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Dasjenige unter allen nicht-menschlichen Lebewesen, dessen Seelenleben in Hinsicht auf soziales Verhalten, auf Feinheit der Empfindungen und auf die Fähigkeit zu wahrer Freundschaft dem des Menschen am nächsten kommt, also das im menschlichen Sinne edelste aller Tiere, ist eine vollwertige Hündin.
Gut möglich, dass es unter euch Lesern einige gibt, die sich von vornherein der Idee verschließen, dass Hunde oder Schafe oder Katzen Bücher schreiben können. Sie haben vollkommen recht. Das, was ihr hier zu lesen bekommt, ist dennoch meine Geschichte. Meine Geschichte, betrachtet und gefiltert durch den Blick eines Menschen, der mich kennt. So gut kennt, wie viele Menschen ihre Hunde verstehen lernen, mit denen sie zusammenleben. Und natürlich umgekehrt. Wenn Menschen weise genug sind, sich in unsere Welt hineinzuversetzen, und damit ihre Wahrnehmung nicht als die einzig mögliche betrachten, sind sie in lichten Momenten durchaus in der Lage, auch unsere Perspektive einzunehmen. Nicht alles, was ihr hier zu lesen bekommt, entspricht deshalb hundertprozentig dem, was ich in meiner Hundewelt tatsächlich erlebe und tue, ebenso wenig wird mein Blick auf die Menschenwelt immer mit deren Tatsächlichkeiten oder Wahrheiten übereinstimmen. Am Ende wissen wir dann doch einfach zu wenig übereinander. Trotzdem sind wir Freunde, im besten Fall für ein ganzes Leben, und das geht schon weit über viele Beziehungen zwischen Menschen hinaus. Deshalb ist in gewisser Hinsicht alles, was hier erzählt wird, wahr. Aber es wird eben auch nicht alles erzählt, was wahr ist. Und damit bleibt auch meine Geschichte in ihrer Gänze ein hypothetisches Modell – wie jede erfundene Geschichte.
Lily Schönfuß
Rumänien war hart. Meine fünf Geschwister und ich wurden im Herbst 2012 auf der Straße geboren, in einer dunklen Gasse neben stinkenden Mülltonnen, aus denen unsere Mutter versuchte, sich selbst und später uns, so gut es ging, mit den Abfällen der Kneipe gleich nebenan zu ernähren. Marodierende Banden waren Tag und Nacht überall in der Stadt unterwegs, und wir mussten ständig um unser Leben fürchten, weil die halb verhungerten Artgenossen selbst vor uns Welpen keinen Halt machten, wenn sie uns aufspürten. Mehr als einmal musste meine Mutter uns gegen Angriffe verteidigen und trug dabei tiefe und schlecht verheilende Bisswunden davon. Einen meiner Brüder konnte sie beim Überfall eines riesigen Rüden nicht retten. Mein kleiner Bruder hatte sich, neugierig, wie er war, zu weit von unserem Rudel entfernt. Als es passierte, hatte ich mich unter einer Plastikschachtel, in der es nach verwestem Grünzeug roch, verkrochen und musste nicht mit ansehen, wie der Rüde, nur noch Haut und Knochen unter seinem filzigen Fell, meinen Bruder gierig packte. Aber gehört hatte ich natürlich alles, auch das leise panische Piepsen meines Bruders, kurz bevor …
Paulas »Lily! Schön-Fuß!«-Gemurmel riss mich aus meinen hässlichen Erinnerungen. Ich brauchte einen kurzen Moment, um mich zu sammeln, dann trottete ich, immer noch leicht angeschlagen, an Paulas Seite.
Paula Kontroletti – diesen Nachnamen hatte ich passend gefunden – war meine Rudelführerin, und an diesem Status hatte sie, zugegebenermaßen, hart arbeiten müssen, seit das Schicksal uns vor zwei Jahren zusammengeführt hatte.
Irgendwie wollte es mir damals nicht in den Kopf, dass es da plötzlich jemanden gab, der angetreten war, um von nun an die komplette Verantwortung für mich zu übernehmen. Ich spürte schon damals deutlich meine Verpflichtung, Paula als Mitglied meines neuen Rudels zu beschützen, meine Instinkte zu ihrer und meiner Sicherheit einzusetzen – und das hatte sich bis heute nicht wirklich geändert. Auch wenn sie mir in vielen Situationen schon bewiesen hatte, dass sie meine Unterstützung eigentlich nicht brauchte, und ich immer mehr davon überzeugt war, dass sie ihrem Job als Leitwesen tatsächlich gewachsen war, empfand ich es nach wie vor als meine Aufgabe, ihr Leben notfalls unter Einsatz meines eigenen zu verteidigen. Manchmal schoss ich dabei über mein Ziel hinaus, ja – aber besser, ich hielt uns beiden einmal zu viel einen mir unsympathischen, ungestümen und kläffenden Artgenossen vom Hals oder warnte sie frühzeitig vor einem Eindringling in unser Revier, als meinen Instinkten im entscheidenden Moment nicht gefolgt zu sein.
Für mich war es nicht leicht, zu akzeptieren, dass hier, in dieser Stadt und in Gesellschaft der Menschen um mich herum, alles etwas anders ablief, als mein tief in mir verankertes, über viele, viele Generationen verinnerlichtes universelles Wissen mir das deutlich machte: Die Menschen hatten uns über Jahrhunderte hinweg in ihrem Alltag wahrhaftig gebraucht. Wir hielten ihre Herden in Schach, bewachten ihre Häuser und Güter oder zogen ihre Schlitten. Wir hatten klare Aufgaben im Zusammenleben mit den Menschen, und wir waren sehr gern Dienstleister für sie, wenn sie uns gut behandelten und uns zu fressen gaben, sofern wir unsere Beute nicht selbst jagen konnten. So fühlten wir uns nützlich in unserer Gemeinschaft, und das war das schönste Gefühl, dass ein Hundeleben innerhalb eines Rudels – egal, ob es ausschließlich aus Artgenossen oder aus einer Mischung aus Hunden und Menschen bestand – zu bieten hatte.
Spätestens seit meiner Ankunft bei Paula Kontroletti und Edgar Sterngucker in dieser neuen Umgebung hatte ich mich allerdings mit der mir zunächst eher befremdlich erscheinenden Tatsache auseinanderzusetzen, dass hier scheinbar genau umgekehrte Regeln galten: Die Menschen wirkten eher wie Dienstleister der Hunde. Sie waren nicht nur Chauffeure, die uns zu unseren Lieblingsplätzen kutschierten, sie waren auch Friseure, Leinenhalter, Ohrenkrauler, Floh- und Zeckenbeseitiger, Spieleentwickler, Schlafplatz-Zurverfügungsteller, Futterlieferanten, Kotaufheber, manchmal außerdem Leibköche, Sofavorwärmer, Kellner und Personal Trainer in einer Person. Hin und wieder gaben sie sogar nach unseren Mahlzeiten ihr Hosenbein als Serviette her, wenn wir diese ganz besondere Dienstleistung nur unauffällig und geschickt genug in Anspruch nahmen.
Wir selbst hatten natürlich nichts dagegen, derart verwöhnt zu werden, auch wenn es den meisten von uns anfangs eher ungewöhnlich erschien – schließlich waren die wenigsten unter uns gleich nach ihrer Geburt in geordneten Verhältnissen gelandet und trugen entsprechende Schutzmechanismen und Ängste mit sich herum. Manche hatten Angst vor schwarzen Kleidungsstücken, andere rasteten bei Pink komplett aus, wieder andere konnten generell keine männlichen Menschen leiden oder kriegten Panik, wenn sich ein Müllwagen näherte. Insgesamt kumulierte sich hier unter uns Hunden im Viertel eine ganze Wolke unterschiedlichster Macken. Ein paar von uns stammten allerdings aus einer sogenannten Zucht, was bedeutete, dass ihre künftigen Chefs ihre Geburt bereits ungeduldig erwartet hatten und aus einem kompletten Wurf dann »ihren« Hund unter den Neugeborenen aussuchten, um ihn in einer meist liebevoll und artgerecht gestalteten Umgebung von Anfang an zu einem echten Vorzeigehund heranwachsen zu sehen.
Um uns auch »geistig« zu fordern – was nichts anderes hieß, als uns eine unserem Wesen entsprechende Aufgabe zu geben –, steckten unsere Rudelführer viel Energie und Zeit in Einzelstunden mit Hundetrainern, die unseren Personal Trainern wiederum beibrachten, was sie alles mit uns anstellen konnten, um uns dieses wunderbare Gefühl des Gebrauchtwerdens zurückzugeben.
Das alles war besser als nichts, auch wenn dieser Zustand eben immer nur in künstlich geschaffenen Situationen hergestellt wurde, die einmal wöchentlich in einstündigen Kursen stattfanden.
Somit blieb uns allen aber immerhin die tägliche Aufgabe, unsere menschlichen Gefährten durch unseren eigenen Bewegungsdrang mit auf Trab zu halten. Damit übernahmen wir in gewisser Weise Verantwortung für ihre körperliche Fitness und ihre Gesundheit – wir sorgten sozusagen für frischen Wind in ihrem Leben –, und das war ja wenigstens etwas.
Trotz der Müdigkeit, die mir morgens immer in den Knochen steckt, war mir an jenem Tag aufgefallen, dass etwas anders war als sonst, als ich mit Paula für unsere erste Frischluftrunde auf die Straße trat.
Während ich meine glücklicherweise recht bewegliche Nase neugierig in alle Richtungen bog, nahm ich wahr, dass vor mir schon einige Frühaufsteher mit ihren Hunden unterwegs gewesen waren, die ihre Markierungen auf dem Grünstreifen der Allee hinterlassen hatten. Die meisten davon kannte ich zwar nicht persönlich, konnte aber immerhin lesen, was sie gestern in ihrem Napf vorgefunden hatten. Ob sie zu Hause rohes Fleisch kriegten oder Trockenfutter, ob sie dazu genügend getrunken hatten und ob sie insgesamt gesund waren. Aus den jetzt im Sommer geöffneten Fenstern der prunkvollen Altbauten in meiner Straße drangen die Kaffee- und Teegerüche bis zur Straße. Ich roch auch die zappeligen und quietschenden Kinder, die mit ihren jungen Müttern auf dem Weg in die Kinderaufbewahrungsstellen schon vorbeigekommen waren. Eines der Kinder war unglücklich gewesen, eine leichte Traurigkeitsschwade hing noch deutlich in der Luft. An den Reifengummis der parkenden Autos konnte ich erschnuppern, welche von ihnen schon länger dort standen, welche gerade erst abgestellt worden waren und wie es dort roch, wo sie herkamen. Die leichten Rückstände unseres gestrigen Waldtrips an Paulas Schuhen versetzten mich kurz an diesen herrlichen Ort zurück, an dem ich auf Hügel klettern, im kalten, klaren Fluss baden, beste Gräser kauen und Wildfährten verfolgen konnte. Menschen lasen ihre Zeitung, wir eben allerlei Spuren. Ich fand das Spurenlesen um einiges spannender als dieses raschelnde Papierding, das Paula und Edgar umständlich vor ihre Nase hielten und das irgendwie immer gleich roch.
Doch die Atmosphäre, eine sonderbare Stimmung und ein unbekannter Geruch, der an diesem Morgen über dem Viertel lag, lenkten meine Aufmerksamkeit von all dem anderen empfindlich ab. Hier stimmte etwas nicht.
Meine Blase war bis zum Anschlag gefüllt, ich hatte es wirklich eilig, meine bevorzugte Pinkelstelle im Park zu erreichen. Ich erledigte das gern auf einem weichen, durchlässigen Boden und nicht auf Teer, wie manch andere meiner Artgenossen, denen es völlig wurscht war, wo ihre Ausscheidungen hinflossen. Paula hatte durchaus Respekt vor meiner Eigenheit und beeilte sich immer, mit mir zusammen den entsprechenden Untergrund für mein Vorhaben zu erreichen. Je näher wir dem Park kamen, desto deutlicher wurde auch der fremde Geruch: Ich konnte Blut ausmachen, Schmerz, Brutalität und Angst. Und tatsächlich: Ich roch Tod, wie ich ihn bisher noch nicht kannte – es musste ein Mensch im Spiel gewesen sein! Das machte mich unruhig.
Auch Paula bemerkte meine Nervosität und sagte leise: »Lily, was ist denn hier los, hm? Hast du was Komisches gewittert?« Ich war sehr stolz auf sie, wenn sie meine Körpersprache richtig deutete, denn das war unter den Menschen hier nicht unbedingt die Regel.
Mein Eindruck, dass irgendetwas anders war als sonst, bestätigte sich schnell: Am Eingang des Parks standen etliche Autos, darunter auch solche in blau-weiß. Die hatte ich bisher untrennbar verknüpft mit schmerzhaft lauten Geräuschen in einem mir unerträglichen Frequenzbereich, und schon allein deshalb zuckte ich zusammen, als ich die Lärmschleudern hier in meinem Park erblickte.
Immerhin war ich schlagartig wach. Ganz im Gegensatz zu Paula, die ich morgens fast immer hinter mir herziehen musste. Sie hätte im Grunde gern noch länger geschlafen als ich – und ich schlief am liebsten sehr lange –, aber aus irgendeinem mir unerfindlichen Grund bestand sie jeden Morgen auf dieser auch für mich sehr frühen Uhrzeit für unsere Morgenrunde. Ein Klingelton an ihrem Telefon riss uns zwei regelmäßig aus dem Tiefschlaf. Das war für uns beide eigentlich äußerst ungesund. Ich glaube, Paula wusste das auch und es wurde ihr jeden Morgen spätestens dann bewusst, wenn sie sich mühsam aus ihrer kuscheligen Decke herauspellte, in die sie sich eingewickelt hatte. Dennoch ließ sie nicht von dieser Unsitte ab – eines der vielen für mich undurchdringlichen Menschenweltgeheimnisse. Jedenfalls war das mit dem Fröhlich-früh-wach-Werden, wie es die meisten meiner Artgenossen praktizierten, bei uns beiden eine etwas diffizile Sache.
Neugierig und aufgeregt zog ich meine Menschenbegleiterin mit Nachdruck zu den Fahrzeugen, sodass sie mich erneut, wie eigentlich immer, wenn ich an der Leine zog, mit Vor- und Nachnamen ansprach: »Lily, Schönfuß!«
Ich wollte jetzt unbedingt genauer herausfinden, was hier los war, auch wenn mir gleichzeitig die Beine schlotterten vor Unbehagen – wie so oft in Situationen, die ich nicht einschätzen konnte. Bei einer Preisverleihung für den mutigsten Hund im Viertel wäre ich sicherlich auf einem der hintersten Plätze gelandet – mein großer Wissensdurst aber glich das einigermaßen aus.
Ein Mann in Uniform, so nannte man diese Bekleidung wohl im Menschensprech, kam uns ein paar Schritte entgegen.
Es gab verschiedene Uniformierte hier in der Stadt, die meisten von ihnen waren blau gekleidet und unterschieden sich nur in ein paar kleinen Details. Manche hängten zum Beispiel Zettel an Autofenster, deretwegen die Menschen, die sie dann fanden, ziemlich sauer waren. Edgar hatte auch mal so einen Zettel an unserem Auto gefunden und laut darüber geflucht – ich glaube, er wollte einfach nicht, dass jemand Fremdes so nah an unser fahrendes Revier herankam, und das konnte ich gut verstehen.
Eine Uniform wie die von diesem Mann hier im Park hatte ich einmal in der U-Bahn gesehen. Die Menschen, die in ihnen steckten, waren für die Einhaltung bestimmter Regeln innerhalb der Menschenwelt zuständig, man nannte sie Polizei. Paula hatte damals, als wir gemeinsam unterwegs waren, mit einem von ihnen telefoniert, weil wir in einer Ecke dieses riesigen, zugigen Schachts, durch den donnernd hell erleuchtete Wagen fuhren und in dem es nach Hunderten unterschiedlichster Substanzen gleichzeitig roch, einen Mann gefunden, von dem sie glaubte, er sei tot. Ich versuchte, ihr klarzumachen, dass er nur sehr fest schlief, und wollte schnell weiter, um diesem unheimlichen, seltsam hallenden Ort zu entkommen, aber sie ging nicht auf meine Signale ein. Die Polizei war ziemlich schnell zu Hilfe gekommen und hatte den Mann geweckt, der sich sehr schwach fühlte und auch ziemlich krank war, wie ich deutlich an seinem Geruch erkannte, nachdem er sich – er erinnerte mich dabei kurz an die müde Paula – mühsam von seiner braunen Decke befreit hatte, die ihn einhüllte. Einer der Polizisten hatte per Telefon einen »KTW« angefordert, dem Mann wurden kurze Zeit später von zwei anderen Männern, die nach frischen Mettbrötchen rochen und orange Jacken über weißen Hosen trugen, ein paar Fragen gestellt, die er leise brummend beantwortete. Dann drückten sie mit ihren Händen vorsichtig an ihm herum, knickten sein Bein, was ihm ein jämmerliches Winseln entlockte, legten ihn auf ein schmales Bett mit Rädern und trugen ihn anschließend die Treppen aus dem Schacht hinauf.
»Sie können hier nicht durch«, sagte jetzt der Polizist im Park mit einer abweisenden Handbewegung und sah kurz erst Paula an, dann mich. Ich hatte den Eindruck, er fixierte und musterte mich von oben bis unten sehr genau, was mir besonders bei Fremden extrem unangenehm ist. Ich stehe generell nicht gern unter strenger Beobachtung und mag normalerweise keine mich so eindeutig anpeilenden Blicke fremder Menschen oder Hunde, das habe ich wohl mit allen anderen Artgenossen gemein. Konfrontation ist einfach nicht mein Ding, auch wenn ich natürlich im Angriffsfall immer mein Leben und das meines Rudels, also Paula und Edgar, verteidigen würde. Glaube ich zumindest.
»Wieso – was ist denn passiert?«, fragte Paula mit der für sie typischen Mischung aus Trotz und Höflichkeit den Uniformierten. Schließlich war das ja unser Park – da konnte sie nicht einfach die Anweisung eines Fremden befolgen, ohne sie zu hinterfragen. Der Mann trug zwar diese Recht-und-Ordnung-Uniform, doch weder seine Körperhaltung noch seine Stimme strahlte echte Autorität aus.
Ich spürte trotzdem, dass das, was er jetzt sagte, Paula bis ins Mark erschütterte, obwohl es nur aus einem einzigen, recht barsch ausgesprochenen Wort bestand:
»Mord.«
Sein etwas weicher nachgeschobenes »Zumindest sieht es bisher so aus« nahm dem vorherigen Wort für Paula offensichtlich auch nicht seinen Schrecken.
»Was?«, entfuhr es Paula, und ihre Stimme quietschte dabei ein wenig.
Sie hatte eine ähnliche Stimmlage und Ausstrahlung wie an dem Tag, als sie am Telefon vom Herzinfarkt ihres Vaters Karl Leberwurst erfahren hatte – das war der Nachname, den ich Karl nach unserer ersten Begegnung gegeben hatte, die von ebendieser Köstlichkeit aus seiner Hand gekrönt gewesen war. Er war beim Holzhacken zusammengebrochen. Innerhalb von Sekunden strahlte Paula während des Telefonats damals Angst und Kummer aus. Diese Ausstrahlung hielt sich unterschwellig eine ganze Zeit lang. Inzwischen war alles an Paula wieder normal, Karl machte wieder Laubsägearbeiten in seinem Schuppen oder grub mit einer großen Gabel im Garten herum. Mit Karl Leberwurst hatte ich mich für meine Verhältnisse recht schnell angefreundet, obwohl ich ihn nur selten sah. Er zeigte mir, dass er mich mochte, indem er mich mit in seinen Schuppen nahm, wo es an manchen Stellen stark metallisch, an anderen nach Holz, nach Erde, alten Stofflappen und manchmal nach Mäusen duftete, und vor allem, weil er sogar extra für mich Rinderzunge kochte, wenn wir ihn und Hanna Weißkopf, Paulas Mutter mit den leuchtend weißen Haaren, auf dem Land besuchten.
Dass Hanna sehr krank war, wusste damals noch niemand außer mir. Ich konnte riechen, dass sie etwas in sich trug, was ihren Körper nach und nach von innen auffraß. Um ihr deutlich zu machen, dass sie mit ihrer Krankheit nicht allein war, suchte ich zwischendurch immer wieder ihre Nähe und legte mich gerne zu ihren Füßen auf den bunt gemusterten Teppich, wenn sie sich auf dem Sofa ausruhte. Ich spürte, dass ihr das guttat.
Das Wort Mord, das Paula in die seltsame und unschöne Stimmung befördert hatte, kannte ich bis zu diesem Morgen nur aus dem Fernsehen. Beim Kuscheln mit Paula und Edgar hatte ich es häufiger mit halbem Ohr mitbekommen, wenn die beiden es sich am Abend neben mir auf dem Sofa gemütlich gemacht hatten, um ihren Tatort zu gucken. Wenn die Melodie zum Start des Films losging, wusste ich, dass ich die nächste Zeit mehr oder weniger herrlich ungestört dösend mit dem Kopf auf Paulas Oberschenkel verbringen konnte – zumindest so lange, bis sie manchmal mittendrin genervt aufstand und sich schimpfend ausließ über die »schlecht erzählte Geschichte«, über »hölzerne Dialoge« oder »die spießige Inszenierung« – was auch immer das bedeuten sollte – und sich auf der Terrasse einen ihrer stinkenden und qualmenden Stängel anzündete. Es kam aber vor, dass sie ohne Unterbrechung gebannt und fast unablenkbar vor dem Fernseher saß, und dann war dieser Abend für mich ein wunderbares Ritual.
Mord hatte ich deshalb bisher in erster Linie mit der gemütlichen Sofakuschelstunde verknüpft – auch wenn mir klar war, dass es im Fernsehen derweil um irgendwelche Verbrechen ging. Doch all meine Instinkte hatten mir inzwischen längst deutlich gemacht, dass am Parkeingang vor Kurzem einem Menschen etwas zugestoßen war. Die Gerüche waren ziemlich eindeutig, auch wenn ich noch nicht alles richtig zusammenkriegte, was hier passiert sein musste.
Irgendwie wurde mir diese Mischung verwirrender Sinneseindrücke langsam zu viel. Der Versuch, Paula von diesem Ort voller Menschen, Autos und seltsam im leichten Wind zerrender rot-weißer Bänder wegzuziehen, scheiterte daran, dass der Polizist Paula nach ihren Personalien fragte, man gehe nämlich davon aus, dass ein Hund an dem Mord beteiligt gewesen sei. Man nehme deshalb jetzt die Daten aller Hundebesitzer im Viertel auf. Ich spürte, wie der Schreck Paula erneut in die Glieder fuhr, und auch ich war kurzzeitig erstarrt: Ich hatte also richtig gerochen! Ein Genosse oder eine Genossin aus dem Viertel stand im Zusammenhang mit dem gewaltsamen Tod eines Menschen! Eine schauerliche Nachricht. Wieso sollte einer von uns auf die Idee kommen, ein eindeutig ranghöheres Lebewesen anzugreifen und gar zu töten? Das war absurd. Ich hatte zwar kurz nach meiner Geburt in Bukarest schon viele gnadenlose Dinge unter uns Artgenossen erlebt und auch schreckliche Sachen, die Menschen uns Hunden antaten – doch die Vorstellung, dass so etwas auch umgekehrt möglich sein sollte, überstieg meinen bisherigen Horizont bei Weitem.
Es war zu spät. Mit vor Anspannung zitternden Hinterbeinen hockte ich mich hin und ließ endlich den Dingen ihren Lauf – unpassenderweise gleich neben dem Schuh des Polizisten. Es war mir extrem peinlich, denn ich verzog mich für diese banalen, aber unabwendbaren Verrichtungen vorzugsweise in eine Ecke, in der ich mich unbeobachtet fühlte. Nun war es mitten auf dem Weg, vor den Augen aller passiert – nicht meine Schuld, schließlich hatte ich schon mehr als genug deutliche Dringlichkeitssignale per Leine nach oben geschickt, doch Paula war durch die ungewöhnlichen Ereignisse im Park einfach viel zu abgelenkt. Trotzdem war mir das Ganze mehr als unangenehm.
Paula entschuldigte sich zerknirscht, nannte dem Mann den Namen unserer Straße und die dazugehörige Hausnummer, und auf die Frage nach ihrer Telefonnummer ratterte sie diese furchtbar lange Zahlenreihe runter, bei der ich mich immer voller Erstaunen fragte, wie sie sich die bloß merken konnte.
Endlich auf unserer Wiese angekommen, begegneten wir meinem Freund Maddox Aufgehts und seiner Sabine Kraulfinger, wie fast jeden Morgen, seit ich hier im Viertel wohnte. Aufgeregt teilte Paula Sabine die tragische Nachricht mit. Beide schienen sehr beunruhigt.
»Ein Mord? Hier bei uns? Durch einen Hund?« Sabine war sonst nie um klare Worte verlegen, doch diese Vorstellung schien selbst sie etwas zu überfordern, sie wirkte angespannt. Auch Maddox, der sich in einiger Entfernung noch mit intensivem Schnüffeln beschäftigte, schien die seltsame Atmosphäre zu spüren, denn diesmal rannte er nicht, wie sonst üblich, mit seinem massigen Gewicht auf mich zu, um mich zu begrüßen. Das hatte neben dem klassischen Hallo! immer noch einen anderen Grund: Er machte mir deutlich, dass er mich jederzeit im Griff hatte, sollte ich darüber nachdenken, mich während der gemeinsamen Runden mit Paula und Sabine auch nur einen Hauch »von der Truppe zu entfernen«. Als geborener Arbeitshund – meinen Artgenossen vom Schlage Schäferhund ist ganz besonders daran gelegen, Herden zusammenzuhalten und sie vor Gefahren von außen zu beschützen – sah er es eindeutig als seine Aufgabe an, jegliche Idee eines eventuellen kurzen unkontrollierten Ausscherens seiner Freunde schon im Keim zu ersticken, um die Herde immer perfekt zusammenzuhalten.
Diesmal allerdings verlor Maddox den Ball aus seiner Schnauze, auf dem er ständig wie auf einem Schnuller herumkaute, wenn wir auf der Wiese nebeneinander herliefen. Man muss betonen: Maddox verlor seinen Ball so gut wie nie – doch wenn er scharf nachdachte oder einen winzigen Augenblick lang unkonzentriert war, konnte das schon mal passieren. Er war schlicht süchtig nach dem runden Spielzeug. Sabine riss ihn sanft aus seiner seltsamen Stimmung. »Maddox – Aufgehts!«, sagte sie leise, und wir beide rannten gemeinsam los. Maddox war doppelt so groß wie ich, hatte braun-schwarz gezeichnetes Fell und stolze, ehrliche braune Augen, die unablässig auf Sabine ruhten, um bloß keinen möglichen kleinen Hinweis von ihr zu verpassen. Aus dem gleichen Grund hatte er auch seine Ohren immer aufmerksam gespitzt, glaube ich. Meine dagegen knickten in der oberen Hälfte ab, wenn ich sie nicht unter permanenter Anspannung hochhielt, was mir auf Dauer einfach zu anstrengend war. Ich kriegte auch mit Knickohren mehr als genug mit und spitzte sie deshalb nur, wenn ganz besondere Aufmerksamkeit geboten war. Beispielsweise wenn Paula am Herd stand und ich überdeutlich spürte, dass da gleich ein Leckerbissen für mich abfallen könnte. Meistens behielt ich recht. Ich war mir nie ganz sicher, ob ich mit meinem Spürsinn richtiglag, der mir deutlich sagte, dass Paula vorhatte, mir etwas abzugeben, oder ob meine gespitzten Ohren zusammen mit einem kleinen Seufzer erst dazu führten, dass Paula auf mich aufmerksam wurde und mir etwas zusteckte. Wir waren in jedem Fall auch in solch einer Situation ein eingespieltes Team, und einzig das köstliche Ergebnis zählte.
Gleich nach dem rituellen Kurzsprint neben Maddox holte ich mir, ebenfalls ein eingespieltes Ritual, bei Sabine meine Begrüßungsstreicheleinheiten ab, die mir im Gegensatz zu sonst heute etwas abwesend und flüchtig erschienen. Anhand meines komplexen Portfolios an Pieps- und Quietschlauten lieferte ich ihr auch heute, wie jeden Morgen, eine Zusammenfassung des vergangenen Tages. Natürlich verstand sie meine Ausführungen nie im Detail, immerhin aber fragte sie mich freundlicherweise allmorgendlich danach und kraulte mich währenddessen überall ausgiebig, auch an meiner Lieblingsstelle am Bauch. Sie war wirklich perfekt darin. Heute blieben ihre Fragen aus.
Ich wandte mich jetzt wieder meinem großen Freund zu, der sich gerade wie ein Raubtier in der Serengeti (das ist eine endlose, ebene Fläche, fast ohne Verstecke, voll mit Tausenden fremder und gefährlicher Tiere, die sich alle gegenseitig fressen und meistens in Riesen-Rudeln unterwegs sind, von denen ich aber nicht weiß, wie sie riechen, weil ich das alles nur vom Fernsehen mit Edgar kenne) an mich heranschleichen wollte, um mir anschließend spaßeshalber eins zu verbraten. »Schon mitgekriegt?«, hielt ich ihn in letzter Sekunde von seinem finalen Weitsprung auf mich ab. »Vorn am Fort wurde ein Mensch getötet.« Maddox erstarrte tatsächlich in seiner Bewegung, schüttelte sich kurz und teilte mir ein wenig verlegen mit, dass er auch irgendwas Komisches gerochen habe. Ob ich schon mehr wüsste, wollte er wissen.
Aufgeregt machte ich ihm klar, dass jemand von uns beteiligt gewesen sein sollte, wie der Polizist vermutete; daraufhin verlor er erneut seinen Ball, nahm ihn aber blitzschnell wieder auf.
»Einer von uns? Einen Menschen töten? Aus eigenem Antrieb? Niemals. Keiner von denen, die wir kennen. Und überhaupt: Welcher Leinenführer würde das denn zulassen?« Ich konnte deutlich die absolute Ungläubigkeit in seinem Gesicht erkennen und wusste, dass den gutmütigen Maddox diese Nachricht sehr erschütterte. Er hatte tiefes Vertrauen zu den Menschen, aber auch zu all seinen Artgenossen. Er war gleich in den ersten Wochen nach seiner Geburt zu Sabine Kraulfinger gekommen und hatte bisher nur die Geschichten gehört, die man sich hier weitergab, selbst jedoch noch kein Elend und vor allem keinerlei rohe Gewalt erlebt.
Ich ließ ihn ungern in seiner Erschütterung allein, aber auch mein großes Geschäft wollte erledigt werden, ich hatte es schon viel zu lange herausgezögert. Ich verzog mich in das dichte Unterholz am äußersten Rand der Wiese und war mir dabei durchaus bewusst, dass mein großer Freund mich gleich wieder mit einem ordentlichen Ordnungs-Herden-Zusammenhalt-Rüffel empfangen würde, aber was blieb mir schon übrig? Und ich wusste, er würde bis dahin sehr genau Paulas und Sabines Gespräch über die jüngsten Ereignisse im Park verfolgen. Maddox war manchmal ein Rüpel, aber er war klug und aufmerksam, hatte ein gutes Herz, und ich mochte ihn vom ersten Moment unserer Begegnung.
Als ich erleichtert zurückkam, waren die beiden Futterportionierer in ein aufgeregtes Gespräch vertieft. Maddox rannte, wie vorhergesehen, auf mich zu, ich begab mich blitzschnell in meine Jaja-ich-bin-kleiner-und-schwächer-als-du-Demutshaltung, quietschte kurz auf, ohne dass er mich überhaupt berührt hätte, und erreichte damit, wie eigentlich immer, dass er mich vorerst in Ruhe ließ. Diese Kleinmachstrategie ihm gegenüber hatte ich im Laufe unseres Kennenlernens entwickelt, denn als ich vor anderthalb Jahren fremd und neu ins Viertel kam, musste ich mich erst mal auf all die neuen Bekanntschaften einstellen und auskundschaften, mit wem gut Wurst essen war, wie ich mich bei wem zu verhalten hatte und wem man vielleicht sogar besser dauerhaft aus dem Weg ging.
Nachdem zwei weitere meiner Geschwister plötzlich von unserem Platz in der kleinen Gasse der großen Stadt verschwunden waren, war unser Rudel ziemlich geschrumpft. Tagsüber kamen manchmal Kinder zum Ballspielen dorthin. Wir übrigen versteckten uns hinter den stinkenden Mülltonnen, so gut es ging, aber zweimal erwischte mich einer der Bälle mit voller Wucht. Das tat nicht nur höllisch weh, noch viel größer war meine Angst, von den Kindern entdeckt zu werden. Wer konnte wissen, was sie dann mit uns anstellen würden? Sie wirkten so zappelig und unberechenbar auf mich und johlten und kreischten so laut, dass sie mir echte Panik einjagten. Eines Tages kam meine Mutter von ihrer Futtersuche nicht wieder. Draußen auf der Straße erzählte man sich, sie sei von einem Hundefänger mit einer Schlinge an einem langen Stab eingefangen worden. Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört. Von da an mussten wir übrigen drei uns selbst um unser Essen kümmern, und wer weiß, vielleicht war es ja ein schicksalhafter Umstand, dass zwei Tage nachdem unsere Mutter weg war, die Ball spielenden Kinder uns tatsächlich fanden. Ich erinnere mich nur sehr schemenhaft daran, was dann geschah. Sie trugen große bunte Kisten auf ihren Rücken, die beim Laufen nur so hin und her wackelten, das wirkte sehr bedrohlich auf mich. Dann hoben sie uns hoch, weil sie uns aus der Nähe ansehen wollten, und wir fielen zu Boden, weil sie uns mit unserem panischen Gestrampel nicht richtig halten konnten. Es war sicher nicht böse gemeint, aber in ihrem Übermut drückten sie mich so fest an sich, dass ich dachte: Jetzt brechen sie mir alle Knochen, das war’s dann mit meinem kleinen Hundeleben. Meine Geschwister und ich fiepten und zappelten um die Wette, um ihrem lauten Gekreische zu entkommen, aber sie fingen uns immer wieder ein, johlten und schrien immer weiter. Durch den Lärm aufmerksam geworden, kam nun der Wirt der Gaststätte in seinen Hinterhof. Er sah uns, schimpfte ein bisschen mit den Kindern, nahm einen alten Pappkarton von irgendwoher und forderte sie auf, uns hineinzusetzen. Es dauerte ein bisschen, bis sie ihm gehorchten und uns recht unsanft in den Karton entließen, aber schließlich drückten wir drei uns ängstlich in der engen Pappschachtel aneinander. Der Mann hob die Schachtel kurzerhand an, trug uns zu seinem Metallkäfig auf Rädern, warf die Klappe im hinteren Abteil zu, in dem er uns deponiert hatte, und fuhr los. Was das alles zu bedeuten hatte, begriffen wir nicht. Wir hatten nie zuvor in so einem Metallding gesessen und fanden das Vibrieren in der Dunkelheit, das ständige Hin-und-her-Gerutsche und das laute Geräusch in dieser fahrenden, stockdunklen Kiste mehr als bedrohlich. Es rumpelte und hüpfte, und irgendwann wurde es unvermittelt still und die Klappe ging auf, es wurde urplötzlich taghell. Wir hörten die Stimmen von vielen, vielen Genossinnen und Genossen, die aufgeregt durcheinanderriefen und schimpften. Mehrere Menschenköpfe beugten sich über uns, darunter ein weiblicher mit einer hellen Stimme. Sie nahm uns in der Kiste hoch und brachte uns in eine Betonwüste mit Gittern. Da waren außer uns noch die anderen, die neugierig auf uns zukamen und uns beschnüffelten. Ich hatte Angst und roch hier so viele unterschiedliche Stimmungen und Absichten, dass mir ganz flau wurde von all diesen Wahrnehmungen. Manche von ihnen wurden zum Glück mit einer Kette am Hals, die am Gitter befestigt war, davon abgehalten, uns zu nahe zu kommen. Sie verströmten einen seltsamen Geruch, den ich noch nicht kannte. Einer von den größeren unter ihnen ohne Kette stupste mich mit der Nase an. Töten wollte der uns offensichtlich nicht, aber ich traute mich nicht, zurück zu stupsen.
Wir waren in einem sogenannten Auffanglager außerhalb der Stadt gelandet, wie wir später erfuhren. Dort wurden ein paar unserer Artgenossen hingebracht, die man in der Stadt aufgabelte. Man nannte uns die Geretteten. Was später mit uns geschah, wusste hier keiner so genau. Es war kalt, es war November. Meine Schwester, mein Bruder und ich drängten uns aneinander. Die nächsten vier Mondphasen sollte ich hier verbringen.
***
Zusammen mit Sabine und Maddox überquerten Paula und ich die Straße zur anderen Seite des Parks.
Sabine hatte schon so manchen Hundebesitzer mit ihren ruppigen Kommentaren irritiert, abgeschreckt oder gar dazu gebracht, ihr ganz aus dem Weg zu gehen. Auch Paula hatte anfangs eine Moralpredigt von ihr gehalten bekommen, was den Umgang mit mir anging. Meine ursprünglichen Angstattacken auf der Wiese, bei denen ich mich gerne tief ins angrenzende Gebüsch verkroch, kommentierte sie mit: »Ja, ist doch kein Wunder – die hat überhaupt kein Vertrauen zu dir – wieso sonst sind die Büsche als Versteck für sie offensichtlich sicherer als deine Nähe! Die nimmt dich eindeutig nicht als Rudelführerin wahr!« Paulas Stimmung war bei diesen Worten rapide in einen sehr tiefen Keller gesunken, das hatte ich deutlich gespürt.
Da hatte sie nun ihren ganzen bisherigen Lebensrhythmus mir zuliebe über den Haufen geworfen, las Bücher über Hunde und beschäftigte sich ausgiebig mit mir. Sie hatte versucht, eine Hundeschule mit mir zu besuchen, in der ich mich, zitternd vor Angst, nur in eine Ecke verdrückt hatte – zu sehr erinnerten mich die aus verschiedensten Gründen bellenden, zerrenden und piepsenden Artgenossen an die Zeit in der Auffangstation –, und nun sollte ich kein Vertrauen zu ihr haben? Diese Erkenntnis traf Paula schmerzhaft in ihrem Innersten, das spürte ich deutlich. Und sie brauchte eine ganze Weile, bis sie diesen Sabine-Satz verdaut hatte. Aber natürlich hatte Sabine damals recht: Es dauerte, bis ich irgendjemandem vertrauen konnte, egal, ob Mensch oder Hund. Ich kannte mich mit Menschen allgemein und mit dieser Umgebung noch nicht aus. Es gab Tage, an denen ich plötzlich vor allem Möglichen Schiss hatte und nur noch flüchten wollte: Vor anderen Hunden, vor Krähen, vor einem unbekannten Geräusch, sogar vor Menschen, die ich schon länger kannte, die aber Dinge taten, die ich an ihnen noch nicht kannte. Und manchmal hatte ich einfach Angst vor dem Nichts – sie kam unerwartet von irgendwoher und überwältigte mich wie ein schlecht gelaunter, bösartiger Artgenosse.
Kurz vor Weihnachten, etwa einen Jahreszeitrhythmus nach meiner Geburt und einige Monde nach meiner Ankunft bei Paula und Edgar, hatte ich mich einmal im Wald versteckt, der in etwa eine stattliche Hundewiesenlänge vom Fluss entfernt war, als ich mit Paula am Wasser unterwegs gewesen war. Das Licht der langsam untergehenden Sonne glitzerte, und ich tapste gemütlich durchs Wasser. Plötzlich nahm ich eine Witterung auf, die mich stark an den Artgenossen erinnerte, der damals meinen kleinen Bruder getötet hatte. Panisch lief ich in geduckter Haltung in den Wald, grub mir im Schutz des Gehölzes eine Kuhle in den weichen Waldboden und blieb dort erst einmal gut versteckt, aber schlotternd vor Angst, sitzen. Paulas Rufe nach mir wurden immer verzweifelter, zweimal lief sie so nah an meinem Versteck vorbei, dass sie mit einer besseren Spürnase sofort geortet hätte, wo ich kauerte. Aber sie war eben kein Riechprofi, sondern eher auf ihre Ohren und Augen angewiesen, wie ich längst festgestellt hatte. Ich war in meiner Kuhle immer noch mehr als misstrauisch und rührte mich nicht. Es wurde langsam dunkel. Ich hörte Paula aufgeregt mit Edgar telefonieren, aber sicher war sicher: Ich blieb in meinem Versteck. Irgendwann hatte ich die Witterung des Hundes wieder verloren, meine schlechten Erinnerungen verblassten langsam wieder, und Paula war ganz in meiner Nähe, sodass ich mich zitternd, mit eingeklemmter Rute, ein Stück aus meiner kleinen Grube traute. Paula war total erleichtert, mich zu sehen. Aber ich konnte auch sehr genau ihre stille Wut und ihren Kummer darüber spüren, dass ich ihren Rudelführerfähigkeiten trotz all ihrer Mühen nicht genügend vertraute.
Eine Woche später lernte ich die Hundepsychologin kennen.
Jedenfalls hatte es auch Linda Rothaar, die rechtmäßige Dosenöffnerin meiner besten Freundin Bertha Dasreicht, schon mit Sabines manchmal etwas bissig wirkender Ehrlichkeit zu tun bekommen: Mehrmals hatte sie Linda unmissverständlich zu verstehen gegeben, wie sehr sie es missbilligte, dass Bertha bei nassem Wetter nicht mit uns anderen Hunden auf der Wiese rumtoben durfte. Ihr Fell wurde dann zu schmutzig für die frisch geputzte Wohnung. Bertha verstand die Welt nicht mehr, wenn wir alle auf der weichen, matschigen Wiese um die Wette rannten und sie nicht mitmachen durfte. Sabine ließ dazu solche Sätze los wie:
»Warum schaffen Sie sich keinen Kanarienvogel an? Dann brauchen Sie nur den Käfig zu putzen!« Linda Rothaar war pikiert über diese raue Wahrheit und mied seither den Kontakt zu Sabine, wenn es sich irgendwie einrichten ließ.
Elise Langleine, die immer freundliche Apothekersgattin, die wegen ihres immensen Literaturkreispensums ständig mit in ein Buch versenktem Kopf durch den Park lief, musste sich Sabines Frage stellen, ob es ihr ausreiche, als Mensch selbst geistig auf der Höhe zu bleiben, und ihr Hund ruhig verblöden dürfe – ohne jegliche Anregung oder Aufmerksamkeit auf dem gemeinsamen Spaziergang. Ihre Retrieverhündin Emma Liesmal sah Sabine daraufhin dankbar mit großen Augen an und rannte gleich darauf überaus freudig dem Stock hinterher, den Paula eigentlich für mich aus den Büschen geklaubt hatte und nun im hohen Bogen auf die Wiese schleuderte. Ich überließ ihn ausnahmsweise Emma, obwohl es mir nicht leichtfiel. Doch manchmal kann ich auch sehr großzügig sein, wenn es für andere wichtig ist.