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Roman

von Alex Irvine

Ins Deutsche übertragen von
Tobias Toneguzzo

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Englische Originalausgabe:

“Tom Clancy’s THE DIVISION: Broken Dawn” by Alex Irvine, published by Ubisoft, San Francisco, USA, February 2019.

© 2019 Ubisoft Entertainment. All Rights Reserved. Tom Clancy’s The Division, Ubisoft,

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Übersetzung: Tobias Toneguzzo

Lektorat: Michael Neuhaus

Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest

Chefredaktion: Jo Löffler

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDDIVI001E

ISBN 978-3-7367-9962-2

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-3770-6

1. Auflage, Februar 2019

www.paninibooks.de

Für all die Aurelio Diaz da draußen,
in Anerkennung der Opfer, die sie erbringen,
damit die Welt ein besserer Ort sein kann.

1

VIOLET

Violet drückte ihre Stiefelspitze am Rand des überschwemmten Bereichs in den Boden. Im Wasser, ungefähr einhundert Meter von ihr entfernt, stand das Hotel, wo sie und ihre Freunde einst ein paar Tage verbracht hatten. Das war unmittelbar nach der Dollar-Grippe gewesen – oder dem Grünen Gift, je nachdem, welchen Namen man bevorzugte. Die Behörden hatten ein Flüchtlingslager daraus gemacht, geführt von der JTF. Violet wusste nicht, wofür JTF stand, aber das waren die Leute, die für all den militärischen Kram verantwortlich waren. Und dafür, Essen und Medizin zu verteilen. Die Lage im Hotel war ziemlich stabil gewesen … zumindest nachdem all die Todgeweihten gestorben waren. Einschließlich Violets Eltern.

Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken.

„Ich vermisse diesen Ort“, flüsterte sie leise.

Ihre Freunde standen in einer Gruppe um sie herum. „Ja“, sagte Saeed. „Ich auch.“ Die Murtaugh-Zwillinge Noah und Wiley nickten; die anderen Kinder – Shelby, Ivan und Amelia – sahen sie nur an. Ivan lehnte sich zu Amelia hinüber. Sie war seine große Schwester. Manchmal war Violet neidisch auf die Kinder in ihrer Siedlung, die noch Geschwister und Eltern hatten.

Eigentlich sollten sie Kräuter sammeln, aber stattdessen hatten sie beschlossen, sich das Hotel anzusehen, wo sie nicht länger leben konnten. Als das Schlimmste vorbei gewesen war, hatten Violet und die anderen Kinder geholfen, im Hof des Gebäudes einen Garten anzulegen. All die Pflanzen dort waren inzwischen sicher untergegangen. So wie alles andere auch.

Trotzdem, hierherzukommen und sich kollektiv selbst zu bemitleiden, war immer noch besser, als in den überwucherten Teilen der National Mall nach essbaren Pflanzen zu suchen – was sie gerade eigentlich tun sollten. Der neue Garten am Castle musste erst ausgebaut werden. Vielleicht könnten sie ja in einem anderen Park suchen oder sonst irgendwo, solange es nicht die Mall war. Die Promenade zwischen dem Kapitol und dem Lincoln Memorial war ein unheimlicher Ort, in vielen der alten Gebäude dort trieben sich unheimliche Gestalten herum; die Leute vom Castle würden es sicher verstehen.

Trotzdem war Violet nervös. Sie war es gewohnt, sich an die Regeln zu halten, denn sie hatte viele schreckliche Dinge gesehen, als das Grüne Gift Washington, D. C. überrollt hatte. Sieben Kinder gehörten zu ihrer Gruppe, alle zwischen neun und elf Jahre alt, und sie alle hatten mindestens einen Elternteil verloren, ganz zu schweigen von Geschwistern und Freunden. Das war einer der Gründe, warum sie sich zusammengeschlossen hatten – und warum die Erwachsenen in der Siedlung sie in die Schublade „Kinder, die Aufsicht brauchten“ steckten … was nervig, aber irgendwie gleichzeitig auch nett war. Die meisten anderen Kinder in der Siedlung gingen ihnen aus dem Weg, so als sei es ansteckend, eine Waise zu sein.

Vor der Flut hatten sie mit ungefähr hundert anderen Leuten auf den unteren Stockwerken des Mandarin Oriental gelebt. Das Äußere des Hotels war verbarrikadiert und befestigt gewesen, und JTF-Soldaten hatten regelmäßig vorbeigeschaut, um sicherzugehen, dass auch alles in Ordnung war. Regentonnen hatten sie mit Wasser versorgt und verglichen mit anderen Orten war es ziemlich sicher gewesen. Oder zumindest hatten sie das geglaubt – aber sie hatten ja auch geglaubt, die Lage in D. C. würde sich verbessern, als der Winter zu Ende gegangen war. Vermutlich war es einfach leichter, optimistisch zu sein, wenn die Blumen blühten und alles grün war.

Tja, und dann, Anfang April, war der Fluss über die Ufer getreten und sie hatten das Hotel verlassen müssen.

Jetzt lebten sie im Castle, dem alten Informationszentrum der Smithsonian Institution. Es war ziemlich überfüllt dort, weil so viele Leute vom Hotel dorthin gezogen waren. Ein paar andere hatten sich angeblich auf der anderen Seite der Mall ein Plätzchen gesucht, und der Rest war in Richtung East Side losgezogen, weil sie hofften, dass es in der Nähe der Militärbasis sicherer wäre. Violet konnte sich nicht an den Namen der Basis erinnern. „Saeed“, fragte sie. „Wie heißt die Basis drüben am Fluss noch mal? Nicht am Potomac, dem anderen Fluss.“

„Joint Base Anacostia-Bolling“, antwortete Saeed. Solche Sachen wusste er immer. Genauso, wie er wusste, dass JTF für Joint Task Force stand. Oder dass diese Joint Task Force entstanden war, weil so viele Militär- und Rettungseinheiten gestorben waren, dass sich die Überlebenden einfach unter einem neuen Namen organisiert hatten. Und er wusste auch, dass die Dollar-Grippe in Wirklichkeit eine Pockenepidemie war, die in New York ihren Anfang genommen hatte. Hätte das Internet eine menschliche Form, dann würde es so aussehen wie Saeed. Aber natürlich gab es das Internet nicht mehr. Es war untergegangen und alles andere mit ihm.

Violet fragte sich, ob es drüben beim Anacostia River wirklich sicherer war. Sie wusste, dass sich zwischen hier und dort einige üble Gestalten herumtrieben. Allen Kindern, und zwar nicht nur in ihrer Siedlung, sondern überall, wurde eingebläut, dass sie den Bereich um das Kapitol meiden mussten. So war es schon vor der Flut gewesen, und jetzt verging kaum ein Morgen, ohne dass irgendjemand sie davor warnte. Als wären sie Babys. Als hätten sie nicht auch eine Superseuche und all die schlimmen Dinge danach überstanden. Kinder wussten genauso gut wie die Erwachsenen, wie man überlebte.

Nun, immerhin ließ man sie als Gruppe gehen, wohin sie wollten – innerhalb gewisser Grenzen, versteht sich. Aber heute loteten sie diese Grenzen aus. Eigentlich sollten sie ja am Rand der Mall Pflanzen sammeln, aber stattdessen waren sie in die entgegengesetzte Richtung gegangen: südlich an der Siebten entlang, vorbei am Hancock Park zu der oberirdischen Metro-Haltestation. Dann waren sie den Gleisen gefolgt, bis diese am Rand der überfluteten Zone wieder in einem Tunnel verschwanden. Auf drei Seiten ragten verlassene Bürogebäude auf, und im Süden, entlang des früheren Flussufers, stachen dünne, hohe Wohnhäuser aus dem Wasser. Der Fluss selbst war braun vor Schlamm, hier und da mit weißen Schaumkronen, wie Glasur auf einem Kuchen. Violet klappte ihren Kragen hoch und drehte sich so, dass der Wind gegen ihren Rücken blies. Hier unten am Wasser war es empfindlich kalt.

„Wann das Wasser wohl wieder zurückgeht?“, fragte Shelby. Sie war die Jüngste von ihnen.

„Ich glaube, es steigt immer noch“, sagte Amelia. „Als wir das letzte Mal hier waren, konnten wir noch näher ans Hotel ran.“

Den Eindruck hatte Violet auch. Wie viel höher würde es steigen? Das Castle war ein Stück höher gelegen als das Hotel – aber eben nur ein Stück. Würden sie bald wieder umziehen müssen?

Wiley und Noah sagten gleichzeitig: „Wir sollten gehen.“ Sie waren keine eineiigen Zwillinge, aber die Ähnlichkeit war unverkennbar und sie hatten auch sonst viele Eigenheiten, wie man sie eigentlich nur bei eineiigen Zwillingen erwartete. Zum Beispiel, dass sie im selben Moment denselben Gedanken hatten.

„Vielleicht“, erwiderte Amelia. „Aber wir sollten ein paar Pflanzen sammeln, bevor wir zum Castle zurückgehen.“ Die meiste Zeit über ließen die Erwachsenen Violet und ihre Freunde einfach gewähren – aber wenn sie ihnen etwas auftrugen, dann erwarteten sie auch, dass es erledigt wurde.

„Ja“, stimmte sie zu. „Wir könnten drüben beim Lincoln Memorial suchen.“

„Das ist aber weit“, warf Ivan ein, und Shelby nickte.

Sie einigten sich schließlich auf die Constitution Gardens auf halber Strecke zwischen dem Washington Monument und dem Lincoln Memorial. Aber zunächst mussten sie wegen der Überschwemmung einen Bogen bis rüber zur Independence Avenue schlagen. Sie überquerten die breite, leere Straße gegenüber der Mall und blieben kurz stehen, um nach Fremden Ausschau zu halten. Dezember und Januar waren ein Albtraum gewesen, Februar und März eine deutliche Verbesserung, und der April lag bislang irgendwo dazwischen. Es lagen nicht überall Leichen herum und sie hörten nicht unablässig Gewehrfeuer, so wie im Winter. Aber es war auch nicht so friedlich wie im März, als die Erwachsenen im Hotel wieder zu träumen wagten, dass die Regierung noch funktionierte und alles wieder in Ordnung kommen würde.

Violet fragte sich, wer gerade Präsident war. Es gab Gerüchte, wonach Präsident Mendez gestorben war – was bedeuten würde, dass man jemand Neues wählen musste, oder? Oder gab es vielleicht niemand Neues? Es gab schließlich auch keine Telefone und kein Internet mehr. Violet und die anderen Kinder wussten nur, was die Erwachsenen ihnen erzählten.

„Violet, kommst du?“ Saeed blickte zu ihr zurück. Der Rest der Gruppe war bereits losgegangen und marschierte am südlichen Rand der Mall entlang.

Sie joggte los, um zu ihnen aufzuschließen. In der Nähe der Mall bekam sie immer ein flaues Gefühl. Überall waren Museen. Aber es waren nicht nur die Museen. Es war … alles. Die Informationsstände, die öffentlichen Toiletten – all diese Dinge, die aus einer anderen Welt zu stammen schienen. Violet war erst elf, aber sie kannte das Gefühl: Als hätte sie etwas so Tiefschürfendes, so Weitreichendes durchlebt, dass die Welt danach nie wieder so sein könnte wie zuvor.

Ivan blickte in beide Richtungen die Mall entlang. Er war immer ihr Späher und hielt die Augen nach Fremden offen, die eine Bedrohung darstellen könnten. Es gab einen Seelsorger in der Siedlung, der meinte, viele Kinder, die ein Trauma erlitten hatten, würden sich auf diese Weise verhalten. Man nannte so was Hypervigilanz. Manchmal machte es Ivan unausstehlich, aber es war auch praktisch, denn in D. C. trieben sich immer noch viele üble Gestalten herum. Es gab keine Regierung, es gab keine Armee, es gab keine Polizei, und die Flut war für alle ein herber Rückschlag gewesen; gerade als sie angefangen hatten, sich an die neue Situation zu gewöhnen, hatten sie alles aufgegeben und wieder umziehen müssen.

Jeder musste für sich selbst sorgen. Die Agenten der Division konnten nicht überall sein.

Als sie die anderen erreichte, blickte Saeed an ihr vorbei die Mall hoch. „Ich weiß“, sagte sie. „Du willst zum Luft- und Raumfahrtmuseum.“

Er nickte. „Ja.“ Saeed wollte Astronaut werden. Violet hatte vor ein paar Jahren mit ihrer Klasse einen Ausflug ins Luft- und Raufahrtmuseum gemacht, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, ein Raumschiff gesehen zu haben. Andererseits interessierte sie sich auch nicht allzu sehr für den Weltraum. Biologie, das war ihr Ding. Wenn sie groß war, dann wollte sie Tierärztin werden. Oder eine Dichterin.

Woran sie sich aber erinnerte, war die Apollo-11-Kapsel in der großen Eingangshalle und die Flugzeuge, die ringsum von der Decke gehangen hatten. Ob das wohl noch alles dort war? Das Luft- und Raumfahrtmuseum gehörte zu den verbotenen Orten. Angeblich hatte sich eine üble Bande dort eingenistet.

„Was ist los, Vi?“ Ivan berührte sie am Arm. „Du siehst traurig aus.“

Wenn sie an Museen dachte, musste sie an die alten Dinge denken, die darin ausgestellt wurden, weil es sie sonst nirgends mehr gab. Die Welt vor der Seuche gehörte jetzt ebenfalls auf diese Liste. Schulausflüge, Wochenendtrips mit ihren Eltern, all die normalen Dinge, die sie getan und gesehen hatte.

Aber sie würde nicht weinen. Nicht vor Ivan.

„Kommt“, rief sie. „Suchen wir nach Grünzeug.“

2

AURELIO

Division-Agent Aurelio Diaz entdeckte die Zivilistin, als sie kurz nach Mittag die Dark Zone betrat. Diaz kniete auf einem Dach über Fifty-Eighth Street und Fifth Avenue, gegenüber der Statue von William Tecumseh Sherman. Das war einer der Zwischenstopps auf seinen normalen Patrouillen, wenn er nicht gerade zu Notfällen in andere Teile der Stadt gerufen wurde. Das Dach war niedrig genug, sodass er schnell unten auf der Straße sein konnte, aber hoch genug, um einen guten Ausblick auf die Barrikade zu haben, die die Leute eigentlich aus der Dark Zone fernhalten sollte.

Die Frau kletterte über die Barrikade und hielt in ihrem Schatten inne, um sich umzusehen. Diaz’ erster Impuls war, ihr Gesicht mit ISACs Gesichtserkennungsdatenbank abzugleichen. Dazu müsste er nur die spezielle Ausrüstung einsetzen, die alle Agenten der Division trugen: die hochmodernen Kontaktlinsen, um ihr Gesicht zu scannen, die SHD-Smartwatch, um die Bilder der Linsen in eine dreidimensionale Projektion umzuwandeln, und das Kommunikationsgerät an seinem Rucksack, das Diaz – und alle anderen Agenten – mit ISAC verband, der künstlichen Intelligenz der Division.

Das Problem war, dass sie sich von ihm weggedreht hatte und er ihr Gesicht nicht richtig erfassen konnte. Aber so oder so, sie machte ihn neugierig. Die Dark Zone erstreckte sich von der südwestlichen Ecke des Central Park am Broadway entlang zur Twenty-Third Street und dann an der Grand Central Station vorbei die ganze Strecke bis zur Sixty-Fifth Street hoch, und allein Agenten der Division sollten sie durch die Checkpoints entlang der Barrikade betreten. Zumindest theoretisch sollte sich niemand anderes in diesen Bereich wagen, egal unter welchen Umständen. Die Zone war als einer der ersten Bereiche unter Quarantäne gestellt worden, als das Grüne Gift die Stadt erfasst hatte; die völlig überforderte Joint Task Force hatte kurzerhand eine Mauer um das Gebiet herum errichtet und sich auf den Rest der Stadt konzentriert.

Jetzt, fünf Monate nach dem Ausbruch, war es still geworden in der Dark Zone, aber ein Ort für Zivilisten war sie deshalb noch lange nicht. In der Regel war sie nicht mal ein Ort für einen einsamen Division-Agenten. Andere Teile von New York konnte man fast schon wieder als bewohnbar bezeichnen, doch innerhalb dieser Barrikade gab es kein Gesetz – ganz zu schweigen davon, dass die Zone die gefährlichsten und wahnsinnigsten Individuen der ganzen Stadt anzuziehen schien. Die Division und JTF arbeiteten sich zwar langsam von Süden nach Norden vor, aber während in einigen Gegenden im Süden der Zone beinahe Normalität herrschte, war der Norden immer noch ein Kriegsgebiet. Nein, schlimmer als ein Kriegsgebiet. Ein Sammelbecken für Mörder und schwerbewaffnete Psychopathen. Nicht zu vergessen die allgegenwärtige Bedrohung durch das Virus, das noch immer in diesen Häuserschluchten lauerte und eine neue Welle tödlicher Infektionen lostreten konnte.

Warum also kletterte ausgerechnet hier eine junge Frau über die Barrikade? Diaz beobachtete, wie sie in Richtung Sixtieth Street losschlich. Sie bewegte sich entschlossen, zielstrebig – sie wusste genau, wo sie hinging. Oder zumindest wollte sie diesen Eindruck erwecken.

Diaz kletterte zur Straße hinab und folgte ihr. Sie betreten die Dark Zone, meldete ISACs KI. Ja, dachte Diaz, ich weiß. Die einzigen anderen Personen auf der Straße waren umherziehende Plünderer.

Eigentlich hatte er vorgehabt, seinen Patrouillengang zu beenden und sich dann in der Basis am Postamt beim JTF-Kommandanten abzumelden. Natürlich hätte er auch einfach so verschwinden können. Die Agenten der Division erhielten durch Regierungsdirektive 51 die Vollmacht, nach eigenem Ermessen zu handeln, und das mehr oder weniger uneingeschränkt. Sie waren niemandem in der militärischen Befehlskette Rechenschaft schuldig und auch die allgemeinen Einsatzregeln hatten für sie keine Bedeutung. Man rekrutierte und trainierte sie im Geheimen und aktivierte sie nur in kritischen Notfällen, wenn die amerikanische Regierung oder die soziale Ordnung vor dem Zusammenbruch stand. Vor der Dollar-Grippe war Diaz ein Sportlehrer in D. C. gewesen, mit zwei Kindern und einer Frau, die in einer Bank arbeitete.

Doch am Black Friday hatte sich all das schlagartig geändert, als irgendein Irrer hier in New York eine biologische Waffe, ein aggressives tödliches Pocken-Virus, auf die Menschheit losließ. Innerhalb weniger Wochen hatte die Seuche die ganze Welt erfasst … und Diaz’ Frau Graciela dahingerafft. Vielleicht hatte sie eine der Zwanzigdollarnoten berührt, die mit dem Virus behaftet waren – daher auch die Spitznamen Dollar-Grippe und Grünes Gift (nach der Farbe der Geldscheine) –, oder vielleicht hatte jemand anders sie damit angesteckt. Letztlich machte es keinen Unterschied. Sie war gestorben und Millionen andere mit ihr.

Jetzt, fünf Monate später, war die Ordnung in New York nicht wirklich wiederhergestellt, aber zumindest gab es neue Hoffnung. Schon bald, dachte Diaz, würde man ihn hier nicht mehr brauchen. Dann könnte er nach Hause zurück, zu seinen Kindern. Er war hierhergekommen, weil die erste Welle von Division-Agenten im Chaos nach dem Ausbruch getötet oder abtrünnig geworden war. Damals hatte New York dringend Hilfe benötigt und D. C. hatte vergleichsweise stabil gewirkt. Er war nicht sicher, ob das auch jetzt noch der Fall war. Außerdem war er schon viel zu lange von Ivan und Amelia getrennt. Die JTF sollte sich um sie kümmern, aber er wollte sicher sein.

Zurück nach D. C. – das war sein Plan. Aber bevor er sich in der JTF-Basis an der Ecke von Forty-Fifth und Broadway abmeldete und die Dark Zone verließ, wollte er erst noch herausfinden, was diese Frau vorhatte. Er konnte nicht einfach gehen, während sie hier allein umherwanderte.

Bis zur Madison Avenue blieb die Zivilistin auf der Sixtieth, dann bog sie nach Süden ab. In der Gegend, die sie jetzt verließen, hatten heftige Brände gewütet und die meisten Häuser waren verlassen. Weiter vorne, in Richtung von Fifth und Park Avenue, sah die Lage jedoch ganz anders aus. Dort hatten bewaffnete Banden ihre kleinen verfeindeten Territorien errichtet, deren Grenzen sich ständig verschoben. Diaz hatte das Gefühl, dass die Frau diesem gefährlichen Bereich von Fifth und Park ganz bewusst fernblieb. Sie kannte diesen Teil der Dark Zone. Das machte ihn neugierig. Und noch neugieriger machte ihn die Schrotflinte – eine Benelli Super 90 –, die über ihrer Schulter hing. Viele Agenten der Division benutzten die Super 90, wenn sie auf beengtem Raum kämpfen mussten. Ein Zufall? Eher unwahrscheinlich, schließlich hing die Schrotflinte direkt neben einem Rucksack, der dem eines Division-Agenten zum Verwechseln ähnlich sah. Aber die Frau trug keine Smartwatch und da war auch kein ISAC-Pack an dem Rucksack zu sehen. Sie war also keine Agentin. Blieb die Frage: Wer war sie dann?

An der Fifty-Fifth Street ging sie wieder nach Westen und in Diaz’ Kopf schrillten die Alarmglocken los. Die presbyterianische Kirche an der Kreuzung von Fifth Avenue und Fifty-Fifth Street war das Zuhause einer Gang apokalyptischer Kultanhänger. Falls die Frau weiterging, würden diese Kerle sich auf sie stürzen wie ein Schwarm Piranhas. Er zog das Tempo an und näherte sich ihr bis auf vierzig Meter, bevor sie etwas merkte und über die Schulter blickte. Ziemlich gutes Situationsbewusstsein. Die Frau verspannte sich kurz, dann erkannte sie seine Division-Ausrüstung und entspannte sich wieder. Sie sah ihn nicht als Bedrohung an. Interessant. Das bedeutete, sie wusste, dass sie nichts tat, was sie in Konflikt mit einem Division-Agenten brachte.

Trotzdem ging sie weiter, direkt auf das Lager eines Weltuntergangskults zu.

Diaz joggte über die Fifty-Sixth Street, um ihr den Weg abzuschneiden. Sein Weg führte durch die Ruinen eines Restaurants, das in den Wochen nach der Seuche ausgebrannt war, dann durch die schmale Gasse dahinter, die zwischen der Kirche und dem hoch aufragenden Wolkenkratzer im Norden verlief. Anschließend sprang er über den Zaun und kam wieder auf der Straße heraus.

Vor der Kirche baumelte eine Leiche von einem Galgen, wie Diaz aus den Augenwinkeln registrierte. Er oder ein anderer Agent der Division würde etwas wegen dieses Kults unternehmen müssen. Aber heute hatte er eine andere Mission. Die schweren Holztüren der Kirche, die auf die Fifth Avenue hinausführten, standen offen, und mehrere Personen im Inneren wandten sich um, als er vorbeiging. Diaz blieb nicht stehen, drehte sich nur seitlich, sein G36 in die generelle Richtung der Kultisten geschwenkt, ohne aber direkt auf einen von ihnen zu zielen. „Schön cool bleiben“, sagte er.

Sie blickten an ihm vorbei zu der Frau hinüber. Sie sah die Kultisten ebenfalls – und sie sah Aurelio.

Ihre Reaktion machte ihn noch neugieriger: Sie wich auf die andere Straßenseite aus, um größere Distanz zwischen sich und die anderen zu bringen, aber sie geriet nicht in Panik, sie rannte nicht los. Das war keine normale Zivilistin, so viel stand fest. Sie stapfte weiter die Fifty-Fifth entlang, und Aurelio folgte ihr, rückwärts von der Kirche fortgehend. Die Kultisten waren auf den Bürgersteig hinausgetreten und starrten ihm nach. Er hatte diesen Blick schon früher gesehen. Sie wollten ihn an ihrem Galgen. Den Abzug seines G36 zu drücken, würde dieses Problem lösen und ein paar andere gleich mit … aber solange sie ihn nicht angriffen, war ein solches Handeln nicht zu rechtfertigen. Laut Direktive 51 könnte er die ganze Bande niedermähen, ohne dass irgendjemand ihn deswegen belangen konnte, aber das war nicht Aurelio Diaz’ Stil und auch nicht der Stil der Strategic Homeland Division, gemeinhin abgekürzt als SHD. Außerdem folgten sie ihm nicht weiter.

„Schön cool geblieben“, sagte er, noch immer rückwärts von ihnen fortgehend. Als er die nächste Straßenecke erreichte, sah er die Frau am anderen Ende des Blocks, beinahe schon bei der Sixth Avenue. Sie war nach Norden abgebogen; das überraschte ihn. Wohin immer sie auch unterwegs war, sie nahm einen ziemlich umständlichen Weg. Natürlich ergab es Sinn, dass sie einen Bogen um die Fifth Avenue machte, aber andererseits wäre sie beinahe in die Kirche der Weltuntergangsapostel spaziert – ihr Wissen über diese Gegend musste ziemlich lückenhaft sein.

Also: Wohin wollte sie?

Zur Fifty-Eighth Street, wie sich herausstellte. Als sie dort ankam, blieb sie einen langen Moment vor einem Laden auf der Nordseite der Straße stehen, direkt neben dem Eingang einer Tiefgarage. Die letzten Stofffetzen einer Markise flatterten vor dem Geschäft im Wind, und die Ladenfront sah aus, als wäre sie gerade umgebaut worden, aber Diaz konnte nicht allzu viel erkennen.

Schließlich betrat die Frau das Gebäude. Interessant, dachte Diaz. Er war sicher, dass sich nichts mehr von Wert in diesem Laden befand. Die Stockwerke darüber wirkten gesichtslos und unscheinbar. Hinter einem Fenster glaubte er, Licht zu sehen, aber das könnte auch nur eine Reflexion von der Fassade des Wolkenkratzers schräg gegenüber sein.

Diaz beschloss, ein paar Minuten zu warten und zu sehen, was passierte. Er hatte inzwischen ein ziemlich gutes Gefühl dafür, wann Leute etwas Übles im Schilde führten – das war eine Grundvoraussetzung, wenn man in diesem verwüsteten New York überleben wollte –, und bei der Frau war dieser sechste Sinn nicht angesprungen. Dass er ihr trotzdem eine gute Meile durch die Dark Zone gefolgt war, lag allein an seiner Neugier.

Und falls sie noch weiter hier umherwanderte, würde er ihr auch weiter folgen – bis sie die DZ wieder verließ. Teils natürlich, weil sie vielleicht Begleitschutz brauchen konnte, aber hauptsächlich aus Neugier. Die meisten Leute versuchten, die Dark Zone zu verlassen, nicht sich hineinzuschleichen. Was wollte sie hier?

3

APRIL

Den Frühling über hatte sie die Dark Zone ausgekundschaftet und die Hinweise überprüft, die sie im Winter gesammelt hatte. Während dieser Wochen hatte sie sich jeden Meter der Barrikade eingeprägt, die die Zone vom Rest der Stadt abschnitt. Sie wusste, dass es Löcher gab. Sie wusste von den unterirdischen Verbindungen zwischen Gebäuden, die in die Zone und aus der Zone herausführten. Zugegeben, keines dieser Löcher und keiner dieser Tunnel blieb je lange offen, aber sobald sich ein Weg schloss, entstand irgendwo ein anderer. Es war einfach nicht möglich, ein so großes Areal vollkommen abzuriegeln.

Das eigentliche Problem war, dass der Ort, den sie erreichen musste, tief im schlimmsten Teil der DZ lag, knapp südlich vom Central Park. Die südlichen Bereiche waren in der Regel ein wenig sicherer. Natürlich immer noch gefährlich, aber die relative Nähe zur Hauptbasis der JTF machte sich bemerkbar. In den Monaten, nachdem die Dollar-Grippe in New York gewütet hatte, waren die JTF – und die Division – daran gegangen, wieder so etwas wie Ordnung herzustellen, aber über die Thirty-Fourth Street waren sie dabei noch nicht wirklich hinausgekommen. Was nördlich davon lag, war der Wilde Westen. Soldaten der JTF sah man nur selten; ihre Präsenz beschränkte sich größtenteils auf ein paar befestigte Unterschlüpfe in der Umgebung des Central Park. Und was die Division anging: April hatte gelernt, den Gefahrengrad einer Gegend daran abzuschätzen, wie oft sie die charakteristische Ausrüstung der Agenten sah: einen Rucksack mit dem orangefarbenen Kreis, die optischen oder auditiven Hilfsmittel. Die Mitglieder der Division hatten volle Autonomie; sie gingen, wohin sie wollten, ohne sich an Regeln halten zu müssen. Sie waren verpflichtet, alles Nötige zu tun, um die Zivilisation vor dem völligen Kollaps zu bewahren – das waren ihre einzigen Vorgaben. Je mehr von ihnen April in einem Viertel sah, desto gefährlicher war diese Gegend in der Regel. Und Viertel, wo sie nur in Gruppen unterwegs waren und nicht allein – das waren die gefährlichsten Gegenden überhaupt.

Der nördliche Sektor der Dark Zone war so eine Gegend.

Also beobachtete sie und hielt sich zurück und nutzte die Chancen, die sich ergaben. Sie betrat die DZ nur tagsüber und hielt sich in der Nähe von Gruppen, denen sie vertraute, und wenn es auch nur so aussah, als könne die Lage brenzlig werden, verschwand sie wieder. An manchen Tagen schaffte sie es nicht mal in die Dark Zone, weil Patrouillen der JTF oder Division-Agenten sie zurückwiesen oder irgendwo Feuergefechte tobten … oder echte Feuer. Dank der apokalyptischen Banden, die nach dem Ausbruch der Seuche wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, hatten sich ganze Blocks in ausgebrannte Ruinen verwandelt. Und auch wenn April ins Innere gelangte, kam sie nicht immer dazu, einen sicheren Weg zu ihrem Ziel auszukundschaften. Gewalt war in der Dark Zone allgegenwärtig und manchmal konnte man ihr einfach nicht aus dem Weg gehen. Drei oder vier Mal hatte sie nur das Auftauchen von Division-Agenten vor Schlimmerem bewahrt. Zweimal war sie gezwungen gewesen, jemanden zu erschießen. Sie wusste, es hatte keine andere Möglichkeit gegeben, aber trotzdem lasteten diese Tode schwer auf ihr. Sie wollte nicht in einer Welt leben, in der tödliche Schüsse genauso alltäglich waren wie eine kalte Mahlzeit.

Doch genau das war die Welt, in der sie lebte. Oder zumindest das New York, in dem sie lebte. Besser zwar, als es vor ein paar Monaten noch gewesen war, aber immer noch weit von jeglicher Normalität entfernt. Falls es nach Millionen Toten, dem Untergang der Regierung und dem Zusammenbruch der Kommunikation überhaupt noch so etwas wie Normalität geben konnte. Ganze Städte waren leer gefegt, zahllose Felder lagen brach … Wenn man lange genug mit einer Situation konfrontiert war, wurde sie früher oder später normal. Die Leute mussten sich an die Realität anpassen.

Bei ihr hatte dieser Prozess bereits begonnen: In den Wochen nach der Seuche hatte sie eine Widerstandskraft in sich entdeckt, die sie nie für möglich gehalten hätte, als sie noch mit ihrem Laptop vor dem Fernseher gesessen hatte. Damals hätte sie ganz sicher nicht gewagt, über eine zerbröckelnde Barrikade in eine Quarantänezone zu klettern. Aber sie hatte eine Mission. Nein, es war eher ein Zwang. Eine Besessenheit. Es brannte in ihren Eingeweiden, seit sie die Seuche und das blutige Chaos danach überlebt hatte. Es nährte sie in den kalten Nächten und den hungergeplagten Tagen. Es gab ihr etwas, worauf sie sich konzentrieren, etwas, wofür sie leben konnte. Ihr wichtigster Hinweis war eine Adresse:

117, W 58th

Heute hatte sie es endlich dorthin geschafft – nicht zuletzt, weil sie einen Agenten der Division dazu gebracht hatte, ihr zu folgen. Sie hatte ihn auf einem Dach an der Ecke des Central Park entdeckt und dementsprechend ihren Einstiegspunkt in die Dark Zone gewählt, darauf hoffend, dass er sie stellen oder sich an ihre Fersen heften würde. Mit ihm im Rücken hatte sie sich ganz auf das konzentrieren können, was vor ihr lag; das hatte ihren Marsch deutlich beschleunigt. In Gedanken dankte sie ihm, und ein Teil von ihr fragte sich, wie er wohl hieß.

Die Fassade des Hauses mit der Nummer 117, West Fifty-Eighth war offen, so als wären hier gerade Bauarbeiten im Gange gewesen, als die Dollar-Grippe ausbrach. Den Trümmern im Innern nach zu schließen war es einmal ein Fahrradladen gewesen. Sie trat ein und bemühte sich, ruhig zu atmen. Das war es! Sie war hier!

Bevor sie irgendetwas anderes tat, nahm sie sich einen Moment, um zu lauschen. Wenn sich Menschen in einem Gebäude aufhielten, dann machte sich das auf vielerlei Weise bemerkbar. Und nicht nur durch Geräusche wie ein hastiges Einatmen oder das leise Knirschen, wenn jemand das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. Nein, da war ein Gefühl, eine Präsenz, die sich eher unbewusst als bewusst wahrnehmen ließ. Leere Gebäude fühlten sich leer an. April hatte gelernt, den Unterschied zu erkennen.

Im hinteren Teil des Ladens führte eine Treppe nach oben, daneben hing eine Brandschutztür weit offen in den Angeln, sodass man in den Korridor dahinter blicken konnte. Weiter rechts befand sich ein zweiter kurzer Gang, die Tür mit einem Holzkeil offen gehalten. April schaltete ihre Taschenlampe ein und leuchtete durch die Öffnung: Da war eine weitere Treppe, die nach unten führte.

117, W 58th, Keller

Langsam stieg sie hinunter, wobei sie weiter lauschte, aber auch jetzt hörte sie nichts – außer dem leisen Kratzen ihrer Stiefel auf den Sicherheitsstreifen, die am Rand jeder Stufe angebracht waren. Der Keller entpuppte sich als ein Labyrinth aus schmalen Korridoren, die zu Heiz- und Waschräumen führten, zu Wartungsschränken und Sicherungskästen – dem Nervensystem eines modernen Häuserturms. April überprüfte die Gänge einen nach dem anderen, bis sie einen größeren Raum erreichte und an der Tür stehen blieb.

In der Ecke neben dem Eingang stand ein großer Serverturm, dunkel und leblos. Verschlissene Matratzen, Schlafsäcke und Kartons lagen gemeinsam mit Hamburgerschachteln und einzelnen Zigaretten auf dem Boden verstreut – und es waren Letztere, die Aprils Aufmerksamkeit erregten. Zigaretten waren wertvoll, und dass sie noch hier herumlagen, bedeutete, dass jemand vor Kurzem in diesem Keller gewesen war.

Und das wiederum bedeutete …

Sie verscheuchte den Gedanken und setzte ihre mentale Bestandsaufnahme des Raumes fort, auch wenn ihr Herz heftig gegen ihre Rippen klopfte. In der Mitte des Raumes stand ein Klapptisch mit einer Karte von Manhattan und diversen Papierfetzen, die über und über mit Notizen bedeckt waren. An der gegenüberliegenden Wand entdeckte April eine Tafel mit einer Liste von Namen, jeder mit angehängten Längen- und Breitengraden versehen. Koordinaten.

Und einer der Namen war ihr eigener.

Dies war der richtige Ort. Oder zumindest war er es gewesen. Der Mann, nach dem sie suchte, war nicht hier, und der abgestandenen Luft in dem Raum nach zu schließen war er es auch schon eine ganze Weile nicht mehr gewesen. Es gab keine Spuren eines Kampfes; kein Blut auf dem Boden; keine Einschusslöcher an den Wänden; keine Patronenhülsen, die unter ihren Stiefeln quietschten.

Er war also nicht hier. Na gut, dann musste er irgendwo in der Nähe sein. Wieso sollte er ihr eine Einladung schicken und dann einfach verschwinden?

April, ich bin untergetaucht. Du musst herkommen.
117, W 58th, Keller

Sie war der Aufforderung nachgekommen und nun sah sie sich einem letzten Rätsel gegenüber. Also gut, dachte sie. Fangen wir mit dem Offensichtlichen an.

Sie ging wieder nach oben, mit vorsichtigen Bewegungen und gespitzten Ohren, und verharrte auf der obersten Stufe.

Das Gebäude – oder zumindest dieser Teil davon – fühlte sich leer an. Langsam schritt sie durch die Überreste des Ladens zu der Feuerschutztür. Der Korridor dahinter war mit Teppich ausgelegt und er stank nach Schimmel und Urin. Nein, danke. April drehte sich um und blickte die Treppe hoch, die in den ersten Stock führte. Bevor sie losging, nahm sie aber erst die Schrotflinte von der Schulter und hielt sie mit gesenktem Lauf vor sich. Noch immer war nichts zu hören, und sie hatte auch nicht das Gefühl, beobachtet zu werden, aber Vorsicht war besser als ein Loch im Kopf.

Vom Treppenabsatz im ersten Stock spähte sie in den Korridor und suchte nach Anzeichen menschlicher Präsenz.

Nichts. Aber irgendwo hier musste er sein. Also ging sie weiter in den zweiten Stock hoch.

Als sie hier aus dem Treppenhaus linste, war sofort klar, dass jemand auf dieser Etage lebte. Einige der Türen standen offen und das leise Summen elektronischer Geräte drang aus einem Durchgang auf halber Länge des Gangs. Die Stromversorgung des Gebäudes war hinüber; sie hatte die ausgebrannten Schaltkästen gesehen. Wer immer hier hauste, musste also seine eigene Energiequelle haben. Das bedeutete, dass er Beziehungen hatte. Fragte sich nur, zu wem. Eine der kriminellen Banden konnte es nicht sein, andernfalls würden sich irgendwelche Totschläger in der Nähe herumtreiben – diese Kerle neigten dazu, ihre Stärke weithin sichtbar zu demonstrieren.

Also vielleicht ein Division-Agent? Der hier in der Dark Zone einen Unterschlupf eingerichtet hatte? Das würde zu dem passen, was sie gehört hatte … aber es warf auch weitere Fragen auf.

Sie ging zu der summenden Tür und blieb stehen. Eine monatelange Schnitzeljagd hatte sie an diesem Punkt geführt. Falls sie sich irrte …

Aber sie wusste, dass sie sich nicht irrte. April trat durch die Tür, die Super 90 gegen ihre Hüfte gestützt.

Vor der Dollar-Grippe hatte sich hier eine Arztpraxis befunden. An einer Wand befand sich eine Diagnoseliege, gegenüber davon standen zwei Schreibtische vor einem nach Süden ausgerichteten Fenster. Helles Sonnenlicht fiel durch die Lücken zwischen den Wolkenkratzern herein und erhellte das große Bücherregal an der Wand zwischen den Tischen und der Liege. Lange Reihen von Lehrbüchern über Epidemiologie, Zellbiologie und Viralgenetik und dazwischen ein Titel, der April sofort ins Auge stach: New York Collapse.

Ihr eigenes Exemplar hatte sie verloren – das, das Bill ihr gegeben hatte. Es hatte ihr geholfen, in den Wochen nach dem Ausbruch der Seuche am Leben zu bleiben, außerdem hatte sie es als Tagebuch benutzt. Und je länger sie darin las, desto mehr verborgene Hinweise hatte sie entdeckt – Hinweise, die sie schlussendlich hierhergeführt hatten, zu dem Mann, der vor ihr an einem der Schreibtische saß. Er war vielleicht sechzig Jahre alt, mit grauem Haar und einer Lesebrille, die tief auf seiner Nase saß, während er in ein Notizbuch schrieb und hin und wieder zum Monitor seines Computers hochblickte.

April sprach ihn von der Tür aus an. „Roger Koopman?“

Er richtete sich auf, und sie sah, dass sein Blick erst auf ihrer Schrotflinte verharrte, bevor er zu ihrem Gesicht weiterwanderte. „Ich habe nichts von Wert“, sagte er.

„Oder sollte ich Sie vielleicht lieber Warren Merchant nennen?“, fragte April.

Jetzt musterte er sie eingehender, einen seltsamen Ausdruck auf seinem Gesicht – so als würde er jemanden sehen, den er nie im Leben zu sehen erwartet hätte. Er schien nicht zu wissen, wie er reagieren sollte.

„Ich bin April Kelleher“, erklärte sie. „Ich habe lange nach Ihnen gesucht.“

4

VIOLET

Es war später Nachmittag, und sie waren hungrig und müde, aber sie hatten mehrere Einkaufstaschen voller Löwenzahnblätter und Rohrkolben. Die Teiche in den Constitution Gardens hatten sich als üppige Beutegründe erwiesen. Keiner von ihnen hätte je gedacht, dass man Rohrkolben essen konnte, aber wie sich herausstellte, waren sie gar nicht mal so übel. Eine der Frauen aus dem Hotel, Luiza, zerrieb die Wurzeln zu Mehl und machte daraus Rohrkolbenpfannkuchen. Die standen nun im Castle regelmäßig auf der Speisekarte.

Sie waren also vielleicht nicht dorthin gegangen, wo man sie hingeschickt hatte, aber sie kamen mit mehr und besserer Beute zurück, als Luiza und die anderen erwarteten.

Der Himmel über dem Fluss war wolkenverhangen. „Gehen wir heim“, sagte Amelia. „Mehr können wir ohnehin nicht tragen.“

Sie nahmen den Weg am Reflecting Pool und dem Washington Monument entlang, wobei sie sich südlich der Mall hielten. Bei den Häusern nördlich der Constitution Gardens trieben sich finstere Gestalten herum und meistens waren sie bewaffnet. Vielleicht beschützten sie den Präsidenten oder vielleicht waren sie Menschenfresser. Violet wusste es nicht. Saeed und Ivan behaupteten zwar, sie könnten den Unterschied zwischen JTF und anderen Gruppen erkennen, aber für Violet sahen sie alle gleich aus. Männer mit Gewehren – manchmal auch Frauen. Aber immer mit Gewehren.

Und dann waren da noch die Agenten der Division mit dem orangefarbenen Kreis auf ihrer Ausrüstung. Sie schienen nicht wirklich zu einer Gruppe zu gehören. Ivan und Amelia behaupteten, ihr Vater wäre ein Division-Agent, aber Violet war nicht sicher, ob sie ihnen glauben sollte. Viele Kinder hatten Eltern oder zumindest einen Elternteil verloren, und die meisten erfanden irgendwelche Geschichten, um sich besser zu fühlen. Violet machte das sogar selbst, und sie wusste, dass ihre Eltern tot waren. Sie hatte sie sterben sehen.

Aber daran wollte sie jetzt nicht denken.

Als sie die Independence Avenue erreichten, kam südlich von ihnen neben dem Gebäude des Landwirtschaftsministeriums plötzlich ein Division-Agent in Sicht. Er sah sie auf die Twelfth Street zugehen und winkte, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Verschwindet von hier!“, rief er.

Sie erstarrten, nicht sicher, wie sie reagieren sollten. Verschwinden? Wie? Wohin?

„Wow“, entfuhr es Wiley. „Seht euch das an!“

Er deutete nach Süden, und als Violet den Kopf drehte, sah sie eine wogende gelbe Wolke über dem Hancock Park.

Gelbes Pulver. Davon hatte sie schon gehört. Sie wusste nicht, worum es sich dabei handelte, aber sie wusste, dass es gefährlich war.

„Mann“, sagte Wiley. Der Division-Agent marschierte auf sie zu. „Wir waren gerade erst dort. Hätten wir länger gebraucht …“

Mehr musste er nicht sagen. Sie alle wussten, wie der Satz endete. Dann wären wir jetzt tot.

„Wo wollt ihr hin?“, fragte der Agent.

Er nahm seinen Helm ab und wischte sich mit dem Ärmel über Stirn und Bart. Violet musste an den Bart ihres Vaters denken. Der Mann war hochgewachsen und schlank, mit dunklem Haar und grauen Strähnen in seinem Bart – genau wie ihr Dad.

„Wir gehen zum Castle“, antwortete Shelby.

„Meint ihr das Smithsonian Castle?“

„Ja“, sagte Noah. „Vorher haben wir im Hotel gewohnt, aber das wurde überflutet.“

Der Mann von der Division nickte. „Ja, das war ein guter Platz. Wer weiß, vielleicht könnt ihr wieder dorthin zurück, sobald der Flusspegel sinkt.“

„Glauben Sie wirklich, das Wasser geht wieder zurück?“

„Früher oder später, ja.“ Der Agent setzte seinen Helm wieder auf und blickte nach Westen. „Es wird schon bald dunkel. Ihr beeilt euch besser. Hier sollte man nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr draußen unterwegs sein. Und hört zu, ganz egal, was ihr tut, geht auf keinen Fall in diese Richtung.“

„Nie wieder?“, fragte Saeed. „Ist die Wolke radioaktiv oder so? Ich habe gelesen, das Uranpulver gelb ist.“

„Nein, es ist kein Uranpulver. Und ich glaube nicht, dass es für immer ist, aber haltet euch in nächster Zeit einfach von dieser Gegend fern. Ich werde versuchen, die JTF herzuschicken, damit sie den Bereich sichern, aber die haben gerade alle Hände voll zu tun.“ Ein abwesender Ausdruck legte sich auf das Gesicht des Agenten, und es dauerte einen Moment, bis Violet erkannte, dass er auf eine Meldung aus seinem Ohrknopf lauschte.

„Ich muss los, Kinder“, sagte er. „Geht nach Hause.“

„Machen wir“, versicherte Violet ihm. Sie nahm die Tasche mit den Rohrkolben und Blättern von einer Hand in die andere und spreizte die Finger.

„Ähm, Mister Agent?“, fragte Ivan.

„Was ist, Kleiner?“

„Kennen Sie meinen Dad?“

„Wer ist dein Dad denn?“

„Aurelio Diaz. Er arbeitet auch für die Division.“

Der Agent lächelte schief. „Ja. Ich kenne ihn. Wir haben gemeinsam ein paar Einsätze absolviert, als alles in die Brüche ging. Danach ging er nach New York. Das muss … Januar, Februar gewesen sein. Da oben war die Lage schlimmer, als sie hier je geworden ist. Soweit ich weiß, ist er immer noch dort.“

„Dann lebt er also noch.“

„Junger Mann, ich kann dir nichts versprechen. Aber das letzte Mal, als ich ihn sah, war er quicklebendig und wohlauf, und ich habe nichts darüber gehört, dass sich etwas daran geändert hätte.“ Der Agent ließ seinen Blick über die Gruppe schweifen. „Bleibt schön zusammen.“

Mit diesen Worten joggte er nach Nordwesten los, in die Richtung, aus der die Kinder gekommen waren.

„Seht ihr?“, strahlte Ivan. „Ich hab euch doch gesagt, mein Dad gehört zur Division.“

„Mann, ist das cool“, rief Wiley.

Amelia blickte dem Agenten nach. „Er lebt wirklich noch.“ Sie versuchte, nicht zu weinen, hatte dabei aber nur mäßigen Erfolg.

Violet versuchte, nicht eifersüchtig zu sein. „Kommt“, sagte sie. „Wir müssen nach Hause.“

Junie, eine der älteren Frauen, die im Castle das Sagen hatten, bemerkte sie, als sie den Garten betraten. Das Smithsonian Castle schloss auf einer Seite an diesen Garten an, links und rechts wurde er von zwei Kunstmuseen eingefasst. Die meisten der Beete waren umgegraben, die Blumen durch Gemüse ersetzt. Dazwischen liefen gluckende Hühner umher und pickten Käfer vom Boden auf.

„Ich habe mich schon gefragt, ob ihr überhaupt noch zurückkommt“, tadelte Junie sie. „Aber es sieht aus, als hättet ihr reiche Beute gemacht.“ Sie warf einen genaueren Blick auf die Taschen. „Das sind ja gar keine Kräuter. Oh, Rohrkolben. Na gut, bringt sie in die Küche.“

„Wir haben einen Division-Agenten getroffen!“, platzte es aus Ivan heraus. „Er sagte, er kennt unseren Dad.“

„Ein Division-Agent?“ Junie blickte in südlicher Richtung durch den Garten. „Hatte das mit der gelben Wolke da drüben zu tun?“

Sie drehten die Köpfe. Die Wolke hatte sich längst aufgelöst, und der Wind wehte flussabwärts, fort von hier, aber Violet verspürte trotzdem den plötzlichen Wunsch, zu duschen und neue Klamotten anzuziehen. Konnte dieses gelbe Pulver vielleicht schon gefährlich werden, wenn man nur ein paar Partikel abbekam?

Junie blickte sie an. „Violet, was ist los?“

„Der Division-Agent meinte, wir könnten länger nicht mehr dorthin gehen. Als wäre alles da drüben vergiftet oder so.“ Violet wollte nicht weitersprechen, aber ihr Mund bewegte sich wie von selbst. „Und wir waren gerade erst dort!“, stieß sie hervor. Jetzt kamen die Tränen.

„He, Schätzchen.“ Junie nahm sie in ihre weichen Altfrauenarme. Der Rest der Kinder trat ein wenig näher an sie heran. „Es ist nicht leicht, heute ein Kind zu sein“, murmelte Junie. „Ach, was sage ich denn? Es ist für niemanden leicht. Aber ihr schlagt euch ganz, ganz tapfer.“

Sie gab dem Mädchen Zeit, sich auszuweinen. Es dauerte nicht lange. Violet mochte es nicht, vor anderen Leuten ihre Gefühle zu zeigen. Doch dieser Tag war selbst für sie zu viel gewesen. Nicht dass etwas wirklich Übles passiert wäre, aber das Hotel wiederzusehen und dann die Wolke des gelben Pulvers … Es gab immer mehr Orte, die sie nicht mehr besuchen konnten, weil ihnen dort Gefahr drohte, und sie hatte das Gefühl, als würde die Welt um sie enger werden. Bald würden sie nirgends mehr hinkönnen.

Aber das konnte sie nicht laut sagen; also kämpfte sie die Tränen nieder und wischte sich über die Augen. Junie ließ sie los. „Warum bringt ihr die Taschen nicht in die Küche, hm?“, schlug sie vor. „Und dann holt euch etwas zu essen. Ihr müsst doch sicher hungrig sein, nachdem ihr den ganzen Tag draußen unterwegs wart.“

„Ja“, piepste Shelby, woraufhin die Gruppe den Garten durchquerte und das Castle betrat. Violet entging nicht, dass die anderen Kinder dicht neben ihr gingen, so als wollten sie sie beschützen. Sie wollte nicht für schwach gehalten werden, aber gleichzeitig fühlte es sich auch gut an. Sie waren füreinander da. Immer und überall.