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Text: Karina Moebius
Lektorat: Herta Bauer
Covergestaltung: Detlef Klewer
Layout: Bruno Moebius
Fotos: Private Sammlung
2019, KarinaVerlag, Vienna, Austria
Das Schreiben dieses Buches war Herausforderung und Freude zugleich. Herausforderung, weil mich die mit meiner Tante Elfie erlebte Zeit über weite Strecken an die Grenze meiner Belastbarkeit führte und das tiefe Eintauchen in die Erinnerung an diese schwierige Phase meines Lebens noch Unverdautes zutage förderte. Andererseits gab es mir die Gelegenheit, auch die schönen und lustigen Erinnerungen aus dem Gedächtnispalast hervorzuholen und mich daran zu erfreuen. Dadurch ist es mir gelungen, Tante Elfie als die in meiner Erinnerung zu behalten, die sie war: Eine lebenslustige, humorvolle und unbescheidene Frau, die alles von ihrem Leben forderte.
Einige von Ihnen werden sich beim Lesen ein bisschen mit mir identifizieren, denn so mancher hat in seiner Familie oder im Bekanntenkreis einen Menschen, dessen Geist langsam schwindet; sei es nun durch Alzheimer oder, wie im Fall der Tante Elfie, durch Demenz. Es ist nicht immer einfach, mit einer solchen Situation umzugehen, und oft hat man keine Ahnung, was das Beste für den Betroffenen wäre. Trotz aller Schwierigkeiten, mit denen Sie gerade kämpfen mögen, kann ich nur raten, den Humor nicht zu verlieren. Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie – falls Sie gerade bis zu den Ohren in solch einer Herausforderung stecken – nicht verzweifeln, sondern über vieles herzlich lachen können.
Nach langer Überlegung, ob es Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, auch wirklich zumutbar sei, entschied ich mich letztlich doch dafür, die Sprache der Tante im Wiener Dialekt zu schreiben, weil sonst Essenzielles von ihrer Persönlichkeit verloren gegangen wäre. Um den Nichtwienern das Verständnis zu erleichtern, findet sich im Anhang eine kleine Einführung in den Wiener Dialekt und es könnte von Vorteil sein, diese zu lesen, bevor Sie sich an die eigentliche Geschichte heranmachen. Ich bin überzeugt, dass Sie so den Wiener Dialekt bereits nach ein paar Seiten gut lesen und verstehen können.
Vergessen Sie nicht darauf: »Humor ist, wenn man trotzdem lacht!«
Herzlichst
Karina Moebius
»Wissen Sie, wo die Elfie ist?«, fragt mich Friedl am Telefon. Die Freundin der Tante Elfie, die seit gut einem halben Jahrhundert über die meisten wichtigen und unwichtigen Angelegenheiten der Tante bestens informiert ist, klingt besorgt.
»Nein, ich habe keine Ahnung!« Seit drei oder vier Tagen rufe ich selbst erfolglos bei der Tante an, aber es gelingt mir nicht, ihrer habhaft zu werden. Ich bin leicht beunruhigt, aber trotzdem hoffnungsvoll, dass die Tante wie schon so oft, einfach nur auf der Walz ist und halt wieder einmal nicht Bescheid gesagt hat. Heute, am Montag, wollte ich es noch einmal versuchen. Doch die Friedl kam mir mit ihrer Frage zuvor.
»Der Kowalski hat gesehen, dass sie von der Rettung abgeholt wurde!«, informiert mich Friedl, die wie meistens mehr als ich weiß. Herr Kowalski ist der Hausmeister und er ist, wie sich das für einen guten Hausmeister eben gehört, meistens auf dem Laufenden, was die Mieter des ihm anvertrauten Hauses betrifft.
»Mit der Rettung? Um Himmels willen! Was ist denn passiert und in welchem Spital ist sie denn?«, entfährt es mir vor Schreck.
»Na, das hat der Kowalski auch nicht gewusst. Deswegen rufe ich Sie ja an.«
Ah ja, logisch. In meinem Gehirn beginnt es zu rattern und ich will mich auf die Suche nach der Tante Elfie machen und dann, sobald ich mehr weiß, die Friedl darüber informieren.
Wie findet man heutzutage jemanden, der sich dem Hörensagen nach in irgendeinem Krankenhaus befindet? Richtig. Man fragt Herrn Google. Eine Liste mit sozialmedizinischen Einrichtungen und Spitälern des Wiener Krankenanstaltenverbundes ist schnell gefunden. Ich suche mir die dem Wohnort der Tante nächstgelegenen Spitäler heraus und rufe an. Im Krankenhaus Hietzing, der Nummer zwei auf meiner ›Wär-ja-logisch-Liste‹, werde ich auch schon fündig. ›2. Medizinische Abteilung, Pavillon 3a‹, erfahre ich, und mir wird augenblicklich noch ein kleines bisschen mulmiger zumute, als mir ohnehin schon war. Diesen Pavillon kenne ich aus dem Jahr 2005, als ich dort meine damals 85-jährige Großmutter besuchte. In jenem Jahr übernahm ich die Sachwalterschaft für die Oma und durfte mich, wenn auch nur kurz, um ihre Angelegenheiten und ihr Seelenheil kümmern.
»Bitte, nicht schon wieder!«, flehe ich himmelwärts und mache mich in Windeseile auf den Weg nach Hietzing.
»Es gibt ja doch jemanden!« Die Stationsschwester ist sichtlich erfreut, als ich bei ihr vorspreche, um mich nach der Frau Elfriede Gebauer zu erkundigen. Auf meine Frage, was denn das bedeuten solle, erfahre ich, dass die Tante, als man sich nach Angehörigen erkundigte, meinte, sie hätte niemanden und sie sei ja ganz allein. Das sitzt. Die Stationsschwester sieht mir meine Erschütterung an und meint tröstlich, dass die Frau Gebauer im Augenblick eben sehr verwirrt sei und man keinerlei klare und schlüssige Angaben von ihr bekommen könne. Man wisse auch noch nicht, was die Ursache dieser augenblicklichen geistigen Unzulänglichkeit sei. Einige Untersuchungen seien bereits terminisiert.
Mit gemischten Gefühlen gehe ich nun ins genannte Zimmer, um die Tante zu sehen. Sie liegt im Bett und starrt mit abwesendem Gesichtsausdruck und leeren Augen an die Decke. Ich begrüße sie freundlich und versuche zu lächeln, obwohl mir gar nicht danach zumute ist. Ich bin auf ihre Reaktion gespannt. Langsam dreht die Tante den Kopf in meine Richtung, sieht mich an und nach einigen endlos wirkenden Sekunden verändert sich ihr Gesichtsausdruck.
»Ah, du? Nau, doss du a amoi her find‘st!«, bekomme ich vorwurfsvoll zu hören. Jetzt verstehe ich gar nichts mehr, aber immerhin erkennt sie mich, und vor allem scheint ihr wieder klar zu werden, dass sie ja doch jemanden hat, der sich um sie sorgt. Es ist sehr mühsam mit der Tante ins Gespräch zu kommen. Als ich ihr erkläre, dass ich sie schon seit Tagen telefonisch erreichen wollte, und ich erst von der Friedl gehört hätte, dass sie im Spital sei, kann sie kaum die Zusammenhänge verstehen. Nach mehrfacher, äußerst geduldiger Wiederholung meinerseits, scheint sie die Situation zumindest ansatzweise zu erfassen.
»Nau, wieso hot denn die Friedl des g‘wusst?«, will sie noch einmal von mir wissen.
»Vom Herrn Kowalski, bei dem hat sie angerufen.«
»Jo, aber wieso hot da Kowalski des g‘wusst?«
»Der hat gesehen, wie du von der Rettung abgeholt wurdest.«
Die Tante denkt ein paar Sekunden angestrengt nach.
»Ollerhaund! Der Kowalski siacht wirklich ois!«, resümiert die Tante und ich bin froh, dass sie sich langsam wieder orientieren kann. Mein Besuch scheint ihr Bewusstsein wieder ein bisschen ins Hier und Jetzt zu rücken. Ich will schon nachfragen, was denn eigentlich passiert sei, weswegen sie im Spital gelandet sei, da beginnt sie mir zu erzählen: »Stö da vor, wos mir passiert is …«, leitet sie eine absonderliche Geschichte ein.
Sie wollte am Samstag einen Ausflug machen, oder vielleicht auch in ein Konzert gehen, genau weiß sie das nicht mehr. Dann war sie im Steinbruch, wo nur Frauen gesessen sind. Auf meine verwunderten Fragen, in welchem Steinbruch das denn gewesen und wie sie dorthin gekommen sei, kann sie mir keine erschöpfende Antwort geben. Vielleicht mit dem Autobus. Oder vielleicht doch mit dem Zug? Ich suche nach dem Körnchen Wahrheit, das in diesen Worten stecken könnte, aber ich finde es nicht. Als ich nachfrage, ob sie die Frauen gekannt hätte, denkt Elfie lange nach und ist schließlich überzeugt, nicht zu wissen, wer diese Frauen waren. Nur die Fini war auch da. Mir wird immer klarer, dass an dieser Geschichte gar nichts stimmen kann, denn die Fini, eine von Tantchens älteren Schwestern, ist seit mittlerweile zwölf Jahren tot. Dann hat ein Lastwagen – so ein Pritschenwagen – die Frauen abgeholt. Sie wurden alle gezwungen, auf die Ladefläche zu klettern, was gar nicht so einfach war. Ich frage, wer denn die Frauen gezwungen hätte und erfahre, dass es die Polizei gewesen sei. Oder vielleicht waren es auch Soldaten? Mit dem Lastwagen wurden sie über endlos lange Feldwege bis in die Stadt gebracht und dort mussten sie wieder aussteigen. Später stand sie mit nacktem Oberkörper an der Kreuzung bei der Philadelphiabrücke, wollte ein Taxi nehmen, um nach Hause zu fahren. Sie hat sich ja so geniert, weil sie fast nackt war.
Mir verschlägt es fast die Sprache, und ich bin regelrecht fassungslos über diese Erzählung, die die Tante für die Wahrheit hält.
»Aber wie bist du denn ins Krankenhaus gekommen?«, versuche ich die Aufmerksamkeit wieder auf die Realität zu lenken.
»Jo, daunn is die Rettung kumman und jetzt bin i do!«, schließt die Tante ihre Geschichte ab, und mehr ist auch beim besten Willen nicht zu erfahren.
In den letzten Jahren machte sich das geistige ›Nachlassen‹ der Tante durch immer stärker werdende Vergesslichkeit, eine dann und wann gestörte Selbstwahrnehmung und allerlei absurde Ideen bemerkbar. An so manche skurrile Geschichte, an deren Wahrheitsgehalt ich meine Zweifel hatte, möchte ich im Moment gar nicht denken. Die völlige Orientierungslosigkeit ist neu und die eben gehörte fantastische Geschichte macht mir regelrecht Angst.
Ich bin ratlos. Was nun?
»Unter der schwedischen Mitternachtssonne haben wir in aller Stille geheiratet!«
Als ich vor mehr als dreißig Jahren diese Zeilen auf dem edlen Kärtchen las, war ich sprachlos. Aber nicht nur mir, auch dem Rest meiner sonst so geschwätzigen, kleinen Familie verschlug es die Rede. Das Mysterium meiner Kindheit, genannt Tante Elfie, war einmal mehr für eine Überraschung gut.
»I hob‘s oba eh g‘wusst!«, berichtete die Oma später mit unüberhörbarem Stolz und einer gehörigen Portion Wichtigkeit in der Stimme jedem, der es gar nicht wissen wollte. Die gewöhnlichen Familienmitglieder, so wie eben auch ich eines war, wurden jedoch erst durch den Erhalt des Kärtchens über das späte Glück der Tante Elfie informiert. In meinem Fall hieß das, dass Onkel Fritz nunmehr offiziell gegen Onkel Erich ausgetauscht worden war.
Zugegeben, ich war schon längst kein Kind mehr, als dieser höchst notwendige Onkeltausch vollzogen wurde, und dennoch erinnere ich mich daran, als ob es eine weit entfernte Episode aus meiner Kindheit wäre. Das mag am Mysterium rund um die Tante Elfie liegen. Sie hielt nie viel von Familie und Verwandtschaft und ging stets ihrer eigenen Wege. Als Kind liebte ich diese wenigen besonderen Ereignisse, bei denen uns auch die höchst interessante und etwas schrille Tante Elfie mit ihrer Anwesenheit beglückte. Sie trat stets elegant und humorvoll auf und war mit einer für mich ganz erstaunlichen Art und Weise gesegnet, sich auszudrücken. Zwar wusste ich mit dem Begriff ›Eloquenz‹ noch nichts anzufangen, doch erkannte ich wohl, dass die Tante Elfie anders war als jeder Mensch, den ich in meinem damals noch kurzen Kinderleben kennengelernt hatte. Den tiefsten Eindruck jedoch hinterließ Tante Elfies orange-roter Lippenstift und der Duft nach nicht ganz billigem Parfum.
»A bisserl überkandidelt is‘ scho, unser‘ Elfie!«, hörte ich böse Zungen flüstern, konnte mir darunter aber absolut nichts vorstellen. Dass es nicht wirklich wohlwollend gemeint war, erahnte ich intuitiv bereits als Fünfjährige. Wenn ich aus heutiger Sicht auf die Tante meiner Kindheit zurückblicke, bin ich allerdings versucht, den genannten bösen Zungen beizupflichten.
Darüber hinaus erinnere ich mich, dass die Tante trotz Onkel Fritz – oder vielleicht gerade seinetwegen – immer wieder Männerbekanntschaften pflegte. Dass sie mit so manchem dieser Männer relativ gut bekannt war, verstand ich allerdings erst viele Jahre später. Ich begriff auch ein bisschen die Gehässigkeit meiner Urgroßmutter ihrer eigenen jüngsten Tochter gegenüber.
›Ausbund!‹, wurde die Tante genannt. Ausbund wovon? Es war mit Sicherheit nichts Gutes.
Das Verhältnis der Tante zu ihrer Mutter war ganz offensichtlich nie übermäßig herzlich. Wie wenig herzlich es tatsächlich war, wurde mir erst klar, als die Urgroßmutter verstarb und die Tante es vorzog, sich ihren Urlaub durch ein Begräbnis nicht vermiesen zu lassen. Jener Urlaub wurde nicht verschoben.
»Unser Elfie hot hoid kan Charakter!«, stellten die bösen Zungen diesmal etwas lauter fest. Andere hielten dagegen, dass sie sehr wohl Charakter hätte – aber halt keinen guten. Dies könnte sich in der Nacht-und Nebelaktion bestätigen, die die Tante inszenierte, um aus der damals noch ehelichen Wohnung mit Onkel Fritz auszuziehen.
In jenen Jahren noch berufstätig, heuerte sie ein paar Kollegen aus der Firma samt LKW an, die sie unterstützen sollten, ihre Habseligkeiten zusammenzuraffen und abzutransportieren. Die Planung musste generalstabsmäßig, das Timing perfekt sein, denn mit dem Fritzl wollte sie sich in dieser Situation nicht konfrontieren. Genau so zackig wie geplant lief diese spektakuläre Aktion auch ab. Man stelle sich Fritzens Gesicht vor, als er abends vom Büro heimkam und feststellen musste, dass ihm Weib mitsamt der Hälfte – oder möglicherweise etwas mehr als der Hälfte – vom Hausrat abhandengekommen, dafür die Scheidungspapiere hinterlassen worden waren. Wir haben die Reaktion des Onkels nie erfahren.
Familiengerüchten zufolge soll sich der Onkel Fritz noch eine Weile geziert haben, die Dokumente zu unterschreiben. Dass er irgendwann doch klein beigegeben hatte, bezeugte nun die neuerliche Eheschließung.
Zu unser aller Erstaunen und Freude zeigte sich das neueste Familienmitglied, ein schwedischer Staatsbürger mit Migrationshintergrund, an unserer Familie durchaus interessiert. Und so kam es, dass ich in den nächsten 23 Jahren noch viel Gelegenheit haben sollte, die Tante Elfie mitsamt neu erworbenem Onkel etwas besser kennenzulernen.
Tante und Onkel pflegten viele Jahre lang den Sommer in der schwedischen Stuga (gesprochen: Stüga) am Bottnischen Meerbusen zu verbringen, im Winter entweder durch die Welt zu tingeln oder in der kleinen, kuscheligen Wiener Wohnung ganz gewöhnliches Eheleben mit Familienanschluss zu zelebrieren. Diese Zeit im Jahr gab reichlich Gelegenheit für regen Austausch, zum Beispiel beim Heurigen. Auch in jenen Jahren, als ich bereits eine junge Frau war, fand ich die Tante immer noch höchst interessant.
»Sag, wie hast du den Erich eigentlich kennengelernt?«, fragte ich sie bei einer solchen Gelegenheit.
»Nun, ich ging damals in den Stephansdom, um ein Kerzerl für unsere Verstorbenen anzuzünden. Und da stand dieses fesche Mannsbild neben mir und versuchte umständlich, sein angezündetes Kerzerl wieder hinzustellen. ›So a fesches Mannsbild!‹, hab ich mir gedacht, aber dermaßen patschert, dass ich mir Sorgen um den Steffl g‘macht hab! Da hab ich ganz spontan seinen Arm genommen, seine Hemdmanschetten aus der Gefahrenzone gezogen und gesagt: ›Sie werden Feuer fangen!‹ Und was soll ich dir sagen? Er hat Feuer gefangen!«
Ja, mit Männern konnte sie schon immer, die Tante Elfie. Sehr wahrscheinlich ist das der Grund, warum sie immer und überall von Ehefrauen aller Altersklassen scheel beäugt wurde.
Als der Herr Onkel im Laufe der Jahre immer schwerhöriger wurde, gestaltete sich jede Unterhaltung und jedes Beisammensein als ausgesprochen anstrengend, und ich wünschte mir immer wieder einmal heimlich, etwas Zeit mit der Tante alleine verbringen zu können.
Vor einigen Jahren hat das Universum diesen meinen Wunsch erhört. Der Onkel verstarb vierundneunzigjährig, und ein wenig später ging auch mein Vater hinüber. Die Einzigen, die von unserer Familie übrig blieben, waren die mittlerweile fast 80-jährige Tante und ich. Und viel, viel Zeit, die ich mit ihr allein verbringen durfte.
Beim Betreten des Krankenzimmers im Geriatriezentrum, also im Pavillon 3a, eröffnet sich mir das schon bekannte, ziemlich bedrückende Bild. Das Zimmer ist zwar recht geräumig, aber sechs Patientinnen, in einem Raum untergebracht, kann man wahrlich Anachronismus nennen. Links drei Betten, rechts drei Betten und in der Mitte ein kleiner Tisch mit ein paar Stühlen. Irgendwo dazwischen zwei Zimmerklos.
Die alten Mädels in der Reihe links scheinen gemeinsam an die 300 Jahre alt zu sein. Eine schläft mit offenem Mund und atmet so schwer, dass ich augenblicklich ganz beunruhigt bin und sich mir die Nackenhaare sträuben. Die Zweite zupft und zerrt ganz geschäftig an ihrem Nachthemd herum. Ich frage mich insgeheim, was sie wohl vorhat und wohin diese Geschäftigkeit führen soll. Die dritte Dame von der linken Seite sitzt heute im Rollstuhl am Tisch und hypnotisiert schweigend ihre Schnabeltasse. Sie erscheint mir komplett entrückt. Die Vierte wiederum brabbelt immer wieder Unverständliches vor sich hin, und auch bei höchster Aufmerksamkeit kann ich keinen Sinn darin erkennen.
Die Tante sitzt überraschenderweise im schicken Spitalsnachthemdchen und mit einem Glas Wasser ebenfalls am Tisch. Vis-à-vis sitzen ihre Bettnachbarin und deren Ehemann. Worüber sich das Dreiergrüppchen mehr oder weniger angeregt unterhält, verschließt sich mir. Die vierte alte Dame am Fenster unterbricht das Gebrabbel gelegentlich und spitzt die Ohren, beteiligt sich aber nicht am Gespräch. Die Unterhaltung endet abrupt, als ich den Raum betrete. Fünf oder sechs Augenpaare sind neugierig und vor allem erwartungsvoll auf mich gerichtet. Die Tante erkennt mich heute fast augenblicklich und freut sich, dass sie diejenige ist, die den Besuch bekommt. Der Bettnachbarin, Frau Schweiger, und ihrem Mann scheint es egal zu sein, und alle anderen Anwesenden sind ganz offensichtlich enttäuscht, dass der Besuch, der da antrabt, nicht ihnen gilt. Nach Angaben der Tante seien sie und die Frau Schweiger die Einzigen, die hier seit Wochen Besuch bekommen. Da die Tante ja erst seit ein paar Tagen im Spital ist, bleibe ich bei dieser Information skeptisch, doch es ist nicht ausgeschlossen, dass sie recht hat. Es stimmt mich traurig, dass die regelrecht spürbare Enttäuschung im Raum so groß ist.
Tante Elfie ist heute erstaunlich gut drauf und äußerst gesprächig. Es wundert mich, wie sie von einem Tag zum anderen ihre Sinne wieder beieinanderhaben kann. Etwas später will ich ja mit dem behandelnden Arzt reden, der mir dann hoffentlich Aufschluss über die gesundheitliche Situation der Tante geben kann.
Heute habe ich eine kleine Grundausstattung fürs Krankenhaus mitgebracht. Zahnbürste, Zahnpasta, einen Kamm und eine Creme fürs Gesicht, einen kleinen Handspiegel sowie zwei Paar Söckchen gegen kalte Füße. Eigentlich wollte ich ihr die Sachen von zu Hause holen, doch stattdessen musste ich alles neu kaufen, weil die Tante ihren Wohnungsschlüssel nicht herausrückt. Offensichtlich will sie nicht, dass ich die Wohnung allein betrete. Ob sie Angst hat, dass ich etwas wegtrage oder in ihren Sachen wühle, weiß ich nicht.
»Lippenstift host ma kan mitbrocht?«, fragt sie leicht enttäuscht, als ich die Schätze vor ihr ausbreite.
»Wozu brauchst du denn einen Lippenstift im Spital?«, wundere ich mich laut.
»I kum ma hoid ohne immer so nockat vor!«, erklärt die Tante unglücklich.
Weiters standen eine kleine Flasche Cola und vier FruFru auf der gestrigen Wunschliste, die ich natürlich ordnungsgemäß abgearbeitet habe. Darüber hinaus habe ich noch einen Becher Kaffee vom Automaten mitgebracht. Schwarz und ohne Zucker, so wie sie ihn mag, und zwei große Linzer Augen aus der Bäckerei sowie ein paar Mandarinen. Die Freude über die unerwartete Jause ist groß und Tantchen stürzt sich voller Heißhunger auf ein Linzer Auge. Zugegeben, eine mittlere Sünde, wenn man den in letzter Zeit erhöhten Blutzucker bedenkt. Aber kleine Sünden hat der Doktor ja genehmigt. Plötzlich will die Tante noch Zucker in den Kaffee.
»Ich dachte, du trinkst ihn schwarz und ohne Zucker?«, frage ich irritiert.
»Ja eh, aber i bin a Siasse!« Für Logik scheint es also noch nicht zu reichen. Die Tante will gleich drei Sackerln vom Zucker. Mich trifft fast der Schlag. Na gut, die Ausnahme wird sie schon nicht umbringen. Kaffee und ein Linzer Auge sind im Nu verputzt, das zweite Linzer Auge wird für das morgige Frühstück aufgespart. Nach zehn Minuten möchte die Tante eine Mandarine. Ich schäle und häute die Mandarine sorgfältig und präsentiere die fein säuberlich geputzten Spalten.
»Nau des is a Service!«, kommentiert die Tante wohlwollend. Wir unterhalten uns mit der Bettnachbarin und ihrem Mann. Alle anderen im Raum bleiben unbeteiligt. Die meist brabbelnde Dame in der Ecke springt – soweit man halt von Springen reden kann – unerwartet auf und verlässt den Raum. Nach einer Weile kommt sie wieder.
»So, jetzt woar i schaun, ob si wos tuat!« Erstaunlich, es gibt ja doch klare Momente bei ihr. Das hätte ich gar nicht erwartet.
»Und? Tuat si wos?«, frage ich, um sie in die Unterhaltung mit einzubeziehen.
»Nein, danke!«, vernehme ich die Antwort.
Die Entscheidung, ob ich noch einmal nachfrage, weil es sich ja auch um einen Hörfehler handeln könnte, wird mir beim Blick auf die Patientin im Bett hinter mir abgenommen, und die Worte bleiben mir im Hals stecken. Mittlerweile hat sie sich von ihrem Nachthemd zur Gänze befreit und jetzt ist sie verzweifelt damit beschäftigt, ihre Blöße mit einem Lätzchen fürs Mittagessen zu bedecken.
Wenn ich die Patientinnen im Raum so betrachte, erscheint mir die Tante Elfie noch ganz harmlos und geistig gesund.
»Wos mochst du eigentlich beruflich?«, interessiert sie sich aus heiterem Himmel. Gut, so gesund auch wieder nicht …
Plötzlich rappelt und schnauft es im zweiten Bett hinter mir unüberhörbar. Ich drehe mich um und frage, ob ich helfen kann.
»Nein, nein, es geht schon!« Mühsam trappelt die alte Dame zum WC und steht nach ein paar Minuten wieder vor uns. »Bitte entschuldigen Sie die Störung! Aber wo finde ich denn die Einlagen?« Die Tante weiß, dass es die Einlagen nur bei der Schwester gibt. Die Dame wackelt bedrohlich, als sie sich auf den Weg nach draußen macht. Nach ein paar Minuten wird sie von einer leicht genervt wirkenden Schwester wieder ins Zimmer und ins Bett gebracht.
»Wissen Sie, wo Sie sind?« Die Frau hat keine Ahnung. Die Schwester erklärt, dass sie im Krankenhaus sei und daher im Bett liegen bleiben möge. Nach zwei Minuten ist die Erklärung der Schwester scheinbar wieder vergessen und ich vernehme wieder das Geschnaufe hinter mir. Mühsamst und dennoch wieselflink ist die alte Dame wieder bei der Tür, wo sie von derselben Schwester abgefangen wird.
»Wo wollen Sie denn hin?«, fragt diese etwas unwirsch.
»Bitte, ich muss schauen, in welchem Spital ich bin!«
Frau und Herr Schweiger, die Tante und ich beobachten das gleiche Szenario ungefähr fünf Mal innerhalb der nächsten zwanzig Minuten.
»Do wirst söwa gaunz meschugge, waunst da de Deppat‘n do herinnen aunschaust!« Wo sie recht hat, hat sie recht, die Tante Elfie. Ein Glück, dass zumindest die Frau Schweiger geistig intakt erscheint und die Tante wenigstens eine Ansprechperson hat. Meine Hochachtung vor dem Pflegepersonal in derartigen Pflegeeinrichtungen steigt und steigt. Es soll allerdings auch schon Morde im Geriatriezentrum gegeben haben, und ich entwickle ganz heimlich ein leichtes Verständnis für diejenigen, deren Geduldsfaden irgendwann gerissen ist.
Nach einer Weile erscheint ein Trupp Pflegepersonal, offensichtlich auf dem nachmittäglichen Rundgang. Wir Besucher müssen den Raum verlassen. Die alten Mädels werden entweder gewickelt, auf den Topf gesetzt oder zum WC geführt, je nach ihren Möglichkeiten. Alle werden gewaschen, frisch angezogen und was auch sonst noch vonnöten ist. Der Raum wird gelüftet, die Betten aufgeschüttelt oder gegebenenfalls frisch bezogen und der Boden gewischt.
Ich nutze die Gunst der Stunde und genehmige mir vor dem Eingang einen gar nicht so üblen Automatenkaffee und eine Zigarette. Der Kaffee ist auch dringend nötig, denn ich fühle mich zum Umfallen erschöpft, obwohl ich gerade einmal seit zwei Stunden da bin. Ich habe das Gefühl, dass mir sämtliche alten Damen meine ganze Energie absaugen, und ich wundere mich, wie das Pflegepersonal und die Ärzte hier leistungsfähig bleiben können. Vielleicht ist es Gewohnheit oder sie haben sich allesamt ein dickes Fell zugelegt, welches sie von den Eindrücken abschirmt. Mir hingegen geht all das Gesehene und Erlebte der letzten beiden Stunden schwer an die Nieren.
Nach einer Viertelstunde mache ich mich wieder auf den Weg nach oben. Auf dem Gang läuft mir der behandelnde Arzt über den Weg und ich habe Glück, denn er hat kurz für mich Zeit. Wir ziehen uns samt Patientenakte in eine wenig frequentierte Ecke des Ganges zurück, und der Herr Doktor will allerlei von mir wissen. Zuerst einmal wird geklärt, in welchem Verhältnis ich zur Patientin stehe. Er nimmt zur Kenntnis, dass ich als Großnichte keine Befugnisse bezüglich der weiteren Vorgehensweise habe, aber immerhin doch nahe genug stehe, um Auskünfte zu geben. So will er zum Beispiel wissen, ob die Tante tatsächlich noch allein lebt und wie viel Alkohol sie trinkt. Ja, die Tante lebt allein – in vielerlei Hinsicht mit meiner Hilfe – aber die Frage nach dem Alkohol ist für mich schwer zu beantworten, denn ich bin ja nicht immer dabei, wenn sie sich ein Achterl ein-oder nachschenkt. Nach ihren eigenen Angaben kommt sie auf drei bis vier Achterl am Tag und das erscheint mir plausibel. Als ich in die Akte schiele, sehe ich den gelb markierten Eintrag ›halber Liter tgl.‹. Wenn man in Achtel zählt, erscheint es irgendwie weniger, geht es mir durch den Kopf. Ich erzähle die bisherige Krankengeschichte der Tante, soweit ich sie halt weiß, der Arzt macht Notizen und scheint vorläufig zufrieden. Ich hingegen bekomme weniger hilfreiche Auskünfte. Man habe einen Demenztest für morgen Vormittag angesetzt; erst dann wisse man mehr. Darüber hinaus solle ich mit dem Entlassungsmanagement einen Termin vereinbaren, um die weitere Vorgehensweise abzuklären, denn er sei ja nur für die medizinischen Angelegenheiten, nicht aber für die Pflegebelange, zuständig.
Als ich etwas später ins Zimmer zurückkehre, löffelt die Tante bereits ihr zweites FruFru. Ein bisschen plaudern wir noch und dann beende ich meinen Besuch.
»Waunn kummst denn wieder?«, will Tantchen noch schnell wissen. »Ah, eh morgen. Geh, bring ma a poar FruFru mit, i glaub, mit meine i bin boid fertig!«
Ihre frühere Behauptung »I ess jo nix!« scheint mir in diesem Augenblick etwas übertrieben.
Auf dem Weg zum Ausgang mache ich beim Entlassungsmanagement halt, und vereinbare mit einer freundlichen, aber strikten Dame einen Gesprächstermin für morgen. Heute geht es nicht, weil sie noch Büroarbeit zu erledigen hat. Morgen soll ich wiederkommen.
Dennoch bin ich froh, dass ich den Besuch für heute erledigt habe, und ich merke auf der Heimfahrt, dass zwar die Anspannung etwas nachlässt, mir aber eher nach Weinen, denn nach Lachen zumute ist. Wenigstens ist die Tante jetzt einmal unter Beobachtung und versorgt. Wie es weiter gehen könnte, werde ich morgen beim Entlassungsmanagement erfahren. Ich denke, dass es jetzt möglich sein sollte, die Tante mit einer Heimhilfe zu versorgen. Meine bisherigen diesbezüglichen Anregungen wurden von ihr ja im Keim erstickt.
»I hob eh mei Elena!«, pflegte die Tante jegliche Diskussion abzuwürgen, doch mir schien es, als ob Elena, die polnische Putzfrau, mit der Tante und ihren häuslichen Angelegenheiten schon längst überfordert war.
Vielleicht kann das Krankenhaus ja Einfluss nehmen, denn die haben live miterlebt, was vor ein paar Tagen los war.
»Oid soit‘ ma ned werd‘n! Ma wird jo so schäbig!«, pflegt die Tante bei allen möglichen Gelegenheiten von sich zu geben. Doch wo es bei ihr eher um die Schönheit geht, mache ich mir um den schäbig gewordenen Verstand Sorgen. Besser wird es wohl nicht mehr werden …
Am darauffolgenden Tag melde ich mich vereinbarungsgemäß bei der Dame vom Entlassungsmanagement, die auch umgehend Zeit für mich hat. Ich erfahre, dass der Demenztest heute planmäßig stattgefunden hat, die Ergebnisse aber sicher ein bis zwei Tage dauern werden, bis der zuständige Facharzt Zeit zur Auswertung hat. Darüber hinaus informiert sie mich auch, dass mit einer Entlassung vor Ende nächster Woche nicht zu rechnen sei. Das wiederum ist eine gute Nachricht. Zumindest für mich. Wieso denn die Tante bisher keine Heimhilfe hatte, will die nette Dame von mir wissen. Ich erzähle von der Elena, den Aufgaben, die ich bisher erledigt hatte, und vom Widerwillen der Tante gegen weitere Unterstützung durch eine Heimhilfe. Da die Tante bei der Aufnahme ins Spital erklärte, dass sie niemanden habe, der sich um sie kümmere, hat man vom Krankenhaus aus eine Heimhilfe bereits angefordert. Das kommt mir sehr gelegen, denn ich war ja bisher machtlos in dieser Angelegenheit. Darüber hinaus habe man bei der Pensionsversicherungsanstalt den Antrag auf Pflegestufe bereits gestellt. Ich stelle fest, dass es durchaus auch Vorteile hat, wenn man im Spital glaubt, es gäbe keine Angehörigen, die diese Aufgaben übernehmen könnten. Nach der Heimkehr der Tante wird sich jemand vom ›Fonds Soziales Wien‹ melden und einen Besuchstermin vereinbaren, bei welchem die Details und der Rahmen der Unterstützung abgeklärt werden sollen. Außerdem wird ein Amtsarzt kommen, der die Pflegestufe bestimmt. Nach ca. dreißig Minuten bin ich über das Wesentliche bestens informiert und wir besprechen, dass die Tante bei Entlassung mit dem Krankentransport heimgebracht werden kann. Da man den Zeitpunkt aber nicht genau festlegen kann, ersuche ich um Verständigung, wenn es so weit ist, damit ich möglichst zeitgleich bei der Tante in ihrer Wohnung eintreffen kann. Warum ich die Tante nicht selbst abhole, wo ich doch ein Fahrzeug habe, werde ich noch gefragt. Das wäre nämlich am einfachsten. Das stimmt zwar, aber nicht für mich. Tante Elfie wohnt im dritten Stock und ich bin überzeugt, dass sie nach zwei Wochen Krankenhausaufenthalt kaum in der Lage sein würde, die drei Stockwerke hochzusteigen. Ich traue mir nicht zu, sie dabei optimal unterstützen zu können. Mit diesem Protest ernte ich nun doch Einsichtigkeit, und wir fixieren den Heimtransport so wie vorhin angedacht.
Endlich erfahre ich auch, was denn am Tag der Einlieferung ins Spital vermutlich passiert ist. Genau sagen kann es niemand, doch die Puzzleteile der Informationen von Rettung, Feuerwehr und Polizei ergeben folgendes Bild: Anscheinend hat die Tante irgendwann frühmorgens ihren ›Notfallknopf‹ gedrückt. Warum sie das getan hat, ist ungeklärt. Da die Notrufzentrale vom Roten Kreuz mit der Tante keinen Kontakt aufnehmen konnte, wurde ein Einsatzwagen mit Rettungssanitätern geschickt. Diese konnten zwar den außen am Türstock angebrachten Schlüsselsafe öffnen, jedoch die Eingangstüre nicht aufsperren, da von innen ein Schlüssel steckte und die Tür überdies verriegelt war. Da mehrfaches Klingeln und Klopfen nichts brachte und sie von drinnen eine angstvolle Stimme hörten, sahen sich die Sanitäter gezwungen, die Feuerwehr zu rufen und die Tür aufbrechen zu lassen. Solcherlei darf aber wiederum nur in Anwesenheit der Polizei geschehen. In der Wohnung fand man schließlich eine verwirrte, halb nackte Tante vor, die glaubte, nicht daheim zu sein und nach Hilfe rief. Wenn ich mich an die Geschichte erinnere, die die Tante vor ein paar Tagen erzählte, kann ich nur schlussfolgern, dass sie schrecklich geträumt haben musste. In weiterer Folge konnte sie beim Aufwachen Traum und Wirklichkeit wahrscheinlich nicht mehr unterscheiden.
Die beiden Wochen, in denen die Tante im Krankenhaus ist, vergehen mir wie im Flug und ich besuche sie fast täglich. Obwohl ihr Zustand mittlerweile wieder recht stabil erscheint, weicht sie von ihrer wilden Geschichte keinen Millimeter ab. Ich wiederum bleibe dabei und versuche, sie – zum gefühlten einhundertsten Mal – von den Tatsachen zu überzeugen. Für eine kurze Zeit zeigt sie sich nach jeder Erklärung einsichtig, dass das nicht wirklich passiert sein kann, doch dann holt sie die Erinnerung an das vermeintlich Geschehene wieder ein.
Die Tante ist schon ganz ungeduldig und möchte natürlich so rasch wie möglich nach Hause.
»Lauter Deppate do!«, höre ich von ihr des Öfteren. »I bin jo scho so froh, waunn i wieder daham bin und mei Ruah hob!« Die Tante ist ob der dummen Fragen, die ihr ständig gestellt werden, höchst echauffiert. Man habe ihr eine gezeichnete Uhr vor die Nase gehalten und sie musste sagen, wie spät es darauf war. Was denn das solle, will sie von mir wissen; sie sei ja nicht blöd. Und irgendwelche komischen Zeichnungen musste sie deuten. Aber vor allem ist sie empört, dass auf allen Zetteln ›Demenz‹ steht und dass sie täglich einen halben Liter Wein trinkt.
»De tuan jo grod a so, wia waunn i saufn tat!«
Nun, ich kann mir vorstellen, dass man hier bezüglich des Alkoholkonsums Schlüsse gezogen hat. Den Grünen Veltliner hat die Tante immer schon geliebt und bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten reichlich genossen. Der Demenztest war, soweit ich das verstanden habe, grenzwertig, und ich hoffe, dass es noch eine Weile in diesem Rahmen bleibt.
Im Zimmer ist ein ständiges Kommen und Gehen von verwirrten alten Damen. Eine sei schon gestorben, eine andere hätte man auf die Baumgartner Höhe gebracht, erzählt mir die Tante missmutig. Ich kann sie verstehen.
Als der Tag der Entlassung endlich gekommen ist, hat man mich vom Krankenhaus aus – trotz mehrfacher vorheriger Versicherung – natürlich nicht über den Zeitpunkt des Heimtransportes informiert. Als es mir mit der Warterei am Telefon zu dumm wird, rufe ich auf der Station an und erfahre, dass die Tante bereits um 10 Uhr abgeholt worden ist. Ärgerlich springe ich in Schuhe und Mantel, bin in zwei Minuten beim Auto und düse los. Nach fünfzehn Minuten finde ich eine völlig aufgelöste Tante vor, die mir voller Entsetzen und mit Tränen in den Augen berichtet, dass in der Wohnung eingebrochen eingebrochen worden sei. Der Persianer sei aber noch da und das Geld in der Handtasche auch. Dreimal erkläre ich ihr, wie das mit der Rettung, dem Schlüsselsafe und der von innen verriegelten Tür gewesen sei, und dass sie sich keine Sorgen zu machen brauche.
»Soit‘ ma ned do die Polizei aunruafn?«
»Nein, müssen wir nicht!«, versichere ich zum vierten Mal.
Meine erste und wichtigste Handlung ist es, so rasch wie möglich den Dreck, den die Feuerwehr hinterlassen hat, wie zum Beispiel die Lacksplitter von der Türe, wegzuräumen. Nach dem Motto: Aus den Augen – aus dem Sinn. So hoffe ich es zumindest. Im Schlafzimmer liegen Bettzeug, Gewand und Handtasche gemeinsam mit gut fünfzehn Lippenstiften auf dem Boden durcheinander.
»Do schau her, wos de aufg‘führt hab‘n!« Tantchen ist verzweifelt und ich möchte gar nicht so genau wissen, wie es zu diesem Chaos im Schlafzimmer kam. Ich könnte mir vorstellen, dass die Tante beim Abtransport – oder vielleicht schon vorher – randaliert hat …
Ich richte das Bett wieder ordentlich her, derweil die Tante fassungslos ihre Lippenstifte vom Boden einsammelt und penibel in einem kleinen Körbchen schlichtet.
»De haum sogar des Büdl von der Wand g‘rissen!«, schimpft sie immer noch aufgebracht.
Nun ja, das Bild steht seit Monaten auf dem Boden und ich habe mich schon mehrfach darüber gewundert, durfte es aber nie aufhängen. Jetzt hänge ich es wieder an seinen Platz und die arme Seele hat ihren Frieden.
»Soll ich dir etwas einkaufen gehen? Wollen wir schauen, was noch im Kühlschrank ist?«, frage ich. Wir schauen also gemeinsam. Ich schaue entsetzt. Der Kühlschrank ist zum Bersten voll, doch nach näherer Betrachtung, und unter Berücksichtigung des grauenhaften Geruches, nehme ich gleich einen großen Müllsack aus der Lade. Das älteste Teil, das ich sichte, ist im Februar 2014 abgelaufen, also gerade einmal vor einem Jahr. Glücklicherweise ist es immer noch original eingeschweißt. Tantchen ist ärgerlich, weil ich die ganzen guten Sachen einfach wegwerfe. Dabei erinnere ich mich, dass sie vor Wochen drei Tage im Bett lag, weil ihr so schlecht war. Mich wundert gar nichts mehr. Nun ist der Kühlschrank zur Gänze entrümpelt und fast leer!
Jetzt rufen wir die Elena an. Ein Großputz ist dringend vonnöten und Elena will gleich am nächsten Tag kommen. Von mir erhält sie bereits vorab den Auftrag, den Kühlschrank gründlich zu putzen.
»Moch ich mit Essigwosser, wegen Viecher!«, erklärt die Elena fachkundig.
»Nein, Viecher wollen wir nicht im Kühlschrank«, denke ich mir, während es mich bei der Vorstellung, was denn da schon alles kreucht und fleucht im Tantenkühlschrank, schüttelt.
Ich besorge noch ein paar Kleinigkeiten vom Penny-Markt, darunter auftragsgemäß zwanzig FruFru und ein Sixpack Mineralwasser. Nachdem ich mich mit den Kleinigkeiten beladen in den dritten Stock gequält habe, gibt mir die Tante unmissverständlich zu verstehen, dass sie jetzt gerne ihre Ruhe hätte und ich morgen wieder kommen solle.
Ich bin einmal mehr vollkommen erledigt und hätte auch gerne meine Ruhe …
Schon vor ihrem Zusammenbruch und dem Krankenhausaufenthalt im Frühjahr 2015 erlebte ich allerlei lustige beziehungsweise auch seltsame Geschichten mit der Tante Elfie, oder ich hörte zumindest davon. Bis weit nach ihrem achtzigsten Geburtstag war sie körperlich und geistig in recht guter Verfassung und überdies, mit Ausnahme einiger weniger schwermütiger Phasen, humorvoll und umtriebig wie eh und je.
»Des hätt i ma nie denkt, dass i amoi so oid wer‘!«, sinniert die Tante, als ich sie wieder einmal besuche.
»Maunchmoi, waunn i mi in Spiagl schau, daschreck i mi richtig. Weu, i füh‘ mi jo goar ned so oid, ois wia i ausschau!«
Für ihre knapp achtzig Jahre sieht die Tante wirklich großartig aus. Sie legt viel Wert auf ihr Äußeres und ist wie in meinen frühen Kindertagen immer gut frisiert und mit reichlich Make-up verschönert; stets schick gekleidet mit passenden Schuhen und Handtasche.
»I brauch‘ mein Lippenstift und meine g‘färbten Hoar!«, erklärt die Tante resolut.
Amüsiert betrachte ich sie und stelle fest, dass ich sie ohne schwarzes Haar und orange-roten Lippenstift kaum kenne. Nur dunkel erinnere ich mich an eine äußerst kurze Phase mit roten Haaren und eine noch kürzere Phase als Blondine, irgendwann in den Achtzigerjahren.
Als Kind wunderte ich mich immer wieder, wenn meine Mutter nicht ›Tante‹ zu ihrer Tante sagte, sondern sie mit dem Vornamen ansprach. Es lag daran, dass der Altersunterschied zwischen Tante und Nichte gerade mal vierzehn Jahre ausmachte und die Tante sich bei dieser Anrede so schrecklich alt vorkam. In den Achtzigerjahren war es nun an mir, der Großnichte, vom ›Tante Elfie‹ entwöhnt zu werden, und zu ›Elfie‹ überzugehen, damit sich diese nicht gar so alt fühlte.
»Geh, sog ned imma ›Tante‹ zu mir!«, hieß es damals im Originalton. »Do kumm i ma so oid vua. I bin die Elfie und aus!«
»Wos soi i denn zu mein Geburtstog mochen?«, fragt sie mich bei meinem Besuch und beantwortet sich diese Frage im selben Atemzug selbst. »Gemma zum Stasta essn. Des woar sche durt, waßt eh, wia da Hermann gsturm is!«
Ja, der Hermann, mein Vater, ist erst vor wenigen Wochen gestorben und meine Begeisterung, eben dieses Lokal so kurzfristig wieder aufzusuchen, hält sich in Grenzen. Doch Gegenvorschläge fallen nicht gerade auf fruchtbaren Boden. Wir gehen also zum Stasta. Damit muss ich anscheinend leben. Die Tante wird einen Tisch für sechs Personen reservieren.
»Wer ist denn alles eingeladen?«, frage ich nach.
»Oiso, die Elisabeth kummt mit die Zwillinge, san drei. Die Friedl hob i eiglond, mocht viere. Daunn i und du!«, werde ich aufgeklärt.
Für mich stellt sich nun umgehend die Frage, was ich der Tante zu ihrem Achtziger schenken könnte. Zwar waren Geburtstagsgeschenke zwischen uns nie üblich, aber der Achtziger ist eine Ausnahme wert. Wahrscheinlich kennt jeder das Problem, jemanden zu beschenken, der alles hat und sich nichts wünscht. Außer vielleicht einen Verstorbenen wieder zum Leben zu erwecken.
Als ich über meinem schier unlösbaren Problem brüte, fällt mir eine Episode ein, die sich ein paar Jahre früher zugetragen hat.