche im Keller
Helle Haut als Fleischersatz
Die unverwüstliche Balkanroute
KAPITEL 4
Jäger auf der Flucht
Stress und ungesunde Ernährung
Steigende Gewaltbereitschaft auf engem Raum
Schwedische Traktoren
»Genetische Fossilien« auf Sardinien
Das Zeitalter der Infektionskrankheiten beginnt
KAPITEL 5
Cowboys und Indianer
Die Vier-Komponenten-Europäer
Ein schwarzes Loch von 150 Jahren
Die Spätfolgen nationalistischer Geschichtsschreibung
Männliche Dominanz
Die Milch macht’s
Aufbruch zur Massentierhaltung
KAPITEL 6
Sprachlose Knochen
Vulkanausbruch auf Santorin
Kein Slawisch in Großbritannien
Sprache ist Mathematik
Wurzeln im Iran
Sprache als Herrschaftsinstrument
KAPITEL 7
Fortschritt durch Bronze
Die Erfindung des Patriarchats
Konsumgesellschaft und Massenproduktion
Das Ende des Einzelkämpfers
Der Fruchtbare Halbmond
Das Fundament steht
KAPITEL 8
Der Mensch ist die neue Fledermaus
Der arme Floh
Hilfe vom Pentagon
Die Pest folgt der Migration
Auf dem Rücken der Pferde
Spätrömische Zustände
Grenzen dicht, Misstrauen gegen Fremde
Der Angriff des Klonkriegers
Zurück zu den Wurzeln
KAPITEL 9
Tod im Sammellager
Lepra in Londoner Parks
Die Lepra geht, die Tuberkulose kommt
Eine hundertjährige Todeswelle
Die Täuschungen der Syphilis
Unterschätzte Gefahr
SCHLUSS
Keine Romantisierung, kein Fatalismus
Die Sehnsucht nach Wald und Wiese
Ist die Genetik rehabilitiert?
Nationale Grenzen sind keine genetischen
Afrika, der schwarze Block
Volk und Rasse waren einmal
Die beschränkte Kraft der »Intelligenzgene«
Die Verlockungen des Menschen-Designs
Grenzenlos
Quellen
Danksagung
Karte: Die Besiedlung der Welt durch den modernen Menschen
Karte: Neolithische Kulturen
Bildnachweis
Feedback an den Verlag
Empfehlungen
PROLOG
Nach der Pandemie sollte nichts mehr sein, wie es vorher war. Wie ein Sturm fegte die bis dahin unbekannte Krankheit über Europa, und wo sie wütete, sortierten sich komplette und seit Jahrhunderten etablierte Gesellschaftssysteme völlig neu. Die Macht der Krankheitserreger spürte die Menschheit vor 4.800 Jahren mit brachialer Gewalt. Die Seuche nahm im Osten ihren Ausgang und sorgte offenbar dafür, dass sich die genetische Struktur der in Europa lebenden Menschen nahezu komplett änderte – Osteuropäer also den Kontinent übernahmen und schließlich die Bronzezeit einleiteten. Es war die Pest, die Europa in der Steinzeit wahrscheinlich das erste Mal heimsuchte, und danach im Laufe der Geschichte immer wieder schlimmste Verheerungen anrichtete. Schon im Mittelalter versuchten die Menschen, durch Einreisesperren, Quarantänen und ein Runterfahren der Handelsbeziehungen die Krankheit einzudämmen, deren Ursache sie nicht kannten, deren Ausbreitung sie aber direkt beobachten konnten. In Venedig etwa, einem wirtschaftlichen Kraftzentrum jener Zeit, erlahmten die Handelsbeziehungen. Und in den Straßen starben die Menschen in einer Zahl, die nur noch Massenbestattungen zuließ. Zustände, von denen man bis vor Kurzem hoffte, dass sie sich nicht wiederholen würden. Bis im März 2020 Bilder um die Welt gingen: Von Militärlastern, die in Bergamo Leichen von Menschen, die an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben waren, in Krematorien abtransportierten.
Fast 5000 Jahre sollte es dauern, bis wir überhaupt von der Steinzeitpest erfuhren. Mit revolutionärer Technologie bewaffnet, zermahlten wir uralte Knochen zu Staub und destillierten aus ihrer DNA die Geschichten, die wir in diesem Buch erzählen. Der junge Wissenschaftszweig der Archäogenetik nutzt in der Medizin entwickelte Methoden, um altes Erbgut, das teilweise Hunderttausende Jahre alt ist, zu entschlüsseln. Das Fach nimmt gerade noch Fahrt auf, doch ist der bisherige Erkenntnisgewinn schon unermesslich. In menschlichen Knochen aus einer fernen Vergangenheit erkennen wir nicht nur genetische Profile der Verstorbenen, sondern auch, wie sich ihre Erbanlagen in Europa ausbreiteten, also wann und woher unsere Vorfahren kamen. Und auch die Bakterien tödlicher Krankheiten, nicht nur der Pest, können wir inzwischen aus den in Zähnen getrocknetem Blut hunderter und tausender Jahre alter Knochen herausfiltern. Die Geschichte und auch die Krankengeschichte Europas kann dank dieser archäogenetischen Verfahren völlig neu erzählt werden. Und es zeigt sich, dass zwei der großen Themen, die die Welt derzeit, in den zurückliegenden und wohl auch den kommenden Jahren beschäftigen, Konstanten in der menschlichen Geschichte sind: Tödliche Pandemien und ständige Migrationsbewegungen.
Als dieses Buch im Februar 2019 erschien, war die politische Diskussion in Deutschland noch geprägt von der »Flüchtlingskrise« des Jahres 2015. Die Aufmerksamkeit der Leser und der Presse richtete sich vor allem auf jene Passagen, in denen es um die archäogenetischen Nachweise der unzähligen Migrationsbewegungen in der Welt und den ständigen genetischen Austausch unser aller Vorfahren ging. Nun, ein Jahr später, scheint dies weit weg, da der gesamte Globus es mit der erbarmungslosen Kraft eines Virus namens SARS-CoV-2 zu tun bekommen hat. Und auch, wenn sich ein Vergleich zwischen der sehr viel tödlicheren Pest und dem neuartigen Corona-Virus verbietet, so zeigt sich doch eine Parallele: Schon immer vermochten es unsichtbare Pathogene, ganze Gesellschaften von einem Tag auf den anderen aus dem Gefühl der Unangreifbarkeit in eine lähmende Ohnmacht zu stürzen. Welche Folgen die derzeitige Pandemie für das Europa der Zukunft haben wird, das vermag heute noch niemand abzuschätzen. In diesem Buch, immerhin, können wir zeigen, was solche Ereignisse für unsere Vorfahren bedeuteten. Es wäre vermessen, daraus politische Schlüsse für die Gegenwart zu ziehen, denn das ist nicht die Aufgabe der Archäogenetik. Aber wir können helfen, besser einzuordnen. Und Europa als das zu verstehen, was es ohne Zweifel ist: eine sich über Jahrtausende erstreckende Fortschrittsgeschichte, die ohne die Migration und Mobilität von Menschen unmöglich gewesen wäre, und die es immer wieder vermochte, auch aus katastrophalen Pandemien letztlich gestärkt hervorzugehen. Wir müssen kein Geheimnis daraus machen, dass wir zumindest in diesem Punkt auf eine Wiederholung der Geschichte hoffen.
Zunächst aber sollen in diesem Buch die großen Migrationswellen, die Europa seit der Urzeit prägten und auch jene, die von hier ausgingen, Thema der folgenden Seiten sein. Wir beschäftigen uns unter anderem mit der ewigen Balkanroute und den seit Menschengedenken auftretenden Konflikten, die mit Migrationen einhergingen. Wir werden erklären, warum die ersten Europäer dunkelhäutig waren. Und warum man mit Genomanalysen einzelne Europäer zwar auf einer Landkarte verorten kann, Völker oder gar Nationalitäten sich aber genetisch nicht eingrenzen lassen. Wir spannen einen Bogen von der Eiszeit, in der die genetische Reise der Europäer begann, bis zum Heute, in welchem wir kurz davorstehen, unsere Evolution in die eigenen Hände zu nehmen. Wohlgemerkt sollen mit dem Buch nicht nur politische Kontroversen adressiert werden, sondern auch erstmals die Erkenntnisse der Archäogenetik über die Geschichte Europas in einem deutschsprachigen Werk zusammengefasst werden.
Für Schwarz-Weiß-Debatten taugen die neuen Erkenntnisse nicht. Zweifelsohne prägten Einwanderer Europa, und fraglos brachten die damit einhergehenden Verwerfungen viel Leid mit sich, etwa für die Jäger und Sammler, die von den anatolischen Ackerbauern verdrängt wurden. Und ja, die Geschichte der Migration war auch immer eine der tödlichen Krankheiten. Das Buch liefert, dessen sind wir uns bewusst, Argumente für diejenigen, die gegenüber der Migration aufgeschlossen sind, wie auch für jene, die ihr strikte Grenzen setzen wollen. Nur wird hoffentlich niemand nach der Lektüre noch abstreiten, dass die Mobilität in der Natur des Menschen liegt. Am liebsten wäre den Autoren natürlich, wenn sich die Leser ihrem Standpunkt annäherten, dass die seit Jahrtausenden erprobte globale Gesellschaft auch in Zukunft der Schlüssel zum Fortschritt sein wird. Die Zeiten, die die Welt gerade durchlebt, zeigen die Zweischneidigkeit der menschlichen Mobilität schließlich wie unter einem Brennglas. Einerseits wäre die Ausbreitung von Covid-19 ohne sie kaum denkbar gewesen. Andererseits führt ihre weitgehende Einschränkung nur für ein paar Wochen zu sozialen Verwerfungen und wirtschaftlichen Einbrüchen, deren Ausmaß weltweit – und nicht zuletzt in Italien – noch auf Jahre hinaus im Alltag sichtbar sein werden.
Zwei Autoren arbeiteten an diesem Buch: Johannes Krause, dem ab dem folgenden Kapitel die Rolle des Ich-Erzählers zukommt. Er gehört (das schreibt aus Bescheidenheitsgründen der zweite Autor) zu den etabliertesten Experten auf dem Gebiet der Archäogenetik weltweit und ist Direktor am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropolgie in Leipzig. Co-Autor Thomas Trappe kam nicht nur die Aufgabe zu, das gesammelte Wissen Krauses zu einer kompakten Erzählung zu verdichten, sondern auch, ihr einen zeitgenössischen Rahmen zu geben und in die aktuellen politischen Debatten einzubetten. Trappe arbeitete in den vergangenen Jahren immer wieder journalistisch mit Krause zusammen, außerdem beschäftigte er sich mit dem Nationalismus und dem völkischem Gedankengut heutiger Tage. In vielen Gesprächen beider Autoren entstand der Wille, Wissenschaft und tagesaktuelle Debatte in einem gemeinsamen Buch zusammenzubringen.
Beginnen wollen wir mit einem schnellen Ritt durch das kleine Einmaleins der Archäogenetik. Und mit einem Fingerknochen, der Krauses wissenschaftliche Laufbahn maßgeblich beeinflusste. Dieser machte uns, völlig überraschend, mit einer neuen Menschenform bekannt – und zeugte indirekt von der Affinität der frühen Europäer zum Neandertaler.
Johannes Krause und Thomas Trappe
Berlin, im Juni 2020
KAPITEL 1
Knochenjob
Ein sibirischer Finger führt uns zum neuen Urmenschen. Genetiker in Goldgräberstimmung, sie haben Wundermaschinen. Adam und Eva lebten getrennt. Der Neandertaler war eine Täuschung. Jurassic Park macht alle verrückt. Ja, wir alle sind mit Karl dem Großen verwandt.