Bonn ist in den Tagen nach der Wahl ein brodelndes Durcheinander, es geht um Positionen und Posten, um Versprochenes und Verrat. Hilde Kessel hat wieder einmal den Wahlausgang richtig vorhergesagt. Kein Wunder, sie sitzt an der Quelle. Ihr Lokal Rheinblick liegt genau gegenüber vom Bundestag. Alle kommen zu ihr, alle reden mit ihr und schätzen ihre Verschwiegenheit. Nur einmal hat sie diese verletzt, und der Erfolg Willy Brandts fördert diese alte Geschichte wieder zutage. Sonja Engel dagegen hat wenig Erfahrung mit Politik, doch plötzlich soll sie den Kanzler behandeln – und niemandem davon erzählen. Auch sie gerät unter Druck. Beide Frauen sind erpressbar. Für Hilde steht ihre Existenz auf dem Spiel, und Sonja will ihre kleine Schwester beschützen. Wie werden sie sich entscheiden?
Roman
Ullstein
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Für Irene
»Ich musste noch lernen, dass es auch in den eigenen Reihen Leute gibt, die länger andauernden sowie durchschlagenden Erfolg übelnehmen und kaum verzeihen. Oder sollte ich sagen: Gerade in den eigenen Reihen?«
Willy Brandt, Erinnerungen
Auf Bonn fiel leichter Nieselregen. Zu schwach, um den Schirm aufzuspannen, doch stark genug, um einem unter die Haut zu kriechen. Auf feuchten Plakaten und in schwarzen Lettern versprach die CDU, den Fortschritt auf Stabilität zu bauen. Barzel lächelte siegessicher, der spärliche Haarkranz glänzte regennass.
Ihr Weg führte Hilde Kessel auf den Münsterplatz und zweimal an »Willy Brandt muss Kanzler bleiben« vorbei. Auch sie würde am Sonntag wählen. Aber im Gegensatz zu all denen, die in den letzten Wochen ihre politische Überzeugung herausposaunt hatten, hielt sie ihre geheim. Alles andere wäre auch beruflicher Selbstmord. Sie war Wirtin, und zu ihr kamen alle: die Schwarzen, die Roten, die Gelben, die Presseleute, die Chauffeure, die Sekretärinnen, die Taxifahrer. Ihr Rheinblick war die Bonner Schweiz oder das schweizerische Bonn. Hausmannskost und internationale Küche, Rheinwein und Kölsch, Ort geselliger Heiterkeit und deftigen Skats, vor allem aber: neutrales Gelände.
Das Angelusläuten der Münsterglocken riss sie aus ihren Gedanken. Wochentags ging sie nie zur Kirche, doch jeden Sonntag besuchte sie das Hochamt. Sehen und gesehen werden war wichtig in ihrem Geschäft. Das ließ sie sich nicht nehmen, auch wenn sie nicht zur Hautevolee der Stadt gehörte. Das Geläut der Glocken füllte die Luft, dröhnte selbst dem alten, überlebensgroß über dem Platz thronenden Beethoven in den tauben Ohren, übertönte das Gekreisch der Rheinmöwen und das Klacken ihrer Stiefel. Die glitschigen Pflastersteine und die neuen Stiefel luden zu einer hinterhältigen Rutschpartie ein. Hilde zog den Mantel enger um sich zusammen und überquerte den Martinsplatz in Richtung Schloss.
Als Wirtin des Rheinblicks war es bereits ihre fünfte Bundestagswahl: 1957 mit Adenauer als Bundeskanzler, 1961 erneut Adenauer, ab 1963 dann Erhard. 1965 wieder Erhard, schon 1966 von seiner CDU geschasst und nach der Bildung einer großen Koalition mit der SPD durch Kiesinger ersetzt. 1969 die CDU wie immer stärkste Partei, alles sah noch einmal nach Kiesinger und großer Koalition aus, aber dann Brandts auch für manche Genossen überraschender Coup mit der die Seiten wechselnden FDP. Knapp, sehr knapp reichte es zum Regieren. Nicht nur die CDU hatte deswegen vor Wut geschäumt.
Das Geläut verstummte, als sie den Fußgängerweg durch den Schlosshof nahm und dahinter den Hofgarten betrat. Die Bäume waren schon kahl, die Grasflächen braun und an schattigen Stellen mit Schneeresten bedeckt. Erstaunlich früh war in diesem Jahr der erste Schnee gefallen, hatte die Stadt in das übliche Verkehrschaos gestürzt und war dann wieder weggetaut. An diesem trüben Mittag begegneten ihr keine Studenten, die den Park bei schönem Wetter bevölkerten. Manchmal in solchen Massen, dass die Hörsäle leer sein mussten. Hilde fragte sich, was die überhaupt noch lernten bei den vielen Sit-ins, Teach-ins und weiß der Teufel was noch für -ins. Vielleicht brüteten sie wenigstens bei diesem Wetter über ihren Büchern.
Ein Inder kam ihr entgegen und verlieh dem Park mit seinem orangefarbenen Turban und dem weinroten Kaftan etwas Farbe. Auch MdB Alois Brunner, der von Montag bis Freitag im Rheinblick zu Mittag aß, vertrat sich im Hofgarten die Beine. Die Hände in den Hosentaschen pfiff er Oh du schöner Westerwald. Warum war der nicht in seinen Wahlkreis gereist? War seine Aussicht auf Wiederwahl so schlecht, dass er erst im allerletzten Moment dort auftauchen wollte? Sie hätte nichts dagegen, wenn er sein Mandat verlöre und Bonn verlassen müsste. Ein schmieriger Typ, der den Serviermädchen gern in den Hintern kniff. Da, Brunner war verabredet, ein anderer Mann ging auf ihn zu. Den o-beinigen, drahtigen Kerl erkannte sie auch von hinten. Erwin Tibulski. Was wollte denn Genosse Tibulski von CSU-Mann Brunner oder Brunner von Tibulski? Er drehte ihr weiter den Rücken zu, hatte sie also noch nicht bemerkt. Das sollte auch so bleiben. Tibulski weckte in ihr keine guten Erinnerungen. Sie schlug den Kragen ihres Wollmantels hoch und beschleunigte ihre Schritte.
Sie war froh, dass sie am Morgen Stiefel angezogen hatte. Schwarzer Knautschlack, Modell Amazone, der letzte Schrei, hatte Schuhhändler Schmitz beim Kauf behauptet. Na ja, zumindest wasserdicht und warm waren sie. Der Kies knirschte unter dem Knautschlack, am Wegrand hoben kahle Platanen dürre Äste in den grauen Himmel. Ein Schwarm Krähen ließ sich schimpfend auf die Blutbuchen dahinter fallen; welke Blätter segelten zu Boden und gesellten sich zu unzähligen anderen ins nasse Laub. Es war nicht mehr weit bis zum Fluss.
Auch wenn dieser trübe Novembertag nach Vergänglichkeit roch, in der Politik standen die Zeichen auf Aufbruch. Für so was hatte Hilde ein Gespür, das hatte sie schon 1969 nicht getrogen. Diesmal würden die Roten gewinnen. Am Rhein riss für einen Augenblick der Himmel auf, als teilte der Wettergott ihre Einschätzung. Der Drachenfels auf der anderen Seite des Flusses zeigte sich. Dort hatte Siegfried den Drachen getötet und in seinem Zauberblut gebadet, das ihn bis auf die kleine Stelle am Rücken, auf die beim Baden ein Lindenblatt fiel, unverwundbar machte. Jeder hatte so eine Lindenblattstelle, wusste Hilde, und hier in Bonn galt es, diese noch besser zu verbergen als anderswo.
Als sie aufblickte, schoben sich schon wieder dunkle Wolken vor die Sonne, und vom Fluss her stieg Nebel auf. Doch kein eindeutiges Zeichen der Götter, dachte sie. Aber auf himmlische Hilfe hatte ein Mann wie Willy Brandt noch nie gesetzt.
Dass er sich endlich die Haare schneiden lassen solle, pflaumte Kohlmeier Max Dorando immer an, wenn er seinen Dienst antrat. Bei Max ging der Satz zu einem Ohr hinein und zum anderen hinaus, während er erst die Mütze, die der Chef ihm zuwarf, und dann die Autoschlüssel auffing. Wie in einem oft geprobten Theaterstück wusste er genau, dass Kohlmeier, während er sich die Haare unter die Mütze schob, »dass mir keine Klagen kommen« sagen würde, und natürlich tat er es. Anstatt zu antworten, griff Max nach Portemonnaie und Quittungsblock und fragte, ob er einen Vorschuss in bar bekommen könne. Mit Missbilligung auf der Stirn nestelte Kohlmeier ein Schlüsselchen aus der Westentasche, sperrte damit die Geldschublade auf, zählte Max fünf Zwanzigmarkscheine auf den Tisch und ließ sich den Betrag quittieren. Im Gegenzug förderte Max aus den Hosentaschen die Überbleibsel zutage, die Kunden in seiner letzten Schicht im Taxi vergessen hatten. Diesmal war nichts dabei gewesen, was eine Unterschlagung lohnte. Er legte einen schweren Füllfederhalter, einen roten Baumwollschal und ein Taschentuch mit dem Monogramm MC auf den Tisch. Kohlmeier kramte alles zusammen und verstaute es im Fach unter der Geldschublade. Manches wurde tatsächlich abgeholt, anderes staubte so lange vor sich hin, bis es im Kohlmeier’schen Sinn reif zum Wegwerfen war.
Heute hatte es der Chef gut mit ihm gemeint und ihm den Audi 100, die neueste Anschaffung im Fuhrpark, zugeteilt. Eine Spießerkarre zwar, aber mit ordentlich PS unterm Hintern. Max schaltete den Sprechfunk ein, drückte die mitgebrachte Kassette – Led Zeppelin – in den Schlitz und drehte auf volle Lautstärke. Dann ließ er den Motor aufheulen, schoss mit quietschenden Reifen vom Parkplatz und drosselte das Tempo erst kurz vor dem Bahnhof, wo er den Audi auf den leeren Taxistand rollen ließ.
Während er auf den ersten Fahrgast wartete, trommelte er im Rhythmus der Musik aufs Lenkrad, schrie, wie Robert Plant schrie, und überlegte, wann und wo er Witiko Bonak endlich das Geld geben würde. Auf keinen Fall in seiner Werkstatt, da lungerte seit Neuestem einer herum, der wie Bud Spencer aussah und bestimmt kräftig zuschlagen konnte. Der Kerl stammte nicht aus der Venusberg-Siedlung, die alten Kumpels von Witiko kannte Max. Morgen zur Mittagszeit an der Uni-Mensa? Da herrschte ordentlich Betrieb, da würde Witiko keinen Aufstand machen, wenn er anstelle der dreihundertfünfzig erst mal nur hundert Mark kriegen würde. Überhaupt sollte der schön stille sein. Loswerden hatte er die Boxen wollen, keinen Tag länger hatten sie in der Werkstatt rumstehen sollen, er, Max, hatte ihm, so gesehen, einen Gefallen getan – aber mal ehrlich: Wer hätte zu zwei Spendor-BC1-Boxen Nein sagen können? Ein Wahnsinnssound, das Beste, was es zurzeit auf dem Markt gab. Deshalb hatte er auch nicht nachgefragt, wo Witiko die Boxen so billig bekommen hatte, die bei Elektro-Klüwer für tausendzweihundert Mark angeboten wurden.
Ein ungeduldiges Klopfen an der Fahrertür riss ihn aus seinen Gedanken. Ein langbeiniger Ami mit Cowboyhut wollte zur amerikanischen Botschaft gebracht werden. Max stellte das Radio aus und fuhr den Cowboy nach Godesberg, wo er ihn mit all seinen Koffern in der Deichmanns Aue unten am Rhein absetzte. Die Zentrale gönnte ihm keine Pause, er wurde sofort weiter zur britischen Botschaft geschickt. Dort ließ man ihn warten, und er betrachtete die Wahlplakate an der B 9. Stimmt! Wählen musste er auch noch. Willy, wen sonst? Da konnten die Kommunisten in der Schumann-Klause noch so sehr das Hohelied der DKP singen, er würde Willy wählen und seine Kreuzchen machen, sowie ihn eine Fuhre in die Nähe seines Wahllokals brachte. Der Engländer, der nun endlich auftauchte, wollte allerdings nicht zurück in die Stadt, sondern zum Flughafen. Auch recht, Max nutzte die Autobahn, um die PS-Stärke des Audi zu testen. Am liebsten hätte er bei dem Tempo When the Levee Breaks voll aufgedreht, aber der Engländer – grauer Anzug, schwarze Melone – sah nicht so aus, als würde er gern Led Zeppelin hören.
Auf dem Rückweg kutschierte er ein Ehepaar nach Endenich und dachte wieder an Witiko. Der konnte auch noch zwei, drei Wochen warten, bis Max die ganze Summe beisammenhatte. Danach fuhr er nacheinander fünf alte Schachteln zu ihren Wahllokalen und konnte sich nicht verkneifen, ihnen »Willy wählen« hinterherzurufen. Doch sie würden ihre Kreuzchen brav bei der CDU machen, Bonn war ein konservatives Pflaster. Es traf sich gut, dass eines der Wahllokale auch seines war, so konnte wenigstens er endlich Willy wählen.
Um kurz vor 18 Uhr stellte er das Radio ein und suchte einen Sender. Als ein paar Minuten später die ersten Hochrechnungen einen klaren Sieg der SPD ankündigten, nahm Max die Mütze ab und schüttelte seine Locken aus. Das ist doch mal was, dachte er. Trotz all der Weltuntergangsstimmung, die sie im Wahlkampf verbreitet hatten, war es den Schwarzen nicht gelungen, den Aufbruch zu stoppen, der überall zu spüren war. Er warf die Mütze nach hinten und zog sie auch nicht wieder auf, als er den nächsten Fahrgast aufnahm. Ein reaktionärer Spießer, klobig wie ein alter Bunker, mit einer fetten Zigarre im Mundwinkel. Er wollte in die Reutersiedlung und wetterte über ewige Studenten, langhaarige Gammler und das Wahlergebnis. Der Kerl gab keinen Pfennig Trinkgeld, dafür waren die drei Genossen, die Max danach von der Luisenstraße zur Baracke kutschierte, umso spendabler. Das beste Wahlergebnis seit Bestehen der Partei, die Herren waren in Feierlaune. Eine Weile kurvte Max danach fahrgastlos die B 9 rauf und runter, grüßte vor dem Rheinblick mit einem kräftigen Hupen Hilde, die gerade von ihrem Spaziergang zurückkehrte, hörte im Radio Wehner und Genscher über das Wahlergebnis palavern und dachte wieder an Witiko. Vielleicht sollte er ihn doch morgen anrufen und ihm sagen, dass er schon einen Hunderter für die Boxen blechen konnte. Die letzte Fuhre brachte ihn hoch auf den Venusberg. Kurz überlegte er, im Waldauweg vorbeizufahren und seinen alten Herrn herauszuklingeln, um sich an dessen schlechter Laune zu weiden. Für den strammen CDU-Mann kam das Ergebnis dem Untergang des Abendlandes gleich. Aber als Max feststellte, dass seine Schicht in zehn Minuten zu Ende war, brachte er stattdessen den Audi in den Fuhrpark zurück.
Er beschloss, den Abend mit ein paar Kölsch in der Schumann-Klause zu beschließen. Heute bediente Conny, vielleicht konnte er sie überreden, nach der Sperrstunde mit ihm in die Kiste zu steigen. Der Tag musste schließlich mit allem Drum und Dran gefeiert werden. Wie immer parkte er seinen alten 2CV in der Weberstraße, und schon von dort konnte er die Musik aus der Kneipe hören. Irgendeiner, wahrscheinlich Heiner, hatte auf seiner Gitarre Dylan angestimmt, und der ganze Laden grölte The Times They Are a-Changin’. Max schaffte es nicht durch die Tür, denn just in diesem Moment drängten alle nach draußen. Die Jusos, schnappte Max auf, machten einen Fackelzug zum Kanzleramt. Conny hakte sich bei ihm unter, lotste ihn zu seinem Wagen, im Schlepptau noch ein paar andere, die Max vom Sehen kannte. Die Ente kurz darauf voller als eine italienische Familienkutsche auf dem Weg über die Alpen, nach ein paar Startschwierigkeiten – der olle Vergaser – hing die Karre bedrohlich tief auf der Straße, aber es war nicht weit bis ins Regierungsviertel. Ein paar Minuten später parkte Max den Wagen auf Höhe des Museums König,
das kurze Stück zum Palais Schaumburg gingen sie zu Fuß. Nachdem sie die Straße überquert hatten, hörten sie »Willy-Willy«-Rufe, und bald sahen sie auch die Fackeln. Ein wogendes Freudenfeuer bis zum Kanzleramt, das ebenfalls hell erleuchtet war. Unter den Fackelträgern entdeckte Max seinen Kommilitonen Konrad, mit dem er neulich erst Vier Fäuste für ein Halleluja gesehen hatte. Mit Konrad kämpfte er sich noch ein Stück weiter vor, und plötzlich konnte er Willy Brandt, der auf die Freitreppe des Palais Schaumburg getreten war, gut sehen. Der alte und neue Kanzler hob die Hände und bat um Ruhe. Leise und krächzend begann er zu sprechen. Treulosigkeit und Hass hätten sie gemeinsam besiegt, sagte er, und Max spürte Gänsehaut auf seinen Armen. Als wieder »Willy-Willy«-Rufe losbrandeten, ihm die Fackeln freudig entgegengereckt wurden, lächelte Brandt. Dann senkte er sanft den Kopf, drehte sich um und ging zurück ins Kanzleramt. Ein Sieger der leisen Art.
Die Fackeln brannten schnell nieder, die Leute zerstreuten sich. Max fand Conny nicht mehr und hätte jetzt sehr gerne zumindest ein Bier getrunken, aber die Sperrstunde galt selbst für die Schumann-Klause. Konrad schlug vor, noch bei der FDP vorbeizugehen, er kenne eine Jungdemokratin, die Wahlkampf für Liselotte Funcke gemacht hatte. Gesagt, getan, keine zehn Minuten später erwies sich am Bonner Talweg der Name des Mädchens – Edeltraud – als Sesam-öffne-dich. Die Sause hier war mehr oder weniger durch. Sir Walter lächelte nur noch von Plakaten auf seine Getreuen, auch kein anderer Spitzenpolitiker war zu sehen. Nur ein paar namenlose Unentwegte debattierten weiter in einer Ecke, und um einen sehr großen Tisch saß jede Menge jungdemokratisches Volk. Die hatten die halb vollen Sekt- und Schnapsflaschen eingesammelt, waren bester Stimmung und teilten die Vorräte großzügig mit den Ankommenden. Max trank Sekt anstelle von Bier, und es fiel ihm leicht, eine schwäbelnde Schwarzhaarige namens Gaby für sich zu begeistern. Gegen zwei Uhr morgens eskortierte er sie zu seinem 2CV und chauffierte sie zu sich nach Hause. Er ließ sie vor der Haustür aussteigen und fuhr in den Hinterhof, um den Wagen abzustellen. Er achtete nicht auf die Gestalt am Hoftor, zu groß seine Vorfreude auf das, was gleich kommen würde, ein schneller Ritt ins Paradies, in Gedanken sah er diese Gaby sich schon nackt auf seinem Bett rekeln. Deshalb überraschte ihn der erste Schlag in den Magen völlig. Als er sich stöhnend aufrichtete, erkannte er Witikos Bud Spencer. Der holte nun erneut aus, ließ seine Rechte auf sein Auge knallen, und während Max im Fallen bereits Sternchen sah, dachte er noch, dass es nicht vier Fäuste für ein Halleluja brauchte. Eine reichte vollkommen.