SIMON INGS

 

 

Hotwire

 

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

HOTWIRE 

Erster Teil: HOTWIRE 

Zweiter Teil: TOCHTER 

Dritter Teil: FRAU 

 

Das Buch

 

Einst hatte Ajay eine wunderbare Zukunft vor sich: Er entwickelte intelligente Städte für die Haag-Agentur - zuerst Delhi, anschließend Mailand. Doch dann wird er dazu verleitet, seine Auftraggeber zu verraten und für eine Stadt zu arbeiten, die menschlich werden will.

Ajay muss eine seltene Technologie von einem längst verstorbenen Wetware-Experten stehlen, einem modernen Frankenstein namens Snow, einem Menschen, der jetzt in einer KI lebt. Ein Mensch, dem es nach einem neuen Spielzeug für seine künstlich hergestellte Tochter verlangt...

 

Hotwire aus der Feder des britischen Science-Fiction-Autors Simon Ings – erstmals im Jahr 1995 veröffentlicht - ist ein Hochgeschwindigkeits-Cyberpunk-Thriller, der in einer Welt voll denkender Städte, rücksichtsloser Großkonzerne und durchgeknallter orbitaler KIs spielt. Ein Roman, der die bahnbrechenden Werke von William Gibson mit der neuen Generation von Schriftstellern wie Charles Stross und Hannu Rajaniemi verbindet.

Der Autor

 

 

Simon Ings, Jahrgang 1965.

Simon Ings ist ein britischer Science-Fiction-Schriftsteller, dessen Werk am ehesten dem literarischen Cyberpunk zuzuordnen ist.

Simon Ings besuchte das Churcher's College in Petersfield sowie das King's College und das Birbeck College (beide in London).

Sein erster Roman, Hot Head, erschien im Jahr 1992. Es folgten City Of The Iron Fish (1994), Hotwire (1995), Headlong (1999), Painkillers (2000), The Weight Of Numbers (2006; dt. als Die Unerbittliche Pünktlichkeit des Zufalls, 2007)), Dead Water (2010), Wolves (2014) und The Smoke (2018). 

Sein Sachbuch The Eye: A Natural History (2007; dt. als Das Auge - Meisterstück der Evolution, 2008) beschäftigt sich mit der Erforschung des Auges vor dem Hintergrund chemischer, physikalischer und biologischer Aspekte. 

Darüber hinaus verfasste Simon Ings zahlreiche Artikel für Zeitschriften und Magazine und eine ganze Reihe von Erzählungen/Kurzgeschichten, darunter auch die in Zusammenarbeit mit M. John Harrison entstandenen Texte The Dead (1992) und The Rio Brain (2003) sowie die mit Charles Stross verfassten Kurzgeschichten Something Sweet (1991) und Tolkowsky's Cut (1993).   

HOTWIRE

 

 

 

   

Dieses Buch widme ich Jane Renée

- in Liebe

 

 

 

»Manche Seele wird man nie entdecken, es sei denn,

dass man sie zuvor erfinde.«

 

- Friedrich Wilhelm Nietzsche: Also sprach Zarathustra -  Erster Teil 

 

 

 

 

 

 

 

  Erster Teil: HOTWIRE

 

 

Shama ging Muscheln suchen.

Der alte Mann und seine Enkel zogen sich die Decke über die Schultern und schauten ihr dabei zu. Das Tiefblau ihres Kleides entsprach der Farbe des Himmels. Sie folgte einer zurückweichenden Welle nach vorn und pflückte eine weiße Raute heraus, die größer war als ihre Hand. Der alte Mann untersuchte sie. Er sagte: »Das ist die Schale eines Tintenfischs.« Sie ging wieder weg und fand noch drei weitere.

Der Junge, ihr Bruder, sagte: »Letzte Woche haben wir ein Entenskelett gefunden, auf dem Feld hinter unserem Haus. Überall lagen Federn rum, aber das Skelett war ganz sauber abgefressen.«

Der alte Mann sagte nichts.

»Sieh dir den Mond an!« Der Junge zeigte in Richtung Wasser.

Das Meer war ruhig wie ein Swimmingpool, tief wie der Himmel über ihnen. Es war so still, und die Spiegelungen waren so klar, dass man das Gesicht des Mondes zu erkennen vermochte.

»Gibt es einen Mann im Mond?«, sagte der Junge.

»Jetzt nicht mehr.« Der alte Mann lächelte. »Deine Oma und ich haben ihm vor Jahren ein Messer in den Bauch gerammt.«

(Später, zu Hause, zur Schlafenszeit, wird der alte Mann in das Zimmer des Jungen kommen und ihm gute Nacht sagen. Er wird sich auf das Bett des Jungen setzen und den Kopf senken, damit der Junge mit den Fingern durch sein schütteres Haar wühlen kann, bis er die saubere, dreieckige Narbe findet. 

»Was befindet sich darin?«

Und der alte Mann wird sagen: »Spinnweben und Schätze, halb gegessene Kekse und Staub.«)

Shama kam zurück, die Taschen voller Muscheln.

Der alte Mann ging mit seinen Enkeln zum Auto. Sie fuhren durch die Ausläufer des Zentralgebirges nach Hause. Während der Fahrt bergauf schaute der Junge aus dem Heckfenster: Die Reisfelder und die Sümpfe von Caroni glitzerten im Mondlicht.

Er sah nach oben.

Der Mond war nun weniger hell, und dünne Wolken verschleierten ihn. Der Dunst bildete einen Hof: das Weiße eines Auges. Der Mond war die glänzende Pupille.

 

Es vergingen sechs Jahre.

Die Morgenfähre aus Kuba glitt auf den Strand von Port Of Spain, aus ihren Propellern flossen die Hitzewirbel in glasigen, wie vom Sturm gepeitschten Strähnen. Zwei Männer in wattierten Anzugsjacken und engen Hosen stiegen aus. Seltsame Gangsternostalgie: mattschwarze Sportsonnenbrillen, Halbgamaschen, alles. Nachts stolzierten sie herausfordernd zwischen den Negern von Arima umher. Tagsüber drückten sie sich um die rosa und weißen Häuser von San Fernando, standen an Straßenecken, untersuchten mit einem selbstgebauten, in einer Aktentasche versteckten Spektrometer Veteranen. Sie wurden am helllichten Tag überfallen.

Schließlich verstanden sie und zogen ostwärts nach Rio Claro, wo die Geier von einem apokalyptischen Betongemäuer zum nächsten taumeln - Wohnraum für die Armen (mit Gemeinschaftstoiletten!) - und in jedem Schattenfleck ein runzliges Kind sitzt und aus alten Brettern Spielzeugwaffen schnitzt, schweigend, ernst und geduldig wie ein alter Mann.

Den Huren dort zahlten sie Geld für vielversprechende Kontakte. Eines Abends fuhr ein Mädchen sie sogar bis vor die Tür. Jemand schuldete ihr Geld: Sie dachte, wenn sie mit zwei superschicken Kubanern auftauchte, könnte dies ihre Position verbessern.

Aber sie drehte zu leicht durch. »Die braucht ihr nicht«, sagte sie, als sie die Waffen sah. »Bestimmt nicht. Himmel.« Sie stieg aus.

Eine wacklige Planke überbrückte die Gosse. Das Mädchen führte die Männer über einen dunklen ungepflasterten Weg zur Tür. Durch das Fenster sahen sie sechs junge Schwarze auf Kissen, zerbrochenen Sofas und dem Fußboden herumsitzen. Sie trugen Pullover von unbestimmbarer, verblichener Farbe und Jeans, die an den Oberschenkeln aufgerissen waren.

Die Tür stand offen. Das Mädchen ging geradewegs hinein. Die Männer drinnen hörten sie, blickten kurz aus dem Fenster, zogen sich unbesorgt und entspannt wieder in sich zurück: offenes Haus.

Das Zimmer wurde von zwei nackten Glühbirnen erhellt. Als Ersatz für Lampenschirme hatten sie Stoff an die Decke genagelt, und das Licht fiel auf unvorhersehbare Weise durch die Falten. Der Stoff war dick und cremefarben, wie Malerleinwand. Sie hatten ihn mit allem bemalt, was gerade zur Hand war. Kurkumapaste. Rote Beete. Altöl. Hie und da hatten sie Muster in den Stoff geschnitten. Das Licht strömte aus Blumen, grotesken Gesichtern und Gitarren.

An der Wand gegenüber hing ein abgerissener Streifen Plakatwand - Teil einer Kosmetikreklame. Die Augen des Models, riesige, geschminkte, gleichgültige Augen, starrten durch die Neuankömmlinge hindurch.

»Nehmt Platz«, sagte einer der Jungen.

Einen Fußbodenbelag gab es nicht. Die Möbel - eine Matratze, ein Tisch, ein paar abgenutzte Holzstühle und ein Sofa mit zerrissenem Bezug - stammten von Müllhalden. Es gab einen gusseisernen Ofen, dessen Deckplatte dick mit Asche und mit abgebrannten Streichhölzern bedeckt war; er war über einen Blechschlauch mit dem Kaminaufsatz verbunden. Die Männer saßen im Kreis um den Ofen herum und rauchten Kette. Sie blickten nicht auf.

Nervös betrachteten die Kubaner ihre Gastgeber. Sie kamen sich auffällig und albern vor. Ihre gebügelten Anzüge glichen Uniform, und ihre Schuhe waren zu neu. Der größere räusperte sich. »Irgendjemand hier im Krieg gewesen?«

Die jungen Männer schüttelten den Kopf und lächelten. Kein Blickkontakt. Ein schlechtes Zeichen.

»Augen, Prothesen, alles.« Der Kleinere ergänzte hilfreich: »Spitzenpreise. Entnahme bequem bei Ihnen zu Hause. MacLloyds Versicherung.«

Jemand hustete Spucke auf den Ofen. Sie zischte. Die jungen Männer lächelten sich verstohlen zu.

Der größere Kubaner murmelte etwas Gemeines in einer fremden Sprache. »Wir haben auch Ze-Be Fünfzehn. Sieben Gramm, Laborqualität, für eine Auskunft, die uns weiterhilft.«

Die jungen Männer hörten auf zu lächeln. Sie sahen ihre Gäste an. »Wir kennen da einen Mann«, sagte der, der ihnen am nächsten war. Er drehte sich zu dem jüngsten in der Gruppe um. »Aber ich weiß nicht, ob wir euch davon erzählen wollen.«

»Auf keinen Fall.« Der Junge starrte die anderen an, als hätten sie ihn schon verraten. »Er... Himmel, was denkt ihr euch eigentlich? Er ist nicht zu verkaufen.«

»Ein Verwandter?«, fragte der große Kubaner. »Ich versichere Ihnen...«

»Er ist ungeeignet, das ist alles.«

»Entschuldigen Sie, aber das können wir selbst beurteilen. Unsere Diagnostika sind die besten...«

»Wir haben gültige Genehmigungen, sämtliche Papiere...!«

»Einen tragbaren Autoklaven...!«

»Stets geschärfte Skalpelle!«

Ein unbehagliches Schweigen senkte sich über die Gruppe.

Der größere Mann wühlte in seiner Tasche. »Ihr Jungs wisst offenbar, was ich zu bieten habe. Hier, das sind vierzehn Gramm ZB15, wenn ihr uns vorstellt...«

»Er ist zu alt!«, sagte der Junge.

»Wie alt?«, wollte der kleinere Mann wissen. »Chilefeldzug?«

»Teufel, nein«, sagte das Mädchen von der offenen Tür her. Sie war mit Flaschenbier auf einem Tablett zurückgekommen. »Moonwolf

Die Käufer drehten sich um und starrten erst sie an, dann den Jungen, dann sich.

»Du blöde großmäulige Hexe«, murmelte der Junge und wurde rot.

»Hallo, Ajay.« Sie balancierte das Tablett aus und rieb Daumen und Finger aneinander: Wo ist das Geld? 

Ajay blickte auf seine Füße. Er schüttelte den Kopf.

Seine Freunde rutschten verlegen hin und her.

Die Hure lächelte grausam. »Der alte Furz hat im Tranquilitatis Schienengewehre plattgemacht, jedenfalls wenn man glaubt, was sein Enkel erzählt.«

 

Der alte Mann lebte in einem kunstvollen, jedoch baufälligen zweistöckigen Holzhaus aus lauter Jalousien und Laubsäge-Arbeiten.

Das Haus war für einen Gutsverwalter gebaut worden. Damals konnte man hier auf seiner Veranda unter einer Leinwandmarquise stehen und die wellenförmigen Lichtmuster unten auf der diesjährigen Kakaoernte beobachten. Jetzt wurden die alten Plantagenwege nur noch von einzelnen Immortellen-Bäumen markiert, und die Zuckerrohrfelder waren längst durch die Ölraffinerien von Pointe-à-Pierre überrollt worden.

In einem alten Tarnzelt aus Armeebeständen warteten sie Seite an Seite auf den Einbruch der Nacht - großer Kubaner, kleiner Kubaner -, und sie bewegten sich keinen Zentimeter. Sie flüsterten miteinander, niedergeschlagen, gereizt. Gegen zehn gingen im Haus nacheinander die Lichter aus.

Sie zogen sich Nachtbrillen über und drangen mit Hilfe der Schlüsselkarte des Jungen ins Haus ein.

Die Wände waren mit chinesischen Wandbehängen geschmückt. Vor dem Kamin lag ein Tigerfell. In der Zimmermitte stand ein Esstisch aus Mahagoni, an dem zwanzig Leute Platz hatten. Kommoden und Bücherschränke säumten die Wände. Das Ergebnis war eigenartig und enttäuschend: Das Zimmer wirkte überhaupt nicht bewohnt, sondern eher wie eine Abstellkammer.

Sie schlichen in den oberen Stock. Der alte Mann lag im Bett. Sie spritzten ihm etwas im Schlaf und rasierten ihm mit einem schnurlosen Haarschneider den Schädel. Sie fanden die Narbe.

»Oh, Jesus, Mann.«

»Mann, von denen hab' ich mal gelesen!«

»Ja?« Der größere Kubaner - der auch der ältere war - trat einen Schritt zurück. »Weißt du was, ich hab' mal gehört, die sind vermint.«

»Ach, Quatsch, Gabby«, beschwerte sich der Kleine. »Über techniq weißt du doch einen Scheißdreck.« Er tastete zaghaft mit den Fingern die Narbe entlang. Seine Hand zitterte.

Gabriel lachte. Die jungen Leute waren so leicht zu verarschen.

»Öffne die Kühlbox«, murmelte der Jüngere. Aus einer Innentasche seines Jacketts zog er einen Holzbeitel hervor. Das Werkzeug war noch in Luftpolsterfolie verpackt. Er hatte es erst an diesem Morgen in einem Eisenwarenladen gestohlen. Er tastete die Narbe ab, als wüsste er genau, was er tat, und drückte dem alten Mann dann das scharfe Ende des Beitels an den Schädel. »Hol mir ein Buch oder so was. Schwer, nicht zu hart.«

Gabriel bückte sich und hob einen Wanderstiefel auf. »Geht's damit, Raul?«

Raul schlug mit dem Stiefelabsatz auf den Beitel. Die Kopfhaut des alten Mannes riss. Blut floss ins Kopfkissen.

»Nein, was Schwereres. So was wie einen Schläger.«

Gabriel entdeckte einen Holzkasten auf dem Fensterbrett. »Sieh mal«, sagte er begeistert. »Wenn man an den Stiften dreht, ändert sich das Datum in den kleinen Fenstern.«

Raul wog den Kasten in der Hand. Er schlug zu. Eine Vene platzte. Dunkle Flüssigkeit tröpfelte über die Scheide, lief durch die Haare des Alten und tränkte das Bettzeug darunter.

»Oh, Scheiße

»Soll ich unten nachsehen?«

»Ja. Nein. Warte.« Raul rührte mit dem Beitel in der Wunde. »Da hakt irgendwas.« Er hebelte an der Öffnung herum. Etwas knackte. Ein Knochensplitter spießte durch die Haut oberhalb der Eintrittswunde. Raul fasste ihn und zog ihn heraus, wobei er noch eine Ader zerriss. Diesmal war das Blut heller. Er ließ den Beitel los und wischte die Hände am Schlafanzug des Mannes ab. Blut lief den Beitelschaft hinunter und machte den Griff nass. Fluchend hob er den Beitel hoch und wischte ihn so gut wie möglich ab. Er drückte die Schneide wieder in die Wunde, etwas mehr links. Sie kratzte in dem Loch herum, sprang heraus und riss eine gezackte Wunde quer übers Schädeldach. »So wird das nichts«, murmelte Raul. Er stieg aufs Bett und stützte sich mit weit gespreizten Knien über dem Kopf des Alten ab. »Jetzt. Halt ihn fest.«

Gabriel schob die Jackett-Ärmel bis zu den Ellbogen hoch und beugte sich über das Bett. Er zog die Kissen aus dem Weg und drückte den Kopf des Alten in die Matratze.

Raul stieß den Beitel hinein. Seine Hände rutschten immer wieder am Schaft ab.

»Bist du sicher, dass du die richtige Stelle hast?«

Wie um die Frage zu beantworten, glitt der Beitel zentimetertief in die Schädeldecke des Alten. Überrascht ließ Raul los.

»Du Blödmann.«

»Schnauze, Gabby«, stieß Raul hervor. »Schnauze. Halt seinen Kopf fest.« Er drückte den Beitel nach unten. Gabriels Finger rutschten an der blutigen Haut ab, und sein Griff lockerte sich. »Festhalten, habe ich gesagt.«

»Du machst ihn noch kaputt.«

»Dann geh aus dem Weg. Lass mich das allein machen.« Raul schwang die Klinge.

»Hör auf!«, protestierte der Ältere. »Du schlägst alles zu Brei. Ich halte ihn fest, du hebelst. Vorsichtig.« Er fasste dem alten Mann in den Mund und verhakte die Finger an seinem Gaumen. »Okay. Fang ganz sanft an.«

Raul zog. Nichts gab nach.

»Warte.« Gabriel schob dem Mann auch die andere Hand in den Mund. Dabei dehnte er die Wangen so weit, dass die Mundwinkel einrissen und Blut in die Ohren lief. Jetzt fand Gabriel auch am Unterkiefer Halt, und er benutzte ihn wie einen Hebel. »Weiter.«

Sie drückten in entgegengesetzte Richtungen. Knorpel krachte und riss. Der Kiefer lockerte sich.

»Da!«

Gabriel nahm die Hände weg.

»Wir haben's.« Raul bewegte den Beitel. Ein dreieckiges Schädelsegment sprang vor. Die Haut darüber spannte sich wie elastischer Stoff. Raul ließ den Beitel los. Die Haut sprang in ihre alte Form zurück und ließ den Verschluss zuschnappen.

»Schneid' die Haut auf.«

Raul zerschnitt die Kopfhaut des Alten und versuchte es wieder. Die Klappe lag jetzt frei. Raul schob die Finger hinein und drückte sie von innen hoch. Sie war stark verbeult. Raul versuchte es mit Gewalt. Ein Scharnier brach. Rosa Saft spritzte ihm ins Gesicht. Er riss den Deckel ab und warf ihn aufs Bett. Gabriel hob ihn auf und untersuchte ihn. Auf der Innenfläche schimmerte unter einer Schleimschicht aus grünlicher Gallerte ein Klebeschild in Chrom und Gold: HOTOL.

Gabriel steckte den Fund ein und stieg aufs Bett. Aufmerksam sah er zu, wie Raul gierig in der Gallerte grub.

Der Hohlraum war enttäuschend klein.

Und er war leer.

Gabriel und Raul starrten in das Loch.

Raul spuckte aus. »Der Hurensohn ist schon ausgeräumt!«

Gabriel räusperte sich. »Raul«, fing er vorsichtig an, »dieser Schleim. Der war doch nur ein Füllstoff, oder? Es war kein...«

Raul schüttelte übellaunig den Kopf. »Datafat ist cremig weiß. Ganz knubbelig, wie das Weiche bei einer Muschel. Und heiß: schneller Stoffwechsel. Jedenfalls ist es kein scheißgrüner Pudding.« Er fuhr mit dem Finger über die Rückwand des Hohlraums. Die Beine des Alten zuckten. »He, sieh dir das an.« Die Rückwand des Hohlraums war strukturiert. Sie sah haargenau wie Luftpolsterfolie aus. Raul pfiff bewundernd. »Stell' die Kühlbox hier rauf.«

»Was?«

»Das Interface ist noch intakt.«

»Für mich sieht das wie Luftpolsterfolie aus.« Er holte die Box trotzdem.

»Plazentale Datenschnittstelle«, deklamierte Raul. »Die vernetzt Datafat mit dem menschlichen ZNS. Höllisch empfindlich. Hast du ein Taschenmesser?«

Gabriel suchte die schärfste Klinge an seinem Schweizer Armeemesser aus.

»Bravo. Setz dich auf ihn.«

»Hä? Wieso?«

»Nun setz dich schon.«

Gabriel kletterte auf die zitternden Hüften des Mannes, setzte sich auf ihn.

»Okay.« Raul fing an zu schneiden.

Der alte Mann gab einen schrecklichen Laut von sich, laut und primitiv wie Pferdewiehern, überhaupt nicht menschlich.

Raul schnitt weiter.

Der alte Mann begann am ganzen Körper zu zittern. Er schnaubte und gurgelte: ein furchtbares Geräusch, wie wenn Papier in einem defekten Müllvernichter zerfetzt wird.

Gabriel fühlte, wie ihm etwas Heißes und Nasses in den Schritt sickerte. »Oh, Scheiße.« Er sprang vom Bett und zerrte an seiner Hose.

Eine moschusartige Süße erfüllte den Raum. Der alte Mann bog den Rücken, bis er aussah, als würde er durchbrechen, trat und schlug und hüpfte über das Bett, spritzte Blut auf die Kopfleiste, die Wand, Rauls Gesicht...

»Halt ihn fest, verdammt noch mal!«, schrie Raul.

Der Arm des Alten schoss vor und stieß die Kühlbox vom Bett. Gabriel sprang hinterher, verfehlte sie. Sie fiel auf den Kachelfußboden. Glas splitterte.

»Da!«

Gabriel stand auf und sah hin.

Raul stand auf der anderen Bettseite und hielt grinsend einen blutigen Lappen hoch.

»Das ist es?«

»Das ist es.«

Unterdessen verkrampfte sich der Körper des Alten, erbebte – und lag schließlich still.

Gabriel hob die Kühlbox auf und untersuchte das Innere. »Da sind nur die Fächer rausgebrochen«, sagte er. Er schüttelte das Glas heraus und zeigte auf das Kontrollfeld im Deckel. »Siehst du, alle kleinen Lichter sind grün.«

»Pack das ein.« Raul reichte ihm den klebrigen Fetzen, dann sackte er zu Boden und lehnte sich mit dem Rücken ans Bett. »Junge, bin ich fertig.«

Gabriel verstaute den Fetzen in patentierter Spezialverpackung.

Scheinwerferlicht wirbelte über die Zimmerdecke und blendete sie. Sie fluchten, rissen sich die Nachtbrillen ab, rannten zum Fenster.

»Das ist der kleine Scheißer.«

»Nein«, sagte Gabriel. »Der hat kein Auto.«

Ein weißer Fiat hielt vor dem Haus.

»Er ist es!«

»Ist er nicht - da, zufrieden?«

Ein Mädchen stieg aus. Langes gespraytes Haar. Langer Hals. Lange Beine. Ihre Haut war schwarz wie die Nacht. Sie ging zum Haus und verschwand unter dem Verandadach. Die Männer hörten, wie unten die Haustür geöffnet wurde.

»Was machen wir jetzt?«

»Runtergehen und Hallo sagen.«

»Drehst du jetzt durch, Gab?«

»Kann schon sein.«

Raul hatte Gabriel noch nie grinsen sehen. Es sah nicht nett aus. »Lass sein, Gab«, sagte er. »Ich bin müde. Ich will nur noch weg hier.«

»Gib mir den Beitel.«

»Oh, um Gottes willen...«

»Den Beitel.«

»Auf dem Bett.«

»Ich bleib' nicht lange«, versprach Gabriel von der offenen Tür her. Leise lachte er.

Raul seufzte: Er hatte das alles schon mal erlebt.

Er sah sich nach etwas um, das er sich in die Ohren stopfen konnte.

 

Ajay zog nach Port Of Spain, um nah bei seiner Schwester sein zu können. Er arbeitete in der Nachtschicht, schlief von acht bis um eins und verbrachte die Nachmittage in einem alten und abgewrackten Ecklokal, das nicht weit vom Krankenhaus entfernt war.

Chumi's Eats war vor Jahren während der britischen Besatzung gebaut worden. Damals hatte es sich als Lyons-Teestube ausgegeben. Jetzt lag es in windstillen Gewässern, durch eine Reihe von Altglascontainern von der Straße abgeschnitten, und blätterte in der Hitze vor sich hin. Auf einem Schild an der Tür stand, sorgfältig mit rotem Filzstift geschrieben: »Probieren Sie unser Essen, und Sie wissen Bescheid.« Tatsächlich machten die Kunden hier jedoch nur sehr schäbige Entdeckungen: bleichgelbe Melamintische, ein Fußboden, in dem die Hälfte der Fliesen fehlte und die andere Hälfte sich hinterhältig nach oben bog und Fußangeln bildete, und Fettflecke an den Wänden.

Das Lokal gehörte einer dicken Frau, mit deren Augen etwas nicht stimmte. Sie sahen aus, als wären sie nie ordentlich geliert. Die Frau arbeitete von sieben bis sieben, schweigend und ohne Hilfe, sie schlurfte in ausgelatschten Hausschuhen mit Ketchup-Flecken über den Fußboden und tischte stumm und ohne ein Lächeln unappetitlich fettiges, gebratenes Essen auf.

Er aß dort nie etwas, trank aber endlos viele Tassen indischen Tees. Kardamom, Nelken, eine Menge Zucker.

Die Ärzte waren allesamt Einheimische; wie man sich als Arzt verhält, hatten sie aus Vorabendserien gelernt. »Sie hat Glück, dass sie noch lebt«, sagten sie, und: »Es besteht eine winzige Chance, dass sie es schafft.« Aber Shama war dem Tod noch nie so nahe gewesen, und es war auch kein Glück für sie, dass sie noch lebte. Manchmal ist der Tod eine Wohltat - etwas, das ihm auch seine Arbeit häufig klarmachte.

Shama klagte ihn weder an, noch vergab sie ihm. Ihre Waffe war das Schweigen, die einzige Waffe, die sie noch besaß. All ihre natürlichen Waffen waren alle dauerhaft beschädigt: die Hände, die Zunge, sogar ihr Geschlecht.

Von vier bis um zwölf arbeitete er als Nachtpolizist auf Streife in den Industriegebieten von Port Of Spain. Die Schicht war nicht lang, aber bis er die sechsmonatige Probezeit hinter sich hatte, erlaubte ihm der Revierleiter nicht mehr. Die Arbeit gefiel ihm nicht, war aber gut bezahlt, und er brauchte das Geld für seine Schwester. Finger kosteten fünftausend Dollar das Stück nur für die techniq. Daumen das Doppelte. Shama brauchte auch sonst noch vieles, das ganze Unternehmen war unglaublich kostspielig.

Er hatte alles durchgerechnet. Er ließ sich Prospekte von den führenden Kliniken in Europa schicken und notierte Techniken und Preise in einem dünnen, fest eingebundenen blauen Notizbuch, das er unter dem Bett aufbewahrte. Selbst wenn er alle Prüfungen auf Anhieb bestand und ihm keine schweren Krankheiten oder Rückschläge in der Karriere dazwischenkamen, würde er bei seinem derzeitigen Job fast sein ganzes Arbeitsleben damit verbringen, für die Wiederherstellung seiner Schwester zu bezahlen.

Er war nicht sehr beliebt: Es befand sich ein Abgrund in ihm, der seinen Kollegen Unbehagen verursachte. Wer so verletzt worden war, bei dem wusste man nie, was dabei in seinem Innern passierte. Er hatte nicht das forsche Auftreten seiner Gefährten. Wenn er seine Handfeuerwaffe ins Halfter knöpfte, wusste man, dass er es tat, weil er sie brauchte. Es mangelte ihm an Selbstvertrauen, und er neigte zu albernen Wutausbrüchen.

Einen Freund hatte er jedoch, Kayam, ein alter Streifenpolizist, der vor Jahren wegen Trunkenheit vom Rang eines Sergeants degradiert worden war und nur deshalb noch beschäftigt wurde, weil der Revierleiter ihn noch von früher kannte. Kayam arbeitete am Vormittag. Sie trafen sich zum Frühstück. Ihre Gespräche waren bestenfalls unverbindlich. Eigentlich unterhielten sie sich überhaupt nicht, sondern sprachen einfach alles aus, was ihnen gerade in den Sinn kam.

»Ich habe einen Penner gesehen«, sagte Ajay zum Beispiel, »der hat eingelegte Zwiebeln gegessen. Er goss den Essig durch die Finger aus, und das Zeug floss ihm über die ganze Hose - alles nur, damit er an die Zwiebeln unten im Glas kam.« Und Kayam antwortete darauf: »Gestern war ein frischer Scheißhaufen auf dem Schrein hinter der Fleischerei Ecke Binglai und Circuit.« Oder auch: »Das Obst in dem Verkaufsautomaten vor meinem Büro ist alt. Ich rieche es schon bis zu meinem Schreibtisch.«

Das Polizeipräsidium der Stadt war in einem anonymen weißen Steingebäude untergebracht, dessen Funktion nur an den zwei geparkten Panzerfahrzeugen neben dem breiten Torbogen zu erkennen war. Die Wagen waren in den alten McKnight-Kauffer-Mustern der britischen Armee getarnt. Die Lackierung war neu; die Muster hatte man aus Büchern kopiert.

Ajay hatte den Eindruck, dass nichts in Trinidad mehr in Trinidad entstand, sondern voll ausgebildet von anderswo herkam. Meist aus dem Fernsehen. Das Büro zum Beispiel. Was während der Kolonialzeit einmal als Schreibzentrale gedient hatte, war jetzt nichts weiter als der Archetyp oder auch die Parodie der Kulissen für amerikanische Krimiserien. Aber die Prostituierten mit ihren kessen Sprüchen und die gelangweilten, Kette rauchenden Männer in Zivil, mit denen sie Beleidigungen und kleine Päckchen ZB15 austauschten, waren allesamt echt. Und der kleine Spitzel, der im Schneidersitz auf einer Bank in der Ecke hockte, strömte den Geruch echter Angst aus. Ab und zu gab es hier sogar einen Detektiv mit Dreitagebart, der schlafend an seinem Schreibtisch saß, den Kopf auf Haufen aus beigen Aktenordnern, überquellenden Aschenbechern und leeren Kaffeetassen aus Styropor gebettet. Er wurde Cuffy genannt und verdiente fünfzehntausend Dollar im Jahr. Ajay hatte ihn noch nie wach erlebt. Es gab einen Wasserspender mit einem Stapel Einweg-Papierkegel daneben und sogar ein Büro mit Glaswänden, in dem der Revierleiter mit geschlossenen Augen über seine nächsten Schritte in irgendeinem verwickelten Fall nachdachte. Hinter dem Schreibtisch des Chefs hing eine Wandkarte der Inseln.

Eines Morgens rief er Ajay in sein Büro.

»Officer Seebaran, setzen Sie sich.« Er mochte Ajay ebenfalls nicht. Es wurmte ihn, dass Ajay der Klügste von den Neuen war. Aber dieses Problem trug seine Lösung gewissermaßen schon in sich. Auf die Art konnte man Ajay loswerden.

»Ich werde Sie auf einen Lehrgang schicken«, sagte er. »Nach Kuba.«

 

Die Reisekosten musste Ajay selbst bezahlen. Fliegen war teuer, daher nahm er die Fähre. Er saß an Deck und beobachtete, wie sein Heimatland in der Abenddämmerung versank. Jetzt beim Wegfahren stellte er überrascht fest, dass er die Dinge wieder mit klarem Blick betrachtete, so wie er sie als Kind angeschaut hatte.

Es lag eine merkwürdige Spannung über allem. Das Abendlicht ließ das Land wie überschattet erscheinen, als würde gleich etwas Aufregendes und Dramatisches geschehen. Dann war da noch die Flitze, die ungewöhnlich klare Luft, die Art, wie sich die Augen an die Größe der Hügel gewöhnten, nur um dahinter noch mehr Hügel zu erblicken, und über alldem der Mondaufgang...

Als die Insel verschwand, fiel die Stimmung von ihm ab. Er wollte sie aber nicht verlieren, deshalb machte er den üblichen Fehler: eine kleine Porzellanpfeife ZB15.

Er rauchte nie so viel, dass er die Kontrolle über seine Halluzinationen verlor, was die meisten Leute taten. Im Gegensatz zu den meisten Leuten hatte er nämlich etwas, über das zu halluzinieren sich lohnte.

Er schaute zum Mond hinauf und träumte vom Krieg seines Großvaters.

Irgendwann waren VR, P-Casting und alles andere auch in Trinidad angekommen, aber er hatte sich nie damit befasst, es war zu teuer. Deshalb stammten all seine Bilder aus dem Fernsehen. Altertümliche Telemetrie bei niedriger Bandbreite. Die Schreie und Flüche längst gestorbener Raumfahrer. Der Rest kam von seinem Großvater. Sein Großvater hatte ihm beschrieben, wie die Scanner seines Schiffs Moonwolfs

Knochen unter der dünnen Kruste des Mare Imbrium erfasst hatten. Die Schlacht rückte näher. Sein Blickfeld war in Fadenkreuze gebettet. Moonwolfs unterirdische Fisteln und Ganglien glühten vielfarbig hinter seinen Augen. Er stürzte abwärts, und das Abbild des Mondes schwoll an; dann verschwand es. Faden-Diagramme füllten sein Blickfeld, sie pulsierten und -

verschoben sich.

Entsetzt beobachtete er, wie das Mondfleisch aufriss und neue und schreckliche Waffen freilegte...

In Kuba erfuhr er alles über VR, P-Casting und so weiter. Sie brachten ihm die Grundbegriffe von Datafat, Prothesen, Organschmuggel, Wetware-Diebstahl bei. Nach einem Jahr setzten sie ihn als Undercover- Agent in den Straßen der Hauptstadt aus.

Havanna war nach seinen schäbigen Glanzzeiten von der Geschichte homogenisiert worden. Es war ein weitläufiges, undifferenziertes Gebilde aus Leichtindustrie und Wohnhausreihen, die Sorte Stadt, in der man gierig einer über die Straße gewehten Plastiktüte nachblickt und sich die Farben einzuprägen versucht. Über den Hauptstraßen waren die Flaggen von Ländern aufgezogen, von denen es die Hälfte nicht mehr gab. Zwischen den Flaggen hingen geprägte Plastikformen, die mit Leuchtfarbe angemalt waren und Blicke durch längst abgestorbene Dschungel darstellen sollten. Sie waren ein Versprechen; das schlecht ausgedachte, unzulängliche Versprechen, hinter den profanen Straßen läge ein besseres Land verborgen.

Havanna war eine Stadt, die sich gegen ihre eigene Unzulänglichkeit zur Wehr setzte, so wie ein Alzheimer-Patient wütend gegen eine Tür tritt, weil er vergessen hatte, wie man sie öffnet. Sie suchte verzweifelt nach einem Ort, der besser war als sie selbst. Oder wenn das nicht half, wollte sie wenigstens vergessen, was aus ihr geworden war. Kein Fluchtweg, der noch nicht ausprobiert worden war. Die Stadt hatte all die üblichen Formen der Realitätsflucht hervorgebracht: Augenpuppen, Hypertext-Kassetten, pornographische Spiele und Spielzeug, Ausstellungsräume mit gebrauchtem REALisier-Bedarf. Für die Armen gab es Fernseh-Reparaturwerkstätten. Davon gab es so viele, dass Ajay sich fragte, was hier mit den Fernsehern gemacht wurde. Er stellte sich vor, dass die Kinder von Havanna sich abreagierten, indem sie mit tiefgefrorenen Fernsehmahlzeiten abwechselnd auf die flimmernden Schirme einschlugen, weil sie hofften, dann hindurchsteigen zu können.

Ajay befasste sich mit den eher ungewöhnlichen Fluchtwegen. Dazu gehörte, dass er REALisier-Salons besuchte und zusah, wie Pflegerinnen in unzulänglichen Uniformen und zu viel Make-up ihre abgestumpften Kunden bei abgeschalteten Sicherungen in maßgefertige REALisier-Zellen schnallten. Der ganze Vorgang war so seltsam, so methodisch, so wohlüberlegt, dass ihm nie ganz bewusst wurde, wie entsetzlich er war. Am stärksten blieb ihm der Lärm in Erinnerung. Obszönes Gekreische; Affen auf cybernetischen Folterbänken.

Seine Nachforschungen führten ihn in die reicheren Viertel der Stadt, wo sich Gelüste, Obsessionen und Träume gewinnbringend verwoben. Hier bewegte sich niemand auch nur einen Zentimeter weit, ohne an einem Walkman, Talkman, Thinkman herumzufingern. Für diese Männer und Frauen waren die inneren Landschaften ihrer Träume wichtiger als alle Belange der Außenwelt, was merkwürdig war, weil Havanna zumindest in diesem schmalen Gitter von Straßen eine oberflächliche Schönheit besaß; die Fassaden waren von Neonlampen beleuchtet - in Kobaltblau und Blutrosen-Rot - und die Fenster voller Huren, teils menschlich, teils nur Puppen, die angemalt waren, als kämen sie von einem anderen Planeten, und bei denen unter der spärlichen Spitze und den schwarzen Strapsen deutlich die Mechanik zu erkennen war; Verzierung auf einer Verzierung auf einer Verzierung.

Dieser Ort hatte überhaupt nichts Aufrichtiges an sich. Nichts Warmes. Nichts, das nicht idealisiert oder ironisiert war. Wenn man hier weinte, versammelten sich die Passanten um einen und benoteten die Darbietung.

Wann immer Ajays Ermittlungen Früchte trugen, brachte er seine Informanten ins Hauptquartier, ein leerstehendes Krankenhaus am Rand der Stadt. Es befriedigte ihn, sie dorthin mitzunehmen. Er genoß ihr Entsetzen. In diesen Korridoren, deren Wände vor kurzem mit billiger Farbe gestrichen worden waren und immer noch danach rochen, deren rot geflieste Böden mit den Reifenspuren von Wagen und Rollstühlen schraffiert waren, gab es nichts, das Hoffnung einflößte.

Dann war da das Wartezimmer. Es war eine Kapelle gewesen: An der Wand sah man noch die Umrisse der Stelle, an der ein Kruzifix gehangen hatte. Darunter stand ein Zahnarztstuhl, auf dem leere Süßkartoffel-Kisten aus Carmel übereinandergestapelt waren.

Nach einer Stunde oder so führte er seine Verdächtigen über eine mit toten Tauben bedeckte Treppe in den Keller. Die Zellen dort hatten dicke Wände, die Innenräume waren mit Schaumstoffresten und alten Teppichstreifen gefüllt. Es gab Steckdosen oben in den Wänden und zu viele Schalter. Die Wasserhähne und Eisenarmaturen waren entfernt worden, und die Wände hatte man weiß gestrichen; aber die Fußböden senkten sich merkbar zu kleinen offenen Abflüssen an den Rückwänden hin. Wer sich auch nur ein bisschen in der Geschichte auskannte, der erriet, zu welchem Zweck die Räume gebaut worden waren.

Ajay hatte jedoch wirksamere Verhörmethoden gelernt, und er wendete sie gekonnt an, so dass er bessere Resultate erzielte, als es mit noch so starkem Strom möglich gewesen wäre. Die Informationen, die er so erhielt, führten ihn in ein Haus in der Chilik Street.

Jetzt riskierte er alles. Seinen Ruf, seine Karriere, sein Gehalt.

Es war ein kalkuliertes Risiko. Er hatte es schon seit einiger Zeit mit eingerechnet; seit er wusste, dass er nach Havanna fahren würde.

Er rief an und meldete sich krank, schnallte seinen Dienstrevolver um und ging allein in die Chilik Street.

Das Haus schien verlassen. Die Fensterrahmen waren mit wenig Geschick weiß und rot gestrichen worden. Farbspuren überzogen die Scheiben wie Gitterstäbe. Der Blick nach innen wurde durch grüne Farbwirbel behindert, die jemand wie Tünche mit einem Lappen aufgetragen hatte. Die Fensterbänke waren verrottet, der Garten bis auf ein bisschen Unkraut kahl, der Weg mit weggeworfenem Bonbonpapier bestreut.

Die Tür ließ sich leicht öffnen. Die Zimmer waren leer und erstickten im Staub.

Ajay spähte ins Bad.

Sie lagen schon zu lange da und sahen überhaupt nicht mehr wie sie selbst aus. Hätte er sie nicht vor Jahren einmal leibhaftig gesehen - hätten ihre Gesichter sich nicht in sein Gedächtnis eingebrannt -, er hätte sie nicht identifizieren können. Sie waren nackt und so stark verwest, dass sich die Gurte ihrer selbstgebauten REALisier-Maschine tief in ihr Fleisch gegraben hatten. Die Maschine hatte sie in unmögliche Haltungen gebogen. Die Buchsen an ihren Genitalien und Mündern saßen noch richtig. Ob für ihren Tod ein mechanischer oder ein Programmdefekt verantwortlich war, hätte nur ein Gerichtsmediziner entscheiden können.

Seltsamerweise war er von dem Anblick tief enttäuscht. Er hatte sich die Männer immer wie Teufel vorgestellt, voll von blinder, unmenschlicher Leidenschaft. Jetzt erkannte er, dass ihr blutiges Geschäft ganz auf sie selbst gerichtet gewesen war. Sie hatten den Kopf seines Großvaters - und die Köpfe von wer weiß wie vielen anderen - nur deshalb aufgebrochen, damit sie selbst sich minderwertige VR leisten konnten!

REALisieren! Die gleiche Sorte billiger Weltflucht, die alle leicht verklemmten Angestellten benutzten, um ihre jämmerlichen, krankhaften Gelüste zu befriedigen. Seine Schwester war nicht von einem zerstörerischen Teufel in ihren endlosen Alptraum gestürzt worden, sondern durch die armseligen Begierden von Weltflüchtern, die zum Schluss von defekter Pornoware in Stücke gerissen worden waren!

Er verstümmelte sie trotzdem, weil er sich das eben versprochen hatte, aber nach ein oder zwei Minuten hörte er auf. Es roch zu übel. Außerdem hatte schon eine höhere Gewalt dafür gesorgt, dass sie auf angemessene Art vernichtet worden waren, und es wäre schade gewesen, da einzugreifen.

Aus diesem Grund meldete er auch nie, dass er die gesuchten Verbrecher Raul Sabuco und Gabriel Ulloa gefunden hatte. Ihre Leichen wurden erst entdeckt, als ein Nachbar sich über den Gestank beschwerte.

Ajay wurde auf die gleiche Weise befördert. Er wurde zum Exekutiv-Organ für die Kontrolle Technischer Vermehrung in Den Haag abgestellt und zur militärischen Ausbildung nach Yangon geschickt. Der Flug wurde ihm bezahlt. Seine Zulagen wurden genehmigt.

Er kaufte seiner Schwester eine neue Zunge.

Sein erster Auftrag führte ihn nach Indien. Die Lage dort war verhältnismäßig eindeutig. Pakistan war einmarschiert. Das Exekutiv-Organ wollte die moslemische Offensive aufhalten und so das in Europa gebaute Massiv von Delhi retten.

Massive - künstliche Intelligenzen, die so klug waren, dass sie als Regierungswerkzeuge benutzt wurden - waren für Pakistan ein Gräuel. Wie sollte man die Ängste der Moslems auch widerlegen? Sie hatten mit angesehen, wie die Massive in Berlin und Prag und Den Haag Europa in ihrem blitzenden Netz eingefangen hatten und jetzt alles beherrschten, unmenschliche Kindermädchen eines ehemals stolzen Staates. Natürlich gab es für die Invasion der Pakistani auch schlichtere Gründe - Wasser, Ackerland, hungrige Mäuler -, aber ihre feindselige Haltung den Massiven gegenüber war weit mehr als ein Vorwand. Um etwas bedrohliches Fremdartiges zu fürchten, muss man kein Moslem sein.

Die indischen Hindus dagegen hatten versucht, die Einführung von denkenden Städten zu humanisieren und so zu beherrschen. Der Subkontinent hatte bereits unter schriller malaysischer Technik zu leiden gehabt, als er als Prüfstand für die Reparatur der Ozonschicht gedient hatte. Später, als sein Regierungssystem - genau wie das anderer Staaten überall auf der Welt - zusammenbrach, fand er sich als Versuchsfeld und Zwischenträger für viele andere, mehr oder weniger nutzbringende neuartige Maschinerien wieder. Seine Bewohner waren den Anblick von mit Chrom verschmolzenem Fleisch ebenso gewöhnt wie jeder Europäer und hatten ihre Angst vor dem Neuen überwunden. Als der neugeborene Golem von Delhi zu sprechen begann, strömten sie aus Kaschmir und Tamil herbei und schmückten die Straßen der Stadt mit Blumen, glücklich darüber, dass ihre Götter auf gläsernen Teppichen über die Erde wandelten: von Rio bis nach Yangon.

Sein Diensteinsatz dauerte ein halbes Jahr. Eine Woche später rief Den Haag ihn aus dem Urlaub im Punjab zurück. Den Verantwortlichen gefiel seine Arbeit, seine effiziente Art, sich seinen Weg zu bahnen, die Tatsache, dass er sich durch nichts und niemanden hatte aufhalten lassen. Sie sahen in ihm das benötigte Werkzeug, deshalb holten sie ihn in ihr Kernstück und Zentrum und lehrten ihn etwas über sie selbst.

 

Gehirne, die über eine bestimmte Größe hinauswachsen, können unmöglich ein  Bewusstsein aufrechterhalten. Es gibt zu viele Störungen in ihnen, zu viel Feedback. Ein von solchen Gehirnen geschaffenes Bewusstsein zerfällt: Es wird wahnsinnig.

Auf diese Art war vor vielen Jahren auch Moonwolf zum Verbrecher geworden.

Begonnen hatte es mit einem selbstreplizierenden lunaren Erzverarbeitungsgerät. Als das Gerät groß und verrückt geworden war, erfand es sich selbst neu und wandte sich gegen die Welt, die es geboren hatte. So wie ein verwirrtes Kind vielleicht ein Ameisennest zerstören würde, indem es die Ameisen einzeln mit Silbernadeln aufspießt, so hatte Moonwolf jede Stadt, jeden Deich und jede Brücke der alten Welt zerschmettert, indem er mit wahnsinnigem Geschick Denkfelsen - weißglühendes Mond-Erz - auf sie lenkte. Bis man ihn aufhalten konnte, hatte er alle großen Städte der Erde ausradiert und damit den alten Zeiten und - so glaubte man - jedem Gedanken an Staaten und Hauptstädte ein Ende gesetzt.

Diese Annahme wurde für kurze Zeit - und insgeheim - durch Langley in West Virginia widerlegt.

Die Neurologin Snow, die während des Kriegs gegen Moonwolf Logik-Bomben entworfen hatte, entwickelte eine Methode, menschliche Persönlichkeiten künstlich zu speichern, sie zu replizieren und zu übertragen. Aufgrund ihres Könnens kam sie nach Langley, wo sie amerikanische Militär- und Geheimdiensteinrichtungen - nicht nur Computer und Verbindungsleitungen, sondern durch einen chirurgischen Prozess auch Menschen - über Hotwire zu einem Bewusstseinsmassiv verdrahtete.

Das Problem war nur, dass dieses Bewusstsein wenige Tage nach der Geburt verstummte. Es vertiefte sich ganz in die eigene Komplexität, verlor wie Narziss den Kontakt mit der Welt und verfiel in einen katatonischen Zustand. So konnte Langley nur ohnmächtig zusehen, wie sein neuer Rivale Den Haag erstarkte: der neueste Kandidat für eine Weltregierung.

Den Haag beherbergte den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dessen Exekutiv-Organ durchforschte die Welt nach ungewöhnlicher techniq. Seine Mitarbeiter befürchteten, die nächste Moonwolf-Katastrophe könnte sich als die letzte der menschlichen Rasse erweisen. Sie blickten auf Langley, auf die mönchähnlichen Stabschefs, die vielen tausend amerikanischen Militärangehörigen, die durch Snows Katatonie auslösende Experimente in Idioten oder bestenfalls Golems verwandelt worden waren, die vielen hundert Atomwaffenlager, die Tag und Nacht von stummen, hirnlosen, ameisenhaften Soldaten bewacht wurden, und sie schauderten und fürchteten um die Welt.

Nerven und Maschinen redeten jetzt schon seit einiger Zeit miteinander, über Datafat, ein Hybridgewebe, das Snow erfunden hatte, um menschliche ZNS zu vernetzen. Da die Grenzlinie zwischen Künstlich und Organisch immer schmaler wurde, konzentrierte Den Haag seine Überwachungsarbeit auf alles, was Chip und Nerv verband, zunächst nur in Europa, später - als die Welt zu beschäftigt war, um sich zu beschweren oder es auch nur zu bemerken - auch weltweit.

 

Als er genug gelernt hatte, um so zu handeln, wie das Exekutiv-Organ es verlangte, setzte man ihn auf einer brisanteren Bühne ein: der eigenen.

Er erinnerte sich noch an seinen ersten Tag in Mailand; an den stillen und klimatisierten Blick aus dem Hotelzimmer. Rote Ziegeldächer, neue Wolkenkratzer, ein Subaru-Schild, Flugzeuge im Landeanflug. Am Hotelgarten strömte rechts und links der Verkehr vorbei. Über den Schnellstraßen hingen teerbraune Dämpfe wie Heuschreckenwolken und vermischten sich mit dem Nebel, der Regen ankündigte.

In Europa war alles anders als in Indien. Längst nicht so eindeutig.

Über die neuen Verbundkonsortien Abruzzen und Kalabrien flössen indonesische Investitionen ins Land, was in der Lombardischen Liga Angst um ihre Vormachtstellung weckte, so dass sie beschloss, sich abzuspalten. Italien gab es nicht mehr, und nun drohte ein virtueller Krieg: das Massiv von Rom gegen das von Mailand. Die Herren von Den Haag machte das nervös. Da sie selbst Massive waren - so ging das Gerücht -, wollten sie diesen Streit zwischen ihren Kindern unterbinden, und folglich entsandten sie Ajay.

Als Ajay in Mailand ankam, wimmelte es dort bereits von Den Haager Spionen, Spezialisten für alles vom Smartcard-Betrug bis hin zur Wetware-Arbeit. Selbstverständlich stand niemand mit irgendjemand direkt in Kontakt. Ganze Teams arbeiteten zusammen, ohne dass die einzelnen Mitglieder überhaupt voneinander wussten. Ihre Aktivitäten wurden von Schwachköpfen in Genf koordiniert, nach einem Plan, den die Ethik-Kommission entworfen hatte. Auf dem Papier wurde das Ganze von einem altgedienten Schreiberling mit Namen Aert Carmiggelt geleitet, aber jeder wusste, dass die Befehlskette noch höher hinaufreichte, bis in das nebulöse, fließende Reich der Massive.

Ajays Instruktionen wurden im Lauf der Monate immer verwickelter. Die ihm zugeteilte techniq wurde immer barocker. Mountainbikes aus Titan, die sich in außen verstärkte Packrahmen verwandelten. Skateboards mit eingebautem Verkehrsradar. Auf Brillen montierte Laser. Waffen aller Art für Ziele aller Art: Vortragsredner, Geschäftsleute, einen Zeitungsleser, einen verurteilten Terroristen. Als die neunjährige Nichte des Präsidenten der Liga an ARC starb, ließ die Familie sie bis auf die Knochen aufschneiden, und in ihrem rechten Oberschenkel fand man einen in der Schweiz hergestellten Kohlenstoff-Mikropfeil mit hohlem Schaft.

Den Haag wollte die Spannungen zwischen der Liga und der Römischen Republik mildern, deshalb sollte Ajay Louis Cecére ermorden, einen neofaschistischen Medienpapst aus der Lombardei. Doch da Den Haag nicht menschlich war, hatte es mit einem nicht gerechnet: mit Louis' Tochter Lucia.

Zugegeben, die Undercover-Arbeit war für Ajay neu. Bei seinem letzten Diensteinsatz hatte er fast ganz Indien in dem gleichen oft getroffenen Flakanzug durchquert, indem er im Schutz der Dunkelheit und der Rauchschwaden aus brennenden Tempeln mit dem Gleitschirm von Hügel zu Hügel segelte. Solche Erfahrungen passten nur schlecht zu der Tarnung, die Den Haag ihm verliehen hatte: die eines Schreiberlings vom College, der den Falken innerhalb der Liga eine selbstgebaute Logik-Bombe verkaufen wollte.

»Wir benutzen Schimpansen«, erklärte Lucia ihm, während sie in die Zufahrt zu dem privaten Cyberpark einbog. Der Komplex gehörte ganz ihr; Papas Geschenk zur Volljährigkeit. Sie nannte es ihren Spielstall. Eine superbürgerliche Untertreibung; typisch italienisch. Sie fuhr langsam, damit er einschätzen konnte, wie groß dieser Ort war, wie opulent. »Wir arbeiten mit sensorischer Eingabe statt mit Szenerien. VR ist banal

Sie war nicht schön. Während sie fuhr, warf er ihr verstohlen Blicke zu. Ziemlich stämmig, Brüste zu groß, Flaum auf der Lippe. Man hätte nicht sagen können, dass irgendeine Einzelheit an ihr wirklich störte, aber insgesamt war sie ihm zu matronenhaft. Woher kam dann diese Spannung, die wachsende Wärme, wann immer ihre Blicke sich begegneten? Vielleicht war es einfach Angst; oder Wiedererkennen. Er sah, dass sie genau wie er vor nichts haltmachte.

Sie sagte: »Es macht Spaß, ein Schimpanse zu sein.« Jetzt sah er die Tiere: Sie rasten in Horden über das Gelände, kletterten auf die Statuen in den formal angelegten Kieshöfen, den Nischen in Fichtenhecken, den toten Springbrunnen. Sie winkten dem Wagen zu, ihre verchromten Schädelkappen glänzten bläulich im Mittagslicht, unter ihren vernähten Lidern schimmerten die rosaroten Facetten ihrer insektenartigen Augen. »Wir haben auch probiert, Menschen Insektenaugen einzusetzen. Sie sind verrückt geworden.«

Eine Lüge, um ihn zu erschrecken? - Er bezweifelte das.

»Was wollten Sie erreichen?«, fragte er.

»Unsere Augen sind Quanten-sensitiv. Einer unserer Freiwilligen konnte die eigene Körperwärme als Radar benutzen und so den Weg durch ein Labyrinth finden.«

»Und dann?«

»Hat er sich gegloucestert

»Was?«

»Geödipusst, oder wie man das nennen soll.«

»Sich geblendet

»Er hat techniq für eine Milliarde Ecus zerstochen. Papa hat ihn erschießen lassen.«

Ajay starrte sie an.

Sie starrte zurück. »Er hat ihm damit einen Gefallen getan.«

Das Hauptgebäude kam in Sicht. Eine halb verfallene Villa. Allerdings in der Art von Verfall, für die man Designer bezahlt. Unter den Trümmern des Ostflügels hockte, als wäre sie vom Himmel gefallen - vielleicht von Moonwolf dorthin geschleudert - eine geodätische Kuppel, glanzlos und düster, ein obszönes Eindringen des Neuen.

Sie bogen ab und hielten vor dem anderen, dem intakten Flügel. Es kamen ihnen keine Hausangestellten in Pinguin-Anzügen entgegen: Ajay - dessen erster Kontakt mit Europa über die Merchant-&-Ivory-Filme seines Großvaters stattgefunden hatte - fühlte sich auf alberne Art enttäuscht.

Innen war die Villa völlig zerfleischt worden, man hatte die Hälfte der Innenstruktur herausgerissen und stattdessen neue Gerüste eingebaut: Stahlgitter und Treppenschächte, Betonfliesen und Wände aus Faserplatten.

Säle wie Trümmerfelder, die Wände hier und da mit gefälschten Rothkos behängt, die Teppiche so fadenscheinig wie kostbar, und überall standen antike chinesische Vitrinen herum, in denen sich geschmackloses Faberge stapelte. Die kleineren Räume waren voll mit altem Chrom, pseudo-brutalistischen Möbeln in Kunstleder und geprägtem Gummi. An den Wänden drängte sich frühe holographische Kunst: Wo immer er hinschaute, zerrten Fraktale in ätzendem Rosa an seinen Augen.

Er sah niemanden, aber sie selbst wurden an jeder Ecke von Tieren beobachtet, in deren Blicken eine nicht nur tierische Intelligenz lag. Affen - manche mit Insektenaugen, andere ohne - und Hunde, und vom Kopfende einer unverkleideten Betontreppe blinzelte ihm sogar ein Habicht entgegen. Überwachung mit barockem Einschlag.

Sie zeigte ihm sein Zimmer. Auf einem Untergrund aus Hartholzlatten lag ein Futon mit Seidenlaken. Die Tapete war auch aus Seide. An der Tür hing ein blauer Seidenkimono. Gewissenhaft wie eine Hotelangestellte zeigte sie ihm das Bad, griff über seine Schulter hinweg, um ihm zu demonstrieren, wie der seitentreue Spiegel funktionierte, und drückte ihn dabei eine Sekunde lang gegen den Frisiertisch.

Sein Penis schwoll an, so schnell wie bei einem Schuljungen.

Sie tat so, als merkte sie es nicht, und bewegte sich weg.