Mystik und Massen
Aus dem Französischen
und mit einem Nachwort
von HARTMUT SOMMER
Vorbemerkung
IFeuer und Wasser
IIProzessionen und Bäder
IIIAuf dem Hof der Monster
IVIm Konstatierungsbüro von Doktor Boissarie
VDie bizarre Hässlichkeit des Bösen
VIMessen für die Massen
VIIHeizraum der Frömmigkeit
VIIIDie Legende vom Stein
IXDas Feuerrad der Heiligen Jungfrau
XDie Heilung der Marie des Anges
XIGeschäfte, Intrigen, Mythen
XIIDie Wunderheilungen: Für und Wider
XIIIHeilungen in den Ablegern von Lourdes
XIVDie zwei Seiten von Lourdes
Anhang: Die Vorläufer von Lourdes
Anmerkungen
Nachwort
Et secutae sunt eum turbae multae,
et curavit eos ibi.
Viele Menschen folgten ihm dorthin,
und er heilte sie.
Matthäus 19,2
Ich habe nicht die Absicht, die Geschichte von Bernadette und Lourdes im Einzelnen zu erzählen. Es sind bereits zahllose Bände, die sie wiedergeben, erschienen; man kann auch sagen, sie ist von Schriftstellern jeder Couleur immer wieder durchgekaut und mit jeder Wiederholung weiter verwässert worden. Ich will die Erscheinungen der Jungfrau in der Grotte von Massabielle bei Lourdes hier nur kurz in Erinnerung rufen, damit die Skizzen und Aufzeichnungen, aus denen dieses Buch besteht, verstanden werden können.
Im Jahr 1858 – von Donnerstag, den 11. Februar, bis Freitag, den 16. Juli – erschien die Jungfrau in dieser Grotte am Ufer des Gave der vierzehnjährigen Bernadette, der Ältesten von sechs Kindern des Müllers François Soubirous, insgesamt achtzehnmal.
Bernadette sah sie dort umgeben von einer Aureole in einer wie ein gotisches Fenster geformten Vertiefung im Fels oberhalb der Grotte; sie hatte das Aussehen eines jungen Mädchens von sechzehn oder siebzehn Jahren, recht klein, sehr hübsch, mit einer sanften Stimme und blauen Augen. Sie trug ein weißes Kleid mit einer himmelblauen Schärpe um die Taille, die in zwei Bahnen zu den nackten, vom Kleid bis zu den Zehen bedeckten Füßen hinunterfiel, und die Zehen schmückte jeweils eine Rose von flammend gelber Farbe. Sie trug einen Schleier und hielt in den Händen einen Rosenkranz aus weißen Perlen, die auf eine goldene Kette aufgezogen waren.
Während der verschiedenen Erscheinungen sprach sie im Dialekt der Gegend und sagte zu dem Kind:
»Wollen Sie mir die Güte erweisen, zwei Wochen lang hierherzukommen? Ich verspreche Ihnen nicht, Sie in dieser Welt glücklich zu machen, aber in der anderen. Ich wünsche viele Menschen hier zu sehen.« – »Beten Sie zu Gott für die Sünder.« – »Buße, Buße, Buße!« – »Sagen Sie den Priestern, dass man hier eine Kapelle bauen soll.« – »Ich will, dass man in Prozessionen hierherkommt.« – »Trinken Sie aus der Quelle und waschen Sie sich darin. Essen Sie von den Kräutern, die Sie dort finden.« – »Ich bin die Unbefleckte Empfängnis. Ich wünsche mir hier eine Kapelle.«
Darüber hinaus offenbarte sie Bernadette ein besonderes Gebet und drei persönliche Geheimnisse, die nie öffentlich bekannt wurden.
Zu bemerken ist noch, dass die Jungfrau die Quelle in der Grotte nicht während einer ihrer Erscheinungen neu entspringen ließ; es gab sie dort schon seit langer Zeit, sie floss aber unsichtbar, ohne dass jemand von ihr wusste, durch den Sand in den Gave. Die Jungfrau hat sich also darauf beschränkt, die Stelle dem Kind zu zeigen, das dann nach ihren Anweisungen den Boden aufscharrte und so die Quelle an die Oberfläche holte.1
Diese Quelle, die lediglich als ein fingerdickes Rinnsal aus der Erde kommt, gibt heute, ohne je versiegt zu sein, 122 000 Liter Wasser in vierundzwanzig Stunden ab.2 Sie ist berühmt geworden durch die Heilungen, die sich mit ihrer Hilfe ereignen.
Was Bernadette angeht, so trat sie, nachdem die kirchlichen und weltlichen Autoritäten sie Prüfungen aller Art unterzogen hatten und ihre Mission erfüllt war, im Alter von zweiundzwanzig Jahren bei den Barmherzigen Schwestern ins Kloster Saint-Gildard in Nevers ein. Sie nahm dort den Schleier unter dem Namen Schwester Marie Bernard und starb dort sehr fromm am 16. April 1879 im Alter von fünfunddreißig Jahren, drei Monaten und neun Tagen.
Wenn es einen gibt, der niemals den Wunsch gehabt hat, Lourdes zu sehen, dann bin ich es. Zum einen mag ich die lautstark singenden Prozessionszüge nicht und stimme Johannes vom Kreuz3 zu, der im Aufstieg auf den Berg Karmel schreibt: »Ich lobe denjenigen sehr, der sich außerhalb der üblichen Zeiten zur Wallfahrt auf den Weg macht, um die großen Pilgerströme zu meiden. Auch ich empfehle, sich ihnen nicht anzuschließen, denn man läuft Gefahr, eher noch weniger gesammelt zurückzukommen, als man hingegangen ist.«
Zum anderen möchte ich die Wunder gar nicht sehen, von denen ich wohl weiß, dass die Jungfrau sie in Lourdes und andernorts wirken kann. Mein Glaube stützt sich weder auf meine Vernunft noch auf mehr oder weniger sichere Zeugnisse der Sinne, vielmehr erneuert er sich aus einem inneren Gefühl, aus einer durch innere Erfahrungen gewonnenen Gewissheit.
Die führenden Köpfe der Psychiatrie und die Oberlehrer versehen die Phänomene des spirituellen Lebens, von denen sie nichts wissen und die sie nicht erklären können, mit den Etiketten »Autosuggestion« oder »Geistesstörung«. Dabei ist die Mystik eine absolut exakte Wissenschaft; ich habe mich von einer gewissen Anzahl ihrer Erscheinungsformen überzeugen können und verlange nicht nach mehr, um zu glauben; es genügt mir so.
Aber jetzt bin ich nun schon zum zweiten Mal wochenlang an diesem Ort, veranlasst durch länger zurückliegende Umstände und fast unabhängig von eigenen Motiven, und erwarte die Ankunft der großen internationalen Wallfahrten.
Heute Morgen regnet es, wie es in diesem Landstrich eben regnet, das heißt: Es gießt wie aus Eimern. Ich sitze am Fenster des Landhauses oberhalb der Straße von Pau, wo ich logiere, und schaue durch die tränenden Scheiben auf das Panorama von Lourdes.
Der Blick reicht nicht weit, er ist begrenzt durch die Berge, zwischen denen Schwaden aus weißem Dunst dahintreiben, während darüber pechschwarze Wolken ziehen und rußige Flocken der Fabriken wirbeln. Eine der Bergkuppen scheint zu rauchen, eine andere ragt aus den Wolken und wirkt wie tot. Hier und da legt sich eine graue, wattige Schärpe um die Flanken der niedrigeren Hügel und löst sich im Heruntersinken auf. Die ewig weiß verschneiten Gipfel sind vollständig eingehüllt vom Nebel. Je dichter der Regen wird, umso mehr versinkt alles im Dunst. Der Große und der Kleine Gers, zwei Berge, die am nächsten liegen, wirken in dieser Hexenküche wie gewaltige Pyramiden aus Schlacke, wie gigantische Ascheberge.
Die Trostlosigkeit dieses Himmelstrichs kreuzt sich mit dem herabströmenden Regen. Am Fuß der Bergkette, direkt mir gegenüber, rauscht Tag und Nacht der Gave wie ein Wildbach sprudelnd zwischen den Felsbrocken. Sein schäumendes Wasser umfließt ein Gebäude mit spitzem Glockenturm und kargem Garten, in dem Tannen und Pappeln wachsen, bevor er sich schließlich weiter entfernt zu einem ruhig dahinfließenden Fluss erweitert. Man könnte dieses Gebäude mit den steil aufragenden Mauern, in die hoch oben winzige Lukenfenster eingelassen sind, für ein Gefängnis halten, aber es ist das Kloster der armen Klarissen. Links überspannt eine Brücke den Fluss und verbindet das neue Lourdes, dessen Häuser ich sehen kann, mit der Altstadt, über der ein wuchtiger Bergfried herrscht, der für eine auf Leinwand gemalte Opernkulisse gemacht zu sein scheint. Rechts schließlich die Esplanade mit ihren Bäumen, die zur Rosenkranz-Basilika und den beiden rampenartigen Aufgängen führt, überragt von der Oberen Basilika, deren blendend weißer Umriss sich vor der Anhöhe der Espélugues abzeichnet, wo riesige Kreuze die von Grün umgebenen Lichtungen mit den Kreuzwegstationen anzeigen.
Hinter der Esplanade und ihren Rasenflächen stehen unterhalb der Rampen zwei Gasbehälter, der eine wassergrün gestrichen, der andere ockergelb wie die Tür zu einem Abort, grauenhaft deplatziert, und auf diese tortenförmigen Blechdinger sind Panoramen gemalt, auf dem einen eins von Jerusalem, auf dem anderen eins von Lourdes.
Nach künstlerischem Maßstab wirkt all das nicht sehr einnehmend, und die Kathedrale, die auf einem Felsvorsprung aufragt, schneidet nicht besser ab. Dürftig, kahl, ohne bemerkenswerte Gestaltungselemente, erinnert sie an die grässlichen Miniaturkirchen aus Kork, wie man sie als Dekoration in manchen Schaufenstern sieht; sie verkörpert die Ästhetik von Korkenhändlern. Die einfachste mittelalterliche Dorfkapelle erscheint im Vergleich mit dieser Möchtegern-Gotik wie ein Meisterwerk an Raffinesse und Gestaltungskraft. Am besten wäre trotz ihrer kühlen Schlichtheit noch die doppelte Rampe aus Stein, die auf beiden Seiten von der Esplanade zum Portal der Basilika hochführt, wenn dieser Eindruck nicht verdorben würde durch die daran angrenzende Rosenkranz-Basilika. Plump fällt sie der Oberen Basilika auf die Füße mit einem Dach wie eine riesige, von drei Zinktopfdeckeln flankierte Savoyer Napfkuchenform.
Von meinem seitlichen Blickwinkel aus sieht dieses Rondell mit seinen zwei Rampen, die sich im Bogen vom Dach bis zum Platz hinunterschwingen, wie ein gigantischer Krebs aus, der seine Scheren zur Altstadt hin streckt.
Unterhalb dieser Rampen verläuft zu Füßen der Oberen Basilika und seitlich der Rosenkranz-Basilika eine breite Allee parallel zum Flussbett des Gave an den Badebecken und der Grotte entlang, bis sie abrupt an einem Hang endet, den sich Wege hinaufwinden, die ein M formen. Diese baumbestandenen Wege führen hinter die Basilika zur Wohnstätte der Patres der Grotte und zur bischöflichen Residenz nicht weit von der Apsis.
Das alles erscheint dürftig und unzulänglich, kläglich und zwergenhaft vor dem Hintergrund der in unmittelbarer Nähe aufragenden Berge; aber die Dürftigkeit dieser Kulisse wird belanglos, wenn der Blick auf die Höhlung im flackernden Schein fällt, direkt unter der Basilika, ein Gewölbe in Flammen, eingegraben in den Felsen, an dessen Flanke es glüht: Dort ist das Herz von Lourdes.
Die Grotte! Das nutzlose Standbild in der Felsnische, wo die Jungfrau erschienen ist, denke man sich weg, und die Entrückung beginnt. Hier meditiert man die vielen Gebete, mit denen man vor der Abreise aus Paris beauftragt wurde, eins ums andere, so gut man kann. Jedes bittet um die Heilung oder Bekehrung der Eltern oder Freunde, und jedes breitet vor ihr das mitgeschleppte traurige Bündel der physischen Leiden und moralischen Qualen aus. Es herrscht tiefe Stille, alles kniet in sich versunken; da jetzt die Grotte wieder zugänglich ist, scheint man es eilig zu haben, von der Madonna die gewünschten Gnaden zu erlangen. Noch hat man sie einige Stunden für sich. Morgen wird die Grotte überfüllt sein von den während der Nacht angekommenen Wallfahrtsgruppen. Dann wird es unmöglich sein, hineinzugelangen, und man wird sich auch auf den Bänken davor kaum im Gebet sammeln können, denn ununterbrochen wird lautstark gesungen und gepredigt werden.
Nicht anders wird es dann bei der unsichtbaren Quelle sein, deren Wasser aus dem Dutzend kupferner Hähne eines Brunnens links davon fließt. Man wird Schlange stehen, um seine Feldflasche zu füllen oder ein Glas Wasser zu trinken.
Auch jetzt eilt man dorthin, um zu trinken; man reicht sich Becher aus Weißblech; manche leeren sie in einem Zug, andere trinken sie nur halb leer, gießen den Rest in die Hände und reiben sich damit über ihr Gesicht, benetzen ihre Augen und Ohren. Die Frauen raffen ihre Kleider und klemmen sie zwischen die Knie, damit sie nicht nass werden. Man schimpft mit den Kindern, die die übervollen Flaschen schütteln und einander bespritzen. Jeder trifft seine Vorkehrungen, als wäre man in einer Stadt, der eine Belagerung bevorsteht.
In Erwartung des angekündigten Pilgeransturms betört der Charme dieses intimen Lourdes ohne Gedränge und ohne Lärm. Man kostet die Annehmlichkeit einer Stadt aus, die ihrem Erwerbsstreben geschäftstüchtig folgt, und spürt doch auch ein Gefühl der geschwisterlichen Gemeinschaft mit all denen, die gleichen Sinnes sind und wie man selbst nach den Wohltaten der Jungfrau verlangen. Und ohne gefragt zu haben, erfährt man, warum dieser hier spaziert und warum jene sich dort aufhält, und teilt die Hoffnung auf ihre Heilung und die Erfüllung ihrer Anliegen. Es entsteht etwas von der Kameradschaft eines Biwaks bei dieser Begegnung der in einem Städtchen kampierenden Pilger. Man läuft sich ständig wieder über den Weg. Man trifft sich auf der Esplanade, man sieht sich in der Oberen Basilika, in der Krypta oder der Rosenkranz-Basilika und begegnet einander bei der Grotte, sodass man sich fast genötigt fühlt, sich zu grüßen, obwohl man sich nicht kennt.
Tatsächlich bleibt niemand auf seinem Zimmer, und jeder lebt draußen, ob es regnet oder nicht. Von morgens bis abends geht man immer dieselben Wege, und wohin sie auch führen, man sieht außer den bekannten Gesichtern nur noch die Statuen der Jungfrau aus Gips mit zum Himmel erhobenem Blick und im weißen Kleid mit blauer Gürtelschärpe; kein Geschäft, das nicht Medaillen, Kerzen, Rosenkränze, Skapuliere und Broschüren über die Wunder anbietet, das alte und das neue Lourdes sind voll davon, selbst die Hotels machen mit, und das erstreckt sich über Kilometer von Straße zu Straße. Es beginnt im alten Lourdes mit armseligem Ramsch: Rosenkranzkettchen mit einem Kreuz aus Stahl, übergroße Lourdes-Rosenkränze, im nahen Bétharram gefertigte karamellfarbene Rosenkränze aus Holz zu sechs Sous das Stück, grässliche Kitschbildchen von Bernadette in rotem Rock und blauer Schürze und mit einer Kerze in der Hand vor der Jungfrau kniend, Miniaturfiguren und in großen Mengen aus Kupferschrott fabrizierte Medaillen, die an Spielzeuggeld denken lassen. Und all diese Gegenstände nehmen an Feinheit, Ausstattung und Größe zu, je mehr man sich der Neustadt nähert. Die Statuen wachsen, bis sie schließlich enorme Dimensionen annehmen, bleiben aber genauso hässlich. Die Kitschbilder steigern sich, indem sie das Soubirous-Mädchen wie eine Kammerzofe ausstaffieren; die Prägung der Medaillen wird besser, und sie sind aus anderem Metall: Man sieht Silber und Gold. Und wenn man sich der Grotte nähert, stößt man auf eine wahrhaft überbordende Fülle an Luxusnippes! Die Rosenkränze hängen nicht mehr draußen in Bündeln zum Verkauf, sondern werden auf rosa Watte gebettet in Vitrinen ausgestellt, ihre Perlen aus Lapislazuli, Koralle und Amethyst sind in Silber oder Gold gefasst. Dazu gibt es Papeterie-Krimskrams, Bleistift- und Federhalter sowie Briefbeschwerer aus unterschiedlichem Pyrenäenmarmor, und als Höhepunkt Schmuck aus Paris, aus den Juweliergeschäften vom Palais-Royal, geheiligt durch ein angehängtes Kreuz oder eine Medaille.
Und der Konkurrenzkampf ist hemmungslos: Überall in der Stadt wird man entlang der Geschäfte angehalten, es ist ein Kommen und Gehen, aber inmitten dieses Trubels gelangt man zuletzt immer auf dem einen oder anderen Weg zur Grotte.
Diese unregelmäßig geformte Grotte – vorne ziemlich hoch, flacher nach hinten und an einer Seite sehr niedrig – ist mit Votivtafeln aller Art geschmückt. Verrußte Krücken, die an Drähten vom Gewölbe herabbaumeln, tanzen beim leisesten Wind. Es gibt einen tragbaren Altar für die Zelebration der bischöflichen Messen und einen Kippwagen auf Rollen für die Kerzenreste.
Links, nahe der Quelle, gibt es einen gemauerten Unterstand für das Aufsichtspersonal und die Sakristei, etwas weiter eine Verkaufsbude für Devotionalien und Kerzen. Rechts, fast unter der mandelförmigen Nische, in der wie in einer Umrahmung die Jungfrau erschienen ist, ein fest installierter Stuhl, auf dem während der Wallfahrten die Missionare oder Priester Platz nehmen und Katapulten gleich die Gebete der Menge auf das Himmelstor lenken, damit wie aus geöffneten Schleusen die Gnaden herabströmen sollen.
Durchglüht von den Kerzen und stets von noch warmem Ruß überzogen wie die Wand eines Kamins, ist diese Grotte von Massabielle mit ihrem niemals verlöschenden Feuerschein eine eingehendere Betrachtung wert.
Am Gitterzaun vor dem Eingang stehen kranzartige Kupferständer, die große Platten mit spitzen Stiften tragen, auf denen aufgesteckte Kerzen brennen. Im Inneren der Grotte laufen entlang der Felswand dicht über dem Boden drei schwarze Eisenbänder mit Halterungsringen für Kerzen. Die unteren Halterungen sind am größten und gleichen eher Trichtern; sie sind bestimmt für die mächtigen Kerzen zu sechzig Francs, die wochenlang brennen. Dreieckige Kerzenhalter sind in den Stein getrieben, und hier und da hat man Erinnerungsbroschen in der Nähe einer Aushöhlung eingesetzt, die man mit einem Netz abgedeckt hat und in die, als eine allzu menschliche Post, Briefe an die Jungfrau eingeworfen werden können. Und entsprechend ihrer Größe und ihrem Preis zischeln all diese Kerzen verschieden und brennen unterschiedlich herunter. Die Kleinsten sinken um das Dochtende herum pilzförmig zusammen, erst kirschrot verfärbt, zuletzt schwarz. Die Größten verzehren sich sehr langsam in feinen Strömen reismilchartiger Tropfen, die nach und nach an den Seiten zu weißem Fett erstarren. Andere sind gerillt und wirken mit ihrer gefurchten Oberfläche und ihren Noppen wie die runzeligen Äste von Ulmen. Wieder andere wachsen gewissermaßen über ihren Docht und verzehren sich dabei wie Nachtlichter auf dem Boden eines Glases, das mit einem Schnurgeflecht versehen und mit Rankenmustern verziert ist, so wie die Andachtsbildchen mit ihrem papierenen Spitzenrand. Es gibt auch sehr alte, schon verblichene Kerzen, die gefleckt sind wie eine von Mitessern übersäte Nase, und es gibt die falschen, die unehrlichen Kerzen, die den Käufer betrügen und Gott bestehlen, Kerzen, die aus Stearin bestehen und nur von einer Hülle aus Wachs umgeben sind, die gelbe Tränen weint, während der Kern zu einer glasigen Flüssigkeit wird, in der der verkohlte Docht einer gewöhnlichen Kerze schwimmt.
Hier ereignet sich die Umkehrung des Pfingstgeschehens: Die Feuerzungen steigen zum Himmel hinauf statt von ihm herab, aber sie beten zum Heiligen Geist in der Form, die er selbst angenommen hat, sie spielen ihre Rolle bei den liturgischen Anrufungen des Herrn buchstäblich so, wie es von ihm prophezeit wurde, und wenn man sich an die Pfingstliturgie erinnert, wo fast immer Wasser zusammen mit Feuer vorkommt, so erfasst man plötzlich die geheimnisvolle Verbindung dieser beiden Elemente, den Zusammenklang von Flamme und Welle in Lourdes.
Dieses feurige Blühen versorgt ein alter Gärtner, der dort dauerhaft wohnt und braungebraten vor dem Glutofen der Grotte patrouilliert, ein richtiggehender Gärtner, frisch rasiert, mit blauer Kittelschürze und seinen Gartengeräten, seinem Rebmesser, seinem Rechen, seiner Schaufel und seiner Schubkarre, die hier zum Kippwagen geworden ist.
Von morgens bis abends betreut er ohne Hast und schweigend den Haushalt der Jungfrau, entfernt die Wachsstalaktiten von den Aufsteckspitzen und den dreieckigen Kerzenhaltern, gräbt den mit Kerzenfett und schneeigem Puder gesättigten Boden auf, aus dem die feurigen Blumen wie von selbst hervorzutreiben scheinen, sich vermehrend mit dem Pollenflug der Funken, die der Wind im Rauch davonträgt. Er putzt diesen Blumen ihre Stempel aus Baumwolle, er beschneidet ihre Stängel, entfernt die herunterrinnenden weißen Würmer. Er gräbt die Wurzeln aus, die bald absterben werden, und wirft sie auf eines der Bleche beim Eingang, damit sie als brennende Stummel sich ganz verzehrend schließlich ihr Leben aushauchen können, denn hier brennt man alles ordentlich ab, im Gegensatz zu anderen Kirchen, wo eifrige Frauen die erst halb abgebrannten Kerzen ausblasen, um sie noch mal zu verkaufen.
Dann nimmt er eine Handvoll kleiner Kerzen wie ein Bündel Spargel und entzündet alle zusammen, um sie dann in einen der Halter hinten am Eisenband zu pressen. Die Kerzen türmen sich in riesigen Mengen. Es warten ganze Kippwagen mit Kerzen darauf, ausgeladen zu werden. Er sortiert die weißen Stäbe, trennt oder verbindet sie, klebt die gebrochenen, indem er sie erhitzt. Immerzu behält er alle brennenden im Auge, setzt Kerzen, die verkümmern und verglimmen wollen, an einen günstigeren Platz mit weniger Luftzug; eine Arbeit, die dauernd neu beginnt, denn sobald Kerzen sterben, werden andere geboren.
Diese vestalische Priesterin in Hosen ist daher ebenso gut eine kurzbehoste Danaide,4 denn diese Grotte ist eine bodenlose Feuergrube; aus der Provinz, dem Ausland, aus allen Teilen der Welt strömen jeden Morgen die Kerzensendungen heran, und man muss die Anlieferungen eines Tages verbrauchen, um nicht am nächsten Tag von den neuen überhäuft zu werden. Sosehr man sich aber anstrengt, die Stapel türmen sich weiter auf. Hier lagert man Kerzen wie andernorts Holz. Alle Einheimischen verkaufen Wachskerzen, oder eher unechte Wachskerzen, denn das »köstliche Wachs der Bienen« verkaufen sie entgegen allen liturgischen Texten nicht, sondern alten Talg, der mit Schwefelsäure entfettet und gehärtet wurde.
Aber diese Tricks, die durch den stets zunehmenden Verkaufserfolg zwangsläufig aufkommen, werden nichtig im flammenden Glanz der Feuerglut, die Paraffin und Bienenwachs gleichermaßen verschlingt, und betrachtet man diese Hecken auflodernder Gebete, so wird man an die Symbolik der Kerze erinnert, wie sie Pierre d’Esquilin und der heilige Ambrosius beschrieben haben.5
Die Kerze besteht aus drei Teilen: das Wachs, das das sehr weiße Fleisch Jesu darstellt, der in das Wachs eingelassene Docht, der seine sehr reine, unter der Hülle seines Leibes verborgene Seele ist, und das Feuer, das Zeichen seiner Göttlichkeit.
Die Kerze ist also die Gestalt Christi; deswegen bringen wir sie der Jungfrau dar, damit sie wiederum als Mittlerin ihren Sohn dem Vater darbietet und er sich für uns verwendet.
Diese Mittlerrolle können in weniger direkter Form auch die Heiligen übernehmen, aber man muss zugestehen, dass die in den meisten Kirchen praktizierte Heiligenverehrung absurd ist. Man opfert bestimmten Heiligen, und nur ihnen, eine Kerze, um sie mit dieser Gabe persönlich zu ehren, nur damit dann sie die Gebete zum Herrn senden, anstatt dass man sie selbst an den Herrn richtet, was allein Sinn ergibt.
Außer man begnügt sich mit der mittelmäßigen Symbolik des heiligen Karl Borromäus6, der in der Kerze lediglich ein Bild für die drei christlichen Tugenden sieht, wobei das Licht für den Glauben, die Form für die Hoffnung und die Wärme für die Nächstenliebe steht.
In diesem Fall entzündet man eine Kerze vor dem Abbild eines Heiligen, um durch dessen Vermittlung den Herrn zu veranlassen, in uns den Nährboden für diese Tugenden zu bereiten, die wegen der Keime des Bösen nur so langsam und schmerzhaft aufgehen können.
Aber in Lourdes drängt sich eine andere Symbolik auf, die lebendiger und eindringlicher ist, die Symbolik einer Gemeinschaft der Seelen, die durch die Vereinigung der Flammen so anschaulich ausgedrückt wird.
Wahrhaftig, wenn man darüber nachdenkt, der Anblick dieses Meeres brennender Kerzen ist einfach prachtvoll!
Wie viel verstörenden Kummer und welche bebenden Hoffnungen verkörpern sie! Für wie viele Behinderungen und Krankheiten, für wie viel familiären Kummer, verzweifeltes Flehen, Bekehrungen, Angst und Verwirrung stehen sie! – Diese Grotte ist die Schutzhütte aller in tiefen Ängsten lebenden Seelen, die Schutzhütte, in der alle vom Leben Geschlagenen ihre letzte Zuflucht suchen; sie bietet den Verdammten und Gequälten Unterschlupf, die nirgends mehr Erleichterung finden; alles Leid der Welt lässt sich zusammengeballt in diesem engen Raum nieder.
Ach, die Kerzen weinen die unglücklichen Tränen der Mütter, und vielleicht geben sie ein genaues Bild der Schmerzen, für die sie brennen; bei den einen strömen die heißen Tränen, bei den anderen kommen spät die unterdrückten Tränen, und alle sind dem Anliegen treu, das man ihnen mitgegeben hat; alle recken sich auf, bevor sie verlöschen, und senden einen letzten Aufschrei ihrer Flammen zur Jungfrau.
Sicherlich, manche richten sich wortgewandter als andere an Gott, und zweifellos sind die Bescheidensten dabei am überzeugendsten; die aufwendigen Stearinstangen, vor Ort gekauft oder von reichen Menschen übersandt, haben gerade durch den Prunk, mit dem sie sich hervortun, und trotz ihres länger anhaltenden Gebetes die geringste Chance, freundlich empfangen zu werden. Das göttliche Erbarmen wendet sich gewiss eher den armen kleinen Lichtchen zu, die man im Bündel anzündet, sodass ihre Anliegen und ihre Flammen sich zur Einheit verbinden, zu einer gemeinschaftlichen Anrufung wie in der Kirche. Sie sind ein sprechendes Bild der Armen, der einfachen Menschen aus dem Volk, die sich gegenseitig helfen, während die aristokratischen Kerzen allein leben, abseits.
Und hier wird die einfache Arbeit des Kerzenwächters der Grotte bedeutsam, ja erhaben.
Dieser Mann, der nur die Sauberkeit seiner Aufsteckspitzen und Kerzenhalter im Auge hat, vollbringt unbewusst das wunderbare Werk einer Vereinigung der Seelen, er bringt die Gebete zusammen und schickt sie zur Gottesmutter als Gebinde des Lebens, wobei er die sozialen Klassen durcheinanderwürfelt; er führt sie zurück zu den Lehren der Evangelien. Er unterstützt, indem er die Stummel der großen Kerzen mit den fast schon flüssigen Stümmelchen der kleinen zusammenwirft, die Bitten der Reichen, die er so gemeinsam mit denen der Armen vor Gott bringt, dabei gewissermaßen die Hand der Gottesmutter lenkend, weil damit das unzureichende Gewicht ihrer Gebete vergrößert wird und die Kraftlosesten zur Rettung der Stärksten zu Hilfe kommen.
Hier stehen wir vor einer umgekehrten Gesellschaft, die Welt auf den Kopf gestellt; es sind die Bedürftigen, die den Reichen Almosen geben.
Die Kerze, die Ungläubige für eine der kindlichsten Formen des Aberglaubens halten, ist das beste Mittel der Seele, um ihren Gefühlen stoffliche Form zu geben und ihre Anliegen vorzubringen. Die Seelen durchdringen sie nämlich mit ihrem Fluidum, wobei mir als Analogie die Experimente von Oberst Rochas7 zur Übertragung von Empfindungen auf einen unbeseelten Körper, auf ein totes Ding, in den Sinn kommen. Ich denke – wobei ich hier nicht von Hypnose spreche –, dass sich diese Kerzen allein durch die Kraft des Glaubens aufladen und etwas von den Empfindungen derjenigen aufnehmen können, die sie darbringen und dabei ernsthaft beten.
Man darf auch davon ausgehen, dass dieses Element des Feuers in Lourdes lediglich der Diener des anderen Elements, also des Wassers, ist. Viele Heilungen ereignen sich beim Brunnen oder in den Tauchbecken; man beginnt an der Grotte und endet an der Quelle. Offenbar kann Lourdes mit diesem Satz zusammengefasst werden: Das, was man hier mittels des Feuers erbittet, erhält man durch das Wasser.
Die Zeit der großen internationalen Wallfahrten ist gekommen; die von allen Seiten belagerte Stadt beginnt zu wanken; die Pilger aus Lothringen, der Champagne, der Provence, der Normandie, der Rouergue und dem Berry sind da. Eine Armee Belgier ist gestern eingefallen, macht sich auf der Esplanade breit und durchstreift die Straßen; heute Morgen werden die Züge aus der Bretagne mit einer neuen Kompanie Belgier und Holländer erwartet.
Lourdes ächzt bereits in der felsenfesten Umklammerung seiner Berge. Der Regen hat aufgehört; violettes Pulver, unerbittlich rein, fällt vom Himmel auf die sich klar abzeichnenden Berge.
Der Große und der Kleine Gers lassen ihre aschfarbene Felsenrüstung golden in der Sonne schimmern, und die wenigen an ihre Flanken gehefteten Almen leuchten grün auf. In einer Rinne, die man in einen der Hänge gegraben hat, bewegt sich etwas langsam aufwärts; man könnte es für einen kriechenden weißen Wurm halten; es ist die Seilbahn, die mal oberirdisch im hellen Licht, mal im Dunkel der Tunnel bis zum Gipfel fährt.8
Die Sonne scheint Wohlbehagen auszusondern und Freude übers Tal zu sieben, wo das Jagdhorn erschallt und den Lumpenhändler ankündigt, dessen Karren weit entfernt auf der Straße erscheint.
Ich gehe hinunter, um der Ankunft der Gläubigen aus Finistère und Morbihan beizuwohnen; die Straßen der alten Stadt und die Brücke laufen über; man benötigt seine Ellenbogen, um durchzukommen. Die träge Herde der Bretonen dreht sich um sich selbst und kommt kaum vom Fleck, während sie von ihren Priestern im Zaum gehalten wird, die sie wie Hütehunde antreiben; aber die Auslagen der Geschäfte mit ihrem frommen Kitsch hypnotisieren die Frauen, sodass man sie am Arm ziehen und im Rücken schieben muss, damit sie sich weiterbewegen. Müde und verwirrt, mit einem Blick, als wären sie gerade aus einem Traum erwacht, schleppen sie schwere Körbe und Feldflaschen, während die meisten Männer wortkarg und mit schlenkernden Armen gehen, stumpfsinnig wie Rindvieh irgendetwas wiederkäuend. Tatsächlich sind sie erschöpft von der nächtlichen Bahnfahrt und fühlen sich plötzlich derart fremd! – Wenigstens bringen sie etwas regionale Farbe in das monotone Grau und Schwarz der anderen anwesenden Provinzen. Die Männer tragen noch den Hut mit Samtband sowie Weste und Jacke in Königsblau oder Bischofsviolett verziert mit kanariengelben Stickereien und Kupferglöckchen an den Knöpfen; aber nur der Oberkörper bewahrt das lokale Kolorit; untenrum sind sie ganz gewöhnlich gekleidet, mit einer schmuddeligen Hässlichkeit, die von ihrer fast makellosen Erscheinung oben absticht. Eine breite wäscheblaufarbene9 Bauchbinde, wie sie die Zuaven10 tragen, trennt den Bereich der lustigen Jacke von dem der nichtssagenden Hose, gekauft beim erbärmlichsten Hafentrödler. Manche Hosen haben einen Latz, sind aber wie die allermodernsten grün wie Erbsenpüree oder schiefergrau, andere, die abgeschabt und dreckig vom langen Tragen sind, haben den fettig braunen Ton von dunklen Oliven angenommen. Ein einziger Mann aus der ganzen Wallfahrtsgruppe trägt die vollständige Tracht mit Pluderhose und zimtfarbenen Gamaschen; es ist ein alter Mann, groß und aufrecht, mit langem weißem Haar, rosigem, verwittertem Gesicht und tiefliegenden, hart blickenden Augen.
Und fast alle diese Seeleute haben solche ausgeprägten Züge mit einer Haut wie alter Buchsbaum und hellen Augen in kühlem Blau wie die der schwarzen Schafe im Finistère.
Die Frauen sind dick oder knochig mit einer Haut wie Zwiebelschale, gegerbt vom scharfen Seewind, die Augen lapislazuli oder meergrün. Die jungen Mädchen mit Vogelkopf und hartem Schädel sind eingepackt in üppige glockenförmige Röcke, die durch Bänder in grellem Rosa oder schrillem Indigoviolett abgesetzt sind. Auch sie könnten nach der Kleidung unterhalb des Gürtels aus jeder beliebigen Region kommen, werden aber von der Taille bis zum Kopf wieder ganz und gar Bretoninnen. Einige putzen sich heraus mit plissierten Kragen wie aus den Zeiten Ludwigs XIII. und Korsagen mit Bordüren aus Halbmonden oder Krebsscheren aus Samt; ein oder zwei, die aus dem tiefsten Finistère kommen, sehen mit ihren in orange gesäumten Kleidern und den mit Pailletten bestickten Hauben aus wie Holländerinnen. Alle erkennen sich in der Menschenmenge an der unterschiedlichen Art ihrer ulkigen Hauben, die wahrhaftig die eigenartigsten Formen haben, vom umkehrt aufgesetzten Blumentopf über den Dutt, den starren Helm, den verkürzten Bischofshut bis hin zu Schmetterlingsflügeln und zur Orchideenblüte in Form eines Frauenschuhs, oben offen und mit Flügeln versehen.
Unter diesen nördlichen Küstenbewohnern, die Straßen und Brücke bevölkern, sind Entstellte und Einarmige, missgebildete Kinder mit verdrehten Gliedmaßen, alte Männer mit einem Kropf, der wie eine enorme Birne herunterhängt, alte Frauen, die hinkend am Stock gehen, und Blinde mit Augen wie weiße Kugeln, gekochten Eiern gleich. Sie werden begleitet und beaufsichtigt von den Schwestern vom Heiligen Geist, deren Habit aus naturfarbenem Leinen geschneidert zu sein scheint, mit nur einem schwarzen Abschluss an der Kapuze, sodass sie zwischen den anderen dunklen Ordenskleidern und Soutanen wie ein helles Lächeln sind.
Die Priester mit dem Aussehen von Bauern und Fischern werden ungeduldig, weil sie ihre Schäfchen nicht in der Gruppe vorwärtsbringen können, aber wie sie sich auch abmühen und tadeln, die Frauen laufen auseinander, und eine von ihnen bleibt mitten auf der Brücke stehen, um sich die Schuhe putzen zu lassen. Sie diskutiert mit dem Schuhputzer, der zwei Sous verlangt, obwohl sie doch nur einen schuldig sei, wie sie sagt, denn sie habe ja keine großen Füße.
Endlich erreicht der Zug einen heiligen Michael aus Bronze, der auf einem niedergestreckten Leib, den man für einen als Dämon verkleideten Notar halten könnte, ungelenk Walzer tanzt, und zieht weiter am Monument mit der Kreuzigungsszene vorbei, das am Beginn der Esplanade errichtet worden ist und just von der Bretagne der Jungfrau von Lourdes gestiftet wurde. Der Priester, der den Zug anführt, lässt anhalten und dreht sich um; seine Herde macht es ihm nach; er hebt den Arm, worauf der Gesang beginnt, während der Marschtrupp sich wieder in Bewegung setzt:
Wir kommen wieder aus dem Land am Meer,
Wo die Erde hart ist und das Herz stark,
Stolz auf unseren Glauben, unseren einzigen Schatz,
Wir kommen aus dem Land am Meer!
Und alle bewegen sich in Richtung Grotte, ihren Weg durch das Gedränge der Pilger aus den verschiedensten Regionen suchend, die sich anhand ihrer Abzeichen unterscheiden lassen, denn jeder hier hat ein Band oder eine Kokarde, jeder ist dekoriert! Die Belgier tragen eine kleine Kokarde im Knopfloch, schwarz, gelb, rot wie ihre Fahne, die aus Burgund haben dieselben Farben, aber dazu ein Kreuz aus Metall, die aus der Normandie haben ein Kreuz aus rotem Flanell, die Bretonen ein Heiliges Herz auch aus rotem Flanell, die aus dem Berry eine Margerite auf aschblauem Grund und was sonst noch alles!
Hin- und hergestoßen im Gewoge dieser Menge, vorwärtsgetrieben und immer wieder in Reih und Glied gebracht durch die Schwestern vom Heiligen Geist und die Priester, kommen die Bretonen schließlich doch bei der Grotte an, aber dort ist alles voll. Am ganzen Flussufer wimmelt es von Menschen, und der Raum zwischen dem Gitter der Grotte und der Brüstung am Gave ist sehr begrenzt. Die zugleich mit dem Ordnungsdienst beauftragten Krankenträger stellen sich einander gegenüber auf und spannen Seile, um eine freie Gasse für die Rollstühle der Kranken zu schaffen, die vom Hospital hergebracht werden. Zu dieser Zeit herrscht in der Oberen Basilika, in der Krypta darunter und in der Rosenkranz-Basilika dichtes Gedränge; Pilgergruppen stehen vor den geöffneten Portalen und hören aus der Entfernung die Messe; und siehe da, auch die Anhöhe von Espélugues mit dem Kreuzweg wird lebendig, sie dreht sich langsam in einer Spirale um sich selbst und singt.
Sie scheint sich mit den Menschen zu bewegen, die auf dem Zickzack der Wege über ihre Flanken aufsteigen; es ist eine Pilgergruppe aus dem Quercy, die sich da angeführt von einer Prozessionsfahne hinaufschlängelt und lauthals mit Stimmen wie Blechtrommeln ihre Lieder singt, bei denen man das okzitanische »De Dious la rouzado« und »pitchoun«11 heraushört.
Ich kenne sie schon; es sind gewissermaßen die Kohlenbrenner von Lourdes, denn alles ist schwarz an ihnen, Anzüge, Kopfbedeckung und Kleider, es gibt nicht einmal ein weißes Halstuch, sogar ihre Gesichtszüge sind wie mit Kohle scharf nachgezeichnet. Gestern streiften sie mürrisch wie eine Schar frommer Hausierer durch die Straßen der Stadt; und die Geschäftsleute, die wissen, dass sie nichts kaufen, machten sich über sie lustig, wenn sie sie sich vor ihrem Schaufenster in unverständlichem Dialekt unterhalten sahen.
Und während diese düsteren Südländer johlend über die Serpentinen zur Anhöhe aufstiegen, ist es mehr schlecht als recht gelungen, die Bretonen in die Nähe der Grotte zu schieben, wo sie jetzt die Predigt eines ihrer Geistlichen hören, der sich auf der Predigtkanzel installiert hat. Mit dem Hut in der Hand harren sie aufmerksam aus, und während der Rosenkranz abgespult wird, betrachten alle selig das blauweiße Standbild Unserer Lieben Frau. Man stößt sie beiseite, drängt sie zusammen und tritt auf ihre großen Füße, um durch ihre Reihen eine neue Gasse für die Bettlägerigen zu öffnen, aber niemand ist ungehalten und niemand unterbricht sein Gebet; es sind nicht mehr die lethargischen Tölpel von vorhin, sondern ordentliche und bescheidene Leute, die mit der schlichten Frömmigkeit ihres Volksschlages die Jungfrau anrufen, zu der sie von weit her gekommen sind, um sie zu verehren. Nach dem Rosenkranz werden sie von den Schwestern geführt jeweils zu zweit still an der Grotte vorbeidefilieren und den Fels küssen, wobei sie durch ein Tor im Zaun hineingehen und den Bereich durch ein anderes Tor wieder verlassen, um dann im Gänsemarsch zum Brunnen zu gehen und zu trinken.
Ich gehe zu den Badehäusern. Die Fläche vor den drei Gebäuden in vagem gotischem Stil, die in der Nähe der Grotte unterhalb der Basilika seitlich an den Felsen geklebt sind, ist durch Zäune abgegrenzt und mit gespannten Seilen verschlossen. Dort stehen die Wägelchen der Invaliden dicht beisammen, und die Krankenträger mit ihren Baskenmützen und ledernen Tragriemen, die die wahren »Passierscheine« und Türöffner für Lourdes sind, kommen und gehen, richten die Kissen der Kranken, wobei sie ihnen aus Blechbechern zu trinken geben, sich ganz den Unglücklichen widmend, die sie als deren Lasttiere vom Hospital zu den Tauchbecken bringen.
Ein finster blickender Priester mit Fünftagebart, bei dem man nicht sagen kann, aus welcher Region er stammt, wirft sich auf die Knie, die Arme zum Kreuz ausgestreckt und den Gläubigen zugewandt. Er betet mit lauter Stimme den Rosenkranz, richtet sich mit durchdringenden Schreien an die Jungfrau und fleht um die Genesung der Kranken, die man baden wird. Und die Ergriffenheit des Priesters hellt seine Züge auf und lässt die Erregung mehr und mehr auch auf die Zuschauer überspringen. Wie gut er predigt, der arme Vikar vom Land! Sein Tonfall und seine Augen! Augen in Feuer und Wasser, Glut, die in brennende Tränen übergeht.
Und weitere Wägelchen kommen an mit leichenblassen Gelähmten, die mit hängenden Lippen auf was auch immer auf dem Boden starren; es kommen Kranke mit Ödemen, den Kopf in den Nacken geworfen, als ob sie sich angstvoll von ihren Bäuchen abwenden würden, die angeschwollen sind wie Ballonflaschen, und Schwindsüchtige, eingefallen und verbittert, mit irrlichterndem Blick, und schließlich nach Luft ringende Herzkranke, die sich aufrichten, um besser atmen zu können, den Kopf hochgereckt.
Die Wägelchen werden nebeneinandergeschoben, und jetzt kommen noch die Karren mit den Schwerkranken, auf Matratzen hingestreckt, die man über Krankentragen gelegt hat: leichenblasse Männer und Frauen mit verzerrtem Gesicht, verkniffener Nase und einem Mund, den zwei aschfahle Linien bezeichnen, und mit blutunterlaufenen Augen, um die sich auf der kreideweißen Haut lila Ringe gelegt haben.
Die Krankenträger beeilen sich, die Tragen vorsichtig vor den mit Vorhängen abgeschirmten Eingängen zu den Tauchbecken abzusetzen.
Angesichts dieser vorbeiziehenden Bilder des Elends stachelt der immer noch kniende Priester die Emotionen der Umstehenden weiter an, treibt sie mit Schreien des Mitleids zu äußerster Erregung, bis seine Stimme bricht.
Herr, rette unsere Kranken!
Und das grimmige Abrollen des Ave-Maria setzt wieder ein.
Maria, wir lieben dich!
Und das Ave braust noch einmal auf – und die Vorhänge an den Tauchbecken öffnen sich. Man reckt sich, um die Gesichter derjenigen besser zu sehen, die wieder herauskommen; man erwartet eine Heilung, sieht aber liegende Menschen, deren Leben bedauerlicherweise immer noch Leiden ist! Für die da waren die Bittgebete des Morgens also vergeblich! – Dann wollen wir doch mal selbst hineingehen und nachsehen, ob es nicht trotz ausbleibender Heilung Erleichterung und Vergebung gibt. Ich schlage mich durch die wartenden Wagen und schiebe einen Vorhang beiseite.
Ich war überrascht, als ich zum ersten Mal in diese Räume eintrat, denn nach den Erzählungen von Zola, der seine Beschreibungen stets wie Theaterkulissen ausstaffiert, hatte ich sie mir sehr geräumig vorgestellt. Ich erwartete zumindest eine luftige und komfortable Anlage mit großen Becken, an denen die Bademeister und Kranken behaglich umherwandeln. Nichts davon gibt es dort; die Räume haben in Wirklichkeit die Größe von Badekabinen der billigen Kategorie. Ein Vorhang ersetzt die Tür, dazu kommen drei Wände; die hintere ist ein buntes Glasfenster, das kein Licht gibt und auf das ein Bild der Jungfrau gemalt ist, darunter eine Statue Unserer Lieben Frau von Lourdes; die beiden anderen sind gewöhnliche Zwischenwände ohne Dekoration; in der Mitte schließlich ein flaches steinernes Badebecken, in das man über wenige Stufen hineinsteigen kann, und als Mobiliar lediglich ein Stuhl. In diesem dämmerigen Verschlag geht die Jungfrau als Bademagd ans Werk; in diesem feuchten Loch, mit diesem fauligen Wasser wirkt sie.
Und plötzlich auf sich selbst zurückgeworfen, wird einem sehr mulmig, und man erschauert fast, wenn man daran denkt, dass sie hier unsichtbar in diesem engen Raum ist, wo man sie vielleicht berührt, und, wenn sie will, in jeder Minute ihre Anwesenheit durch eine Heilung bezeugen wird.
Man müsste die reine Seele von Bernadette haben, um sich ganz ohne Scheu so dicht in ihre Nähe zu wagen! Man fühlt sich ziemlich klein und geniert sich ein wenig, wenn man einfach als Neugieriger dort eindringt, aber schließlich ist man auch nicht nutzlos, wenn man für die Kranken betet, denn man spricht zu ihr ja nicht von sich selbst, sondern von ihnen!
Automatisch sucht man sie, sieht aber nur ihr armseliges Bildnis auf Glas gemalt und in Gips geformt. – Ach, das ist nicht sie! – Man betrachtet das Wasser, das ihr Lächeln widerspiegeln könnte, wenn es nicht durch den Wundschleim der Kranken, die man dort eintaucht, ganz trüb geworden wäre. Es ist undurchsichtig, und es ist tot; und trotzdem, nein: Achtsam und folgsam lebt es und ist seit den Erscheinungen bereit, sich den Weisungen des Propheten und Psalmisten zu unterwerfen, der es lange vor der Geburt des Sohnes eindringlich ermahnte, dessen Lob zu singen. Und es erfüllt diese Aufgabe nun, indem es Wunder wirkt, weil es durch die Mutter erwählt wurde, als Werkzeug für Heilungen zu dienen.
Bei meiner Ankunft heute Morgen ist der schmale Gang zwischen dem Umkleideraum und den Badekabinen verstopft gewesen mit Tragen, auf denen Kranke auf ihr Bad warteten. Ein älterer Herr mit einem eiförmigen Kopf, oben kahl und unten behaart, macht sich dort in Radfahrermontur zu schaffen. Er watschelt kommandierend herum, weist die Badehelfer zurecht und notiert mit wichtiger Mine die Anzahl der Bäder in ein Heft, ein typischer Aufschneider, über den man lachen könnte, wenn das Schauspiel, dem man beiwohnt, nicht so traurig wäre.