Norbert Frei, Franka Maubach,
Christina Morina, Maik Tändler
Zur
rechten
Zeit
Wider die Rückkehr
des Nationalismus
Ullstein
Das Buch
Die Sehnsucht nach einer »konservativen Revolution« zieht sich durch die gesamte deutsche Nachkriegsgeschichte. Immer wieder forderten Nationalkonservative und Rechtsradikale die liberale Demokratie heraus. Doch seit der »Flüchtlingskrise« hat sich die Sprengkraft ihrer Argumente enorm verstärkt: Viele Positionen von AfD, Pegida und der Neuen Rechten sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen und das Verlangen nach einer heilen Geschichte heizt die Stimmung weiter an. Sind das noch die Deutschen, die glaubten, ihre Vergangenheit mustergültig »bewältigt« zu haben? Präzise führen die Autoren vor Augen, was derzeit auf dem Spiel steht – und wie es dazu gekommen ist.
Die Autoren
Norbert Frei lehrt Neuere und Neueste Geschichte in Jena und leitet das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Franka Maubach ist Historikerin an der Universität Jena und schreibt derzeit an einer Arbeit über die Deutung des »deutschen Sonderwegs«.
Christina Morina lehrt Neuere und Neueste Geschichte Deutschlands in Europa an der Universität Amsterdam.
Maik Tändler ist Historiker an der Universität Jena und forscht zur Geschichte der intellektuellen Rechten in Deutschland.
Norbert Frei, Franka Maubach,
Christina Morina, Maik Tändler
Zur
rechten
Zeit
Wider die Rückkehr
des Nationalismus
Ullstein
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ISBN: 978-3-8437-2058-8
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Umschlaggestaltung: BÜRO JORGE SCHMIDT, München
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Inhalt
Über das Buch und die Autoren
Titelseite
Impressum
Einführung
Weil wir das (fast) alles schon mal hatten
KAPITEL 1
»Einmal muss doch Schluss sein«
Die Gegenwart der Vergangenheit in der Ära Adenauer
Was bedeutete die Rückkehr der »Ehemaligen«?
Antisemitismus, Auschwitz und die Frage der Verjährung
Anmerkungen zum Kapitel
KAPITEL 2
»Antifaschistisch-demokratische Umwälzung«
Geschichte und politische Kultur in der DDR
Antifaschismus, oder:
Lehren ohne Lernen
Demokratie oder:
»Plane mit, arbeite mit, regiere mit!«
Anmerkungen zum Kapitel
KAPITEL 3
»Widerstand«
Mobilisierung von rechts in der frühen Bundesrepublik
»Konservative Revolution« oder:
Das »Gute« am Nationalsozialismus
Die »Nationale Opposition« in den fünfziger Jahren
Der kurze Frühling der NPD
Anmerkungen zum Kapitel
KAPITEL 4
»Deutschland ist kein Einwanderungsland«
Von der Arbeit auf Zeit zum Aufenthalt auf Dauer
»Kanaken raus«
Sklavenarbeit im sozialistischen Bruderland
Anmerkungen zum Kapitel
KAPITEL 5
»Vergangenheit, die nicht vergehen will«
Entsorgungsbemühungen seit den Siebzigern
Die Präsenz der Überlebenden und die Wünsche nach »Normalität«
Anmerkungen zum Kapitel
KAPITEL 6
»Links-rot-grün verseuchtes 68er-Deutschland«
Nach Achtundsechzig – nationalistische Gewalt und Neue Rechte
Von den Republikanern zur »selbstbewussten Nation«
Anmerkungen zum Kapitel
KAPITEL 7
»Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!«
Nachwendepogrome
Mord in Serie
Anmerkungen zum Kapitel
KAPITEL 8
»Wir sind das Volk!«
Das Erbe von 1989
»Jetzt wächst zusammen …«
Anmerkungen zum Kapitel
Schluss
»Erinnerungspolitische Wende um 180 Grad«?
Anhang
Nachwort
Zum Weiterlesen
Abkürzungen
Zu den Abbildungen
Empfehlungen
EINFÜHRUNG
Weil wir das (fast) alles schon mal hatten
Zu lange haben wir Deutsche geglaubt, das alles ginge uns nichts an: die neue Fremdenfeindlichkeit der früher so weltoffenen Niederländer, die plötzliche nationale Engherzigkeit der Dänen und Schweden, der Rechtsruck in Ungarn, Polen und Tschechien, das Brexit-Votum der Briten, die Begeisterung so vieler Franzosen für Marine Le Pen, der Erfolg rechter Parteien in Italien und Österreich, der täglich neue Schock namens Donald Trump. Für fast ein Jahrfünft hatte es so ausgesehen, als sei rechter Populismus nur das Problem der anderen, die Bundesrepublik hingegen das kerngesunde Bollwerk westlicher Demokratie. Spätestens seit der Bundestagswahl vom September 2017 aber wissen wir, dass der globale Rechtsruck auch Deutschland erfasst hat.
Der Einzug der AfD in den Bundestag war eine Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik. Zwar scheint die Partei auf Bundesebene – anders als in den ostdeutschen Ländern, vor allem in Sachsen – von einer Regierungsbeteiligung momentan noch weit entfernt. Aber das kann sich ändern.
Darum ist es an der Zeit, sich klarzumachen, was die Renaissance rechten und rechtsradikalen Denkens bedeutet. Schon jetzt haben die Aktualisierung völkischer Stereotype, das Verlangen nach einer homogenen Nation und die Sehnsucht nach einer fleckenlosen Geschichte – kurz: hat die Rückkehr des Nationalismus – das Selbstverständnis der bundesrepublikanischen Gesellschaft spürbar erschüttert.
Aus zeithistorischer Sicht stellt sich nicht nur die Frage nach den Gründen dieser Entwicklung, sondern auch nach ihren Vorläufern in unserer Geschichte. Wer die jüngsten Erfolge der Rechtspopulisten verstehen will, tut gut daran, sich zu vergegenwärtigen, unter welchen Bedingungen in Deutschland nach 1945 rechte Denkweisen verfangen und Anhänger finden konnten. Dabei zeigt sich, dass es der Rechten ungeachtet ihrer hartnäckigen Bemühungen und mancher Konjunkturen über die Jahrzehnte nicht gelungen ist, ihre zeitweiligen Erfolge in dauerhaften politischen Einfluss zu übersetzen. Richtig ist allerdings auch, dass keiner ihrer Anläufe so erfolgreich war wie der gegenwärtige.
Das besorgniserregend Neue sind nicht die alten Parolen, von denen wir einige als Überschriften für die folgenden Kapitel verwenden. Schaut man genauer hin, haben sich die rechten Sprüche über die Jahrzehnte kaum verändert. Neu aber ist, dass und in welchem Ausmaß die unermüdlich recycelten Forderungen nach »Schlussstrich« und »sicheren Grenzen«, nach einer heilen Geschichte, einer »reinen« Nation und nationalstolzen »Leitkultur« auf Resonanz stoßen. Plötzlich erzielen sie, wie von einer Welle getragen, politische Wirkungsmacht – und verunsichern sogar Menschen, die von sich sagen, mit rechten Überzeugungen nichts im Sinn zu haben.
Dass der Nationalismus – ein im 19. Jahrhundert entstandenes politisches Konzept – wieder derart attraktiv geworden ist, stellt eine ebenso gefährliche wie erklärungsbedürftige Entwicklung dar. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich vor allem im Westen, langsam aber sicher und weit über die akademische Forschung hinaus, die Erkenntnis durchgesetzt, dass »Nationen« Imaginationen sind; dass sie, wie der amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson gezeigt hat, auf »erfundener« Gemeinschaft beruhen. Parallel dazu entstanden alternative Ordnungskonzepte: zum Beispiel das der Europäischen Integration, die zur Sicherung von Frieden und Wohlstand auf eine gemeinsame Werte-, Rechts- und Wirtschaftsordnung setzt statt auf die Idee einer historisch vorbestimmten, ewiggültigen Volks- oder Schicksalsgemeinschaft. Der inzwischen fast in Vergessenheit geratene »Verfassungspatriotismus« der alten Bundesrepublik war zugleich Ergebnis und wichtiger Antrieb dieses alternativen, postnationalen Denkens.
Nach dem Ende des Kalten Krieges hofften nicht wenige, dieses Denken könnte sich in ganz Europa oder gar weltweit durchsetzen; manche glaubten gar an ein Ende der Geschichte. Inzwischen sehen wir: Der Untergang des Kommunismus ermöglichte nicht nur Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit auch im Osten, sondern zugleich die Rückkehr des Nationalismus. Die gemeinschaftsstiftende Kraft dieser Vorstellung entfaltet seitdem einen gefährlichen Sog. In den Staaten Ost- und Südosteuropas folgt der neue Nationalismus als Reaktion auf jahrzehntelange politische Unterdrückung, in vielen westlichen Staaten huldigen ihm populistische Bewegungen als vermeintliches Allheilmittel gegen die Defizite und Krisen der liberalen Demokratie.
Es ist dieser weltweit zu beobachtende, nun auch in die Mitte der deutschen Gesellschaft reichende Vorstoß nationalistischer Polemik, Programmatik und Politik, der beunruhigt. Er verlangt, über Gesellschaftsanalyse und Gegenwartsdiagnose hinaus, gerade auch nach historischer Einordnung – zumal angesichts der wiederholt von Deutschland ausgegangenen hypernationalistischen Gewalt.
So ist zu fragen, wie die Entwicklung der letzten drei, vier Jahre möglich wurde in einer Gesellschaft, die ihre – zum Teil doppelte – Diktaturerfahrung mustergültig »bewältigt« zu haben schien. Wie konnten diese Verschiebungen geschehen in einem Land, das wegen seiner ernsthaften, wenn auch hindernis- und windungsreichen Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust anderen Staaten mit diktatorischer Vergangenheit für geraume Zeit sogar als Vorbild galt? War die Bereitschaft zu historischer Aufarbeitung und Erinnerung am Ende bloß das Trugbild von Deutungseliten, die sich abgekoppelt hatten von den tatsächlichen Auffassungen und Einstellungen breiter Bevölkerungsschichten? Oder sind, wie manche meinen, die Abwehr selbstkritischer Fragen an die eigene Nation und der Einzug einer rechten Partei ins Parlament nur ein Ausweis demokratischer Normalität?
Die Geschichte der zweiten deutschen Demokratie war immer auch die Geschichte einer – im Großen und Ganzen – erfolgreichen Auseinandersetzung mit Autoritarismus und antidemokratischem Denken. Aber um zu verstehen, was derzeit auf dem Spiel steht und wie es dazu gekommen ist, gilt es, die Geschichte der beiden deutschen Staaten nach 1945 noch einmal neu in den Blick zu nehmen. Sie unter dem Eindruck der gegenwärtigen rechten Konjunktur anders denn als gängige Erfolgsgeschichte zu erzählen: Das versuchen wir in den folgenden Kapiteln.
Das Wort Versuch ist dabei ernst gemeint. Dieses Buch ist keine Streitschrift, auch kein Leitfaden oder Ratgeber, der einen einfachen Weg aus der Krise weist. Vielmehr geht es uns darum, die gegenwärtigen Herausforderungen klarer herauszuarbeiten, indem wir sie zeithistorisch perspektivieren. Die Dinge im größeren Kontext der langen Geschichte Nachkriegsdeutschlands zu betrachten heißt auch, sich von den oft eher situativen Befunden der Politik- und Sozialwissenschaften zu lösen – und sich von einer medialen Alarmstimmung fernzuhalten, die mitunter zu befördern scheint, was sie zu bekämpfen sucht.
Die zweite deutsche Demokratie steht nicht vor ihrem Zusammenbruch, und schon gar nicht stehen wir vor einem neuen 1933; dafür sind die ökonomisch-sozialen, vor allem aber auch die historisch-politischen Rahmenbedingungen viel zu verschieden. Dennoch sind die jüngeren Entwicklungen, die aktuell verbreiteten Verunsicherungen, Konflikte und Krisengefühle als fundamentale Herausforderung unserer Gesellschaft zu verstehen, die sich ihrer Liberalität, ihrer Weltoffenheit und ihrer erfolgreichen »Aufarbeitung« der Vergangenheit vielleicht allzu gewiss geworden ist – und dabei zu wenig beachtet hat, dass unter dem Dach des seit 1990 in ganz Deutschland gültigen Grundgesetzes nach wie vor zwei sehr verschiedene politische Kulturen wohnen.
Der Erfolg der AfD bei der Bundestagswahl 2017 war nur der vorläufige Höhepunkt einer nicht leicht zu entschlüsselnden Entwicklung. Denn die rechtspopulistische Mobilisierung von Bevölkerungsschichten, die besonders, aber nicht nur im Osten Deutschlands von den Partizipationsmöglichkeiten eines demokratischen Gemeinwesens zuletzt kaum noch Gebrauch gemacht hatten, hat Grundsatzfragen der demokratischen Gesellschaft auf die Tagesordnung gebracht: Wer oder was ist deutsch? Was bedeuten Heimat, Patriotismus und Nation? Welche Grundrechte gelten für wen? Welchen Wert hat eine kritische Geschichtskultur? Und wie weltoffen und zugleich streitbar soll die Demokratie in Deutschland künftig sein?
In den Feuilletons der Republik wurden all diese Fragen zwar auch zuvor schon diskutiert, gesellschaftliche Gräben aufgerissen haben sie aber erst im Laufe der letzten Jahre, vor allem seit 2015. Ein wenig erinnert die Situation inzwischen auch hierzulande an die culture wars in den Vereinigten Staaten: an die fundamentale politische Polarisierung der Gesellschaft, die durch eine aggressive, um keine Verzerrung, Zuspitzung und im Zweifel auch Lüge verlegene Medienstrategie der Rechten vorangetrieben wird und die eine wichtige Rolle für den Wahlsieg von Donald Trump gespielt hat.
Die derzeit dominante Form nationalistischer Politik ist der Populismus. Rechtspopulistische Erfolge sind in Europa schon seit den neunziger Jahren zu verzeichnen – man denke an Silvio Berlusconi in Italien, der mit seinen Zoten, großspurigen Sprüchen und seinem Vorsatz, das Land zum vermeintlichen Wohle des Volkes wie ein Unternehmen zu führen, einige Charakteristika Donald Trumps vorweggenommen hat, sowie an den Aufstieg der FPÖ unter Jörg Haider in Österreich. Auch wenn das Phänomen des Populismus, das sowohl in rechten wie linken Varianten existiert, nicht leicht zu fassen ist, so gibt es doch einige charakteristische Eigenschaften: Typischerweise inszenieren sich populistische Politiker, obwohl häufig selbst privilegierten Kreisen entstammend, als einzig legitime Vertreter des einfachen, »wahren Volkes« im Kampf gegen das »Establishment« der politischen und kulturellen Eliten, deren behauptetes »volksschädliches« Verhalten gerne verschwörungstheoretisch erklärt wird. Damit einher geht die Verächtlichmachung des parlamentarischen Systems und der mühsamen Suche nach Kompromissen in der pluralen Gesellschaft. Rechte Populisten insistieren darüber hinaus auf der Identifikation des »wahren Volkes« als einer ethnisch homogenen Einheit, deren Vorrechte sie gegenüber Migranten und andere Minderheiten schützen wollen.
Jenseits dieser allgemeinen Merkmale passen Populisten ihre politische Programmatik den Umständen des jeweiligen Landes oder der jeweiligen Region flexibel an. Fragt man nach den Ermöglichungsbedingungen für den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien und Politiker, gilt es deshalb, sowohl übergreifende transnationale Entwicklungen als auch nationalspezifische Besonderheiten zu berücksichtigen. Erstere seien hier nur stichwortartig genannt: die Durchsetzung »neoliberaler« Wirtschaftspolitik nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, die zu wachsender sozialer Ungleichheit und Verunsicherung geführt hat; das Fortschreiten der europäischen Integration in einer Weise, die von vielen als technokratisch und undemokratisch wahrgenommen wird; die 2007 einsetzende Finanzmarktkrise und die anschließende Eurokrise, deren Bewältigung diese Wahrnehmung verstärkt hat; die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus seit dem 11. September 2001, die der von George W. Bush ausgerufene war on terror nicht eingedämmt, sondern verschärft und die zur Verbreitung einer islamfeindlichen Stimmung geführt hat; schließlich die digitalen sozialen Netzwerke, die als partizipatorisches Instrument der Demokratisierung gefeiert wurden und sich zugleich als ideales Medium populistischer Agitation entpuppten.
In Deutschland war der unmittelbare Auslöser für die Mobilisierung von rechts fraglos die »Flüchtlingskrise«. Schon die Etablierung dieses Ausdrucks kann als Erfolg rechter Rhetorik gelten, die mit der Ausrufung eines vermeintlichen Notstands radikale Maßnahmen rechtfertigen will. Dank solcher Strategien der Erzeugung und Verschärfung von Krisenstimmungen stehen Begriffe wie »Grenzsicherung« und »nationale Souveränität«, die in einem zusammenwachsenden Europa fast bedeutungslos geworden waren, wieder ganz oben auf der Agenda. Eine ethnisch definierte »Schicksalsgemeinschaft« wird gegen den Rechtsstaat in Stellung gebracht. Zu diesem Zweck verbreitet die Neue Rechte, die zuvor ein ideologisches Nischendasein fristete, den Mythos vom »großen Austausch«: die Behauptung, dass die kosmopolitisch-liberalen Eliten in Politik und Medien eine »Völkerwanderung« in Gang gesetzt hätten, um durch »Überfremdung« und »Islamisierung« die »abendländische Kultur« zu vernichten und ein deutsches, vielleicht sogar europäisches »Völkersterben« einzuleiten. Das ist die dystopische Vorstellung einer existenziellen Krise, an deren Ende sich Deutschland, wie Thilo Sarrazin schon 2010 zu wissen glaubte, angeblich »abgeschafft« haben wird.
Doch solche rechten Schreckensgemälde sind nicht neu. Der Blick in unsere Geschichte zeigt, dass viele dieser Parolen und Bedrohungsszenarien eine lange Tradition haben. Der Streit um die Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel war, so gesehen, nur der willkommene Anlass, nationalkonservative und völkische Denkmuster zu reaktivieren, die im Laufe der letzten Jahrzehnte gesellschaftlich zurückgedrängt worden sind, aber niemals verschwunden waren.
Als Historikerinnen und Historiker wollen wir die wiederkehrenden rechten Logiken aufzeigen und durchschaubar machen. Wir wollen die Aufmerksamkeit schärfen für die Motive jener, die damit hantieren – aber auch helfen, kritischen Abstand zu unproduktiven Dramatisierungen zu gewinnen, die über den Entrüstungsmotor der sozialen Netzwerke inzwischen vieltausendfach potenziert werden.
Wir versuchen dies in zweimal vier Kapiteln, die über den Zeitraum von 1945 – mit einem Einschnitt in den achtziger Jahren – bis zur Gegenwart die lange Nachgeschichte des Nationalsozialismus und der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit ebenso in den Blick nehmen wie die Ideen-, Organisations- und Gewaltgeschichte des Rechtsradikalismus. Für das Verständnis unserer gegenwärtigen Situation ist es dabei unabdingbar, die in diesem Kontext oft vernachlässigte Geschichte Ostdeutschlands vor und nach 1990 in ihrer ganzen Komplexität einzubeziehen. Denn viereinhalb Jahrzehnte getrennter Entwicklung haben große Unterschiede in der politischen Kultur und Mentalität der beiden deutschen Staaten hervorgebracht, die bis heute durchschlagen.
Kapitel 1 schaut zunächst auf die »alte« Bundesrepublik: auf die diversen Formen der Abwehr der Vergangenheit und auf das früh verbreitete Bedürfnis nach einem »Schlussstrich«, das die Repräsentanten der noch ungeübten, in vielerlei Hinsicht unsicheren zweiten deutschen Demokratie zu moderieren hatten. Hier reicht das Tableau von dem schon vor der Staatsgründung eröffneten Kampf gegen die verhasste Entnazifizierung bis zu den Folgen der antisemitischen »Schmierwelle« 1959/60 und den Verjährungsdebatten der sechziger und siebziger Jahre. Parallel dazu zeigt Kapitel 2, wie die ostdeutschen Kommunisten unter dem Schlagwort der »antifaschistisch-demokratischen Umwälzung« ihre »Lehren« aus der NS-Zeit mit dem Aufbau einer neuen politischen Ordnung verbanden. Sie setzten dabei nicht nur auf Zwang, sondern auch auf das Versprechen »volksdemokratischer« Mitbestimmung. Die Geschichte des »Dritten Reichs« und des Zweiten Weltkriegs war in der DDR allgegenwärtig, allerdings wurde sie ideologisch verkürzt, verfälscht und politisiert. Im Zentrum standen stets der kommunistische Widerstand und der »siegreiche« Kampf der Sowjetunion. Das den Ostdeutschen in Aussicht gestellte sozialistische Mitwirkungsversprechen war eng an diesen instrumentellen Umgang mit der Geschichte gebunden. Das führte dazu, dass sich in der DDR, anders als im Westen, auch auf längere Sicht keine (selbst-)kritische gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit entwickeln konnte.
Kapitel 3 führt die Versuche der politischen Sammlung und Mobilisierung im »nationalen Lager« vor Augen, an denen es seit Bestehen der Bundesrepublik nicht mangelte; Deutschnationale wurden davon ebenso angezogen wie Anhänger der »Konservativen Revolution« und alte wie neue Nationalsozialisten. Wie schon in der Weimarer Republik galt die liberale parlamentarische Demokratie in diesen Kreisen als Ergebnis westlicher Fremdherrschaft, gegen die »Widerstand« zu leisten war – außerhalb wie auch innerhalb des verhassten »Systems«, das im Zuge der kurzen Rezession der Jahre 1966/67 einen ersten Aufstieg der NPD erlebte. Kapitel 4 erörtert den Zusammenhang von Wirtschaftskrise und Ausländerfeindlichkeit aus der Perspektive der »Gastarbeiter« in der Bundesrepublik beziehungsweise der »Vertragsarbeiter« in der DDR. Als Arbeiter auf Zeit akzeptiert, wurden sie häufig dann diskriminiert, wenn sie gesellschaftliche Teilhabe forderten. Manifeste Ressentiments und Gewalt gegen Ausländer breiteten sich in der Bundesrepublik aber erst nach dem Anwerbestopp von 1973 und vor allem im Laufe der achtziger Jahre aus, als sich mit den Türken eine als kulturell fremd stigmatisierte Gruppe auf Dauer niederließ. Während das konfliktreiche Zusammenleben in der Bundesrepublik letztlich den Weg zum Einwanderungsland avant la lettre ebnete, weist die Tolerierung der Gewalt gegen Ausländer in der späten DDR auf den Vereinigungsrassismus nach 1990 voraus.
Kapitel 5 blickt in einem bis an die Gegenwart führenden Längsschnitt auf die Veränderungen im Umgang mit der NS-Vergangenheit seit den siebziger Jahren, die oft nur als »rotes Jahrzehnt« verstanden werden, tatsächlich aber auch eine »Hitlerwelle«, neue apologetische Bedürfnisse und einen ins Terroristische drehenden Rechtsradikalismus hervorbrachten. Einerseits machte die Fernsehserie »Holocaust« (1979) die Deutschen betroffen und löste eine lange Phase der intensiven wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Judenmord aus. Andererseits formierten sich, wie Kapitel 6 zeigt, »Wehrsportgruppen«, aus deren Reihen der Attentäter stammte, der auf dem Münchner Oktoberfest 1980 den blutigsten rechtsterroristischen Anschlag in der Geschichte der »alten« Bundesrepublik verübte. Vor dem Hintergrund einer zwar lange angekündigten, faktisch aber weitgehend ausgebliebenen bürgerlich-konservativen »Tendenzwende« unter Kanzler Kohl feierte Mitte der achtziger Jahre die neue Rechtspartei der Republikaner kurzfristige Erfolge, und im eher akademischen Milieu suchte eine nun entstehende Neue Rechte von der Neuen Linken und der studentischen Protestbewegung zu lernen. Neben der Verachtung für die Linke spricht auch dieser alte Mobilisierungsneid der Rechten aus Jörg Meuthens Satz vom »links-rot-grün verseuchten 68er-Deutschland«.
Kapitel 7 zeigt, wie sich der Ausländerhass in der Transformationskrise nach 1989/90 in ganz Deutschland ausbreitete und zugleich seine Gestalt veränderte. Denn die Dynamik der rassistischen Gewalt lässt sich, auch wenn sie im Osten der Republik regelmäßiger und radikaler wütete, nur aus dem Zusammenspiel west- und ostdeutscher Entwicklungen erklären, die teilweise bis in die achtziger Jahre zurückreichen. Der Vereinigungsrassismus war ein gesamtdeutsches Syndrom. Von den gewalttätigen Anti-Ausländer-Protesten etwa in Rostock-Lichtenhagen führt eine Kontinuitätslinie über zahlreiche politisch motivierte Morde und die Verbrechen des NSU bis in die Gegenwart der rechtsradikalen Strömungen, die Kapitel 8 beleuchtet. Den Zulauf, den Pegida, AfD und Identitäre Bewegung in den letzten Jahren erfahren haben und der zum Teil aus der Mitte der Gesellschaft kommt, kann nur verstehen, wer die Geschichte Ostdeutschlands vor und nach der deutschen Einheit berücksichtigt. Unter dem Eindruck des ökonomischen Kahlschlags und der sozialen und kulturellen Verwerfungen entstand dort ein Klima, in dem globale Erschütterungen wie die Finanzmarktkrise und die Flucht- und Migrationsbewegungen besonders starke Wirkungen entfalteten. Westdeutsche Ostlandreiter – nationalkonservative Strategen, neurechte Theoretiker und rechtsradikale Demagogen, die nach 1990 in die neuen Bundesländer gezogen sind – und einheimische Aktivisten haben es verstanden, diese Situation für den Aufbau einer gesamtdeutschen, vermeintlich bürgerlichen »Sammlungsbewegung« zu nutzen.
So droht Deutschland derzeit von rechts zusammenzuwachsen: in einer neuen nationalistischen Formation, die den entschlossenen Widerspruch all derer verlangt, denen eine liberale Demokratie und eine menschenfreundliche Gesellschaft am Herzen liegen.