Vor einiger Zeit schrieb mir ein Freund, er wolle sich mit Opern beschäftigen, und fragte, welche drei ich ihm für den Anfang empfehlen könne. Seine Frage entsprang dem aufrichtigen Wunsch, eine neue Welt zu erkunden, das spürte ich, er wollte nicht nur auf Partys eine gute Figur machen. So überlegte ich lange, bevor ich ihm folgende Opern vorschlug:
Als erstes Verdis La Traviata, ein musikalisches Prunkstück mit einer
Paraderolle, die niemand so beherrscht hat wie Maria Callas. Viele von uns haben die Melodie des Trinklieds sofort im Kopf: Violettas scherzenden Toast, ihre zögerliche Annahme von Alfredos Liebeserklärung und ihren herzzerreißenden Lobgesang auf das Leben, unmittelbar bevor sie stirbt. Wie so häufig ist die Heldin bereit, für ihre Liebe alles zu opfern, doch kaum je wurde Verzicht in so ergreifende und mitreißende Töne gefasst.
Eine der Preisfragen, die echten Opern-Freaks schlaflose Nächte bereitet, ist, welche von Mozarts drei Da-Ponte-Opern sie auf die einsame Insel mitnehmen würden. Ich wäre für Le Nozze di Figaro, nicht nur, weil die Musik so trügerisch schlicht ist, sondern auch, weil hier die Frauen so offenkundig klüger sind als
die Männer. Obendrein wimmelt das Libretto von wunderbar komischen Situationen, in denen niemand weiß, was los ist, nicht einmal, wer Mann, wer Frau ist.Alles dreht sich um Loyalität und Liebe und die Gefahren der Ehe. Dazu kommen einige von Mozarts schönsten Arien, die längst zum Kulturerbe geworden sind.
Puccinis Madame Butterfly ist der Coupe Dänemark der Oper: Etwa alle zehn Jahre einmal schlage ich mir mit diesem üppigen Melodram den Magen voll, einer wahren Kalorienbombe. Die Ingredienzien: eine jungfräuliche Heldin, die sich leidenschaftlich in jemand aus einer anderen Kultur verliebt, und ein grenzenlos eigennütziger Held, der nur deswegen nicht als vollendeter Schuft
erscheint, weil er einige der hinreißendsten romantischen Liebeslieder singen darf, die je geschrieben wurden. Als Sahnehäubchen gibt es Liebe bis in den Tod, weibliche Entsagung und gesellschaftliche Vorurteile, und das alles in drei Akten. »Un bel dì« und das Liebesduett sind so zuckersüß, dass sie für alles, von Spielfilmen bis hin zur Autowerbung verwendet worden sind. Doch auch das konnte der Schönheit dieser Arien nichts anhaben. Die Ästhetin in mir bekommt zwar jedes Mal Gallenschmerzen, doch ich koste das Ganze immer bis zum letzten Löffel aus. Nach der Vorstellung schwöre ich jedes Mal, nie wieder schwach zu werden. Doch ich kann einfach nicht widerstehen.
CDs höchst unterschiedlicher Qualität, daneben DVDs diverser Aufführungen. Mein Rat für Einsteiger lautet jedoch, ins Opernhaus zu gehen, denn nur auf der Bühne entfaltet die Kunst ihre ganze Kraft: Hier singen lebendige Menschen, ob gut oder schlecht, Hauptsache, sie singen live. Schließlich geht es nicht darum, in Endlosschlaufe den perfekten Resultaten moderner Tontechnik zu lauschen, sondern darum, dass bei einer Vorstellung der Funke der Leidenschaft überspringt. Diesem Zauber vermag auch der Novize nicht zu widerstehen.
Alle drei Opern wurden zu Tode geritten, was die Einspielungen anbelangt: Von jeder gibt es zahlloseMan könnte behaupten, das Hauptmotiv der Opernhelden sei Freiheitsverlangen. Man denke nur an die großen Kassenschlager: Aida will von den Ketten der Sklaverei loskommen, von jenen Mächten, die ihrer Liebe zu Radames im Weg stehen; Tosca will die Bedrohung durch Scarpia loswerden; Rodelinda, Königin der Langobarden, den zudringlichen Grimoaldo abschütteln; Don Carlo und Florestan fordern politische Freiheit; ja selbst im Figaro geht es um Freiheit. Es gäbe noch weitere Beispiele, den meisten
Opernfreunden fiele ein Dutzend Namen ein, doch wie lang die Liste auch würde, Freiheit allein als Thema der Oper, das greift mir zu kurz.Reizvoller erscheint mir die künstlerische Freiheit, durch die sich die Oper und andere Darbietungsformen vom Alltag unterscheiden. Normalerweise sprechen wir nicht in jambischen Pentametern. Natürlich ist das Metrum auch ein Korsett, das die Silbenzahl anders als im Alltag begrenzt. Doch der Rhythmus und Fluss der Verse – zumindest wenn sie aus der Feder großer Dichter stammen – befreit die Sprache gleichzeitig von der Schwere und Trägheit nackter Prosa und hebt sie weit hinaus in die Lüfte, wohin uns auch die Bilder tragen, die sie in uns entstehen lässt.
Normalerweise pflegt man – selbst in
Augenblicken größter Leidenschaft – nicht in Gesang auszubrechen. Die Oper macht es möglich. Sie verwandelt Liebe, Leidenschaft, ja tumben Zorn in Koloraturen.Auch was das Publikum anbelangt, ist die Oper etwas Besonderes: Ein Leser springt nicht so schnell vom Sessel auf; in Museen herrscht ehrfürchtige Stille, kaum jemand äußert Unmut oder Entzücken. In der Oper hingegen ist alles erlaubt. Ob es an der Dunkelheit im Zuschauerraum liegt oder ob die Fans sich von der Gemeinschaft Gleichgesinnter anstecken lassen – die Oper verleitet jene, die ihr verfallen sind, zu Verhaltensweisen, die bei Licht betrachtet lächerlich und beschämend wirken. Sie erlaubt uns zu schreien, sie erlaubt uns, in die Hände zu klatschen und mit den Füßen zu
trampeln wie die Mitglieder eines Urvolks, das seine Zufriedenheit nur mit rhythmischem Stampfen zu bekunden vermag. Sie erlaubt uns auch, in Tränen auszubrechen, zu johlen, zu pfeifen oder lauthals unseren Senf dazuzugeben wie Hooligans im Abendkleid.Die Oper schenkt uns die Freiheit, hemmungslos unvernünftig zu sein. Ein Wochenende in Salzburg, das mehr als eine Monatsmiete kostet? Nun denn. Hatte Gott nicht Cecilia Bartoli im Sinn, als Er für uns die Kreditkarte erfand? Sie können Ihre arme alte Mutter an Weihnachten nicht besuchen, weil Sie dringend in die Oper müssen? Kein Wunder, Ihre arme alte Mutter singt ja auch nicht die Rodelinda wie eine Dorothea Röschmann. Für einen einzigen Tag nach San Francisco fliegen, warum nicht? Unser
ohnmächtiger Drang nach Schönheit lässt uns alle Bedenken über Bord werfen und bereitwillig dem Ruf der Sehnsucht folgen, koste es, was es wolle.