Koenig, Tabea Hurentochter – Die Distel von Glasgow

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Redaktion: Ulla Mothes
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Widmung

Für Leo – dafür, dass du diesen Weg mit mir gegangen bist

Prolog

Glasgow, November 1859

Margery Gallaham musste so sehr lachen, dass sie Gefahr lief, sich eine Rippe in ihrem engen Korsett zu brechen. Ihr schallendes Lachen drang durch die nebligen Straßen von Glasgow und übertönte beinahe den mitternächtlichen Glockenschlag der St.-Mungo’s-Kathedrale. Arm in Arm taumelte sie mit Higgins, ihrem Liebhaber, die Hafenpromenade entlang.

Higgins summte die Melodie aus der Oper, die sie gerade besucht hatten. Zwar ziemlich falsch, doch mit purer Begeisterung. Vor einem imaginären Publikum verbeugte er sich so tief, dass er das Gleichgewicht verlor und strauchelte.

Gerade noch rechtzeitig erwischte Margery einen Teil seines Fracks, sodass ihm ein peinlicher Sturz erspart blieb. Sie kicherte, überrascht über ihre eigene Reaktion, denn sie war mindestens genauso betrunken wie er. »Bravo, bravissimo, mein Liebster. Was für ein Tenor! Lass uns gleich in die Oper zurückkehren und bekannt geben, dass wir die neue Besetzung für Alfredo Germont gefunden haben.«

Higgins musste nun seinerseits lachen, bis er nach Luft schnappte und ein röchelndes Pfeifen von sich gab. »Lieber nicht, das könnte niemand ertragen. Außerdem würdest du nur eifersüchtig werden, wenn ich dann von meinen unzähligen Verehrerinnen umworben werde.« Higgins hob tänzelnd seinen Gehstock in die Höhe und wackelte mit dem Hintern.

Spöttisch schnalzte Margery mit der Zunge. »Verehrerinnen, in deinem Alter! Was für ein stolzer Gockel du doch bist!«

»Ich erinnere dich nur allzu gerne daran, dass ich in der Tat ein Junggeselle bin. Im Gegensatz zu dir, die einem Trunkenbold von Ehegatten entflohen ist.«

Margery wollte auf den Seitenhieb etwas erwidern, doch Higgins ließ ihr keine Gelegenheit dazu und fuhr fort: »Ja, ich gebe zu, ich habe meinen Zenit längst überschritten, aber ich fühle ich mich großartig. Ich habe meine Liebste ausgeführt und werde mit ihr gleich eine schöne Nacht verbringen.« Die prüfenden Augen des erfahrenen Geschäftsmannes ruhten auf ihr. »Dir hat die Oper doch auch gefallen?« In seinem Ton lag ein Hauch von Unsicherheit.

Margery seufzte und beschloss, bei der Wahrheit zu bleiben. »Ganz nett, aber der Wein war mehr nach meinem Geschmack.«

»Aber Liebes, das war La Traviata, die Oper des Jahrzehnts! Eine Frau deiner Profession als Hauptrolle. Das muss dich doch angesprochen haben.«

»Vielleicht ein wenig. Aber ich finde, die Hure gehört ins Bett und nicht auf die Bühne oder ins Publikum. Du hast gesehen, wie die Leute tuschelnd ihre Köpfe zusammengesteckt haben, als sie uns sahen.«

Higgins kräuselte seine Lippen und blähte seine Nasenflügel auf. »Bah, Hure! Was für ein groteskes Wort! Du bist schon lange keine Hure mehr. Es gibt einen Unterschied zwischen gebrauchen und begehren. Du bist eine Kurtisane, meine Geliebte! Und nur du denkst, dass du in meinen Kreisen nicht willkommen bist.« Er hob lehrerhaft den Finger. »Aber eines kann ich dir sagen, mein Mädel: Mit Geld öffnen sich alle Türen, auch für eine Hure.«

Margery sagte nichts mehr. Vom Hafen blies ihr ein kalter Novemberwind ins Gesicht und erinnerte sie daran, dass der Winter Einzug gehalten hatte.

Higgins blieb stehen, legte seine Arme um ihre Hüfte und küsste sie. »Ich liebe deine mandelförmigen Augen. Sie leuchten wie der Mond. Und deine Haare! Sie machen aus dir eine Löwin.« Er schnappte sich eine ihrer ergrauten Locken und umwickelte seinen Zeigefinger damit. »Ich kann mich einen glücklichen alten Mann schimpfen.«

Des vielen Lobes überdrüssig, schnitt sie eine Grimasse. Was auch immer er in ihr sah, sie würde es nie verstehen. Sie kannte seine Geschichte. Als Besitzer einer Baumwollfabrik hatte Higgins vor lauter Arbeit versäumt, eine Familie zu gründen. Lange galt er als klassischer Dandy, der den Damen den Kopf verdrehte und der auf keinem gesellschaftlichen Anlass fehlen durfte. Bis er mit siebzig von all dem Rummel auf einmal genug hatte. Da stand er nun. Erfolgreich, vermögend, aber auch einsam. Dann traf er sie, eine irische Hafenhure, die vor der großen Hungersnot geflohen war. Plötzlich war er wieder zu einem verspielten Jungen geworden, der sie mit seinem Geld in die höhere Mittelschicht katapultierte, sie mit Geschenken überhäufte und wie ein Liebestrunkener von Treue sprach – was in ihrem Gewerbe natürlich unsinnig war.

Higgins seufzte. »Schon gut, schon gut, ich hab’s verstanden. Das alles beeindruckt dich nicht. Niemand kann dein Herz kaufen. Nicht einmal ich.« Er schürzte die Lippen wie ein reumütiger Schuljunge, und beide prusteten erneut los.

Am Ende der Promenade schnappte Margery nach seiner Hand und zog ihren Gönner zu sich. »Es wird Zeit, dass wir zur Hauptstraße gehen und uns eine Droschke nehmen. Zu dir oder zu mir?«

Higgins hob die Augenbrauen. »Liebste, ich habe dir das schönste Bordell der Stadt gebaut. Dann darfst du mich darin auch ab und an verwöhnen. Findest du nicht?«

»Glaube ja nicht, ich hätte dich nicht durchschaut. Willst wohl wieder, dass ich eines der Mädchen hinzuhole?«

Higgins hob die Hände und schüttelte hastig den Kopf. »Ich muss doch sehr bitten. Darf ein Gentleman nicht ganz anständig nichts Unanständiges beabsichtigen?«

Margery lachte über die doppelte Verneinung, und etwas kleinlaut fügte Higgins hinzu: »Na ja, einen Versuch war’s ja wert.«

»Meinetwegen, dann lass uns jetzt gehen.« Sie wollte gerade die Promenade überqueren, da blieb sie abrupt stehen und deutete auf eine Treppe, die zum Clyde hinunterführte. Auf einen Schlag war sie stocknüchtern. Im fahlen Laternenlicht sah sie eine zusammengesunkene Gestalt. Ungläubig zerrte sie an Higgins’ Arm. »Da liegt eine Leiche.«

Er folgte ihrem Blick und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Bestimmt nur ein Betrunkener. Damit wollen wir nichts zu schaffen haben.«

Ein harter Zug erschien auf ihrem Gesicht. »Das meinst du doch nicht wirklich? Wir müssen nachsehen.« Ohne auf eine Reaktion zu warten, stieg sie die Treppe hinunter, wo ihr sofort der modrige und schlammige Geruch des Clydes in die Nase stach. »Alles in Ordnung?«

Keine Reaktion.

Margery fühlte Unbehagen aufsteigen, wollte jetzt aber nicht mehr umkehren. Sie nahm ihren Mut zusammen und packte die Gestalt an der Schulter. »Hallo?«

Blitzartig erwiderte die Person den Griff und setzte sich heftig atmend auf. Margery erschrak so sehr, dass sie einen Satz nach hinten machte und beinahe ins Wasser gefallen wäre. Sie ruderte mit den Armen, hielt sich an einem Eisenring fest und landete mit ihren Knien in einer Pfütze aus Unrat.

Hinter ihr stieß Higgins hörbar die Luft aus. Er lehnte sich oben über die Brüstung und sah herab. »Dieses Kleid ist aus handgewebter Seide aus Paris!«

»Higgins!«

»Ich sag’s ja nur.«

Margery blickte in das verängstigte Augenpaar einer jungen Frau. Flehend krallte diese sich an ihrem Arm fest. »Bitte tun Sie mir nichts. Ich habe niemandem was getan.«

»Haben Sie keine Angst«, beruhigte Margery sie und hielt ihre eiskalte Hand fest. »Warum sind Sie hier draußen? Es ist viel zu kalt.« Die Antwort war nur ein unverständliches Winseln.

»Wir sollten sie ins Armenhaus bringen«, murmelte Higgins, der inzwischen zu ihnen heruntergekommen war und sich theatralisch die Nase zuhielt.

»Nein, nicht ins Armenhaus«, bestimmte Margery. Es gab viele düstere Geschichten über die Armenhäuser, und wenn nur die Hälfte davon stimmte, war dies der letzte Ort, den jemand aufsuchen sollte. Sie wandte sich zur Unbekannten. »Sie unterkühlen sich hier. Kommen Sie, wir bringen Sie zu mir nach Hause.«

»Was?«, fragte Higgins ungläubig.

»Ja, du hast richtig gehört. Vor zehn Jahren hätte ich an ihrer Stelle hier sein können. Hättest du mich ins Armenhaus gebracht?«

Es wäre unklug, sie von ihrem Vorhaben abzuhalten. Das schien auch Higgins zu wissen, denn er hielt auf der Stelle seinen Mund. Vorsichtig griffen sie der Frau unter die Achseln und zogen sie hoch. Doch schon bei der kleinsten Bewegung schrie sie vor Schmerz auf und sackte sofort wieder zusammen.

»Sind Sie verletzt?«, fragte Higgins.

»Es ist die Schulter«, murmelte Margery. »Sie ist ausgerenkt.«

»Das ist das kleinere Übel«, stöhnte die Frau.

Oje, dachte Margery. Das kleinere Übel war also, dass sie vor lauter Schmerzen nicht einmal aufrecht stehen konnte. Sie sah zu Higgins hinüber, welchem wohl das Gleiche durch den Kopf ging. »Wie lautet Ihr Name?«

Die Lippen der Frau zitterten, und ihre Gefühle schienen sie zu übermannen. »Das weiß ich nicht. Alles ist fort, meine ganzen Erinnerungen.« Sie brach in Tränen aus.

»Nur ruhig. Wir werden eine Lösung finden.« Sorgsam berührte Margery ihre Schulter, während sie Higgins ein Zeichen gab. Sie hievten die Frau vorsichtig hoch. Dieses Mal blieb sie auf wackeligen Beinen stehen.

Beim Bordell öffnete ihnen Amber, eines ihrer umsatzstärksten Mädchen, die Tür und sah sie fragend an. »Grundgütiger, was ist passiert?«

»Eine Verletzte bei den Docks. Hilf uns, sie in eines der Zimmer einzuquartieren.«

Zu dritt brachten sie die Frau ins Haus. Sollten die roten Laternen und die schweren Samtvorhänge auf der Straßenseite noch nicht ausreichend für sich gesprochen haben, dann musste die Verletzte spätestens jetzt begreifen, wo sie sich befand. Der Geruch von billigem Parfum hatte sich längst in das edle Mobiliar eingefressen und Schwaden von Zigarrenrauch hingen unter der Decke. Im Salon spielte jemand Klavier. Überall hörte man Lachen und sinnliches Seufzen.

Die Verletzte hob immer wieder den Kopf und sah sich um. Mal blieb ihr Blick auf einem Aktgemälde ruhen, mal auf einer leicht bekleideten Dirne, die kichernd mit einem Kunden die Treppe hinauf verschwand. Margery versuchte, sie so diskret wie möglich am Geschehen durchzuschleusen, und atmete erleichtert aus, als sie ein ruhiges Zimmer fanden und die Verletzte dort ins Bett legen konnten.

»Ist eines der Mädchen frei?«, fragte Margery.

»Ja, Betsy war vorhin unten und hat sich in der Küche Tee gemacht.«

»Dann sag ihr, sie soll Mr Crane holen. Dich brauche ich nachher hier.«

Amber nickte und verschwand.

Higgins musterte sie mit einem skeptischen Blick. »Teuerste, wir reden aber nicht vom gleichen Mr Crane? Solltest du nicht lieber einen Arzt holen?«

»Nein, das sollte ich nicht. Wer foltert und Hinrichtungen vollstreckt, der weiß auch, wie Schultern einzurenken sind, kann Brüche richtig schienen und trägt stets Laudanum bei sich. Ich vertraue ihm.«

Mit einer Mischung aus Unverständnis und Faszination im Ausdruck sah er sie an. »Von mir aus«, gab er nach, als ob sie um seine Erlaubnis gebeten hätte. »Aber du solltest wirklich beizeiten deinen Geisteszustand untersuchen lassen. Vor weniger als einer Stunde hast du in der Oper dem Prinzen gegenübergesessen und dem Bürgermeister die Hand geschüttelt, und nun stellst du dein halbes Bordell auf den Kopf, überlässt einer völlig Unbekannten eines deiner Betten und machst mit dem Henker gemeinsame Sache.«

Margery sah ihn achselzuckend an. »Was soll daran ungewöhnlich sein?«

Amber kam mit einer Schüssel aufgewärmter Suppe zurück und versuchte, sie der Unbekannten behutsam einzuflößen. »Gleich wird es dir wärmer«, flüsterte sie. Dann schwang sie ihr offenes Haar über die Schulter und sah Margery an. »Betsy ist auf dem Weg.«

»Sehr gut, ich danke dir.« Sie nickte und wandte sich Higgins zu. »Tut mir leid, Liebster. Ich denke, es ist besser, wenn du jetzt gehst. Draußen habe ich eine Droschke stehen sehen. Wenn du die nimmst, bist du in einer Viertelstunde in deinem warmen Bett.«

Higgins zog die Mundwinkel nach unten und ließ die Arme auf seine Schenkel fallen. »Mein Bett kann ohne dich gar nicht warm genug sein. Aber ich verstehe das. Bitte pass auf dich auf, wenn der Henker kommt. In Ordnung?«

»Natürlich. Mach dir um mich keine Sorgen.«

Er verabschiedete sich und verschwand.

Margery wandte sich zu Amber, die ihre Suppenschüssel abgestellt hatte. »Es nützt nichts, sie hat keinen Löffel genommen und ist ganz abwesend.«

»Lass sie ruhen. Sie hat sicherlich lange nicht mehr richtig geschlafen.« Margery machte eine Pause und überlegte. »Wir müssen sie aus den dreckigen und nassen Kleidern bekommen. Sie zehren nur noch mehr an ihrer Gesundheit. Außerdem soll Crane sie richtig untersuchen können.«

Zusammen schälten sie die Verletzte vorsichtig aus ihrem zerschlissenen Kleid. Da die Unbekannte bei der kleinsten Bewegung aufschrie, sah sich Margery gezwungen, zur Schere zu greifen. »Das war einmal ein hochwertiges Kleid«, stellte sie fest und durchschnitt den fleckigen Brokat. Fetzen um Fetzen fiel zu Boden. Ihr schauderte, als sie einen Blick auf den entblößten Körper warf. Er schien misshandelt, übersät von Kratzern, Schürfungen und blauen Flecken.

»Ihr Bauch ist ja ganz angeschwollen.«

»Der ist nicht geschwollen«, korrigierte Margery trocken.

»Oh.«

Schnell deckten sie die Unbekannte wieder zu, damit sie nicht fror. Sie schloss seufzend die Augen. Margery betrachtete das Gesicht ihres ungewöhnlichen Gastes. Unterhalb der Schmutzschicht erkannte sie ihre Schönheit. Langes kastanienbraunes Haar umrahmte ein Gesicht mit weichen Zügen, doch aus ihren haselnussbraunen Augen schien die Lebensfreude erloschen zu sein. Wer war diese unbekannte Frau, die behauptete, sich an nichts mehr erinnern zu können? Welches Unrecht hatte man ihr angetan? Margery tätschelte die Wangen der Frau, um sie aufzuwecken. »Es kommt gleich jemand, der Sie untersucht. Jetzt, da Sie in Sicherheit sind, ist Ihnen vielleicht Ihr Name wieder eingefallen?«

»Ich fürchte nicht«, antwortete die Frau mit tränenerstickter Stimme.

Margery setzte sich zu ihr und nahm ihre Hand. »Weinen Sie nicht, meine Liebe. Bestimmt wird sich alles klären. Wissen Sie, an wen Sie mich erinnern? An meine Schwester Ines, Gott sei ihrer Seele gnädig. Sie sah Ihnen sehr ähnlich. Wir können Sie so lange ›Ines‹ nennen, bis Sie sich wieder an Ihren echten Namen erinnern können.«

Aus verquollenen Augen blickte die junge Frau zu ihr auf. »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Mistress. Es ist mir sehr unangenehm, Ihnen so zur Last zu fallen.«

Ihre Aussprache ist zu höflich für eine Frau aus der Gosse, dachte Margery und drückte ihre Hand. »Machen Sie sich darüber vorerst keine Gedanken.«

Die Wanduhr in der Eingangshalle schlug ein Uhr nachts, als Mr Crane das Haus erreichte. Wortkarg, wie er war, verzichtete er auf jegliche Formalitäten und setzte seinen Koffer ab. »Worum geht es?«

Margery stand auf und blickte mit nach vorn gerecktem Kinn und zurückgezogenen Schultern zum Henker hoch. Immer wenn sie ihn traf, staunte sie aufs Neue, wie groß der Henker von Glasgow war. Beinahe sechseinhalb Fuß. Aschblonde, teilweise silberne, fransige Haare fielen ihm in seine eisbergblauen Augen, die sie erwartungsvoll anvisierten.

»Es geht um diese Frau hier. Sie ist schwer verletzt und scheint ihr Gedächtnis verloren zu haben.«

Viggo Crane setzte sich auf die Bettkante und untersuchte Ines’ Kopf, indem er ihn mit seinen riesigen Pranken abtastete. »Ziemlich unsanft auf den Kopf gefallen. Könnte ihr jemand aber auch zugefügt haben. Möglich, dass der Gedächtnisschwund dadurch entstand. Da ist eine Wundkruste am Hinterkopf. Scheint gut zu heilen.«

Viggo ließ von ihrem Haupt ab und betrachtete den unnatürlich angewinkelten Arm. »Ausgerenkt. Mach ich wieder rein. Kann wehtun.« Ohne auf eine Reaktion zu warten, griff er mit der rechten Hand unter ihre linke Achsel und packte mit seiner Linken ihr Handgelenk. Dann zog er dieses langsam gegen seine Brust.

Ines schrie auf und drohte gar ohnmächtig zu werden, doch der eiserne Griff des Henkers ließ nicht nach, ehe ein Knacksen durch den Raum hallte.

»Wieder drin«, stellte er mit stoischer Gelassenheit fest. Als Viggo ohne jegliche Rücksicht auf die Privatsphäre seiner Patientin die Bettdecke zurückschlug, verzog Margery beim erneuten Anblick der unzähligen Schürfungen das Gesicht.

»Nichts allzu Tragisches«, stellte der Henker hingegen fest und wandte sich zu Margery. »Ich werde Laudanum und Jod dalassen.« Dann drehte er sich wieder zurück zu Ines und untersuchte ihren Rumpf.

»Ein paar gebrochene Rippen. Kann nicht sehen, wie viele. Müssen durch Ruhe ausheilen.« Er hielt inne und musterte ihren Unterleib. »Da sie keinen Ehering trägt, gratuliere ich lieber nicht.«

»Was?«, fragte Ines, die plötzlich sehr wach wirkte.

»Sie sind in Erwartung, will ich damit sagen.« Es war das erste Mal, dass der Henker sie direkt gesprochen hatte.

»Ich hatte einen Ring«, sagte sie schwach und voller Sehnsucht. »Das Letzte, woran ich mich zurückerinnere, ist, wie ich auf einem Dampfer vom Kapitän aufgeweckt werde. Er sagte mir in einem starken Akzent, dass ich ihm die Fahrt nach Glasgow sowie Kost und Logis schulde. Er drohte mir mit Prügeln, weil ich kein Geld hatte. Den Ring hielt er für eine angemessene Bezahlung.« Mit zittrigen Lippen berührte sie die Stelle ihres Fingers, wo er einst saß. »War das mein Ehering?« Wohl wissend, darauf keine Antwort zu erhalten, fuhr sie über die sanfte Wölbung. »Und das Kind? Wie weit bin ich?«

»Ich bin Henker und keine Hebamme.« Viggo zuckte mit den Schultern. »Aber da man den Bauch bereits sehen kann, dürften Sie im vierten oder fünften Monat sein.«

»Es grenzt an ein Wunder, dass sie es nach all dieser Tortur nicht verlor«, warf Margery ein und lächelte Ines aufmunternd zu.

Viggo stand auf und ergriff seinen Koffer. »Falls Sie sich mit ihr befassen wollen, dann sorgen Sie dafür, dass sie genug Schlaf und Ruhe bekommt. Sie ist ausgezehrt, und ihre Wunden müssen ausheilen.«

Margery nickte. »Ich werde sie bei mir aufnehmen und gut für sie sorgen. Vielen Dank für alles. Lassen Sie mich meine Geldbörse holen.«

»Warten Sie«, unterbrach Ines sie. »Ich behellige Sie schon genug mit meiner Anwesenheit. Ich möchte meinen Retter selbst bezahlen. Das ist mehr als angebracht.«

Margery blieb überrascht stehen und beobachtete, wie sie in ihren Nacken griff und eine Halskette löste. Weil die Kette so dünn war und der Anhänger hinter dem Hals gelegen hatte, war sie ihr vorhin gar nicht aufgefallen.

»Es ist nichts sonderlich Wertvolles, fürchte ich. Eine einfache Silberkette mit einem Anhänger. Aber bestimmt kann man sie leicht zu Geld machen.«

Viggo betrachtete das Schmuckstück flüchtig und steckte es ein.

»Sind Sie sicher?«, fragte Margery. »Die Bezahlung stellt für mich keine Unannehmlichkeit dar.«

»Ich bestehe darauf.« Die Stimme der Frau klang schwach, aber dennoch bestimmt.

Margery nickte und wünschte ihr eine gute Erholung. Dann zogen sie und Viggo sich zurück, und Margery begleitete ihn zur Haustür. Der rege Betrieb war abgeflaut, die meisten Kunden hatten zufrieden das Haus verlassen. Margery war es gewohnt, bei gedimmtem Licht über Korsagen, Krinolinen, Schuhe und Strümpfe zu balancieren. Aufgeräumt wurde immer tags drauf. Im Waschraum hörten sie das Geschwätz der Huren, die sich mit einem Sherry im Badezuber über den Abend austauschten.

»Vielen Dank für Ihr schnelles Kommen«, sagte sie zum Henker. »Wie geht es Anne-Sophie?«

Ein schwerer Seufzer entwich ihm. »Sie wird mir weggenommen, Mrs Gallaham. Mein einziges Kind. Heiratet einen dieser feinen Pinkel. McBaillie, der Sohn des Politikers. Sie wissen es ja sicherlich. Ich freue mich für sie. Es ist eine Partie, die sich eine Henkerstochter üblicherweise nicht zu erträumen wagt. Aber nun verliere ich alles, was ich habe. Sie machen aus ihr eine McBaillie und löschen ihre Herkunft aus. Ich werde nicht einmal zur Hochzeit geladen.«

»Das wusste ich nicht. Es tut mir leid.« Betroffen legte sie ihre Hand auf seinen Unterarm. Eine Geste, mit der Margery in der Öffentlichkeit schockiert hätte. Niemand kam einem Unberührbaren freiwillig nahe. »Ist die Halskette für sie?«

»Das habe ich mir so gedacht. Ich konnte mir noch nie ein Schmuckstück für sie leisten.«

Margery versuchte zu lächeln. »Sie wird sich sicherlich freuen.«

»Wird sich zeigen.« Viggo setzte seinen Hut auf und wandte sich zur Tür. »Eine gute Nacht wünsche ich. Geben Sie auf sich acht.«

Teil 1

1. Kapitel

Glasgow, April 1876

Emilys Ohren fühlten sich heißer an als das Wasser in ihrem Zuber, und ihre Haut war von derselben Farbe wie ihr fuchsrotes Haar. Hatte der gesamte Waschraum vor weniger als zehn Minuten noch ihr allein gehört, war er nun mit lauter leicht bekleideten und nackten Frauen gefüllt, die ihre tägliche Arbeit getan hatten und vergnügt miteinander tratschten. Hoch konzentriert rieb sich Emily mit Seife ein und versuchte, das Gerede der anderen zu überhören.

»Und dann versuchte er doch tatsächlich zu verbergen, dass ihm seine Ladung bereits in der Hose losgegangen ist. Und ich fragte nur: ›Süßer, willst du vielleicht ein Taschentuch?‹«, grölte die üppige Bree.

Die Frauen brachen in johlendes Gelächter aus. Bree öffnete ihren Morgenrock, ließ ihn fallen und stieg ungefragt zu Emily in den Zuber. Sofort hob sich der Pegel, und das Badewasser schwappte über den Rand. Emily warf ihr einen bösen Blick zu, doch Bree steckte vergnügt ihre braunen Locken hoch und plauderte weiter. »Abby, hast du nicht erst vor Kurzem erzählt, dass dir so was auch passiert ist?«

»Nicht ganz«, entgegnete diese. In obszöner Haltung stand Abby mit hochgerafftem Rock und gespreizten Beinen über einem Topf mit einem übel riechenden Gebräu, dessen Dämpfe angeblich Schwangerschaften verhindern sollten, und legte den Kopf in den Nacken. Die Prostituierte, deren spitzes Gesicht und strohblondes Haar an eine gepflegte Vogelscheuche erinnerten, stemmte die Hände in die Taille und grinste abschätzig. »Der Freier glaubte, dass er drin wäre. War er aber nicht, sondern irgendwo zwischen meinen Schenkeln. Hat mir eine Spülung da unten erspart.«

»Das wundert mich nicht bei deinem Busch«, warf Dina, die Älteste, ein. »Du solltest dein Gestrüpp besser pflegen, das ist dein Arbeitsinstrument.« Sie schob Abby vom Dampftopf weg und positionierte sich selbst darüber.

»Manche Männer haben auch wirklich keine Kenntnisse über den weiblichen Schoß. Bei mir ist heute einer fast in die falsche Öffnung gerutscht«, meldete sich die junge Ellen mit einer liebreizenden Stimme zu Wort. Sie war noch keine siebzehn, aber schon dick im Geschäft.

Dina und Abby verzogen die Gesichter und taten ihr Mitgefühl angesichts der Verwechslung kund.

Trotz der angenehmen Temperatur des Badewassers erlitt Emily unterdessen heftige Schweißausbrüche bei diesen Gesprächen. Als Bree sich auch noch an ihrem Waschlappen bediente und ihn ihr anschließend wieder zurückreichen wollte, schnellte sie angewidert hoch und stieg aus der Wanne. Wenn sie sich beeilte, könnte sie rechtzeitig das Weite suchen, ehe ihre Mutter im Waschraum auf sie stieß. Dann blieb ihr die Schelte vielleicht erspart.

»Ich glaube kaum, dass dies eine Verwechslung war, chérie«, sinnierte eine der Randolf-Schwestern. »Manche Männer mögen das.«

Sie erhielt von ihrer Zwillingsschwester Zustimmung.

»Aus welchem eurer Zimmer drang heute Abend eigentlich dieses schreckliche Geschnaube und Gestöhne?«, fragte Abby. »Das klang ja fürchterlich! Richtig unheimlich!«

»Ja, das habe ich auch gehört! Wie ein röhrender Hirsch, den man zur Schlachtbank zerrte«, kicherte die zweite Randolf-Schwester. »Unerträglich.«

»Das war mein Admiral«, antwortete Dina mit einem Grinsen. »Seit der nicht mehr so oft vorbeikommt, kommt er dafür umso intensiver.«

Als Abby das Geräusch auch noch täuschend echt nachahmte und an Dinas Hinterteil groteske Bewegungen machte, konnte Emily ein Glucksen nicht zurückhalten.

Es blieb nicht unbemerkt. Von niemandem. Plötzlich herrschte Stille, und sechs Augenpaare ruhten auf ihr. Emily verstummte schnell und schlang ein Handtuch um sich.

»Wann beginnt bei dir eigentlich der ganze Spaß?«, fragte Abby direkt heraus.

»Was?«, quiekte sie und drückte das Handtuch fester an sich. »Gar nicht! I…ich habe nicht vor, eine …«

»Aber warum denn nicht, Kleines? Es ist doch ganz spaßig«, meinte Bree, die den verschmähten Waschlappen nun auswrang. »Frag Ellen, die war so alt wie du, als sie bei uns angefangen hat.«

»O wirklich, Emily, es ist großartig«, bezeugte diese. »Du brauchst nicht heiraten, hast trotzdem immer einen Mann um dich und gutes Geld gibt es obendrauf.«

»Und zusätzlich gibt es Krankheiten, regelmäßig im Stillen herbeigeführte Aborte, und am Ende landet man wie Betsy im Massengrab«, antwortete Emily augenrollend und fuhr mit der freien Hand durch ihr feuchtes Haar.

»Oder aber es rettet dir das Leben, chérie«, sagte die erste Randolf-Schwester und hob tadelnd den Finger. »Schau doch nur deine Mutter an. Was hatte sie, als sie zu uns kam? Nichts! Nicht einmal ein Gedächtnis. Sie war auf der Straße, schwanger und dem Tode nah. Eine gefallene Frau, um die sich niemand scherte. Frag Margery, wenn du es nicht glaubst. Und was ist deine Mutter nun?«

Emily stöhnte genervt und verdrehte die Augen. Das Schicksal ihrer Mutter diente seit jeher als Trumpf der Huren, wenn es darum ging, sie für ihr Gewerbe zu überzeugen. Sie gab sich geschlagen und sagte, was alle hören wollten: »Eine Hure und …«

»Eine der gefragtesten Huren, die Glasgow zu bieten hat, und Margerys rechte Hand«, korrigierte Abby und führte ihren Monolog gleich fort: »Nicht nur gut aussehend, liebreizend und wohlerzogen, sondern auch intelligent. Wer war es, der dir Lesen und Schreiben beigebracht hat, und wer macht unsere Buchhaltung?«

»Sie hatte doch gar keine andere Wahl«, schnaubte Emily. »Es ist traurig, dass dies ihre einzige Möglichkeit auf Rettung war, nichts anderes.« Ihre Worte brachten in den Gesichtern der Frauen keine Regung hervor. »Ich bin ja noch nicht einmal sechzehn! Ich will über solche Dinge nicht nachdenken.« Sie verstummte. Die Frauen würden sie nur auslachen, wenn sie ihnen sagte, wie befremdlich sie das fand, was die Männer und Frauen in einem Bordell taten. Dank den bildhaften Schilderungen ihrer Freundinnen und so manch unfreiwilligen Einblicken hatte sie eine recht gute Vorstellung davon. »Ich hab euch lieb, aber so will ich nicht werden. Ich möchte einmal etwas Ehrbares machen. Auf die Straße gehen können, ohne verachtet zu werden.« Sie errötete. »Und einen Mann finden, der mich liebt. Einen, der mich heiratet und der bleibt.«

»Pah, ehrbar!«, schnaubte Abby. »Mädel, hast du dich mal umgesehen, wo du dich befindest?« Sie spie in einen Waschtrog, der mit abgestandenem Wasser gefüllt war.

»Lass sie doch«, entgegnete Dina. »Sie kann anstreben, was sie will, ihr steht vieles offen. Und wenn sie an ihrem Ruf arbeitet, dann hat sie vielleicht sogar eine Chance, eines Tages ein respektables Leben zu führen. Margery hat die Mädchen immer gefördert, die aussteigen wollten.«

Emily wollte sich für die stärkenden Worte bereits bedanken, da fügte Dina hinzu: »Außerdem wissen wir sowieso alle, dass du in Liam verliebt bist.«

»Das stimmt gar nicht!«, stritt sie ab. Ihre Stimme klang dabei schriller, als sie wollte. Sie würde im Erdboden versinken, wenn er davon erfuhr.

Ellen lachte und klopfte Emily auf die Schulter. »Schon gut. Wir machen ja nur Spaß.«

Emily presste die Lippen zusammen und war alles andere als überzeugt. Seit sie langsam zu einer jungen Frau heranreifte, hatte sie sich kritisch mit dem Leben im Bordell auseinandergesetzt. Als Mädchen, das hier groß geworden war, erfüllte sie die besten Voraussetzungen, um selbst als Hure zu enden. Bisher hatte sie kaum etwas von der Welt außerhalb des Bordells gesehen. Eine Schule durfte sie zwar bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr besuchen, doch sie hatte dort keine Freunde und wurde aufgrund ihrer Situation schlecht behandelt. Man nannte sie nur »Bastard« oder »Hurentochter« und verdonnerte sie oft zum Nachsitzen. Von ihren Mitschülerinnen isoliert, konzentrierte sie sich auf ihre Noten und wurde bald Klassenbeste, was sie nur noch mehr der Missgunst der anderen aussetzte. Als Emily die Schule verließ, hatte sie das Gefühl, endlich wieder atmen zu können. Ihre Mutter bildete sie zu Hause zwar weiter und verlangte von ihr ein sicheres Auftreten, tadellose Manieren und dass sie in der Lage war, angemessene Konversation zu betreiben, doch auf dem Heiratsmarkt würde sie dennoch alles andere als eine gute Partie abgeben. Sie besaß weder eine Mitgift noch einen tadellosen Ruf, geschweige denn einen einflussreichen Vater. Wenn sie Glück hatte, fand sie einen frischen Witwer, dessen Frau gerade erst im Kindbett gestorben war und der nun aus Zeitdruck das erstbeste Mädchen zur Frau nehmen musste, damit sich jemand um den Haushalt und das Baby kümmerte.

Brittany, eine weitere Hure, betrat den Raum und schleuderte die gebrauchten Präservative, die sich über den Tag in ihrem Zimmer angesammelt hatten, auf Emilys Arbeitstisch. Eines verfehlte sie knapp, sodass es auf der Tischkante einen klebrig schimmernden Film hinterließ, während es zu Boden rutschte.

Alleine beim Anblick kam Emily die Galle hoch. Natürlich hatte Bree ihre Reaktion gesehen und lachte. »Siehst du, Kindchen, dafür will ich nicht mit dir tauschen. Ich benutze die Dinger lieber, als dass ich sie reinigen und wieder auf Vordermann bringen will.«

»Wusstet ihr, dass die Überzieher in Paris bereits in Serie und aus Gummi produziert werden?«, sinnierte Ellen.

»Eheliche Hygieneartikel heißt das«, korrigierte sie die erste Randolf-Schwester, die in dieser Hinsicht eine Frau vom Fach war.

Da öffnete sich die Tür, und Emily zuckte zusammen, als sie erkannte, wer in den Raum rauschte. Jetzt hatte ihre Mutter sie doch noch beim Faulenzen mit den Huren erwischt.

Doch dieses Mal stimmte etwas mit ihrem Blick nicht. Er war nicht wie üblich streng, sondern besorgt. So sah niemand aus, der gerade sein Kind schelten wollte.

Sofort begriff Emily, dass es etwas mit Margery zu tun haben musste, denn seit Tagen war diese so krank, dass immer jemand an ihrem Bett wachte.

Emily behielt recht, denn ihre Mutter brachte gerade einmal drei Wörter über ihre Lippen, ehe sie ihr Gesicht abwandte, um Haltung zu bewahren. »Margery ist tot.«

2. Kapitel

Glasgow, April 1876

Im kleinen Raum mangelte es an Luft und Licht, sodass Emily das Gefühl hatte, nicht atmen zu können. Das Schlafzimmer war auch nicht dazu geeignet, dass über zwanzig Leute darin standen und sich um das massive Himmelbett ihrer verstorbenen Bordellbetreiberin scharten.

Ein fester Kloß steckte in Emilys Hals, als sie auf Margery blickte. Sie sah aus, als schliefe sie nur. So entspannt und friedlich. Sie ging einen Schritt zurück, um andere vorzulassen, und schluchzte.

Liam stand neben ihr und streifte ihre Finger. Die Berührung war minimal, aber sie gab ihr Kraft und sorgte dafür, dass ihr Herz einen Sprung tat. Selbst jetzt. Mit verquollenen Augen blickte sie zu ihm hoch und unterdrückte den Drang, eine seiner pechschwarzen Haarsträhnen aus seinem Gesicht zu streichen.

Ihre Mutter Ines kündete eine Ansprache an. Es gab nur wenige Menschen, denen die Trauer gut stand. Ihre Mutter war eine dieser Ausnahmen. Das Vorzeigebild in jeglicher Hinsicht, respektiert, beherrscht und reserviert. Kerzengerade und mit klarem Blick wandte sie sich zu ihren Freundinnen.

»Margery war Irin, und nach dieser Tradition soll sie betrauert werden. Es gibt eine dreitägige Totenwache mit Einladungen, Essen, Musik und Spiel. Es werden in diesen drei Tagen keine Kunden bedient, und es bleibt stets jemand bei ihr.«

Die Huren nickten schweigend, und Ines reckte ihr Kinn zu Emily. »Meine Tochter, du beginnst mit der Totenwache. Christine wird dich in ein paar Stunden ablösen. Der Rest kommt mit nach unten. Es gibt vieles vorzubereiten.«

Emily schluckte, wagte aber nicht zu widersprechen. Nur einer zögerte. Liam berührte erneut ihre Hand, sah sie aus seinen himmelblauen Augen besorgt an und machte Anstalten zu bleiben. Aber Ines warf ihm einen strengen Blick zu, und er zog seine Hand schnell zurück. Ehe sie sich’s versah, hatte auch die letzte Person das Zimmer verlassen, und Emily blieb allein mit der Verstorbenen zurück.

 

Stunden später öffnete sich die Tür, und Emily schreckte aus ihrem Sessel hoch. Sie musste eingeschlafen sein. Das hätte bei einer Totenwache nicht passieren dürfen.

Christine sah sie mit einem wissenden Blick an, ging aber nicht darauf ein. Immer war sie so loyal zu ihr. »Ich habe dir ein paar Plätzchen und Limonade mitgebracht.« Sie stellte das Tablett auf die Kommode und öffnete das Fenster. Von draußen schien der Mond und erhellte das Zimmer.

Ungeschickt zündete Emily eine Lampe an. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten und sie einen Blick auf Margerys Leichnam riskierte. Keine Maden, die aus ihren Augen krochen, keine teuflische Fratze. Auch der Mund war korrekt geschlossen. Gott sei Dank, dachte sie.

»Sieh sie dir an. Wie wunderschön sie ist«, flüsterte Christine. »Selbst jetzt. Und immer war sie so lieb zu uns. Ich wünschte, ich hätte mehr von ihr gehabt.« Sie seufzte. Wenn Christine die Straße entlangging, war sie der Grund, warum Arbeiter und Kutscher Unfälle bauten und eifersüchtige Damen sich über die verdrehten Hälse ihrer Ehemänner erbosten. Der aufsteigende Stern im Bordell an der Renfield Lane hatte große blaue Augen, kirschfarbene Lippen, blonde Zapfenlocken, war attraktiv, gewitzt, gebildet und klug. Sie wusste, wie sie Kunden das letzte Geld aus der Tasche lockte und ihnen das Gefühl gab, den ganzen Tag auf keinen anderen gewartet zu haben. Die Wirklichkeit sah allerdings ganz anders aus.

Vor einem halben Jahr war sie zum Entsetzen ihrer Eltern mit dem Küchenjungen von ihrem Anwesen in Stirling nach Glasgow durchgebrannt. Dort hatten sie eine wilde Ehe geführt, was in Christines Kreisen einem gesellschaftlichen Selbstmord gleichkam. Als der Junge sie nach einigen Wochen verlassen hatte, wollte sie zu ihren Eltern zurückkehren und war auf verschlossene Türen gestoßen. Ihr Vater hatte sich geweigert, seine missratene Tochter wieder aufzunehmen. Die Schande, welche sie über die Familie gebracht hatte, war so groß, dass diese ihr Kind lieber aussetzte.

Mit gebrochenem Herzen, verletztem Stolz und ohne Geld war Christine daher nach Glasgow zurückgekehrt und stieß auf Margerys Bordell, wo sie mit offenen Armen empfangen wurde. Am meisten freute sich Emily über den Zuwachs. Die beiden wurden schnell enge Freundinnen und teilten sich ein Zimmer.

»Ich hätte so gern mehr von ihr gelernt«, fuhr Christine fort. »Zum Beispiel, wie sie sich diesen feinen Pinkel geangelt hat. Kanntest du den? Diesen Higgins?«

»Kaum. Hab ihn ein paarmal gesehen. Aber der ist schon lange tot«, antwortete Emily, ohne den Blick von Margery zu wenden. »Was wolltest du denn von ihr lernen?«

»Alles! Was ich tun muss, um mich als Kurtisane von einer Hure zu unterscheiden. Wie sie sprechen, sich verhalten, sich bewegen, die Männer bezirzen! Margery musste ihm doch irgendwie den Kopf verdreht haben. Das will ich auch können. Ich will einmal meinen eigenen Higgins haben.«

»Wofür? Um ein langweiliges Leben in Luxus zu führen? Das hattest du ja bereits. Und es hat dir nicht gefallen.«

»Der Luxus war auch nicht das Problem, sondern die Liebe. Ich habe gegen die Vorbestimmung meines Lebens aufbegehrt, und darum fiel ich. Jetzt will ich meine Trümpfe einsetzen, die ich noch habe.«

Emily zuckte mit den Schultern. So hatte jeder seine eigenen Möglichkeiten und Motive. »Vielleicht war es auch einfach Liebe zwischen Margery und Higgins. Meinst du nicht?«

Christine hatte nur ein abfälliges Grunzen dafür übrig. »Ja klar.«

Gedankenverloren kaute Emily auf einem Plätzchen. »Ich bin so traurig, Christine. Ich weiß gar nicht, wie es weitergehen soll. Ohne sie ist das Bordell nicht mehr das Gleiche.«

Christine raffte ihre Turnüre und zwängte sich neben sie in den gepolsterten Sessel. »Unten reden sie davon, dass eine neue Bordellbetreiberin aus Marseille den Betrieb übernehmen wird. Margerys Ehemann aus Irland war all die Jahre nie für sie dagewesen. Er hat auf die Briefe deiner Mutter nicht reagiert, als sie ihn über ihren schlechten Gesundheitszustand in Kenntnis setzte, aber bereits alles für eine Übernahme nach ihrem Ableben in die Wege geleitet. Als Ehemann hat er Anspruch auf ihren ganzen Besitz, sodass das Bordell nun ihm gehört und er Madame Dorian als seine Verwalterin entsendet.«

Blankes Entsetzen zeichnete sich auf Emilys Gesicht. »Das Bordell wird weitergegeben? Und was geschieht dann mit uns?«

»Es ist noch zu früh, um darüber nachzudenken. Wenn das Schicksal uns wohlgesinnt ist, wird sich nicht viel ändern.«

»Wenn«, flüsterte Emily. »Vielleicht können Mutter und ich nun fortgehen und …« Sie hielt inne. Sie hasste sich dafür, dass ihr Gemüt so wenig belastbar war, und wollte auch nicht den Eindruck vermitteln, dass Margery sie schlecht behandelt hatte. Aber der kleine Funke Hoffnung war bereits zu einem lodernden Feuer entfacht. »… ein ruhiges Leben führen.«

Christine seufzte. »Ach Liebes, wie sollte das gehen, als unverheiratete Frau?«

»Was ist mit ihrem Mann? Irgendwie muss ich schließlich entstanden sein«, warf Emily ein. Ihre Stimme bebte, und sie schämte sich, weil sie so aufgebracht war. Ihre Mutter verlor nie die Fassung.

Christine nahm sie in die Arme und streichelte ihren Rücken. »Liebes, ich weiß, es tut weh, das zu hören, aber kam dieser verheißungsvolle Mann in all den Jahren vorbei und wollte sie zurück? Gab es je ein Lebenszeichen von deinem Vater? Eine Vermisstenmeldung, einen Brief? Vielleicht weiß er gar nichts von dir. Oder schlimmer: Es kümmert ihn nicht. Und Ines kann sich doch nicht einmal erinnern. Es könnte jeder sein. Vielleicht ist er auch schon lange tot.«

Emily schluchzte und sah ein, dass ihre Freundin recht hatte.

»Sei nicht traurig. So schlimm ist es gar nicht. Du hast ja noch mich. Und Liam.« Sie zwinkerte ihr zu und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Geh jetzt ins Bett, Liebes.«

Oben wartete Liam auf sie. Groß sah er aus, wie er mit verschränkten Armen an der Wand lehnte. Als er sie sah, richtete er sich auf und blickte sie mitfühlend an. Nach einem raschen Blick durch den dunklen, leeren Flur zog er sie an sich und platzierte einen tröstenden Kuss auf ihre Stirn. »War es schlimm?«

Erschöpft ließ sie die Schultern hängen und lehnte sich an ihn. »Ich will einfach nur in mein Zimmer.«

»Dort heulst du eh nur rum. Komm lieber mit.«

Ehe Emily sich wehren konnte, nahm er sie an der Hand und führte sie an der dunklen Fensterfront zu ihrer Linken entlang bis ans Ende des Korridors, wo eine Leiter in Liams Reich führte.

Auf dem Spitzboden angekommen, kauerte sie sich an die Wand und winkelte die Beine an. Es war eine enge, aber heimelige Kammer, die von einer einzigen kleinen Laterne, die an einem Nagel hing, beleuchtet wurde. Außer seiner Matratze, einer Truhe und einem Ofenrohr gab es keine Möbel. Dafür hatte Liam eine schöne große Dachluke mit Blick zu den Sternen und einem Austritt, den der Schornsteinfeger benutzte. Aber das Wertvollste in diesem Raum war eindeutig die Ruhe. Kein Zimmer lag weiter vom Waschraum entfernt als dieses hier.

Liam saß ihr versetzt gegenüber, sodass sich ihre Knie berührten. Beide schwiegen, während sich Emily eine seiner Strähnen schnappte und daran herumspielte. Die Vertrautheit zwischen ihnen kam ihr vor, als würden sich ihre Seelen seit Jahrhunderten kennen. Dann kramte er unter seiner Matratze eine Papiertüte hervor.

Immer diese verflixten Körner, dachte Emily. Sie würde es niemals verstehen, warum er so verrückt nach diesem Zeug war. Und nach Erdnüssen und Pistazien.

Sie griff ebenfalls in die Tüte, und ihr Herz prickelte, als sich ihre Finger dabei berührten. Ihre Mutter sah es nicht gerne, wenn sie hier oben war. Genauer gesagt, sie sah es nicht mehr gerne. Früher war Emily täglich hier oben gewesen, hatte hier manchmal sogar übernachtet. Aber nun störte sich ihre Mutter daran und sagte, sie wolle nicht, dass die beiden auf dumme Ideen kämen. Emily war diese Aussage überaus peinlich gewesen. Allein die Erinnerung an dieses Gespräch ließ sie wünschen, im Erdboden versinken zu können. Sie hatte so getan, als verstünde sie nicht, was ihre Mutter damit meinte, dabei wusste sie es sehr genau. Nur der Gedanke daran war noch unerträglicher als die Unterstellung ihrer Mutter.

Einmal hatte sie davon geträumt. Dass sie tatsächlich auf ebendiese Idee gekommen wären und ES getan hätten. Eigentlich auch nicht verwunderlich, musste sie den ganzen Tratsch der Huren doch irgendwie verarbeiten. Danach war sie tagelang verstört gewesen. Der Traum hatte sich so echt angefühlt, dass sie Liam eine ganze Woche nicht in die Augen sehen konnte. Nur Christine erfuhr davon. Und die hatte natürlich herzhaft gelacht.

»Verdammt heiß hier oben.«

»Was?«, fuhr sie erschrocken aus ihren Gedanken.

»Komm, wir gehen aufs Dach.«

Sie blickte auf seine Hand, in welcher er eine soeben gedrehte Zigarette hielt. Aha, daher wehte also der Wind. »Na schön.«

Draußen auf dem Dach war es kühl, und bis auf das Geklapper der vorbeiziehenden Droschken und das gelegentliche Vorbeirattern eines Güterzuges war nichts zu hören. Unten leuchteten Straßenlaternen, die den Menschen den Weg durch die Dunkelheit wiesen. Die Stadt schlief nie.

Emily hatte Liams Bettdecke um sich geschlungen und musterte ihn argwöhnisch beim Rauchen. »Du bist zu jung für diese Dinger.«

»Und du bist zu jung für solch ein ernstes Gesicht.«

»Lass mich doch. Ich bin einfach nur traurig.«

»Das weiß ich doch. Ich ja auch«, sagte er und zupfte sich am Ohr.

»Das merkt man aber nicht.«

Er gluckste etwas Unverständliches und legte sich auf den Rücken. »Sie ist jetzt bestimmt an einem besseren Ort.« Er nahm einige Lungenzüge und starrte in den Himmel. »Komm mal her.« Er streckte den Arm nach ihr aus. »Wir suchen ihren Stern.«

»Ihren Stern?«

»Weißt du das denn nicht? Wenn jemand stirbt, wird seine Seele zu einem Stern. Vielleicht finden wir ihren.«

Emily lächelte und legte sich neben ihn. Das war ein schönes Gefühl, so nahe bei ihm zu sein. Sie kniff die Augen zusammen und beobachtete den Himmel. »Ich glaube, ich habe ihn gefunden.«

»So? Welchen denn?«, fragte er und schnippte den Zigarettenstummel weg.

»Den hellen da drüben.« Sie zeigte mit dem Finger darauf.

»Die Venus?«

»Nein, das ist nicht mehr die Venus. Das ist Margery«, sagte sie entschieden. Eine kleine Träne rann an ihrer Schläfe entlang.

»Also gut. Dann ist das jetzt Margerys Stern.« Liam legte den Kopf zur Seite und lächelte sie an. Im Dunkeln konnte sie seine hellblauen Augen nicht sehen, aber sie wusste, dass es die schönsten Augen waren, die es auf der ganzen Erde gab. Ebenso wie sein Lächeln, der Flaum um sein Kinn und die Narbe an der Wange, die wie ein Lachfältchen aussah. Meist sah man sie nicht, nur wenn Liam eine Grimasse schnitt oder den Mundwinkel hochzog. Als sie beide noch Kinder waren und auf der Straße spielten, wurden sie von einem streunenden Hund angegriffen. Er schnappte nach ihr, aber Liam stieß den Köter von Emily fort und wurde dabei selbst gebissen. Zack, so richtig tief in die Wange, sodass sie schrecklich geblutet hatte. Aber er war so stolz gewesen, dass er Emily beschützt hatte, und sie fühlte sich geschmeichelt. Ja, sie fand seine Narbe ausgesprochen schön! Es stimmte, was die Huren unten im Waschraum sagten. Sie war in ihn verliebt. Schon seit sie denken konnte.

»Siehst du? Geht doch«, sagte er mit einem hörbaren Hauch von Selbstzufriedenheit.

Der Kirchturm der St.-Mungo’s-Kathedrale kündete mit einem schweren Schlag die volle Stunde an.

»Gleich ist Mitternacht. Dann beginnt ein neuer Tag. Und weißt du was, Emily? Ab morgen wird alles besser.«

 

Aber am nächsten Morgen wurde nicht alles besser. Auch nicht am Tag darauf oder am übernächsten. Kalt war der Wind und schwarz der Himmel, als Emily und die Huren eines frühen Morgens die Nekropolis betraten und der Regen auf Margerys Sargdeckel trommelte. Sämtliches Zeitgefühl schien verloren, als sie durch das massive Tor schritten und die in Nebel umhüllte Brücke zum Friedhof passierten. Fröstelnd hakte sich Emily bei Liam unter. Sie brauchte den Halt. In ihrem engen Trauerkostüm konnte sie kaum atmen. Christine hatte sie viel zu stark eingeschnürt. Als müsse sie heute irgendjemandem gefallen, um sechs Uhr morgens in der Dämmerung. Eine unmögliche Zeit, wie sie fand. Aber Ehrlose durften tagsüber nicht beigesetzt werden.

Mit einer Bibel in der Hand, die er beinahe drohend emporhob, blickte John Knox von seinem Denkmal auf dem Hügel auf sie herab und gab ihr das Gefühl, nicht willkommen zu sein.

Der Trauerzug bog nach rechts. Sie stiegen über einen schmalen Pfad in die Höhe, passierten prunkvolle Pavillons, gotische Familiengruften und verwitterte Denkmäler. Hier ruhte die High Society. Gentlemen, Politiker, Geschäftsmänner und deren Gemahlinnen. Männer von Stand und Ehre, wie Higgins eben.

Bald erreichten sie den Norden des Friedhofs und somit die Ecke der Armesünder. Die pompösen Pavillons lagen nun weit hinter ihnen. Hier war nichts vorhanden, nur ungeweihte Erde. Keine Grabsteine, keine Namen oder Blumenbeete, nichts durfte an all die Huren, Verbrecher, Selbstmörder und ungetauften Kinder erinnern, die hier, eng an der Nordmauer aufgereiht, begraben lagen. Menschenseelen, um die niemand trauern durfte.

Vor ihnen stellten vier Bestatter den Sarg ab und ließen ihn dann in die Gruft hinab. Emily konnte die nasse Erde riechen, mit der sie das Grab in aller Stille zuschütteten. Niemand sagte etwas, niemand betete. Sie sah sich um, und neben Trauer erfüllte sie auch Enttäuschung. Warum war außer den Huren sonst niemand zur Beerdigung gekommen? Was war mit Margerys Freunden und Bekannten? Emily erinnerte sich an all die gediegenen Besucherabende, wenn Margery ihr Bordell in ein Kulturhaus verwandelt hatte, im Salon Konzerte mit Tanz und Gesang stattfanden und die Hausherrin gut gelaunt und wortgewandt mit ihren Gästen bei reichlich Wein über Politik und Philosophie diskutierte. Sie erinnerte sich auch an freundliche Herren in teuren Anzügen und mit gepflegten Schnurrbärten. Reiche und Politiker, ab und an sogar ein Geistlicher. Wo waren sie jetzt?

Mit enger Kehle verscheuchte Emily ihre Gedanken und starrte auf den Hügel aus Erde, der sich mit jeder Schaufelbewegung verkleinerte.

Liam schien ihre Gedanken lesen zu können, denn er drückte ihre Hand. »Immerhin dürfen wir sie hier beerdigen, und sie bekommt ein eigenes Grab. Magst du dich noch an meine Mutter erinnern? Die warf man ins Armengrab. Wir durften nicht einmal dabei sein, um ihr die letzte Ehre zu erweisen. Die Totengräber sagten, es wäre zu gefährlich, wegen der Luft.« Seine Stimme trug jenen bitteren Beigeschmack, den sie immer annahm, wenn er von seiner Mutter sprach.

Obwohl sie sich nur schemenhaft an die Frau erinnern konnte, nickte Emily und blickte nach vorn zu ihrer Mutter. Sie hatte Liam damals in ihre Obhut genommen, als Betsy starb. So war sie eben. Streng, anmutig und korrekt. Neben ihr fühlte sich Emily wie ein ungeschicktes Rehkitz. Sie hatte eine blasse Haut, einen kleinen Mund, rotblonde Haare und große dunkelbaue Augen mit einem hässlichen orangen Fleck in der rechten Iris. Liam nannte ihn liebevoll den »Fliegenschiss«. Ihre Mutter hingegen verkörperte Eleganz. Ihr Haar leuchtete dunkel und kräftig wie eine frische Kastanie, die im Sonnenlicht glänzte. In ihren Gesichtszügen wechselten sich Güte und Strenge ab, mit einem allgegenwärtigen Hauch von Trauer.

Bald war die Grube vollständig mit Erde gefüllt. Die Gruppe löste sich auf, und Christine nickte ihr zu. »Sie ist jetzt an einem besseren Ort.« Dieselben Worte, die Liam schon gesagt hatte.

Sie wollte ihre Zuversicht teilen, aber es fiel ihr schwer. Ihr Blick schweifte über den Horizont. Es hatte aufgehört zu regnen, die Sonne brach durch die bleigraue Wolkendecke. Sie wanderte über die langsam erwachende Arbeiterstadt mit ihren rußigen Häuserfassaden. Kräne verrieten jene Baustellen, an denen die Stadt sich ausdehnte. Zischend fuhren Züge in die Bahnhöfe ein und aus. Rufe schallten von den Dockarbeitern herüber, die Handelsschiffe auf dem Clyde beluden und Waren aus den entferntesten Winkeln des Empires löschten. Die Bewohner Glasgows hatten sich in nur fünfzig Jahren in ihrer Anzahl vervierfacht, während das Empire ebenfalls anschwoll und sich Nationen weltweit ein Wettrüsten lieferten. Eine dicke Königin saß seit bald vierzig Jahren auf dem Thron, doch es scherte sie nicht, wie schlecht es um die Armen und das schwächere Geschlecht stand. Das war Emilys Welt.

3. Kapitel

Glasgow, Mai 1876

Der erste Eindruck, den Madame Dorian auf Emily machte, übertraf selbst ihre schlimmsten Befürchtungen.