NICOLA BARDOLA, geb. 1959, wuchs zweisprachig in Zürich auf und studierte Germanistik, italienische Literatur und Philosophie; er veröffentlichte mehrere Biographien, u. a. über Yoko Ono. Dank seines vieldiskutierten Romans Schlemm kennt er nicht nur als Literaturkritiker, sondern auch als Autor die Gratwanderung zwischen biographischem und fiktionalem Schreiben.
Mit den Romanen Elena Ferrantes hat Bardola sich von Anfang an beschäftigt und ist heute der wohl beste Kenner ihres Gesamtwerks.
Auf den Spuren des literarischen Welterfolgs
Nicola Bardola begibt sich auf die Suche nach Elena Ferrante. Die geniale Schöpferin der Freundinnen Lila und Lenù hat sich ausführlicher über ihr Leben und Schreiben geäußert als die meisten anderen Autorinnen unserer Zeit. Die genaue Lektüre ihrer Texte – der frühen Romane, der neapolitanischen Tetralogie und vor allem der Selbstaussagen in Frantumaglia – ermöglicht überraschend neue Einblicke.
Bardola besucht die Originalschauplätze in Neapel, spricht mit Menschen, die sehr viel mit der Autorin verbindet, und berichtet von den erstaunlichen Erfahrungen mit dem »Ferrante Fever«. So nahe ist der bekanntesten Unbekannten der Gegenwartsliteratur noch niemand gekommen.
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Für Elena
Wer mich als Autorin kennen will, darf nicht den Rahmen meiner Texte verlassen. Er muss mich lesen. Ich bin meine Schrift.
Elena Ferrante
Meine Mutter hieß Elena. Sie wurde in der Schweiz, in Lugano, 1929 geboren. Ihre Mutter war eine Arigoni, und ihr Vater hieß Hoeffleur. Seine Familie war aus dem Elsass in die Schweiz eingewandert. Seltsam, wie dunkel Mutters Herkunft in manchen Bereichen für mich geblieben ist. Allein schon ihre Nachnamen klingen geheimnisvoll. Und ihr Vorname – Elena – behält für mich seinen Zauber: Er steht für einen ungewöhnlich starken Willen, für Entschlossenheit, Durchsetzungskraft und auch für Eleganz und Schönheit. Natürlich habe ich mich auch deshalb von Anfang an für die Schriftstellerin Elena Ferrante und später für ihre Protagonistin Elena Greco interessiert. Diesen drei Elenas schrieb ich später ähnliche Attribute zu.
Es gibt weitere Besonderheiten in meinem Verhältnis zu Elena Ferrante: Wie sie habe ich von der Veröffentlichung des ersten Romans bis zur Veröffentlichung des zweiten zehn Jahre verstreichen lassen. Die Schwierigkeiten beim Schreiben weiterer Prosa nach dem Debüt L’amore molesto von 1992 (Lästige Liebe) erinnern mich an meine eigenen. Erst 2002 erscheint Elena Ferrantes zweiter Roman I giorni dell’abbandono (Tage des Verlassenwerdens). Sie hat in jener Zwischenzeit zahlreiche gescheiterte Romanprojekte verfolgt.
Meine Beziehungen zu Italien sind eng. Ich tausche mich aus mit Verwandten und Freunden meines Vaters, der 1925 bei Genua geboren wurde. Einige davon leben heute in Neapel. Beim Ansteigen des »Ferrante Fever« stand rasch der Entschluss fest, dem Phänomen Ferrante auf den Grund zu gehen. Es betrifft mich als Autor und als Literaturkritiker, als Biograph und als Leseförderer, als Germanist und als Italianist.
Aber wie schreibt man die Biographie einer Schriftstellerin, die lieber anonym bleiben will? Wie schafft man ein authentisches Porträt? Es dauerte lange, bis ich mich auf letztlich einfache Grundsätze festlegte: Indem ich mich zuallererst an obiges Motto Elena Ferrantes halte: »Wer mich als Autorin kennen will, darf nicht den Rahmen meiner Texte verlassen. Er muss mich lesen. Ich bin meine Schrift.« Dieser Grundsatz bildet den Kern und den Hauptteil meiner Arbeit. Aber ich wäre ein schlechter Biograph, würde ich nicht bei bestimmten Gelegenheiten den Rahmen von Elena Ferrantes Texten sprengen. Ich muss manchmal »smarginare«, wie Elena Ferrante schreibt, also das Autorenkonstrukt auflösen oder zumindest über den Rand des literarischen und essayistischen Werks von Elena Ferrante blicken, um das Weltbestseller-Phänomen besser zu verstehen. Dabei werde ich mich an Selbstzeugnisse und an die Beschreibungen der wenigen Menschen halten, die sie kennen, wohl wissend, dass Elena Ferrante sich selbst der Lüge bezichtigt. Aber welcher Schriftsteller sagt schon die Wahrheit über sich?
Bei Elena Ferrante gilt es, aufmerksamer zu sein als bei anderen Künstlern, denn sie hat viel Autobiographisches veröffentlicht und es als möglicherweise fiktiv erklärt. So lässt sie ihr eigenes Leben in der Schwebe, springt von Halbwahrheit zu Halbwahrheit. Diese Vieldeutigkeit gilt es festzuhalten. Ich werde die Autorin nicht kritiklos feiern. Ich halte beispielsweise ihre ersten drei Romane für gehaltvoller und intensiver als den vierbändigen neapolitanischen Romanzyklus, den man in Italien nach dem ersten Teil schlicht L’amica geniale nennt. Ich hinterfrage den Umgang der Verleger mit ihrer Autorin. Ich untersuche das Erscheinen der Figur Ferrante in ihren verschiedenen Ausformungen und das Marketing von der ersten Veröffentlichung bis zur Selbstdarstellung in den Kolumnen im Guardian. Und natürlich werde ich das epische Porträt der beiden Freundinnen Elena und Lila würdigen.
Noch ein Wort zu meiner Mutter: In Lugano spricht man Tessiner Dialekt. Der ist vom Hochitalienischen etwa ebenso weit entfernt wie das Neapolitanische, also sehr weit. Wir lebten in Zürich, aber Elena schaltete im Radio oft den Südschweizer Sender ein, in dem auch Dialekt gesprochen wurde. Ich verstehe nur Bruchstücke. Ich wuchs mit Italienisch als Muttersprache, Rätoromanisch als Vatersprache und mit Schwyzertütsch im Kindergarten auf. Hochdeutsch war von Anfang an durch die Freunde meiner Eltern, durch meinen älteren Bruder und durch die Medien zu Hause präsent und verdrängte rasch die drei anderen Idiome. Aber wenn es ans Zählen geht, dann mache ich das manchmal immer noch wie die Deutschschweizer. Wenn es um Natur geht, dann ist das Ladinische wieder da. Und meine Gefühle fühlen sich oft italienisch an, obwohl ich inzwischen über die Hälfte meines Lebens in Deutschland wohne.
Ich habe alle verfügbaren Texte von Elena Ferrante im italienischen Original gelesen, manchmal zusätzlich vergleichend die Übersetzungen ins Deutsche und ins Englische. Alle in diesem Buch zitierten Sätze Elena Ferrantes habe ich ins Deutsche übertragen, wobei mir Texttreue wichtiger ist als schöne Schwingungen und gelungene Klangbilder.
Dieses Buch beschäftigt sich also mit zwei Personen, die denselben Vornamen tragen: Elena. Einerseits geht es um Elena Greco (genannt Lenù), die Erzählerin und neben Raffaella Cerullo (genannt Lila) die Protagonistin der neapolitanischen Tetralogie; Elena ist die »geniale Freundin«, so wird sie schon im ersten Band von Lila genannt. (Wie komplex und vieldeutig das Verhältnis zwischen Lenù und Lila ist, wird ein wesentlicher Aspekt meiner Interpretation sein.) Andererseits geht es um Elena Ferrante selbst, die Autorin des vierbändigen Zyklus und dreier weiterer Romane, eines Kinderbuchs sowie des Buches La frantumaglia (Frantumaglia – Mein geschriebenes Leben), das auf dem italienischen Umschlag als »Un libro che accompagna altri libri« (»Ein Buch, das andere Bücher begleitet«) bezeichnet wird.
Elena Ferrantes erstes veröffentlichtes Dokument datiert von 1991. Ihr Debütroman L’amore molesto erschien 1992 und wurde 1995 von Mario Martone verfilmt. Es dauerte noch viele Jahre, bis die Autorin weitere Romane veröffentlichte. Es ergibt Sinn, ihrem Werk möglichst chronologisch zu folgen, beispielsweise um die Entstehung des für ihr Werk zentralen Begriffs der »smarginatura« besser zu verstehen, der in der deutschen Ausgabe von Karin Krieger mit »Auflösung« übersetzt wird. Bis zum Erreichen ihres heutigen Kultstatus war es ein weiter Weg. Heute ist vom »Ferrante-Phänomen« und von »Ferrante Fever« die Rede, was zu Recht darauf hinweist, dass der große internationale Erfolg der Autorin nur schwer verständlich und die Ursachen nur unzulänglich zu erklären sind. Vieles hängt mit Elena Ferrante selbst zusammen, einem Pseudonym – einem Phantom. Als der italienische Journalist Claudio Gatti im Oktober 2016 das Pseudonym Elena Ferrante angeblich lüftete, schien eine Beruhigung wahrscheinlich. Doch das Gegenteil ist der Fall.
In Deutschland urteilte man im Oktober 2016 rasch über den »Fall Ferrante«: Ein Großteil der Medien und der Literaturkritiker lehnte die detektivische Arbeit des Investigativjournalisten ab. Nur wenige fanden Claudio Gattis Arbeit legitim. So wollte man zur Normalität zurückkehren – zu einem Weltbestseller ohne identifizierbare Verfasserin. Nur das Werk sollte von Bedeutung sein, nicht dessen Urheberin. Der von Ferrante geäußerte Wunsch, personenbezogenes Psychologisieren der Leserschaft zu vermeiden, erinnert an Roland Barthes’ »Papierwesen«. Ferrante postulierte dementsprechend, Wahrheit ließe sich nur in der literarischen Fiktion erzielen. Doch die anhaltende Sehnsucht der Leser und Literaturkritiker nach einer Elena Ferrante ohne verbürgte biographische Eigenschaften und somit ohne Bedeutung für die Interpretation des Werks ist auf Dauer unhaltbar und – zumindest damals im Oktober 2016 – ohne Kenntnisse der Quellenlage.
Kaum einer der mit dem Fall Ferrante beschäftigten Journalisten im deutschsprachigen Raum, keiner der Kritiker Claudio Gattis beschäftigte sich im Herbst 2016 mit dem bis dahin hierzulande unbeachteten und nur auf Italienisch erhältlichen Buch Elena Ferrantes La frantumaglia. Das Buch wurde erstmals bereits 2003 veröffentlicht und in einer erweiterten Ausgabe noch einmal 2016, kurz vor der Enthüllung. Darin schreibt Elena Ferrante sehr offen über ihr Werk, ihre Arbeit und ihren Wunsch, unentdeckt zu bleiben. Diese Interviews und Schriften Elena Ferrantes erlauben Blicke in ihre Werkstatt und hinter die Kulissen des Literaturbetriebs. Sie sind ein wichtiges Zeugnis von allgemeiner Gültigkeit bei der Beurteilung der Verhältnisse zwischen Autorschaft und Werk.
Berücksichtigt man also die italienische Entstehungsgeschichte der Tetralogie und die Entwicklung, die Elena Ferrantes Bücher international genommen haben, dann ergibt sich eine komplexe Quellenlage, ein großes Puzzle, das ich mit diesem Buch ordne und analysiere. Dabei versuche ich keine der plausiblen Varianten auszulassen, wie und durch wen die Bücher Ferrantes entstanden sein könnten.
Kenner der Ferrante-Tetralogie werden Meine geniale Autorin lesen, um sich an die vielen intimen Stunden mit den Ferrante-Büchern zu erinnern. Sie werden auf die Geschichten zurückblicken, so wie Elena auf ihre Freundschaft mit Lila zurückblickt. Zudem gibt es hier zahlreiche Fakten und Hintergründe zu entdecken, die selbst eingefleischten Ferrante-Fans unbekannt sein dürften. Das Ferrante-Fieber steigt inzwischen weiter: Weder die vermeintliche Verfasserin der Ferrante-Bücher Anita Raja noch deren Verlag in Rom e/o haben bislang gesagt, wer Elena Ferrante in Wirklichkeit ist. Die Italiener gehen seit den 1990er Jahren sehr unbefangen mit diesem Geheimnis um. Sie analysieren vorurteilsfrei die Arbeiten aussichtsreicher Kandidaten: Fabrizia Ramondino, Domenico Starnone, Marcella Marmo, Anita Raja oder Goffredo Fofi. Die Beschäftigung mit diesen Schriftstellern und Geisteswissenschaftlern – mit Marcella Marmo durfte ich mich in Neapel über den Fall Ferrante unterhalten – schadet nicht, im Gegenteil, sie erweitert das Verständnis für Ferrantes Werk und ist ausdrücklich von der Autorin und ihrem Verlag erwünscht. Trotzdem bleiben bis heute viele Fragen offen. Die vielleicht wichtigste lautet: Wird Elena Ferrante je wieder Romane veröffentlichen?
Nicola Bardola, München im Dezember 2018
L’amore molesto (Lästige Liebe) ist der erste Roman von Elena Ferrante. In Italien erschien er 1992 beim Verlag e/o, in Deutschland 1994 bei S. Fischer, übersetzt von Stefan Wendt, und 2003 als Taschenbuch bei List sowie in einer Neuübersetzung von Karin Krieger im Herbst 2018 bei Suhrkamp.
Die Erstausgabe von »L’amore molesto«, 1992
Der Roman ist in der Ich-Form geschrieben und handelt an nur wenigen Tagen: Vom Beginn des zweiten Kapitels bis zum Schluss des Romans im Morgengrauen an einem Badestrand bei Neapel umfasst die Erzählgegenwart lediglich zwei Tage und zwei Nächte. Allerdings enthält der Roman viele Rückblenden. Er beginnt mit einem Paukenschlag. Da ist zunächst die Widmung: »a mia madre«.
Elena Ferrante widmet ihre erste Prosaveröffentlichung ihrer Mutter. Darauf folgt der erste Satz des Romans: »Meine Mutter ertrank in der Nacht des 23. Mai, meinem Geburtstag«. Mit diesen Worten zum Auftakt eines sich daran anschließenden gewaltigen Œuvres Elena Ferrantes wird nicht nur auf engstem Raum ein Drama skizziert, sondern auch die Frage aufgeworfen, was die Mutter in der Widmung mit der Mutter im Roman gemeinsam hat: »a mia madre« – »Mia madre …« In dieser vieldeutigen Wiederholung lassen sich schon die Intensität und die Raffinesse Elena Ferrantes erahnen. In der Widmung ist die Mutter Elena Ferrantes gemeint. Im ersten Satz ist die Romanfigur Amalia gemeint.
Ertrunken ist die dreiundsechzigjährige Amalia, Mutter dreier erwachsener Töchter, in der Nähe von Minturno, einer kleinen Ortschaft, die von den Bewohnern Spaccavento (Windbrecher) genannt wird. Das liegt rund fünfzig Kilometer nördlich von Neapel, unweit von Itri, wo Fabrizia Ramondino seit dem Erdbeben in Neapel 1980 lebte, und unweit auch vom Strand bei Gaeta, wo Fabrizia Ramondino im Juni 2008 starb.
Zwei Tage zuvor war Amalia in einen Zug gestiegen, um ihre Tochter, die fünfundvierzigjährige Ich-Erzählerin Delia, zu besuchen, die kinderlos und als Single in Rom lebt, wo sie als Comiczeichnerin arbeitet und nur ungern in ihre Geburtsstadt Neapel zurückkehrt, in der sie Kindheit und Jugend verbracht hat.
Die Besuche der Mutter in Rom fanden in der Zeit davor fast jeden Monat für jeweils einige Tage statt. Delia empfand Mutters Ordnungssinn und das Herumfuhrwerken in ihrer Wohnung als unangenehm und überfürsorglich. In Mutters Anwesenheit fühlte sie sich gehemmt und heuchlerisch. »Ich hatte den Eindruck, dass sie mit ihrer Art meinen Körper in den eines Kindes mit Falten verwandelte.«
Dieses Mal aber kommt die Mutter nicht bei ihrer Tochter an. Wie so oft macht sich Delia im Vorfeld schon Sorgen. Ein Tag Verspätung wäre nichts Ungewöhnliches. Amalia pflegte Delias Befürchtungen stets wegzulachen. Jetzt ruft sie aber von unterwegs aus dreimal kurz an. Einmal, um in ruhigem Ton zu sagen, dass sie in Begleitung eines Mannes ist. Er hindere sie daran, mehr zu erzählen. Lachend legt Amalia auf. Am nächsten Morgen ignoriert sie Delias Fragen und sagt lustvoll Obszönitäten in neapolitanischem Dialekt. (Genau so schreibt es Elena Ferrante: Die Ausdrücke selbst werden in ihrem Text nicht ausgesprochen, im Gegensatz zur Verfilmung des Romans von 1995, worin viele, auch derbe, Dialoge im Dialekt gesprochen werden. Auf der italienischsprachigen DVD werden italienische Untertitel angeboten.) Im dritten und letzten Anruf wirkt die Mutter konfus. Sie spricht von einem Mann, der sie verfolgt und bedroht. Delia solle vorsichtig sein. Er wolle auch ihr schaden. »Geh schlafen. Ich gehe jetzt schwimmen.« Am nächsten Morgen entdecken zwei Jugendliche ihre Leiche im Wasser in Ufernähe. Sie trägt nur einen Büstenhalter.
Schon auf diesen ersten Seiten zeigt sich Elena Ferrantes Meisterschaft beim Knüpfen eines dichten Erzählteppichs. Starke Bilder der Gemütszustände wechseln rasch mit präzisen Objektschilderungen. Hinzu kommt das virtuose Springen auf verschiedene Zeitebenen. So fügt meine geniale Autorin beispielsweise schon auf der dritten Seite eine eindrückliche Passage ein, in der sich die kleine Delia erinnert, wie sie immer Angst hatte, ihre Mutter könne sie verlassen, könne eines Tages nicht mehr zurückkommen. »Ich hauchte auf die Fensterscheibe, bis sie sich beschlug, nur um nicht die Straße ohne sie sehen zu müssen … Ich floh in eine fensterlose Abstellkammer ohne elektrisches Licht.« Dort schließt sich das Kind ein, weint im Dunkeln, denkt, dass sie ihre Mutter umbringen wird, wenn sie zurückkommt, so als habe die Mutter sie eingesperrt. Sie erfindet sich ihre Rache- und Mordgedanken.
Mit großem Unbehagen stellt Delia bei der Polizei fest, dass es sich beim Büstenhalter um ein gewagtes und teures Exemplar aus dem bekannten neapolitanischen Geschäft für Unterwäsche der Schwestern Vossi handelt. »Er hatte den stechenden Geruch von neuem Stoff« (»l’odore pungente della stoffa nuova«). Das ist nach einer Nacht im Meerwasser am Körper einer Leiche unmöglich.
Ungereimtheiten dieser Art gibt es mehrere in Lästige Liebe. Sie sind der Preis dafür, zutiefst menschliche Ereignisse mit Elementen einer Kriminalgeschichte anzureichern. Sie säen auch von Anfang an Zweifel am Ausmaß der Authentizität in Elena Ferrantes Werk. Manchmal scheint das Selbsterlebte sehr frühzeitig durch Ausgedachtes und Phantastisches aus- und weitergeführt zu werden, was in erster Linie dem Lesevergnügen dient und gleichzeitig allzu Persönliches verschleiert. Das gilt insbesondere für das frühe Auftreten der Polizei. Es könnte sich ja um einen gewaltsamen Tod handeln. Die Andeutung zum Auftakt, Lästige Liebe könnte ein Kriminalroman sein, zeigt schon bei ihrem Debüt Elena Ferrantes Willen, eine große Leserschaft zu erreichen. Fest steht, dass die Autorin die erzählerischen Mittel aus verschiedenen Gründen sehr bewusst einsetzt, was später auch in ihren poetologischen Aufsätzen erklärt wird.
Wie selbstverständlich schreibe ich hier »Autor« oder »Autorin«. Ich werde bei dieser Ausdrucksweise bleiben, wohl wissend, dass es sich bei Elena Ferrante auch um ein Autorenkollektiv handeln könnte, an dem möglicherweise auch Männer beteiligt sind. Im Bonusmaterial zum Film L’amore molesto (1995) wird die Schauspielerin Anna Bonaiuto interviewt. Sie spielt die Hauptrolle, die erwachsene Delia, und berichtet von den guten Vorbereitungen, von ihrer Wertschätzung des Romans und wie wichtig es ihr sei, dass die Geschichte von einer Frau geschrieben wurde. Der Journalist weist sie auf die schon damals bestehenden Zweifel an der Urheberschaft hin. Das erinnert mich an die Besprechung des Lyrikbandes Solo (erschienen 1986 im Verlag Piper) von Barbara Maria Kloos, die ich kurz nach Erscheinen schrieb. Ich kannte die Autorin nicht persönlich, aber sie hatte danach meine Adresse ausfindig gemacht und schickte mir als Dank eine Postkarte mit den Worten »Liebe Nicola, …«. Sie schrieb, dass nur eine Frau ihre Gedichte so einfühlsam interpretieren könne.
Amalia muss eine besonders schöne Frau gewesen sein. Entsprechend wird sie während des Begräbnisses in Beileidsbekundungen beschrieben (»Sie lobten ihre außerordentliche Schönheit und Güte«). Entsprechend weckt ihr attraktives Aussehen Begehrlichkeiten der Männer und die Eifersucht ihres Mannes, Delias Vater. (Entsprechend wird sie auch in der Verfilmung als junge Mutter von Licia Maglietta und als ältere Frau von Angela Luce verkörpert.) Die Schönheit Amalias ist eines der erzählerischen Zentren dieses Romans, von denen sich Erschütterungen in viele Richtungen ausbreiten. Aber ist Schönheit eine Schuld? Ist Schönheit nicht Zufall? Eine Laune der Natur? In Lästige Liebe ist Schönheit ein Motor des Dramas, in dem sich die Protagonistin auf die Suche nach ihrer Identität begibt, die wesentlich von ihrem Verhältnis zur Mutter und deren Lebensweise abhängt.
Während des Trauerzugs, der von der Piazza Carlo III am Botanischen Garten vorbei zur Via Don Bosco führt, taucht zum ersten Mal der Name Caserta auf. Onkel Filippo hat den älteren, elegant gekleideten Mann entdeckt und mit wilden Flüchen und Verwünschungen in die Flucht geschlagen. »Wenn euer Vater da wäre, hätte er Caserta auf der Stelle umgebracht«, schreit er die Verwandten und seine drei Nichten an. Delias Vater war nicht zur Beisetzung erschienen.
Die Präsenz der Mutter wird seit ihrem Tod mächtiger in Delias Leben. Das manifestiert sich beispielsweise im neapolitanischen Dialekt, den Delia seit Jahrzehnten zu verdrängen versucht. Wenn sich Amalia und Delia in den letzten Jahren trafen, versuchte Amalia am Anfang, ihr bemühtes Hochitalienisch zu sprechen; Delia wechselte, um ihrer Mutter einen Gefallen zu tun, ins Neapolitanische. Doch sie sprach den Dialekt nicht fröhlich oder nostalgisch. Sie betonte die Silben unbeholfen, als spräche sie in einer schlecht beherrschten Fremdsprache. Der Klang des Dialekts erinnert Delia zu sehr an die heftigen Streitereien zwischen ihr und ihrem Vater und zwischen ihrem Vater und ihren Verwandten. Nach kurzer Zeit rutschen Mutter und Tochter sprachlich in ihre gewohnten Rollen: Delia ins Italienische, Amalia ins Neapolitanische, wobei auch jetzt und fortan bis zum Ende der Tetralogie Elena Ferrante fast keine neapolitanischen Ausdrücke oder gar Sätze zitiert.
Die Präsenz der Mutter wird noch stärker, als Delia die leere Wohnung betritt. Sie befindet sich zwar im Zentrum Neapels, allerdings in einer Gegend, die nachts kaum noch bewohnt und tagsüber von der geschäftigen Atmosphäre der benachbarten Bürogebäude geprägt ist. In der dritten Etage dieses fünfstöckigen Hauses fand Amalia mit ihren drei Töchtern vor über zwanzig Jahren Zuflucht, nachdem sie ihren gewalttätigen Mann verlassen hatte. Von besonderer Bedeutung ist der alte Lift mit schmalen Sitzbänken und Holzwänden, den Ferrante genauestens und liebevoll bis hin zu einem Münzautomaten beschreibt, der früher dazu diente, den Aufzug in Bewegung zu setzen. Obwohl längst kein Kleingeld mehr notwendig ist, wurde der Behälter nie entfernt. Delia erinnert sich, wie gut es ihr tat, als Mädchen in den fünften Stock hochzufahren und dort allein und still zu warten, bis es ihr besser ging.
Die Suche nach Antworten nimmt Fahrt auf: Warum hat sich Amalia umgebracht? Was ist in den letzten beiden Tagen ihres Lebens geschehen? War etwa Nicola Caserta, dieser siebzigjährige Mann, den Delia seit frühester Kindheit kennt, bei Amalia in ihrer letzten Nacht? Warum hatte Amalia zuletzt ihre gesamte altmodische Unterwäsche, die detailliert von Elena Ferrante beschrieben wird, in einen Abfallsack gesteckt? Was hatte das elegante und jugendlich wirkende Herrenhemd in Amalias Wäschekorb zu suchen? Dem eher verwahrlosten Onkel Filippo konnte es nicht gehören. »Der Kragen war verschmutzt, aber der Stoff roch nicht unangenehm: Der Schweiß hatte sich mit dem Duft eines guten Deodorants vermischt«, stellt Delia fest. Die Leser ahnen, dass es Nicola Casertas Hemd ist. Elena Ferrante fügt diesem zwielichtigen Mann im Verlauf des Romans weitere positive und auch sehr negative Eigenschaften hinzu. Delia fühlt sich zu ihm auf merkwürdige Weise hingezogen, so als hätten Amalia und Nicola ihr noch eine Botschaft mit auf den Weg geben wollen, auf deren Suche sie sich jetzt begibt.
In Rückblenden, beginnend in einer von Armut geprägten Nachkriegszeit, entsteht das Bild einer verzweifelten Familie in Neapel: Amalia arbeitet als Näherin an einer Singer-Maschine. Ihr Mann arbeitet als Maler und verdient kaum mehr als sie. Sie wohnen mit ihren drei Töchtern sehr beengt. Die Situation bessert sich erst ein wenig, als der Freund der Familie Nicola Caserta als Makler auftritt. Er hat US-Soldaten als Kundschaft ausgemacht, verwickelt sie in Gespräche und leiht sich die Fotos ihrer Liebsten (Freundinnen, Ehefrauen, Mütter) aus, die Delias Vater in kürzester Zeit in Öl auf Leinwand bannt. Das Geschäft läuft immer besser, aber gleichzeitig werden die Avancen Nicolas immer offensichtlicher: Er schenkt Amalia Blumen, Bücher, Pralinen und gar Kleider.
Die Eifersucht von Delias Vater steigert sich rasch und mündet in Gewaltszenen, die die Kinder mitansehen müssen. Amalia erträgt die Prügel, schlägt aber Nicolas Geschenke weiterhin nicht aus. Sprachlich kunstvoll schildert Elena Ferrante, wie sich der Elternkonflikt auf die kleine Delia auswirkt. Die Leser verfolgen gebannt den langsamen Prozess der Selbsterkenntnis und Selbstfindung Delias, der damit beginnt, dass Phantasien zur Beziehung Amalias und Nicolas Eingang in ihr Bewusstsein finden. Delia kann sich nicht erklären, wie es dazu kam, dass sie Nicola Caserta vor sich sieht, wie er ihre Mutter in eine Ecke schubst und zu küssen versucht. Die Vorstellungen steigern sich. Was wirklich beobachtet und was vom Mädchen imaginiert ist, bleibt offen. Fest steht: Die kleine Delia malt sich immer mehr Einzelheiten aus, woran sich die erwachsene Delia nun erinnert. Sie machte es damals und jetzt mit einer Mischung aus Faszination und Widerwillen. Rückblickend erinnert sich Delia, dass sie schon als Kind ahnte, dass sich im Ursprung jener Bilder ein Geheimnis befindet, das nicht gelüftet werden darf: »Nicht, weil ein Teil von mir nicht gewusst hätte, wie er sich Zugang verschafft«, analysiert die erwachsene Delia. Der andere Teil hätte sich geweigert, das Geheimnis auszusprechen. »Er hätte mich von sich weggejagt.«
Nicola Caserta nimmt Kontakt zu Delia auf und übergibt ihr Amalias Koffer, ohne dass Delia ihn zur Rede stellen kann. Darin befinden sich alle vermissten Gegenstände der Mutter – und mehr: ein tiefgeschnittenes und enganliegendes rotes Etuikleid von der Schneiderei Vossi und der zum Büstenhalter passende Slip sowie weitere noch ungebrauchte Unterwäsche, ein Nachthemd mit Spitze und ein elegantes Kostüm. Indem sie das Dessous-Geschäft der Schwestern Vossi an der Piazza Vanvitelli im vornehmen Stadtteil Vomero aufsucht, erhofft sich Delia Aufschluss darüber, wer die teuren Stücke dort gekauft hat und wann. Elena Ferrante schildert die Schaufenster der Boutique Vossi, wie sie vor über zwanzig Jahren aussahen und wie sie heute dekoriert werden. Ausführlich wird ein Gemälde beschrieben, das früher im Schaufenster hing und heute fehlt.
Die Piazza Vanvitelli im Stadtteil Vomero ist ein wiederkehrender Handlungsort in Lästige Liebe
Die Vossi-Schwestern hatten sich zurückgezogen. Das Geschäft gehört jetzt einem kräftigen Mann, der Delia eher an einen Rausschmeißer erinnert als an den Nachfolger der Schwestern. Um ins Gespräch zu kommen, behauptet Delia, dass ihre Mutter, womöglich in Begleitung eines älteren Mannes, die Sachen für sie zu ihrem 45. Geburtstag am 23. Mai gekauft habe. Sie würden ihr nicht passen. Sie möchte sie umtauschen. Aber Delia kommt damit nicht ans Ziel: Sie erfährt nicht, wer die Kleider tatsächlich und wann dort gekauft hat, obwohl sie sogar Amalias Personalausweis vorzeigt. Erstaunt stellt die Zeichnerin Delia dabei fest, dass jemand mit einem Stift das Foto verändert hat, wodurch das Bild jetzt der Tochter ähnlicher sieht als der Mutter. Eine Verkäuferin und der Chef überzeugen sie, dass die Kleidungsstücke ihrer Größe entsprächen und sehr gut passen würden, weshalb Delia schließlich das Geschäft im roten, enggeschnittenen Kleid und mit all der anderen Ware verlässt.
Funicolare di Chiaia: Die Standseilbahn wurde 1889 eröffnet und verbindet das am Meer gelegene Stadtviertel Chiaia im historischen Zentrum Neapels mit dem hochgelegenen und wohlhabenden Stadtviertel Vomero
Kapitel 13 besteht aus einer langen Hit-and-run-Szene bei einsetzendem Regen rund um die Piazza Vanvitelli, die sich später bei der Standseilbahn Funicolare di Chiaia (eine der ältesten der Welt) fortsetzen wird. Auslöser ist einmal mehr Onkel Filippo, der glaubt, Nicola Caserta entdeckt zu haben. Er jagt ihm wild gestikulierend und schimpfend hinterher, aber Caserta flieht, und Delia versucht die beiden im dichten Verkehr nicht aus den Augen zu verlieren. Zur Verfolgungsjagd zwischen Filippo, Nicola und Delia gesellt sich Antonio Polledro, der grobschlächtige Chef der nach wie vor nach den Vossi-Schwestern benannten Boutique. In den Augen Delias verschmelzen seine Züge mit denen Nicola Casertas und ergeben ein drittes Gesicht, das eines Kindes. Als Antonio auf plumpe Art Delia stoppt (er hält sie an den Handgelenken fest) und ihr erklärt, dass er der Sohn Nicola Casertas ist, dass sie also im Rione (italienisch für: Stadtviertel) Nachbarn waren und vor vierzig Jahren oft gemeinsam spielten, dauert es eine Weile, bis diese Tatsache zu Delia durchdringt. Sie ist weiterhin in Erinnerungen und Tagträume verstrickt.
Manchmal wirkt Delia wie in Trance und scheint so für kurze Zeit zu einer unzuverlässigen Erzählerin zu werden, die sich selbst nicht mehr vertraut. Aber erzählt wird ja rückblickend, weshalb Kontrolle und Übersicht stets gewahrt bleiben. Das sind schon hier die ersten Anzeichen einer »smarginatura«, einer Auflösung der Person, die im weiteren Verlauf der Arbeit Ferrantes immer mehr an Bedeutung gewinnen wird. Antonio übt Druck aus und zwingt Delia, sich zu erinnern. Die Bilder aus der Kindheit, die sich allmählich einstellen, berühren Delia nicht unangenehm. Ständig vergleicht sie den korpulenten Mann von heute mit dem kleinen Antonio, dem Sandkastenfreund der Doktorspiele. Antonio bugsiert sie in ein Taxi, er habe es eilig, er müsse zu einem Termin, wo sie dann gemeinsam zu Mittag essen könnten.
Delia erinnert sich an die gemeinsame Kindheit, an die schlicht »Coloniali« genannte Konditorei von Antonios Großvater in der Via Gianturco, einer breiten Straße, die unter den Eisenbahngleisen durch einen langen und dunklen Tunnel zum Rione Luzzatti führt, ein Stadtviertel östlich des Hauptbahnhofs, das zum Quartier Poggioreale gehört. Es ist allen Lesern der neapolitanischen Tetralogie sehr vertraut. Die Konditorei befand sich nur wenige Schritte von Delias Wohnung entfernt: die Gerüche dort nach Backwaren, Kuchen und Gewürzen und das Ladenschild mit einer Palme, darauf eine schwarze Frau mit sehr roten Lippen, das Delias Vater schon vor ihrer Geburt als etwa Zwanzigjähriger gemalt hatte.
Die Via Gianturco und die Bahnunterführung
Sie erinnert sich an die Bonbons, die sie dort bekam, und an die vielen Leckereien, die sie probieren durfte. »Er arbeitete und ignorierte mich. Ich fühlte mich auf angenehme Weise unsichtbar«, erinnert sich Delia an Antonios Großvater. Sie probierte dieses und jenes, bis Antonio kam und hinter seinem Großvater eine Tür öffnete, die in einen Keller führte, der noch eine wichtige Rolle spielen wird und in plakativem Kontrast zum Lift steht, in dem sich Delia als Jugendliche zuoberst wohlfühlt.
Antonio berichtet, wie glücklich sein Vater Nicola im vergangenen Jahr war. Ob sie wisse, dass Amalia und er sich regelmäßig »sahen«. Dieses Verb, mit dem umschrieben wird, dass Amalia und Nicola ein Paar waren, verwendet Elena Ferrante nun assoziativ. Sie fügt unmittelbar eine Kindheitserinnerung Delias an, in der sie sich in mehrfacher Hinsicht »sieht«: Delia sieht sich auf dem Bett, wie sie mit einem Spiegel erstaunt ihre Vagina betrachtet, wie die Mutter das Zimmer betritt und ihre Tochter unsicher ansieht und dann ohne Eile die Türe wieder schließt.
Es ist noch immer Tag eins nach der Beerdigung. Das Meer ist stürmisch. Elena Ferrante fügt eine drastische Beschreibung hoher Wellen und der das Schauspiel bewundernden Menschen ein. Schon in ihrem Debüt spielt sie auf literarische Vorbilder wie Elsa Morante und Anna Maria Ortese an, später vor allem, was die soziale Stellung der Frau in der Metropole Neapel betrifft. Delia habe als Jugendliche selten eine so starke Flut im Golf von Neapel erlebt: »Sie war den Übertreibungen auf den Bildern meines Vaters ähnlich«. Hier ahmt die Natur die Kunst nach. Die Anmerkung wirkt wie ein Kompliment der Tochter für ihren Vater, hat sie doch offenbar sein Talent – das sie freilich anzweifelt – geerbt und verdient ihren Unterhalt wie er mit Zeichnen.
Antonio kommt zu seiner Verabredung zu spät. In herrischem Ton besorgt er Delia ein Zimmer, wo sie sich zurechtmachen soll. Er selbst versucht seine Termine noch wahrzunehmen. Delia zieht sich aus, geht unter die Dusche und zieht sich danach das Vossi-Nachthemd an. Überrascht spürt sie beim Abschminken mit Zärtlichkeit ihre tote Mutter unter der Haut »wie eine warme Flüssigkeit, die mir irgendwann eingespritzt worden war […] Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, schön zu sein«. Die angenehme Überraschung erinnert sie an ihre Freude, wenn sie Geschenke ihrer Mutter fand, die sie an den unmöglichsten Orten versteckte. »Wenn sie unser Glück sah, war sie glücklicher als wir.« Plötzlich versteht Delia, dass der Inhalt des Koffers für sie bestimmt war. Sie findet einen Zettel mit der Zierschrift ihrer Mutter, die heute kaum noch jemand beherrsche: »Alles Gute zum Geburtstag, Delia. Deine Mutter.« Delia hat Sand an den Händen und denkt, dass Amalia das Nachthemd noch trug, bevor sie ins Meer ging.
Antonio betritt das Zimmer und klagt wie ein alter Ehemann über Geschäftsprobleme. In Kapitel 18 schildert Elena Ferrante minutiös, wie der frustrierte Antonio daraufhin sein Begehren zeigt, wie Delia reagiert und wie vielfältig die Motive für das Handeln der beiden sind. Eingefügt ist hier eine Passage, in der sich Delia daran erinnert, dass ihr Vater und ihr Onkel Filippo wie zum Äußersten entschlossene Krieger zu Nicola gehen, um ihn zu töten. Kurz zuvor hatten sie von der kleinen Delia erfahren, dass Amalia sich heimlich mit Nicola traf. Sie erinnert sich, wie Nicola verprügelt und nur deshalb nicht umgebracht wird, weil er keinen Widerstand leistet. Sie erinnert sich, wie Onkel Filippo den kleinen Antonio oben im vierten Stock nur an den Fesseln festhält. Kopfüber hängt Antonio im Treppenhaus über dem Abgrund, und Nicola Caserta erklärt sich mit allem einverstanden, was Delias Vater und Filippo von ihm fordern. Die kleine Delia weiß oder ahnt, dass sie das alles verursacht hat.
Antonios Versuch, mit Delia zu schlafen, scheitert an ihrer Teilnahmslosigkeit. Er liegt mit geschlossenen Augen auf dem Bett. Sie empfindet Mitleid mit ihm, setzt sich neben ihn auf die Bettkante und befriedigt ihn mit der Hand. In dieser Szene scheint sich bei beiden die Angst aus Kindheitstagen zu lösen. Irgendwie finden sie zueinander, nicht nur bei der Masturbation als einer Art Wiedergutmachung, sondern davor schon beim Versuch, die Intimität von vor vierzig Jahren als Erwachsene neu zu verstehen: versuchte Zärtlichkeit als Hilfe beim Überwinden traumatischer Ereignisse, in die beide gemeinsam als Fünfjährige verwickelt waren. So besteht Lästige Liebe aus einer Reihe kathartischer Erlebnisse Delias. Die vielfache Konfrontation mit der Vergangenheit hilft ihr, die eigene Rolle in der Gegenwart neu zu sehen. Dabei macht sie überraschende Erfahrungen (sie empfindet sich zum ersten Mal als schön) und entdeckt verdrängte Verhaltensweisen von früher.
Delia fährt zurück in die Wohnung ihrer Mutter. Unterwegs kauft sie ein Pfund frische Kirschen. Sie lädt die Nachbarin, Frau De Riso, ein, die zögerlich einwilligt, da sie sich vor dem Geist Amalias fürchtet. In der Küche beginnt sie dann aber eine Kirsche nach der anderen zu naschen, was von Elena Ferrante meisterhaft beschrieben wird. So erfährt Delia unter anderem, dass ihre Mutter die Geburtstagsgeschenke der De Riso am Tag ihrer Abfahrt gezeigt hat. Die De Riso erzählt auch, dass Delias Vater aufgetaucht sei, nur eine Woche vor Delias Geburtstag, und Amalia wüst beschimpft und bedroht habe. In Kapitel 19 schildert Elena Ferrante die Arbeit Amalias als Schneiderin: Delia erinnert sich, wie die Mutter Frauen aus allen Gesellschaftsschichten einkleidete, wie sie Maß an ihnen nahm, wie sie ihre Körper verhüllte, wie sie die weiblichen Formen verbarg, so wie sie es auf Geheiß ihres eifersüchtigen Mannes bei sich selbst tat. Das galt auch für ihren eigenen Badeanzug, einen Einteiler, den sie auch noch trug, als Bikinis längst die Strände erobert hatten. Schließlich vermutet Delia, dass die De Riso die Treffen ihrer Nachbarin mit Nicola Caserta an Delias Vater verraten hatte. Die De Riso erkennt das Kleid wieder, das Amalia trägt, will wissen, woher sie es hat, der Koffer sei doch verschwunden. Doch Delia erwidert: »Es ist nur Stoff ohne Gedächtnis.«
1992 wird Lästige Liebe mit dem Premio Procida, Isola di Arturo – Elsa Morante ausgezeichnet, einem bedeutenden italienischen Literaturpreis, benannt nach Elsa Morante und der Insel, auf der ihr Roman Arturos Insel (L’isola di Arturo, 1957) spielt. Elena Ferrante (viele deuten die Namensähnlichkeit Ferrante – Morante als beabsichtigte Reverenz) schreibt hocherfreut ihrem Verlegerpaar Sandra Ozzola-Ferri und Sandro Ferri, wie sehr sie Elsa Morante verehrt, verfasst einen Dankesbrief für die Jury, der u. a. Fabrizia Ramondino, Dacia Maraini und Heinz Riedt angehören, und sucht dafür eine Passage aus Morantes Werk aus, die zu Lästige Liebe passt. Es ist ein Absatz aus der Erzählung Der andalusische Schal von 1985, den Ferrante ursprünglich in ihrem Roman zitieren wollte. Darin werden die Gedanken einer Mutter über ihren Sohn auf der Schwelle zum Erwachsenwerden wiedergegeben. Er habe jetzt den Ausdruck eines strengen Sizilianers angenommen, ein Ehrenmann, immer auf seine Schwestern achtend, dass sie abends nicht alleine ausgehen, dass sie keinen Lippenstift auftragen. Ein Mann, für den die Mutter zweierlei bedeutet: alt und heilig und in unförmigen Kleidern, da doch niemand, angefangen bei den Schneiderinnen der Mütter, sich vorstellt, eine Mutter könne einen Frauenkörper haben. Das Alter der Mütter sei aus Sicht der Söhne ein bedeutungsloses Geheimnis. Elena Ferrante, die mehrfach betont, ihre Mutter habe ihr Leben lang als Schneiderin in Neapel gearbeitet, nimmt nicht an der Preisverleihung teil – dies war die erste und vielleicht ernsthafteste Herausforderung, ihre Anonymität zu verlassen –, gibt aber präzise Anweisungen, wie die Passage Morantes zu lesen sei. Am Ende der Dankesrede gibt sie ihrer Hoffnung Ausdruck, es mögen neue Schneiderinnen kommen, die bereit sind, »den Fehler der Unförmigkeit« zu bekämpfen.
Während eines Telefonats mit Onkel Filippo gesteht dieser seiner Nichte, soeben mit Nicola Caserta Frieden geschlossen zu haben. Amalia sei im vergangenen Jahr Casertas einziges Glück gewesen. Zwischen ihm und Amalia sei früher nie etwas Ernstes gewesen. Vielleicht stimmt das, gibt Delia zu. »Warum hast du uns dann diese Sachen erzählt«, fragt Filippo. »Warum habt ihr mir geglaubt?«, erwidert Delia. Sie war 5 Jahre alt, als sie weinend ihrem Vater berichtete, was ihre Mutter und Nicola Caserta zusammen machen.
In der Unterführung, die zum Rione Luzzatti führt
Das dreifache Finale beginnt im Rione, »dort, wo ich aufgewachsen war«. Exakt schildert Elena Ferrante das Viertel und wie es sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat. Sie geht durch dieselbe lange Unterführung, durch die Amalia schon als Mädchen und später als Ehefrau und dreifache Mutter musste, um die Ware ihren Kundinnen zu bringen. Darüber donnern noch heute die Züge hinweg. Delia bleibt im Tunnel stehen, um an die Ereignisse von damals zu denken, an den Mann, der ihre Mutter, bevor sie es wurde, »mit seinem Nachnamen zudecken, mit seinem Alphabet auslöschen« würde. Zwei für diese Geschichte wichtige Männer bleiben bis zuletzt ohne Namen: Delias Vater (weder Vor- noch Nachname) und Antonios Großvater, der Konditor, der vermutlich mit Nachnamen Polledro hieß oder auch wie Nicola »Caserta« gerufen wurde, aber von Elena Ferrante keinen Vornamen erhält.
Minutiös schildert Elena Ferrante die ärmliche und kleine Wohnung im Rione Luzzatti, in der Delia geboren wurde und in der ihr Vater vereinsamt als Maler immer noch lebt. »Das Meer kann nicht blau sein, wenn der Himmel feuerrot ist«, sagt Delia zur Begrüßung zu ihrem Vater. Der sitzt rauchend vor der Staffelei, erkennt sie erst nicht, steht breitbeinig auf und sagt mit aufrichtiger Überraschung: »Du bist alt geworden.« Das folgende Wortgefecht gehört zu den gelungensten des Romans. Sie wirft ihm vor, dass er nicht zum Begräbnis gekommen ist. Er erwidert, ob sie zu seinem kommen werde. Sie verneint. »Weil ich nach dir sterben werde«, sagt er und schlägt sie ohne Vorwarnung mit Wucht gegen die Schulter. Sie verliert fast das Gleichgewicht, hält ihn auf Abstand und erfährt, dass Nicola Caserta selbst, nicht die De Riso, ihm von den Treffen mit Amalia berichtet hatte. Daraufhin beschattete Delias Vater die beiden, besuchte dann Amalia und bot ihr an, zu ihm zurückzukehren. Er habe genug Geld gespart. Das Angebot macht er danach auch seiner Tochter. Die sieht das Bild, das lange Zeit im Schaufenster der Vossi-Schwestern hing. Delia traut ihm so viel Kunstfertigkeit nicht zu, aber er behauptet, es selbst gemalt und den Vossi-Schwestern 1948 verkauft und nun von Nicola Caserta zurückbekommen zu haben.
Delias Vater bezichtigt Amalia der Lüge. Sie habe ihm nie gesagt, dass Delia in Wirklichkeit nichts gesehen hatte. »Als ich dir erzählte, dass ich die beiden im Souterrain der Konditorei entdeckt hatte, wolltest du viel mehr sehen, als ich dir sagte«, wehrt sich Delia. Der Vater ist überrascht, wie genau sie sich erinnert. Delia wirft ihm vor, Amalia bei seinem letzten Besuch kurz vor ihrem Suizid die ganze Schuld gegeben zu haben. Er habe behauptet, Amalia habe ihre Tochter Delia zur Lügnerin gemacht. Vater und Tochter schonen sich nicht, und Delia glaubt zu erkennen, dass er Amalia nach so langer Zeit bei diesem Besuch noch einmal das Leben zur Hölle gemacht hatte.
Das zweite Finale findet in der nahegelegenen und inzwischen stillgelegten Konditorei statt. Delia leiht sich Streichhölzer und betritt mit einer Mischung aus Abscheu und Nostalgie die verlassenen Räume. Einiges erinnert noch an den alten Kolonialwarenladen. Sie steigt die Stufen zur Kellerwohnung hinab, in der sie mit Antonio oft gespielt hatte. Dort findet sie eine Taschenlampe, forscht weiter und entdeckt, dass Nicola Caserta heimlich hier wohnt. Sie erkennt Nicolas Hemden und Amalias antiquierte Unterwäsche und auch ihren eigenen Slip. In der Jacke Nicolas entdeckt sie Bahntickets, Hotel- und Restaurantrechnungen. Sie rekonstruiert mehrere Varianten der Ereignisse vor Amalias Suizid, in alle möglichen Richtungen, bis schließlich sie und mit ihr die Leser der Meinung sind, dass es inzwischen nicht mehr so wichtig ist, die Wahrheit zu kennen.
Von der Kellerwohnung führt eine kleine Tür in einen weiteren, drei Treppenstufen tiefer gelegenen Raum. Elena Ferrante lässt nun geschickt die Identitäten von Delia und Amalia ineinander übergehen. »Ich war ich und ich war sie. Gemeinsam begegneten wir Caserta.« Sie glaubt, ihn auch geliebt zu haben, aber anders als ihre Mutter. Wie in einer Vision wiederholt Delia Kindheitsszenen, in denen sie ängstlich und lustvoll zugleich zu Caserta geht, der sie lockt und streichelt.
Delia kauert im dunklen Keller und erinnert sich an die obszönen Worte, die Antonios Großvater zu ihr gesagt hatte. Sie stellt fest, dass es dieselben Ausdrücke waren, die ihr Amalia kurz vor ihrem Tod ins Telefon schrie. Wollte die Mutter ihrer Tochter damit zeigen, dass auch sie Delia für das hasste, was sie ihr vor vierzig Jahren angetan hatte? Oder wollte sie ihre Tochter beruhigen und zeigen, dass man diese Wörter aussprechen konnte, ohne dadurch verletzt zu werden? Oder wollte Amalia nun all das nachholen, wofür sie damals schuldlos bestraft worden war?
Delia möchte sich eingestehen, dass sie weder Nicola Caserta noch dessen Vater oder ihren eigenen Vater, sondern ihre Mutter gehasst hatte, »weil sie mich in der Welt gelassen hatte, um alleine mit den Worten der Lüge zu spielen, ohne Maß, ohne Wahrheit«. Elena Ferrante gelingt es in diesen Kellerszenen, kindliche Wut, Missbrauch und deren dramatische Folgen packend und überzeugend zu schildern.
Dieser Zorn Delias, der schon auf der dritten Seite des Romans mit ihrer Mordlust der Mutter gegenüber (später in La frantumaglia mit der Mordlust ihrer jüngeren Schwester gegenüber) zum Ausdruck kommt, ist auch die Wut Elena Ferrantes. Sie ist eine der dominantesten Antriebskräfte für ihr Schreiben und wird zu einem Leitmotiv ihres Werks. Charakteristisch für die variantenreich auftauchende Bösartigkeit ihrer Figuren ist ihr unerklärlicher Ursprung. Ferrantes Ich-Erzählerinnen stehen immer wieder vor einem Rätsel, wenn sie zu verstehen versuchen, was sie bewegt, ethisch verwerflich zu handeln. Deutlich wird das im folgenden Roman, in dem die Protagonistin ihren Hund sterben lässt, und im übernächsten, in dem die Anglistikprofessorin einem kleinen Mädchen am Strand die geliebte Puppe stiehlt. Auch für L’amica geniale, für Lenù und Lila, gilt das abgewandelte Motto: »Tue Böses und schreibe darüber«. Zwar kommen die negativen Gedanken der Protagonistinnen nicht von ungefähr: Es handelt sich immer um Frauen, die sich ausgebeutet und unterdrückt fühlen, die misshandelt und verlassen werden, aber in ihren eigenen Augen erklärt das nicht ausreichend ihren Hass. Das Verständnis der Leser ist ihnen jedoch gewiss, denn nur so können Elena Ferrantes Ich-Erzählerinnen Delia, Olga, Leda und Elena überleben: Die eigene, die oft nicht eingestandene Aggression ist es, die es ihnen erlaubt, weiterzumachen und in ihren Geschichten nicht sich selbst, nicht alles zu verlieren.
An der Kellerwand hängt Amalias altmodisches blaues Kostüm, das sie trug, als sie am 21