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Das Buch

Wer sagt, dass Demenzpatienten im Heim am besten aufgehoben sind? Wer sagt, dass sie nicht noch scharfsinnig und witzig sein können und man mit ihnen keinen Spaß mehr haben kann? Martina Bergmann tritt in ihrem ebenso klaren wie empathischen Bericht den Gegenbeweis dafür an, dass die Betreuung eines dementen Menschen eine Bürde sein muss. Sie schildert, wie es sich anfühlt, mit jemand zusammenzuleben, der trotz seiner Einschränkungen klug und humorvoll, ja geradezu hellsichtig ist. Ein literarisches Plädoyer für das würdevolle Zusammenleben der Generationen. Und das bewegende Portrait zweier unkonventioneller Frauen.

Die Autorin

MARTINA BERGMANN wurde 1979 in Ostwestfalen geboren und wuchs dort auf. Nach dem Abitur floh sie in große Städte. Sie ist ausgebildete Verlagsbuchhändlerin und studierte Geisteswissenschaften. Mit dreißig bekam sie Heimweh. Ihr Schreibtisch steht seither in Borgholzhausen, wo sie als Autorin, Verlegerin und Buchhändlerin arbeitet. Seit einigen Jahren lebt sie in Gemeinschaft mit einer alten Dame in poetischer Verfassung und ist glücklich dabei.

Mein Leben mit Martha ist ihr erster Roman.

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Titel.tif

Roman

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www.eisele-verlag.de


ISBN 978-3-96161-060-0


© 2019 Julia Eisele Verlags GmbH, München

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagillustration: © FAVORITBUERO, München
nach einer Vorlage von © Eva-Katalin/gettyimages

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

2014

EINE BIELEFELDER NUMMER. Bielefeld ist zwanzig Kilometer entfernt, und von so weit rufen nur selten Kunden an. Wer mag das sein? Ich nehme auf, sage meinen Namen. Eine männliche Stimme antwortet, eher jung. Es ist ein Arzt aus der Notaufnahme im großen Krankenhaus. Heinrich ist vom Fahrrad gefallen. Er hat wohl Glück gehabt, nur Schürfwunden und ein blaues Auge. Aber sie behalten ihn ein paar Tage da. Er ist immerhin über achtzig. Sie wollen sichergehen, dass es keine heimlichen Sturzfolgen gibt. Blutgerinnsel zum Beispiel, das kann in dem Alter gut passieren. Vor allem, wenn man keinen Helm trägt.

»Oweia«, sage ich. »Das wird ihm aber nicht gefallen.«

»Stimmt«, antwortet der Arzt. »Er wollte sich direkt selbst entlassen. Wir haben gesagt, nur, wenn wir wissen, was seine Angehörigen davon halten.«

»Was für Angehörige?«, frage ich. Ich kenne bei Heinrich nur Martha genauer. Sie wohnt in seinem Haus, aber seine Frau ist sie nicht. Die anderen Leute in der Straße wollen mir immer erzählen, was es mit Heinrich und Martha auf sich hat. Es scheint sie sehr zu beschäftigen. Eine von ihnen, Gertrud, ist sogar extra in die Buchhandlung gekommen. Sie schwitzte vor Eifer, ich merkte es, als sie mir die Hand gab. »Gertrud«, sagte sie, »Schulten Gertrud heiß ich im Dorf. Man kennt mich da.« Sie kicherte kokett, aber es klang wie eine Drohung. Als ich Heinrich davon erzählte, winkte er ab. »Sie gibt sich den Anschein, meinen Haushalt zu führen.« Ich lachte. »Heinrich, dann ist sie aber nicht sehr fleißig.« Er schmunzelte. »Wenn Gertrud mich im Auto mit zum Aldi nimmt, kostet das hundert Euro. Diesen Service gönne ich mir nicht allzu oft.«

Gertrud ist also eindeutig keine Angehörige, und Martha ist zwar um eine Antwort nie verlegen, aber Martha ist eine schwierige Gesprächspartnerin, wenn man sie nicht kennt. Telefonate mit Martha dauern eine Weile, und am Ende hat man gute Laune. Aber das hilft dem Arzt nicht weiter. Wie sage ich ihm das möglichst diplomatisch?

Der Arzt holt mich aus meinen Gedanken zurück. »Er hat Sie als nächste Angehörige genannt. Er hat gesagt, ich soll alles Weitere mit Ihnen bereden.«

Ich stutze. Ich soll seine nächste Angehörige sein? Ich kann Heinrich gut leiden, aber bei einem Unfall würde mir nicht einfallen, den Ärzten Heinrichs Telefonnummer zu nennen. Meine Eltern, die Mitarbeiter in der Buchhandlung. Vielleicht auch meine Geschwister. Aber Heinrich käme mir nicht zuerst in den Sinn, der freundliche alte Kunde mit dem weißen Rennrad, um das die anderen Männer ihn beneiden. Wenn Heinrich zu Besuch in der Buchhandlung ist, kommen oft Personen herein, die sich für aufwändige Fahrräder interessieren. Männer. Sie fachsimpeln dann, und Heinrich freut sich, dass er das beste Modell hat. Weiß lackiert und leicht. Keine zwei Kilo, aus Carbonfaser. Ganz dünne Reifen, die man nicht selber aufpumpen kann. Man muss extra zur Fahrradwerkstatt fahren.

»Wenn ich tot bin, kannst du aussuchen, wem du es schenkst«, hat er einmal gesagt. »So ein Fahrrad hat schließlich eine Seele. Du wirst schon den Richtigen finden.«

Martha hatte gesagt, für mich kommt nur ein Rennwagen infrage, wenn er tot ist. Porsche. Sie hatten sich dann gestritten, über Fahrzeuge und das Leben überhaupt. Dass Martha schon dafür sorgen würde, dass ich einen Rennwagen bekäme. Dieses Hollandfahrrad, das er mir zum Geburtstag geschenkt hatte – lächerlich. Unangemessen. Ich hatte eingewandt, dass ich es ein schönes und großzügiges Geschenk fand; ich hatte das überhaupt nicht erwartet. Außerdem hat das Hollandrad rote Reifen. Heinrich ist fein, wenn er Geschenke macht. Aufmerksam. Martha findet Rot hässlich.

»Unterwäsche«, sagt der Arzt. »Können Sie Unterhemden und Schlüpfer bringen? Auch ein T-Shirt und Strümpfe?« Er hält inne. »Im Grunde alles. Wir würden seine Kleider am liebsten entsorgen, alles ist total verdreckt.«

Er hat recht, Heinrich läuft in Lumpen herum. Das wäre nicht nötig, er hat Geld genug. Ich ärgere mich manchmal darüber. Wenn er mein Mann wäre, würde ich ihm diese Schluderei verbieten. Martha sieht das genauso, Martha und ich sind oft einer Meinung über Heinrich. Aber Martha kann keine Kleider mehr für ihn kaufen. Sie bekommt es für sich selbst noch gerade so hin, sie kauft jede Woche irgendwas von Tchibo. Sie besitzt viele Strümpfe mit Blümchenmuster und pastellfarbene Fransenpullover. Marthas Kleiderschrank ist voll mit Textilien, aber eine Garderobe ist das auch nicht.

Wer sollte Kleider kaufen für die beiden, den Kühlschrank füllen und jetzt eben ins Krankenhaus fahren? Da ist sonst niemand. Sie leben in einem Museum ihres früheren Lebens, die beiden.

Als ich das erste Mal in dem kleinen Haus am Ende der Straße zu Gast war, dachte ich, ich mache eine Zeitreise. Es sah bei Heinrich und Martha ungefähr so aus wie damals in den Haushalten meiner Kindergartenfreunde. Aber nicht bei denen, die so waren wie wir, Mama und Papa und vier Kinder. Die anderen, die ich sehr gern besuchte, weil da viel mehr Menschen waren. Diese Häuser nannten sich »Wohngemeinschaften«, und sie waren dunkel und voll. Die Bewohner trugen ulkige Kleider, selbst gestrickte Pullover und Batikblusen. Alle hatten lange Haare, auch die Männer. Und die Kinder sprachen ihre Eltern mit Vornamen an. Sie aßen auch anderes Essen als wir, und sie redeten ständig miteinander. Das nannte sich bei denen »diskutieren«. Es gefiel mir ganz gut, aber bei uns war es auch nett.

»Ich weiß ja nicht«, sagte Papa, »also, die stehen bei mir unter Verdacht, diese Brüder mit den langen Haaren. Die tun nur so, als ob ihre Frauen gleichberechtigt sind. Ich glaub denen das nicht.«

Ich hatte Heinrich davon erzählt, bei meinem ersten Besuch. Er lächelte fein. »Dann weißt du ja«, sagte er, »warum wir räumlich für uns geblieben sind, Martha und ich.«

»Räumlich?«

»Ja«, sagte er. »Wir fanden vieles gut, was unsere Studenten taten. Sie lüfteten das Land. Aber wir wollten unsere Fenster öffnen und schließen, wie es uns selbst auskam. Das wäre in so einer Wohngemeinschaft nicht gegangen. In unserem kleinen Haus für uns allein, das ging besser. Und die Leute in unserer Straße haben uns auch immer in Ruhe gelassen.«

Er hat recht, denke ich jetzt. Man kann über Heinrichs und Marthas Nachbarn einiges sagen. Zum Beispiel, dass ihre Vorgärten überdekoriert sind. Sie waschen auch ihre Autos häufiger als Heinrich seine Haare. Aber sie halten sich raus. Mag sein, dass sie über uns reden. Nein, ich bin sicher, dass sie reden. Die beiden alten Leute aus der Uni und diese junge Frau, die bei ihnen ein- und ausgeht, das wird sie schon beschäftigen. Aber sie bleiben vor der Tür.

Und deswegen ist bei Heinrich und Martha in vieler Hinsicht die Zeit stehengeblieben. Möbel, Kleider und die vielen Bücher sind mindestens zwanzig Jahre alt. Alles Neuere habe ich angeschafft. Hier ein Handtuch, da Strümpfe. Aber das sind nur Punkte in dieser riesigen Landschaft aus altem Kram.

»Als wir kamen«, hat Heinrich erzählt, »waren die anderen Häuser noch gar nicht fertig. Wir haben den alten Kotten von einer Familie gekauft, die weiter vorn in der Straße ein neues Haus gebaut hat – die Strunksieks. Das ist Strunksieks Bauernkotten, wenn dich mal einer danach fragt. Huberts Familie wohnt da schon immer, dann wir, und Schultes Hof ist auch von vor dem Krieg. Aber alle anderen haben hier erst in den Siebzigern gebaut.«

Ich verspreche dem Arzt, nach Ladenschluss zu kommen, und fluche innerlich. Ich habe so viel zu tun gerade, und ich habe kein Auto. Ich muss also den Bus um kurz nach sechs erwischen, dann nach Bielefeld, und von der Bushaltestelle noch ein ganzes Stück zu Fuß den Berg hochlaufen. Das Krankenhaus ist in der Nähe meiner alten Schule, ich kenne den Weg.

»Kurz vor sieben bin ich da«, sage ich. Der Arzt will noch etwas loswerden. Er sagt, er freut sich, dass es mich wirklich gibt. Er muss immer mal irgendwo anrufen, gerade bei älteren Patienten. Und dann ist da häufig keiner. Die nächste Angehörige ist seit Jahren tot oder will nichts von einem Fahrrad-Opa wissen. Weil Heinrich so schmuddelige Kleider trägt, hatte er wenig Hoffnung, jemand zu erreichen.

»Martha«, werfe ich ein, »Martha macht seine Wäsche. Sie hat allerdings nicht immer ganz den Überblick.«

Der Arzt hört mir nicht zu, er muss seinen Text loswerden. Der liegt ihm, ich merke das, schon länger auf der Zunge. »Alte Leute«, sagt er. »Da macht man schon was mit, so an der Seele.«

»Kann ich ihn mal sprechen?«, unterbreche ich. Der Arbeitstag ist sowieso gelaufen. Ich werde morgen, am Samstag, länger arbeiten müssen. Dabei wollte ich ins Freibad.

»Kein Problem«, sagt der Arzt.

Heinrich meldet sich, und er klingt wie immer. Eine frische, hohe Stimme, die sich vor Sprechvergnügen manchmal fast überschlägt. Ich kenne sonst niemand, der so gern redet. Falsch: Der mit einem solchen Vergnügen Monologe hält. Frau Fisch, meine Mitarbeiterin, hat sich einmal erkundigt, ob ich ihm immer folgen kann. Können, ja. Aber ich will manchmal nicht. Ich will meinen eigenen Gedanken nachhängen dürfen. Heinrich weiß das, und Heinrich hat gesagt, das hat sich außer Martha nie einer zu sagen getraut. Also, Martha und ich, wir beide. Wir sind für ihn geeignet.

Heinrich hat keine Lust, über den Unfall zu sprechen. Er ist in Gedanken schon wieder bei einer mathematischen Formel. »Ich habe dem Doktor gesagt, er soll das mit dir ausmachen. Ich habe keine Zeit, und ich schreibe schließlich Bücher.«

»Heinrich«, unterbreche ich den Redefluss, »kannst du bitte die Luft anhalten.«

Er schnaubt. Ich kenne das. Schnauben ist eine halbe Antwort. Die verkürzte Form von Du hast natürlich recht, aber warum sollte ich das zugeben.

»Du hattest einen Unfall. Du musst dich kurz mit profanen Dingen beschäftigen. Mit deiner Dreckwäsche.«

Heinrich schnaubt noch einmal. Da du sowieso recht hast, müssen wir auch gar nicht darüber reden. Mach doch, was du willst.

Ich lege nach. »Heinrich, ich komme nachher vorbei. Dann reden wir über Bücher.«

»Gut, schön«, sagt er. »Kannst du Schopenhauer mitbringen? Und meinetwegen Unterhemden. Größe sieben, Primzahl.«

Er legt auf.

Es ist ein Freitagnachmittag Ende Juli. Es ist sehr warm, die Sommerferien sind fast vorüber, und ich habe viel zu tun. Schulanfang ist eine betriebsame Zeit im Buchhandel. Ich habe Fibeln, Mathebücher und Atlanten verkauft, Buntstifte und Wachsmalkreiden ausgehändigt, Collegeblocks mit Linien und Kästchen. Ich habe mir die Beschwerden der Eltern angehört, dass alles immer teurer wird. Ich habe still für mich gedacht, dass ich sehr gern zur Schule gegangen bin und dass ich an den neuen Büchern gerochen habe, wenn ich sie in Händen hielt. Bücher, die Verheißung von Wissen. Heinrich versteht das, denn Heinrich liebt Bücher auch. Und er liebt mich. Eines Tages kam er angefahren, in einem anderen Sommer, der so war wie alle Sommer auf dem Land. Hell, warm, angenehm langweilig und voll mit Kindern, die in Badekleidern aus dem Freibad über die Straße rennen.

Heinrich kam auf dem Rennrad, im Tour de France-Trikot, und er beschloss zu bleiben.

»Schön hier«, sagte er. »Aber nicht genug für dein Gehirn. Dafür bin ich jetzt zuständig.«

Ich erzählte Frau Fisch davon. »Ein kurioser Typ mit Fahrrad, schon älter«, berichtete ich.

»Tja«, meinte Frau Fisch. »Jeder hat so seine Sorte Prinz.«

»Bitte?« Ich wusste nicht, worauf sie hinauswollte.

Frau Fisch grinste. »Ich wusste sofort, es ist was Ernstes«, sagte sie. »Du verwendest seine Telefonnummer als Passwort beim Bestellprogramm.«

Nach dem Anruf aus dem Krankenhaus telefoniere ich mit Frau Fisch. Das mache ich immer, wenn ich mir nicht sicher bin.

»Ich bin der Bauch der Firma«, sagt sie oft. »Du bist der Kopf, und ich bin der Bauch.«

Frau Fisch versteht meine Frage nicht.

»Ob du hinfahren sollst? Ja, wer denn sonst? Und schimpf nicht mit ihm. Er hat wahrscheinlich zu wenig getrunken und ist vom Rad gekippt. Alte Leute sind so.«

Frau Fisch kennt mich. Sie weiß, dass ich schimpfe, wenn ich etwas verbergen möchte – Gefühle vor allem. Ich zeige Gefühle nicht gern.

Frau Fisch kennt Heinrich auch. Er hat sich damals ausgiebig bei ihr vorgestellt, damit sie weiß, er meint es ernst.

»Warum auch nicht«, hatte Frau Fisch gesagt. »Lass die Leute reden. Das bisschen Altersunterschied ist doch egal.«

»Achtundvierzig Jahre«, rechnete Heinrich ihr vor. »Leider keine Primzahl.«

Frau Fisch schluckte. »Öh, ja.«

Aber es ist auch wirklich egal. Er gehört jetzt zu uns.

»Zu dir«, sagt Frau Fisch, »der liebt nur dich.«

Um sechs Uhr schiebe ich den letzten unentschlossenen Kunden nach draußen, ja, wirklich, er kann morgen früh wiederkommen, aber jetzt muss ich zum Bus, tut mir leid. »Abservieren«, würde Heinrich sagen. »Sei doch nicht so kurz mit ihnen. Die Ärmsten, sie reden eben gern mit dir.«

»Wie du«, schimpfe ich, »immer reden alle, und keiner fragt, ob ich mich vielleicht mal fünf Minuten besinnen muss. Irgendwann bricht hier das Chaos aus, und dann steh ich da. Aber wenigstens haben alle genügend Worte gemacht.«

»Wie ein altes Ehepaar«, schmunzelt Frau Fisch. »Als ob ihr euch ewig kennen würdet.«

Heinrich freut sich. Er setzt nach: »Martha wäre dir sicher gern behilflich. Sie hat ein ordnendes Wesen.«

Heinrich weiß, ich mag an Martha, dass sie so direkt ist. Martha würde dem Kunden sagen, dass er stört. Martha hier in der Buchhandlung, das wäre ein Spektakel.

Ich habe den Bus erreicht, sogar, ohne zu rennen. Ich gehe ganz nach hinten, in die letzte Reihe, wo früher die cooleren Kinder saßen. Und jetzt ich. Ich bin 35 Jahre alt, ich arbeite im Buchladen, und ich bin Heinrichs nächste Angehörige. Sommerwind weht zum Fenster herein; ein schöner Abend. Vielleicht bin ich jetzt auch cool.

Ich fahre mit dem Bus bis zu der Haltestelle, an der ich schon als Schülerin ausgestiegen bin. Klosterplatz. Aussteigen und gegen die Fahrtrichtung laufen. Durch den Kunsthallenpark, am altsprachlichen Gymnasium vorbei, einmal über die große Straße, dann etwas links durch eine engere. Die große Straße ist ungefähr wie immer, aber die kleine hat sich verändert. Das war früher einfach eine Straße, die ich schnell hinter mir ließ, weil sie langweilig war. Mietshäuser, ein paar Arztpraxen. Jetzt gibt es Kaffee zu kaufen, Pizza, ich entdecke einen Kiosk.

Ich kaufe für Heinrich eine Zeitung und für mich selbst ein Eis. Ich bin hungrig, außerdem ist es noch sehr warm. Die Luft steht. Ich trage ein enges Kleid und Schuhe mit Absatz; das Kleid klebt mir schon jetzt am Körper, dabei bin ich noch gar nicht den Berg hochgelaufen. Und dann die Schuhe. Das ist alles eigentlich nicht mein Stil, aber wenn mir das Dorf zu klein wird, ziehe ich mich manchmal so an.

»Wie in der großen Stadt«, staunen die Kunden.

»Verkleidet«, schimpft Heinrich.

Als ich oben ankomme, sehe ich auf mein Telefon. Kaum langsamer als früher. Die zwei Minuten mehr sind den Schuhen geschuldet. Kein Mensch trug hier früher hohe Absätze. Eher Birkenstocks, denn es war ein christliches Gymnasium. Irgendwie alternativ. Im engen Kleid mit hohen Schuhen, an einem Freitagabend kurz vor dem Gewitter. Mein jüngeres Ich lacht mich aus. Egal. Mein jüngeres Ich hätte Heinrich aber auch gemocht, und Martha erst recht.

Ich suche den Eingang, und dann ist da schon ein freundlicher junger Mann im weißen Kittel.

»Sind Sie die Verlegerin?«

»Bergmann«, stelle ich mich vor. »Ich gehöre zu dem Fahrradfahrer.«

»Ja, genau«, sagt der Arzt. »Ich habe Sie vorhin angerufen.«

»Ist es doch was Ernstes?«, frage ich.

»Nein, nein«, beeilt er sich. »Aber ich wollte Sie kennenlernen. Patienten fragen nach ihrem Steuerberater, ihrem Anwalt oder nach Mutti. Nach seiner Verlegerin hat noch nie einer gefragt.«

»Es ist ein Buchladen«, sage ich. »Ich habe gerade angefangen, auch ein paar Taschenbücher herauszugeben. Zusammen mit Heinrich.«

Der Arzt schmunzelt. »Er lässt es nach mehr klingen.«

»Es wird auch mal mehr«, sage ich, »das ist jedenfalls der Plan.«

»Schreiben Sie einen Roman über Ihren Freund«, meint der Arzt. »Oder ein Buch über fröhliche alte Menschen. Das wäre wichtig.«

»Verlegerin«, erkläre ich, »wenn überhaupt, bin ich Verlegerin. Aber die Bücher schreiben andere.«

»Er sieht das anders«, lacht der Arzt. »Das ist mal ein Verehrer.«

»So einer kommt Ihnen als Patient nicht alle Tage unter«, lenke ich ab. Ich kenne Heinrich schon eine Weile, und ich habe mir abgewöhnt, ihn irgendwo einzusortieren. Aber er ist kein Standard, in nichts.

Der Arzt lächelt.

»Er ist in Ordnung. Ich kann ihm nur nicht immer folgen. Er sagt, er arbeitet an einem universalgeschichtlichen Werk?«

Ich muss lachen. Der Arzt grinst.

»Es wäre nicht verkehrt, er würde auch mal an seiner Körperhygiene arbeiten. Die Sturzfolgen sind nicht schlimm, das heilt sich aus. Aber er ist verwahrlost. Fußnägel, Haare. Und die Kleider, also, umpf.«

»Ich weiß«, sage ich. »Ist mir auch schon aufgefallen. Ich wusste nur nicht, wie …«

»Direkt«, sagt der Arzt. »So was immer direkt sagen und einfach machen. Können Sie mir glauben. Wie, wenn Sie ein Pflaster abziehen.«

Ich merke mir den Satz, er klingt vernünftig.

Wir gehen zu Heinrich. Er liegt auf so einem Krankenhausmöbel, er hat ein dickes Pflaster auf der Stirn, und irgendwo hängen Kabel. Heinrich freut sich. »Sehen Sie, Herr Doktor. Das ist wahre Liebe.«

Ich will nicht wissen, was dem Arzt durch den Kopf geht. Ein Freitagabend Ende Juli, Unfallambulanz in Bielefeld. Ein Opa in zerlumpter Wäsche mit Wollsocken und Klettsandalen. Eine schwitzende junge Frau im Cocktailkleid. Er denkt bestimmt, er ist im Kino. Er sagt jedenfalls, dass Heinrich übers Wochenende bleiben muss, zur Beobachtung. Und Heinrich protestiert. Er kann doch wohl im Bus mit zurückfahren, gar kein Problem. Wenn er diese Nacht stirbt, dann ist das auch egal. Schließlich hat er die große Liebe gefunden, und …

»Heinrich«, unterbreche ich. »Hör mit dem Theater auf. Was brauchst du?«

»Hustenbonbons«, sagt Heinrich. »Stifte, Papier, einige Zeitungen.«

»Ich dachte an Unterhemden und einen Schlafanzug, an Seife und Rasierzeug.«

»Meinetwegen«, brummt Heinrich. »Aber bei den Zeitschriften, kann ich da auch was Ausländisches haben? Wo wir schon mal in Bielefeld sind?«

Ich gebe ihm die Freitagsausgabe der Süddeutschen Zeitung. Er sieht sie missbilligend an. Die SZ ist meine Zeitung, Heinrich und Martha lesen den Freitag.

»In der Nähe ist ein Supermarkt«, sagt der Arzt, »der hat bis zehn Uhr abends auf. Die verkaufen auch solche Sachen. Ich hole mir da gleich ein Feierabendbier. Kommen Sie mit?«

Heinrich runzelt die Stirn.

»Du kommst aber wieder?«

»Ja, ich komme wieder. Versprochen.«

»Er ist süß«, sagt der junge Arzt. Wir sitzen mit zwei Flaschen Bier vor dem Supermarkt. Er hat mir geholfen, praktische Dinge für Heinrich auszusuchen. Und ich habe Sandalen gekauft, ein Paar für Heinrich, eins für mich. Diese schrecklichen Kaufhaussandalen mit Klettverschluss. Ich sehe bescheuert aus. Aber die Füße tun mir nicht mehr weh.

»Prost«, meint der Arzt. »Alte Männer sind sonst oft so schmierig. Aber er ist nett, und er ist total süß mit Ihnen. Nur diese Haushälterin, die ist speziell. Wie kommen Sie mit der zurecht?«

Ich stutze. »Haushälterin?«

Er hätte bei Heinrich angerufen, berichtet der Arzt. Zu Hause. Das machen sie immer zuerst, wenn ein Patient eingeliefert wird.

»Martha! Sie hatten Martha am Apparat«, sage ich. »Seine Mitarbeiterin.«

Er schaut mich von der Seite an.

»Ich will ja nichts sagen«, hebt er an.

»Ich weiß«, sage ich.

»Sie war im Aufbruch«, erzählt er. »Sie konnte gerade noch ans Telefon, sie musste los.«

»Nach Moskau«, ergänze ich. »Dringende Geschäfte. Und Stalin war ein Guter.«

Der Arzt lacht. »Demenz, oder?«

»Kann sein«, sage ich. »Speicherschwierigkeiten. Man gewöhnt sich aber dran, es ist nicht sehr schlimm mit ihr.«

Er sieht mich skeptisch an. »Sie läuft nicht weg? Oder stellt den Herd an?«

»Nee«, sage ich. »Sie arbeitet den ganzen Tag, und abends ist sie müde und geht zu Bett. Ich fülle zweimal pro Woche den Kühlschrank auf.«

»Okay«, räumt er ein, »ein stabiles soziales Umfeld und jemand, der mit zusieht. Ich hatte schon überlegt, ob ich den sozialpsychiatrischen Dienst einschalten muss.«

»Nee, wozu«, wiegle ich ab. Keine Ämter ohne Not. Das ist so ein Prinzip von mir, aber das muss der jetzt nicht wissen. »Warten Sie«, sage ich, »wir rufen zusammen bei Martha an.«

Ich nehme mein Handy, wähle Heinrichs Haustelefon und stelle den Lautsprecher an. Es klingelt dreimal. Ich sehe Martha vor meinem inneren Auge. Sie sitzt auf ihrer Seite des Küchentischs. Sie bemerkt, dass es läutet. Überlegt, woher das Geräusch kommt. Steht auf. Geht los. Kommt an und hebt den Hörer ab.

»Was denn?«, ruft sie.

»Martha?«

»Wer denn sonst! Ist es wichtig? Ich bin gerade im Aufbruch …«

Ich unterbreche sie. »Martha«, sage ich. »Heinrich ist im Krankenhaus und bleibt da heute Nacht.«

»Hm«, sagt Martha. Diese Information kann sie nicht verarbeiten. Sie wartet ab, ich lege nach.

»Du bist heute Nacht allein, hast du deswegen Angst?«, frage ich. »Soll ich kommen?«

»Ich habe niemals Angst!«, schmettert sie. Das stimmt. Martha ist furchtlos.

»Ich komme morgen Mittag nach der Arbeit. Und bis dahin bleibst du da. Keine Abreise, klar?«

»Ja«, sagt Martha. »Aber ich schreibe mir das gerade auf, Moment.«

Tuut, tuut, tuut. Sie hat aufgelegt. Ich warte einen Augenblick und rufe nochmal an. Sie nimmt sofort den Hörer auf. Sie sitzt also noch beim Telefon, dort, wo sonst Heinrichs Platz ist, mit dem Rücken zur Küche, parallel zum Bücherbord.

»Hier steht was«, sagt Martha. »Keine Abreise, steht hier. Ich habe mir das aufgeschrieben.«

»Schreib noch dazu: Banane essen«, bitte ich. Zu spät, sie hat schon aufgelegt. Sie wird jetzt zum Kühlschrank gehen und sich etwas zu essen nehmen.

Ich habe beobachtet, dass sie nicht alles vergisst. Die sprachliche Oberfläche ist fast immer sofort weg. Aber dass ich ihr sagen wollte, sie soll das Essen nicht vergessen, ist wahrscheinlich angekommen. Und wenn nicht, wird sie irgendwann Hunger haben. Den Kühlschrank vergisst sie nie. Solange sie im Kühlschrank etwas zu essen findet, hat Martha kein Problem.

Der Arzt hat sein Bier ausgetrunken.

»Schönen Abend«, sagt er. »Und danke.«

»Wofür?«, frage ich.

»Ach«, sagt er, »für diese Geschichte. Sie zeigt, dass das Alter nicht nur schrecklich ist. Auch nicht für die Angehörigen.«

Er geht davon, beschwingt. Ein angenehmer Mensch.

Ich sitze dort noch einen Moment, allein. Ich sitze in hässlichen Sandalen mit Bier vor einem Supermarkt in Bielefeld. Ein paar hundert Meter entfernt wartet ein alter Mann auf mich, und eine alte Frau isst irgendwo auf dem Land gerade eine Tafel Schokolade. Wenn sie Banane hört, versteht sie Schokolade. Meine Angehörigen, meine »menschliche Umgebung«, wie Martha immer sagt. Es ist eine schöne Geschichte, da hat er recht.

Dann geht das Telefon. Es ist Heinrich, von einem Krankenhausapparat. Er wartet schon auf mich, und er wollte sagen, ich soll mit dem Taxi nach Hause fahren, später. Er würde mich abends im Dunkeln nicht Bus fahren lassen. Viel zu gefährlich, es sei denn, er führe doch selbst mit.

»Keine weitere Diskussion, Heinrich«, schimpfe ich. »Wenn ich schon die nächste Angehörige bin, dann bitte auch nach meinen Regeln. Als Erstes gehst du gleich unter die Dusche und ziehst saubere Kleider an. Ich bin in zehn Minuten da.«

Er motzt, aber ich merke, er freut sich. Er hat etwas erreicht bei mir, und das ist nicht so einfach.

2016