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Für Leonard Koenig – ohne dich hätte ich mich nie getraut.
© 2019 Piper Verlag GmbH, München
Redaktion: Ulla Mothes
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: FinePic, München
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London, Nacht der Doppelmorde, 30. September 1888
»Nicht, Madame! Das ist kein geeigneter Anblick für Sie.« Chiefinspector Abberline versuchte Christine am Vorbeigehen zu hindern.
»Lassen Sie mich durch!«, hielt sie dagegen und stürzte an ihm vorbei. Was sie danach erblickte, übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen. Das Laken, das über dem Unterleib der Toten lag, war völlig mit Blut durchtränkt, die Kehle so weit aufgeschnitten, dass der Kopf unnatürlich vom Hals abgeknickt war. Die Schnittwunden im Gesicht machten es schwierig, die Frau wiederzuerkennen. Jemand hatte sie wie ein Tier ausgeweidet und ihre Gedärme über ihre linke Schulter geworfen.
Sie sank hinunter zur Toten und wollte ihr Gesicht berühren, doch sie schaffte es nicht. Das war nicht mehr Catherine, einer ihrer entlaufenen Schützlinge, sondern der verstümmelte Leichnam einer verlorenen Seele.
Neben dem Geruch des Blutes waberten der Gestank von Alkohol und der Dunst des ungewaschenen Leibes der Toten in der Luft, sodass Christine das Denken schwerfiel. Mit zugeschnürter Kehle hob sie das Laken hoch und erhaschte einen Blick darauf, was die Constables den Schaulustigen vorenthalten wollten. Fleischige Klumpen lagen wie Schlachterabfälle auf ihrer entblößten Scham. Als Christine begriff, was sie sah, ließ sie das Tuch fallen und würgte.
Abberline hatte sie eingeholt und zog sie mit einem festen Griff von der Toten weg.
Erst, als Christine gezwungen war aufzusehen, bemerkte sie die enorme Menschenansammlung um den Tatort herum. Viele standen bloß in ihrer Nachtwäsche da. Der Mord und das riesige Polizeiaufgebot hatten sie aus ihren Betten gerissen. Ihre Gesichtszüge reichten von verängstigt und entsetzt über schaulustig bis hin zu wütend.
Mit seinen breiten Schultern stellte sich Abberline zwischen sie und die Anwohner und isolierte sie somit vom Tatort. Er hatte das Sagen hier. Seine Haltung und seine Stimme zeugten von absoluter Autorität. Aus kalten, reservierten Augen sah er sie an und klappte das Notizheft auf. »Sie kannten die Frau?«
Christine nickte zaghaft. »Das ist Catherine Eddowes, eine ehemalige Prostituierte.«
Die Schreibfeder kratzte über das Papier. »Woher kannten Sie die Frau?«
Christine fröstelte. »Sie war …«
»Lassen Sie mich raten«, unterbrach er sie barsch. »Wie die anderen Mordopfer davor war sie eine Ihrer Bewohnerinnen aus dem Renfield Eden. Dem Heim für entlaufene Huren und anderes moralloses Gesindel.«
Ehe Christine etwas entgegnen konnte, schob sich ein junger Herr zwischen sie. »Chief, Dr. Phillips ist eingetroffen. Würden Sie ihn zur Toten bringen?« Er deutete auf den Pathologen, der sich soeben durch die Schaulustigen kämpfte und dabei seinen Koffer an die Brust presste.
Inspector Pike, Gott sei Dank, dachte Christine erleichtert. Er kam im richtigen Moment. Sie spürte, dass er sie vor einer unangenehmen Befragung bewahrt hatte. Die beiden Herren arbeiteten noch nicht lange miteinander und konnten einander nur wenig leiden.
Abberline knurrte, seine Augen musterten ihn so scharf wie Rasierklingen. Er hatte Pikes ritterliche Absichten sofort erkannt. Er wollte nicht, dass Christine seinen Launen ausgesetzt war. »Der wird seine Freude haben bei dem Blutbad.« Einen Moment sahen sich die Männer feindselig an. Auch dieses Platzhirschgehabe war nichts Neues. Dann wandte sich der Chiefinspector zum Pathologen und zeigte ihnen die kalte Schulter. »Phillips! Kommen Sie!«
Mit einem dankbaren Nicken blickte Christine in das vertraute Gesicht von Inspector Pike, der sie trotz der ernsten Lage mit einem aufmerksamen und warmen Blick musterte. Besorgnis zeichnete sich auf seiner Stirn ab. Zweifellos galt sie ihr. »Sie hätten sich diesen Anblick nicht antun müssen, Madame Gillard. Sie können nichts mehr für sie tun.« Sein Tonfall kam ihr unerwartet fremd vor. Sie würde sich nie daran gewöhnen, dass er sie in der Öffentlichkeit so formell ansprach.
Hinter ihnen wurden Stimmen laut. »Das war wieder er, der Whitechapel-Mörder, nicht wahr?«, rief ein älterer Mann im Schlafrock.
»Warum trifft die Polizei immer zu spät ein?«, wollte jemand anderes wissen. »Jetzt läuft der Frauenmörder schon in der City herum.«
Tatsächlich befand sich der Mitre Square, auf dem sie alle standen, gar nicht mehr in Whitechapel, sondern an dessen Grenze. Damit verließ die Blutspur des Mörders erstmals den isolierten Schandfleck am östlichen Ende Londons, dem Schmelztiegel allen Elends und der Verderbtheit. Der Mörder war nun auch für die bessergestellten Londoner zur greifbaren Realität geworden.
Christine hätte so vieles zu sagen gehabt, aber nichts davon schien ihr angebracht zu sein. Defensive Worte, die mehr schadeten, Fragen, die keiner beantworten konnte, Gefühle der Ohnmacht und Verzweiflung, die sie erstickten.
Sie suchte den Blick des Inspectors, doch er wich ihr aus und starrte mit zusammengepressten Lippen auf die Leiche. Abberline, Dr. Phillips und weitere Constables hatten sich zu ihr heruntergebeugt, sodass nur noch die Schuhspitzen ihrer abgetragenen Stiefel aus der Menschentraube herausragten.
Doch Christine sah nicht mehr zur Leiche. Sie betrachtete Pike. Etwas in seinem Gesichtsausdruck gefiel ihr nicht. Er verheimlichte ihr etwas. »Was verschweigen Sie?«
Seufzend nahm Pike seinen Bowler ab und fuhr sich durch das braune Haar, ehe er den Hut wieder aufsetzte. »Ich fürchte, sie ist nicht sein einziges Opfer in dieser Nacht.«
Christine schnappte nach Luft und fasste an ihr Herz. »Wie bitte?«
»Ja, Madame.« Er berührte ihren Arm und führte sie etwas abseits, sodass sie vertraut miteinander sprechen konnten. »Christine, du musst dich beruhigen. Wir wollen keine Massenpanik auslösen.«
»Wo ist die andere?«
Pike seufzte. »In der Berner Street. Die Vermutung liegt nahe, dass … Nun ja, du weißt schon. Er jagt deinen Frauen nach, Christine. Und wir stehen da wie Idioten.«
Christine setzte zu einem Schrei an, doch es war nicht mehr als ein schmerzerfülltes Schluchzen, das ihrer trockenen Kehle entwich.
Sofort wollte sie in Richtung Whitechapel eilen, doch Pike hielt sie fest. Während in seinen braungrünen Augen Mitgefühl lag, zeugte sein Handgriff von Strenge und Scharfsinn. »Nicht. Es ist mitten in der Nacht. Das ist zu gefährlich, um allein hinzugehen. Er ist vielleicht noch unterwegs, befindet sich möglicherweise unter den Schaulustigen. Ein Constable wird dich nach Hause bringen.«
Der Inspector gab einem seiner Männer den Befehl. Nur mit Widerwillen folgte Christine ihm und stieg in eine Droschke. Dort wollte Pike sich von ihr verabschieden, doch sie lehnte sich aus dem Fenster und fixierte ihn mit einem durchdringenden Blick.
»Finde ihn, John. Der Whitechapel-Mörder muss dafür büßen. Er muss dafür büßen, was er diesen Frauen antut, denen ich Schutz versprochen habe. Finde ihn. Versprich es mir.«
Damit hatte sie ihn in Bedrängnis gebracht, das wusste sie. Gute Polizisten versprachen keine Dinge, die sie möglicherweise nicht einhalten konnten. Nicht so Pike. In seinem Gesicht war eine Veränderung vorgegangen. Sein sonst so warmer Blick hatte sich verhärtet, und seine Stimme senkte sich. »Ich werde ihn finden. Das schwöre ich bei meiner Ehre.«
Drei Monate zuvor: An der Nordküste Schottlands, 30. Juni 1888
Liam O’Donnell, Gemahl der Countess of Suthness, wälzte sich in seinem Himmelbett und wollte den Arm um seine Frau legen, doch der Platz neben ihm war leer.
»Emily?« Ganz dezent haftete noch ihr Duft an ihrem Kissen. Benommen stand Liam auf und schob die dunkelblauen Gardinen zurück. Er öffnete das Fenster und genoss die frische Morgenluft, während er über das meilenweite Grün des Anwesens blickte. Außer dem Morgenkonzert der Vögel herrschte absolute Stille. Sogar das Meer war heute so ruhig, als schlummerte es noch.
Liam wandte sich vom Fenster ab und sah sich im leeren Schlafzimmer um. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass es erst fünf Uhr morgens war. Warum war seine Frau schon vor dem Personal auf?
Er fand Emily weder im angrenzenden Ankleidezimmer noch in ihrem eigenen Ladyschlafzimmer, in welchem die Ehegattin üblicherweise zu nächtigen hatte, wenn sie denn etwas auf diese keusche Gepflogenheit gegeben hätten. Schließlich verließ er die Schlafgalerie und betrat das Erdgeschoss. Dort fand er sie im Bibliothekszimmer auf dem Sofa dösend vor. Der Raum duftete nach alten Büchern und dem typischen Kamingeruch.
Als Emily ihn hörte, setzte sie sich auf und lächelte ihn schlaftrunken an.
»Was machst du hier unten, Liebes?«, fragte er sanft und ging vor ihr in die Hocke.
»Mir ist unwohl geworden, aber ich wollte dich nicht wecken«, antwortete sie. Seufzend blickte sie an ihrem Nachthemd herab. »Ich weiß gar nicht, warum man es Morgenübelkeit nennt, wenn es doch schon mitten in der Nacht beginnt.«
Liam streckte seine Hände nach dem Bäuchlein aus und streichelte es. »Das geht vorbei. Bald jagt eine Kinderschar durch unser Haus.« Dass es über fünf Jahre dauerte, bis Emily schwanger wurde, hatte ihn zunächst sehr besorgt, doch nun gehörten alle Befürchtungen der Vergangenheit an. Liam wurde Vater, und nichts konnte ihn mit größerem Stolz erfüllen.
»Wer redet denn hier von einer ganzen Schar? Lass uns bescheiden sein und mit einem anfangen«, scherzte Emily. Sie neigte sich zu ihm und küsste ihn.
Liam öffnete ihren Haarknoten, sodass ihr langes, rotblondes Haar ihren Rücken hinunterfloss. Verliebt blickte er in das sommersprossige Gesicht, das er schon sein ganzes Leben lang liebte. Ihre gemeinsam überstandene Vergangenheit hatte ein unzerstörbares Band um sie herum gewoben.
Einst waren sie beide als Sprösslinge von Huren in einem Bordell in Glasgow aufgewachsen. Dabei waren Emilys Eltern niemand Geringeres als Lord und Lady of Suthness gewesen. Aber das wusste damals niemand, denn Emilys Mutter hatte nach einem missglückten Mordanschlag ihres Schwagers das Gedächtnis verloren und wurde von der Bordellbetreiberin Margery Gallaham aufgenommen. Als Emily und Liam Jugendliche waren, tötete ein Colonel im Auftrag des Schwagers Emilys Mutter und brannte das Bordell nieder. Nur Liam, Emily und ihre Freundin Christine überlebten.
Damals waren sie schon einmal ein Liebespaar gewesen, aber die Tragik und das mit ihr einhergehende Elend trieben sie auseinander. Es war ein langer Leidensweg gewesen, der über Jahre hinweg angedauert hatte, bis Emilys Onkel für seine Verbrechen bestraft werden konnte. Aber letzten Endes siegte die Gerechtigkeit und das Paar fand wieder zueinander. Nun waren sie verheiratet, lebten an der Nordküste Schottlands und führten das Erbe von Emilys adligen Eltern fort. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Jetzt sah Liam in die ozeanblauen Augen seiner Frau und bewunderte den orangefarbenen Punkt in ihrer rechten Iris, der einst vor Gericht ihre adligen Wurzeln bewies. Ein seliges Seufzen entwich ihm. »Mein Gott, wie schön du bist«, flüsterte er. Seine Finger fuhren ihren Hals entlang und wanderten über ihr Schlüsselbein direkt zu ihren vollen Brüsten herab. Lustvoll umschloss er sie.
»Ich will dich«, flüsterte er und hauchte ihr einen Kuss auf den Nacken. Geschickt arbeitete er sich unter ihrem Nachthemd hoch, sodass sie die Augen schloss und tief zu atmen begann.
»Aber doch nicht hier«, entgegnete sie in einem Moment der Bedachtsamkeit. »Die Dienstboten werden gleich mit ihrem Tagewerk beginnen.«
»Dann müssen wir schnell zurück in unsere Schlafgemächer, wo wir ungestört sind«, raunte er ihr zu. »Oder ist dir noch immer unwohl?«
Emily stand auf und reichte ihm die Hand. »Ganz und gar nicht mehr.«
Das ließ sich Liam nicht zweimal sagen. Sie küssten sich leidenschaftlich und fordernd. Emilys Lippen schmeckten so köstlich, wenn das Verlangen ihnen wie ein loderndes Feuer innewohnte. Liam hob seine Frau hoch und trug sie zurück ins Schlafzimmer. Dort entkleidete er sie und bettete sie in ihr Liebesnest, voller freudiger Erwartung, sich in ihrem wunderschönen Leib zu verlieren. Doch vorher nistete er seinen Kopf in ihren Schoß und beglückte sie. Voller Hingabe fiel sie wie eine reife Traube in seinen Mund. Ihr Zittern bezeugte den Beginn einer Metamorphose. Eine Verwandlung von Erregung zu Ekstase. Doch ehe sie vollendet war, schob er sich hoch zu ihr und drang tief in sie ein. Erlöst seufzte Emily unter ihm.
Rhythmisch bewegten sich so erfahren, dass sich ihre Leiber wie maßgeschneidert aneinanderschmiegten. Liam liebte es, mit ihr zu verschmelzen, mit ihr eins zu werden. Die Trennung in ihrer Jugend verlangte noch immer nach Kompensation, und das wachsende Leben in ihrem Innern wirkte wie ein Aphrodisiakum.
Später, als sie nebeneinanderlagen und wieder zu Atem kamen, legte Emily ihren Kopf auf seine Brust, während er ihre Schulter streichelte.
Draußen brach der Tag an, der Wind über dem Meer frischte auf. Veränderung lag in der Luft und wehte mit dem Sommerwind und dem Geruch der Libanon-Zedern der Parkanlage durch das offene Fenster.
Manchmal wurde er daran erinnert, was für ein großes Glück er mit seiner Frau hatte. Die Gefühle des Verliebtseins hatten längst einer größeren, tieferen Liebe Platz gemacht. Dennoch ergriff ihn immer wieder dieselbe Freude, wenn er sie ansah. Auch jetzt spürte er diese Glückseligkeit und diesen Stolz in seiner Brust.
Es war noch immer wie am ersten Tag. Nur besser.
London, Juni 1888
»Fester, Mable.«
»Sind Sie sicher, Madame? Ich habe Sie schon sehr stark eingeschnürt.«
»Ja, Mable. Wenn es enger ist, dann habe ich weniger Luft zum Atmen, und dann weine ich nicht. Ich kann es mir nicht leisten, schon wieder in Tränen auszubrechen.«
Christine nahm durch das Spiegelbild den besorgten Gesichtsausdruck ihrer Zofe wahr. Dennoch folgte Mable ihrer Anweisung und zog das Korsett so fest zu, dass Christine sich kaum aus eigener Kraft halten konnte.
Als Nächstes half Mable ihr in ein Leibchen und in ihren voluminösen Unterrock. Bis hierhin war alles so wie immer. So kleidete ihre Zofe sie seit Jahren täglich an. Doch im nächsten Moment brachte Mable eine schwarze Monstrosität hervor, die alles Licht im Raum zu verschlingen drohte. Wie all ihre Haute Couture stammte auch dieses Kleid von Charles Frederick Worth, doch im Gegensatz zu ihrer restlichen Garderobe würde es ihr keine Freude bereiten.
Christine schluckte und ließ sich von Mable das Trauerkostüm anlegen. Für mehrere Monate würden nun Kleider wie dieses ihre Schränke füllen.
Während Mable an der langen Knopfleiste arbeitete, blickte Christine apathisch aus dem Fenster. Diese schreckliche Korrespondenz, die gemacht werden musste und Christine davon abhielt, in Ruhe zu trauern. Der Körper ihres Gatten war kaum erkaltet, da musste sie mit Henrys Kindern zusammensitzen und die Hinterlassenschaft klären. Klären? Wohl eher darüber streiten, denn insbesondere Adrian, Henrys ältester Sohn, hatte seine junge Stiefmutter nie akzeptieren können. Aus Respekt vor seinem Vater hatte er sich mit seinen Einwänden zwar stets bedeckt gehalten, aber aus seiner heimlichen Missgunst hatte er nie einen Hehl gemacht.
Hätten sie damit nicht noch ein paar Tage warten können? Wenigstens bis nach der Einäscherung?
Adrian hatte auf den heutigen Tag bestanden, er sei sehr beschäftigt. Wahrscheinlich aber wollte er sich einfach einer Sache vergewissern: Trauerte Christine Gillard, die nun mit dreißig Jahren zu den reichsten Frauen Londons gehörte, wirklich aufrichtig um den Verlust ihres vierzig Jahre älteren Gatten? Oder lachte sie sich heimlich ins Fäustchen, weil der alte Narr ihr, einer einstigen Hure, einen Ring an den Finger gesteckt hatte? Dieser Ring war der einzige Grund, warum sie noch hier stand. Christine hatte es schon zur Genüge miterlebt: Vermeintlich abgesicherte Kurtisanen, die nach dem Ableben ihrer Gönner von den Angehörigen aus dem Haus gezerrt und verbannt wurden. Das konnte ihr zum Glück nicht passieren. Aber sie musste auf der Hut bleiben. Sie hatte ihren Schutz verloren, war verletzlicher denn je.
»Ich wünschte, ich könnte sie wieder fortschicken, diese Hyänen«, sagte Christine mehr zu sich als zu Mable. »Ich hoffe, Mr. Eaton kommt nicht auf die Idee, sie auch noch zu verköstigen. Sie sollen gleich wieder gehen, sobald wir fertig sind.«
»Warum heißen Sie Mr. Eaton nicht, den Termin zu verschieben, Madame?«, fragte Mable. »Ich finde, Sie haben ein Recht darauf. Es ist noch viel zu früh, um über Geld zu sprechen. Wenn das anständige Menschen sind, würden sie so etwas nicht von Ihnen verlangen.«
»Aber es sind keine anständigen Menschen. Du weißt doch, Mable, dass sie selbst Henry fremdgeworden sind. Dass sie die Kaltherzigkeit ihrer Mutter geerbt haben und dass sie unsere Heirat für sehr … unklug hielten.«
Schmerzvoll erinnerte sie sich daran, wie sie damals einem Gespräch zwischen Henry und seinem Sohn gelauscht hatte. »Was hat diese Frau für einen Narren aus dir gemacht, Vater! Ein Frauenhaus für gefallenes Gesindel! Du beschmutzt das Andenken unserer Mutter!«
»Ich weiß nicht, Madame«, holte Mable sie aus ihren Gedanken. Die Zofe seufzte. »Das ist alles so schrecklich. Ich wünsche mir doch nur etwas mehr Verständnis Ihnen gegenüber.«
»Ich weiß dein Mitgefühl zu schätzen«, sagte Christine. Sie drehte sich zu ihrer Zofe um und sah sie mit einem müden Lächeln an. Mable Watts hatte blondergraute Locken, ein bleiches, eher langweiliges Gesicht und gütige braune Augen. Der Hausengel gehörte zu Henrys Inventar, genauso wie die Sammlung Fabergé-Eier, die Ming-Vasen oder der Caravaggio. Sie war Henry treu ergeben gewesen und ebenso jenen, die er liebte. Natürlich wollte sie Christine nur schützen und das Beste für sie. Aber das Beste für sie war nicht das Beste für ihren Ruf.
»Verständnis nimmt mir die Last nicht. Verständnis lullt mich nur ein. Aber wir alle wussten, dass dieser Tag einmal kommen würde. Wir waren darauf vorbereitet.«
Als man bei ihrem Mann Krebs diagnostiziert hatte, war für Christine eine Welt zusammengebrochen. Die Ärzte verordneten die haarsträubendsten Therapien, die Henry nur noch mehr erschöpften und anstrengten, als dass sie Heilung versprachen. Schließlich gaben sie ihm nur noch wenige Monate. Henry aber hatte gemerkt, wie sehr ihn seine Frau brauchte, und noch ganze zwei Jahre durchgehalten.
»Wenn ich nur denke, was ich ihm alles zu verdanken habe. Vom ewigen Klassenkampf ermüdet lehnte ich mich mit meinem vollen Gewicht an ihn und ließ mich von ihm tragen. Nur dank ihm konnte ich das Frauenhaus eröffnen. Nun trage ich die Last wieder allein. Er fehlt mir so.«
Ein Schluchzen verriet, dass ihre enge Schnürung nicht wirkte wie beabsichtigt.
Mable unterbrach ihre Arbeit und ging um ihre Herrin herum. Voll mit Wärme und mit mehr Fürsorge, als ihre eigene Mutter je aufgebracht hatte, legte die Zofe ihre Hände an Christines Wangen und sah sie lange an. »Sie müssen diese Last nicht allein tragen, Madame. Sie haben Freunde, die Ihnen beistehen.«
Christine ergriff ihre Hände und führte sie vor ihre Brust, als würde sie mit ihrer Zofe beten wollen. Im Licht der Reichen und Schönen pflegte Christine Hunderte Freundschaften, doch nur wenige von ihnen waren echt. Sie wollte etwas entgegnen, doch sie fand keine Worte.
Sie wandte sich dem Spiegel zu. Eine kleine, engtaillierte Frau mit wässrigen, blauen Augen und kirschfarbenen Lippen blickte ihr verunsichert entgegen. Ihre blonden, sonst so lebendigen Locken waren zu einem streng geflochtenen Knoten gebunden und ließen ihr Gesicht blass und eingefallen wirken. Wo war diese starke Christine aus Glasgow geblieben, die sich ein halbes Leben lang hatte behaupten müssen? Die einst aus gutem Hause vor die Tür gesetzt wurde und die sich von ganz unten wieder zurück in die feine Gesellschaft hochgearbeitet hatte?
Christine schüttelte den Kopf. »So kann ich unmöglich hinunter.«
»Wir sind auch noch nicht fertig, Madame.« Nun nahm Mable einen Schleier aus schwarzer Spitze hervor und befestigte diesen am Haarknoten. Der dunkle Stoff legte sich über Christine wie die hereinbrechende Finsternis. Das unsichere Gesicht verschwand.
»Besser so, Madame?«
Christine blickte auf das schwarze Gespenst im Spiegel, dann nickte sie. »Sagen Sie Mr. Eaton, er soll die Hyänen in den Salon führen.«
Kurz darauf glitt Christine die Stufen der Galerie herab. Bereits unzählige Male hatte sie Pressemitteilungen verlautbart und vor Menschenmengen gestanden, ohne Nervosität zu verspüren. Doch nun der zerrütteten Familie gegenüberzustehen, lehrte sie das Fürchten. Mit ihnen zu verhandeln, während Henry noch immer oben in seinem Schlafzimmer aufgebahrt lag, verursachte Übelkeit in ihr.
Sie bildete sich ein, ihn zu hören. »Ich sehe, was ihr macht. Ich bin immer noch da.«
Adrian, der neue Stammhalter, dessen schweigsame und eher zu dekorativen Zwecken anwesende Frau Meredith sowie Gordie und Michael, die jüngeren Brüder, warteten im Salon. Allesamt Männer in tadelloser Garderobe, mit edlen Gesichtszügen und blondem Haar, bei Adrian an manchen Stellen schon etwas licht. Auch Mr. Gardener, der Notar, war anwesend.
»Christine, schön, dich zu sehen.« Adrian küsste sie flüchtig auf die Wange und schob ihr den Stuhl zum Tisch. Manieren hatte er, das musste sie ihm lassen, auch wenn eine Kälte von ihm ausging.
Ihr Butler, Mr. Eaton, suchte ihren Blick, als wolle er sich vergewissern, dass sie mit dem Besuch allein zurechtkam. »Wünschen Sie noch etwas, Madame?«
»Nein, Eaton. Sie dürfen gehen.«
Sowie der Butler sich zurückgezogen und die Türen geschlossen hatte, öffnete Mr. Gardener seinen Koffer, und die Testamentseröffnung nahm ihren Lauf.
»Aber sie kann doch nicht als Witwe weiterhin dieses Frauenhaus führen!«, echauffierte sich Adrian zwanzig Minuten später.
»Sir, das Testament ist einwandfrei«, beteuerte Mr. Gardener. »Es war der letzte Wunsch Ihres Vaters, dass jährlich eine große Summe seines Fonds in das Renfield Eden fließt. Außerdem ließ er den Wohnsitz, auf dem wir uns befinden, auf seine Gattin überschreiben. Ebenso erhält Madame Gillard eine jährliche Rente von fünftausend Pfund. Im Gegenzug zeigt sich Madame Gillard kompromissbereit, was die Übernahme der Firma betrifft. Die steht Ihnen und Ihren Brüdern allein zu, genauso wie das gesamte Erbe und die Landhäuser. Nicht wahr, Madame Gillard?«
Christine neigte den Kopf. »So wollte es Henry, und so ist es gut.«
»Ich nehme an, diese jährliche Rente beschränkt sich auf die Jahre der Witwenschaft?«, hakte Adrian nach. Wie auf Kommando blickten seine Brüder zu ihr. Ihre Augen schienen sie zu durchbohren.
Christine hatte den Wink durchaus verstanden. Für den Fall, sie wäre doch bloß hinter Henrys Geld her, wollte man so verhindern, dass sie sich bald mit einem neuen Ehemann vergnügte und trotzdem von Henrys Geld profitierte. Eine übliche Vorgehensweise. Entweder Geld für Einsamkeit oder Mittellosigkeit für Zweisamkeit. Aber Christine kannte das Testament und schämte sich auch nicht, dazu zu stehen. »Die Rente läuft auf Lebensdauer«, äußerte sie frostig.
Das wurde von Mr. Gardener bestätigt. Zähneknirschend nahmen es die Söhne zur Kenntnis. Zuletzt wurde das Schicksal diverser Kunstgegenstände besiegelt. Christine würde sich von einigen von ihnen trennen müssen. Schließlich packte der Notar zusammen, und Christine läutete nach Eaton, um die Herrschaften zur Tür zu begleiten.
Als Gordie, Michael und Meredith schon draußen standen und Christine hinaufgehen wollte, hielt Adrian sie zurück.
»Du solltest trotzdem darüber nachdenken, das Frauenhaus aufzugeben. Dass du es allein weiterführst, halte ich für sehr problematisch. Eine Witwe erwarten andere Pflichten.«
Die Kraft, um zu streiten, fehlte ihr. Es schien, als habe Christine mit Henrys Tod ihre Schlagfertigkeit verloren. Sprachlos blickte sie ihm nach.
Als sie wenig später in ihre Gemächer zurückkehrte, fühlte sie sich um Jahrzehnte gealtert. Erschöpft läutete sie nach Mable.
Während sie darauf wartete, dass die Zofe kam, ging sie in ihrem Zimmer auf und ab. Die Lethargie war einer Ruhelosigkeit gewichen. Ein Gefühl der Verlorenheit trieb ihren Puls in die Höhe. Sie wollte nicht über Henrys Geld verhandeln, sie wollte Henry zurück! Die Vögel im Vorgarten zwitschern ungeduldig, und das Pendel ihrer Standuhr schwang hektisch hin und her, genau wie ihre Gedanken. Unbewusst fasste sie an ihr Schlüsselbein und die untere Halspartie, um sich zu beruhigen. Kalter Schweiß sammelte sich an ihrem Rücken und erhitzte sich unter den unzähligen Stoffschichten.
Plötzlich bekam sie keine Luft mehr. Sie wollte schreien, aber das Korsett war zu eng. Panisch riss sie sich den Schleier vom Kopf, ungeachtet dessen, dass sie sich dabei einige Haare ausriss und die Frisur ruinierte. Dann hakte sie mit zitternden Händen ihr Kleid auf und schleuderte es weg. Schnell öffnete sie das Korsett und warf es ebenfalls fort.
Zuletzt wollte sie die Verbindungstür zum angrenzenden Schlafzimmer ihres Mannes öffnen, doch sie war verschlossen. Mable war gut damit beraten gewesen, dass sie den Schlüssel verwahrt hatte, denn schon zweimal davor war Christine in blanker Bestürzung in Henrys Zimmer gerannt und hatte an seinem toten Körper gerüttelt und sich schließlich weinend an ihn geklammert.
Jetzt, während sie nur noch im Unterrock an der Klinke rüttelte, erahnte sie langsam das Ausmaß ihres Kontrollverlustes. Verzweifelt und wütend über ihre eigene Dummheit ließ sie den Türgriff los und stieß einen gellenden Schrei aus.
Im nächsten Moment betrat Mable das Zimmer. Schweigend sammelte die Zofe die Kleidungsstücke ein und blieb in der Mitte des Raumes stehen. Ihr Blick richtete sich auf Christines gerötetes Brustbein.
»Oh Mable!« Christine schluchzte, während sie nach einer Entschuldigung suchte.
»Zweifelsohne eine allergische Reaktion auf den Brokat. Ich werde bei Worth Beschwerde einreichen und ein leichteres und luftigeres Exemplar bestellen«, antwortete Mable mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass sich jede Diskussion erübrigte.
Immer noch beschämt, aber wieder ruhiger, nickte Christine ihr zu. Die Loyalität ihrer Zofe war bemerkenswert. »Du hast recht. Leicht und luftig soll es sein.«
Mable lächelte, doch das Lächeln war noch nicht vollkommen von Besorgnis befreit. »Brauchen Sie sonst noch etwas, Madame?«
Zuerst schüttelte Christine den Kopf. Doch je länger sie dies tat, umso mehr wurde es zu einem Nicken. »Ich stehe das nicht allein durch«, flüsterte sie. »Ich glaube, ich brauche Hilfe.«
Mable kam näher und legte ihre knochigen Hände auf ihre Schultern. »Dann lassen Sie mich nach dieser Hilfe schicken, Madame. Lassen Sie mich Lady O’Donnell kontaktieren.«
Eine Weile sah Christine ihre Zofe stumm an. Sie vermisste ihre Freundin. Ihre Gesellschaft würde ihr bestimmt guttun. Aber ob Emily wirklich den ganzen Weg für sie auf sich nehmen würde? Es lagen mehr als sechshundert Meilen zwischen den beiden Frauen, und Emily war sehr beschäftigt. Sie fragte ihre Zofe dasselbe.
»Das erfahren Sie nur, wenn Sie sie bitten«, antwortete Mable. »Doch bei der Countess of Suthness hege ich keine Zweifel.«
London, Juli 1888
Die Baumwolle wirbelte wie Schnee durch die Spinnerei. Sie tanzte durch die stickigen Hallen und setzte sich überall fest: in den Zahnrädern, den Ketten und den Kurbeln der Maschinen, aber auch im Haar, in den Ohren und in der Nase der Arbeiter. Die Flocken verhinderten, dass keiner einen tiefen Atemzug tun konnte.
Der Lärm in der Fabrik hatte Rosalies Gehör nachhaltig beschädigt. Trotzdem dröhnten das Rattern und Klappern auf sie ein, machten sie ganz benommen. Sie bediente eine der Kardiermaschinen, die die Baumwolle kämmten und reinigten. Wie die Webstühle waren sie dampfbetrieben. Die Zufuhrwalze musste ständig mit Baumwollfasern versorgt werden. Von dort aus gelangten sie in den sich schnell drehenden Tambour, eine gefräßige Walze mit scharfen Zähnen. Haare, Finger und Kleidung ließ man lieber nicht in seine Nähe.
Die Sonne knallte durch die Fenster der Sheddächer. Es war so heiß, dass Rosalie glaubte, in der Hölle zu sein.
Sie wischte sich mit der Hand über die feuchte Stirn. Durchgeschwitzte Locken quollen unter ihrer Haube hervor. Ein tiefer Schmerz vom stundenlangen Stehen ging von ihren Füßen aus und strahlte über den Rücken bis in den Nacken. Manchmal kam Rosalie kaum nach. Auf der einen Seite der Maschine musste sie ständig Baumwollfasern nachlegen, auf der anderen entnahm sie das Vlies. Dazwischen eilte sie zu den unterschiedlichen Lagern, buckelte die schweren Rollen auf ihrem Rücken und schleppte neue Säcke voller staubiger Baumwollfasern an.
Wenn sie sich doch nur kurz hinsetzen dürfte! Sie hatte den Punkt längst überschritten, an dem ihre Beine sie noch zuverlässig trugen. Ein gefährliches Stadium, denn man musste bei dieser Arbeit wachsam bleiben. Überall drehten sich Walzen, Spulen und Treibriemen ohne Abdeckung. Die Gänge waren kaum breiter als ein Yard. Unfälle gehörten zur Tagesordnung. Man wusste nie, wen es als Nächstes erwischte.
In Rosalies Kehle bahnte sich ein Gähnen an. Diese Nacht hatte sie schon wieder kaum geschlafen. Mary Jane Kelly, ihre Nachbarin, hatte bis spät einen zahlenden Herrn bei sich gehabt, und Peter, Rosalies kleiner Sohn, litt an Ohrenschmerzen und weinte die ganze Nacht durch. Damit sich Rosalie die Medikamente für ihn leisten konnte, musste sie ihre Schicht in der Fabrik von zwölf Stunden auf vierzehn erhöhen.
Dann geschah es: Ein Moment der Unachtsamkeit, und die Baumwolle verfing sich in den scharfen Zähnen des Tambours.
Schnell stoppte Rosalie die Maschine, was sie in Verzug brachte, und versuchte, die Baumwolle zu entfernen.
Schon erschien Mr. Ferris, der Vorarbeiter. »Was ist hier los?«
Das hilflose Gefühl des Ertapptwerdens klaubte ihr die Worte von der Zunge. »Nichts, ich bringe die Maschine gleich wieder zum Laufen.«
Mr. Ferris’ rechtes Augenlid zuckte, sein Kopf nahm eine ungesunde Farbe an. »Gibt es eigentlich irgendeine Arbeit, die Sie können?«, fragte er so laut, dass die Arbeiter rund um sie herum die Köpfe in ihre Richtung drehten. »Dass mein Vorgänger überhaupt auf die Idee kommen konnte, eine Frau für diesen Posten einzustellen, die offensichtlich noch nie zuvor einen Penny in der Senkrechten verdient hat.«
Rosalie schluckte die Beleidigung herunter und versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. Jedwede andere Reaktion, sei es ein vorlautes Rebellieren oder ein demütiges Flehen um Verzeihung, würde nichts bringen. Und in Tränen ausbrechen? Den Gefallen tat sie ihm nicht.
Mr. Ferris schien ihre Demütigung und die Aufmerksamkeit der anderen zu genießen, und plusterte sich noch eine Weile auf, damit auch der Letzte in der Halle sah, wie er sie tadelte. Der Atem eines schweren Trinkers schlug ihr entgegen. »Bringen Sie die Maschine wieder zum Laufen. Dafür ziehe ich Ihnen eine Stunde vom Lohn ab. Wenn ich in zehn Minuten wiederkomme und Sie hier noch immer alles blockieren, dann …«
Er musste den Satz nicht beenden, damit Rosalie verstand. Eilig wirbelte sie zurück zur Maschine und hantierte daran herum. Ihr entging dabei nicht, wie zwei Arbeiter sie abschätzend musterten. »Falls sie es versaut, kann sie’s ja wieder in der Waagerechten versuchen. Ich wüsste auch schon, wer seine Freude daran hätte«, sagte einer von ihnen nicht gerade leise.
Die Männer lachten und blickten zu Billy, einem jungen Mann mit rotblondem Haar, der die Kardiermaschine direkt neben Rosalie bediente.
»Euren Anstand habt ihr wohl versoffen«, maulte Billy und wünschte ihnen den Teufel an den Hals, ehe sich Mr. Ferris umdrehte und »Maul halten und arbeiten« rief.
Damit war Rosalie gut beraten. Hastig zerrte sie die Baumwolle aus der Maschine. Dabei konnte sie es sich nicht verkneifen, zu Billy hinüberzuschielen. Er erwiderte ihren Blick mit einem schüchternen Lächeln. Die verlorene Stunde war plötzlich nicht mehr ganz so schlimm.
Stunden später konnte Rosalie die Spinnerei endlich verlassen. Gerade als sie aus dem Werkstor trat, entdeckte sie Billy, der an der Backsteinwand der Fabrik lehnte und rauchte.
»Darf ich dich ein Stückchen begleiten?«, fragte er sie.
Verlegen nickte sie. Billy war der Einzige auf der Arbeit, der nett zu ihr war. Dennoch kannte sie ihn kaum, sodass es ihr an Gesprächsstoff mangelte. Sie war froh, dass er das Wort ergriff. »Ich finde es nicht in Ordnung, wie die da drin mit dir umgehen. Du arbeitest ein halbes Jahr hier, und sie behandeln dich wie eine Aussätzige.«
Vielleicht bin ich das ja auch, dachte sie. »Daran habe ich mich längst gewöhnt. Immerhin habe ich Arbeit.« Rosalie versuchte zu lächeln. Wenn sie an ihren kleinen Sohn dachte, dann spürte sie im Herzen eine gewisse Genugtuung. Ein Zeichen dafür, dass es ihm zuliebe die Mühe wert war.
»Daran darfst du dich aber nicht gewöhnen.« Billy nahm die Mütze von seinem Kopf und fuhr sich durch seine Haare. Die Mischung aus Schweiß, Fett und Dreck hatten sie fest wie Beton werden lassen. Abgesehen davon und dass ihm ein Schneidezahn fehlte, sah er nicht übel aus. Er würde jedenfalls nicht einsam sterben.
»Wenn du einen Mann hättest, dann müsstest du auch nicht arbeiten. Oder zumindest weniger. Ein Mann könnte dich versorgen.«
»Das ist ja eine nette Sache, so einen Mann zu haben, aber ich wüsste nicht, wer sich für mich in meiner Lage interessieren sollte«, antwortete Rosalie.
»Doch, ich wüsste einen.« Billy kam näher, und Rosalie stockte der Atem. Hatte er gerade tatsächlich das im Sinn, was sie seit Jahren nicht mehr zu hoffen wagte? Dass sich ein Mann ihr seine Gefühle offenbarte?
Ein Schauer durchfuhr sie, als Peter vor ihrem inneren Auge erschien. Es hatte seine Gründe, warum sie immer wieder wie eine heiße Kartoffel fallengelassen wurde. Es waren dieselben Gründe, warum Mr. Ferris und die anderen Männer ihren täglichen Spott an ihr ausließen.
»Ich möchte, dass du meine Frau wirst, Rosalie«, verkündete Billy.
»Billy …«
Er musste die Verunsicherung in ihrem Blick erkannt haben, denn er ergriff ihre Hände und drückte sie fest. »Ich weiß, dass ich nicht viel zu bieten habe. Aber ich bin ein ehrlicher und anständiger Kerl. Du musst dich nicht sofort entscheiden. Lass mich deine Antwort wissen, wenn du es dir überlegt hast.«
Rosalie spürte, wie ihr Herz schwer wurde. »Ich würde sofort Ja sagen. Aber es gibt etwas, das du wissen musst. Etwas, das dich dazu veranlassen wird, deine Worte sofort wieder zurückzunehmen.« Ihre Stimme begann zu zittern, doch Billy lächelte sie unbeirrt an.
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Du bist eine wunderbare Frau. Ich wüsste nicht, was es geben sollte, was ich …«
»Ich habe einen Sohn.«
Einen Moment lang hatte Billy seine Sprache verloren. Das Erste, was Rosalie sah, waren seine geweiteten Augen. Dann spürte sie, wie sich der Griff um ihre Hände löste. Angewidert wich er zurück. »Das soll wohl ein Scherz sein?«
»Es ist kein Scherz, Billy. Er heißt Peter und ist zwei Jahre alt.«
»Aber du kannst gar kein Kind haben. Du bist doch eine ledige Frau!«
»Das stimmt.«
»Und der Vater?«
Rosalie schwieg. Sie sah in Billys flackernde Augen und erkannte darin, wie für ihn gerade jene Welt zusammenbrach, die für sie schon lange nicht mehr existierte. Das Entsetzen wich in Bedauern und schließlich in Verbitterung.
»Dann stimmt’s, was die anderen sagen«, knurrte er. »Du bist ’ne dreckige Hure.«
Resigniert hielt sie seinem Blick stand. Männer wie Billy hatte es schon viele gegeben, und alle waren sie von ihr gewichen, wenn sie von ihrer Schande erfuhren.
Dabei bestand ihr einziger Fehler darin, dass sie sich einmal zu früh einem Mann hingegeben hatte. Und einige andere Male davor. Doch niemand wollte über diesen Fehler hinwegsehen. Weder Mrs. Byford, ihre Vermieterin, noch Mr. Ferris, ihr Vorarbeiter, und allem Anschein nach würde es auch Billy nicht tun.
Abwesend blickte Rosalie auf die Themse, die Kloake Londons. Fabriken leiteten ihr Abwasser in den Fluss, Frachtschiffe ließen verdorbene Waren darin verschwinden, Schlachter ihre Abfälle und Anwohner den Inhalt ihrer Nachttöpfe. Nur wenige Steinwürfe weiter wurde das Wasser abgepumpt und in Umlauf gebracht. Dann gelangte es unterirdisch zu den Pumpen, und die Leute entnahmen es, um damit zu kochen und zu waschen, und natürlich tranken sie es auch. Es überraschte nicht, dass so viele Bewohner des East Ends Alkoholiker waren, wenn sie vom billigen Brandy und vom Bier weniger krank wurden als vom Trinkwasser.
Es gab Tage, da war der Fluss so stark verschmutzt, dass man vor lauter schwimmendem Dreck das Wasser darunter nicht sehen konnte. Heute war so ein Tag.
Billys Worte rissen Rosalie aus ihren Gedanken. »Ich hab mich bei den anderen völlig zum Affen gemacht!«, schimpfte er. »Sprich mich nie wieder an und vergiss, was ich dir vorhin gesagt hab.« Er setzte seine Mütze wieder auf und ging davon, ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen.
Irgendwo zwischen Empörung, Kränkung und völliger Resignation stand Rosalie da und blickte ihm nach. Trotz Juli kroch eine Kälte unter ihre Kleidung. »Keine Sorge Billy«, flüsterte sie. »Ich habe ein sehr schlechtes Gedächtnis.«
Nordküste Schottlands, Juli 1888
»Du weißt, ich liebe Christine wie eine Schwester, aber in deinem jetzigen Zustand kannst du sie unmöglich besuchen.« Liams Stimme klang gepresst. Er war es nicht gewohnt, Entscheidungen über den Kopf seiner Frau hinweg zu fällen, und Emily nicht, solche zu akzeptieren. Eine Weile herrschte am Frühstückstisch der O’Donnells eine solche Stille, dass man hätte eine Nadel fallen hören können.
»Das ist ja schön und gut, aber ich entsinne mich nicht, dich um Erlaubnis gefragt zu haben, ob ich gehen darf oder nicht«, entgegnete Emily prompt mit mehr Schärfe in der Stimme, als sie beabsichtigt hatte.
»Und du weißt, dass ich dir niemals vorschreiben würde, was du zu tun oder zu lassen hast. Bisher.« Das Timbre seiner Stimme hallte nach. Seine Lippen pressten sich aufeinander, als flehten sie um Vergebung. Das darauffolgende »Aber« lag nur einen Atemzug entfernt.
»Aber es ist mein Kind, welches du unter deinem Herzen trägst und um dessen Wohlergehen ich besorgt bin. London ist eine große Stadt, die Straßen sind voll und die Luft schmutzig. Und denk an die Kriminalität!«
»Christine wohnt in Belgravia!«, unterbrach Emily ihn gereizt. »Herrgott noch eins, Liam, ich bin schwanger und nicht todkrank. Führten wir ein Arbeiterleben, wie es ja auch beinahe dazu gekommen wäre, müsste ich sogar bis zur Geburt weiterarbeiten. Ich werde nicht eine dieser Frauen, die sich in ihrem Zuhause verstecken. Ich werde nicht nichts tun und nur warten! Ich bin enttäuscht, nein, erschüttert, dass du von mir überhaupt so etwas erwartest. Meine Freundin im Stich zu lassen! Das finde ich unerhört, indiskutabel, unter aller …«
»Schon gut, schon gut. Du kannst deine schweren Geschütze wieder einfahren«, gab Liam nach. Er sah sie ernst an, aber die Fassade bröckelte zu stark, und er konnte nicht länger an sich halten. »Ein Glück sind diese Stimmungsschwankungen bald vorbei.«
»Liam!«
Ihr war nicht nach den Scherzen ihres Mannes zumute, wenn es Christine so miserabel ging, wie sie im Brief andeutete. Beim Lesen hatten ihr vor Schreck die Knie gezittert.
Ihre Freundin litt sehr unter dem Verlust ihres Mannes. Lange hatte Emily geglaubt, ein zweckreiches Arrangement sei die Triebfeder ihrer Ehe gewesen, nicht Liebe. Doch wie falsch sie mit dieser Annahme gelegen hatte, wurde ihr erst heute bewusst, nachdem sie diese hilflosen Zeilen gelesen hatte. Emilys Entschluss stand fest. Sie musste Christine besuchen.
»Möchtest du, dass ich dich begleite?«, fragte Liam nun einiges beherrschter.
Sein reumütiger Blick und die schwarzen Haarsträhnen, die ihm dabei in die gerunzelte Stirn fielen, sperrten sämtliche Wut aus ihrem Herzen. »Das fände ich schön«, sagte sie. »Aber ich fürchte, jemand von uns sollte in Suthness bleiben und sich um die Geschäfte kümmern. Wir erwarten diesen Monat weitere Pächter, und das Dorf soll an die Grundwasserversorgung angeschlossen werden.«
»Aber du nimmst die Zofe mit. Sie soll deine Koffer tragen.«
»Gewiss.«
»Und Dr. Nelson, falls etwas mit dem Baby ist?«
Emily blinzelte ihren Mann unverwandt an. »Ich soll einem Fünfundachtzigjährigen eine Reise zumuten, die du zunächst mir verwehren wolltest?«
Liam hob beschwichtigend die Hände. »Ich finde nur, dass wir vorsichtig sein müssen.«
»Dir ist bewusst, dass in London mehrere Millionen Menschen leben?« Endlich konnte Emily lachen, weil Liams Besorgnis einfach zu übertrieben war. Sie stand auf und küsste seine Stirn. »Du musst dir keine Sorgen machen. Ich bin mir sicher, dass sich unter all diesen Menschen auch ein Arzt befindet.«
London, Juli 1888
Die Beziehung zu Adrian wurde erneut auf die Probe gestellt, als Christine in Henrys Büro in der City of London stand und den Schreibtisch ihres Mannes räumte.
Adrian, der wie vereinbart die Geschäfte seines Vaters übernehmen würde, hatte keine zehn Minuten in dieser Unordnung verbracht, dann war es ihm auch schon zu viel geworden. Er sagte, er würde wiederkommen, wenn sie all jene Dinge eingepackt habe, die nicht entsorgt werden sollten.
Natürlich hätte Christine einen Dienstboten damit beauftragen können, aber das brachte sie nicht übers Herz. Zu viel Persönliches steckte hinter jedem Gegenstand. Henrys Habseligkeiten auszusortieren bedeutete, die Vergangenheit Revue passieren zu lassen und sie zu würdigen. Danach brauchte sie nicht mehr in dieses Büro zurückzukehren und konnte von der herzlosen Verwandtschaft endlich etwas Abstand nehmen.
Mit seinen fünfeinhalb Fuß war Henry kaum größer als sie gewesen. »Das kleine Paar, welches Großes bewirkte«, hieß es immer, auch wenn er seine geringe Körpergröße stets mit einem Zylinder kompensierte. Sein goldblondes Haar, das selbst mit siebzig Jahren weder an Glanz noch Farbe nachgelassen hatte, war sein Hauptmerkmal gewesen. Dazu wache, wohlgesinnte braune Augen, die direkt in ihr Herz blicken konnten. Das alles war jetzt vorbei. Nun stand Christine da, schon wieder den Tränen nahe, und wusste nicht, wo sie beginnen sollte.
Ein junger Mann streckte seinen Kopf durch die offene Tür, wobei ihm das dunkle Haar in die Stirn fiel. Er trug einen olivgrünen Tweed Anzug mit brauner Verstärkung an den Ellenbogen und sah sie hilfsbereit an. Christine erkannte ihn sofort. Es war Jacob Nevis, dem stets ein charmantes Lächeln im Gesicht stand. Als Henrys Sekretär sah sie ihn bei ihren Besuchen entweder geschäftig mit Klemmbrett und Agenda durch die Gänge eilen oder konzentriert hinter seiner Schreibmaschine sitzen. Doch ganz gleich, wann sie sich sahen, nahm er sich sofort Zeit, um ihr Mantel, Handschuhe und Hut abzunehmen und ihr einen Kaffee oder Tee anzubieten. Henry war stets zufrieden mit ihm gewesen. Er ließ einmal die Bemerkung fallen, in seinen Unterlagen noch nie einen Fehler gefunden zu haben.
»Brauchen Sie Hilfe, Madame?«
Christine nickte dankbar. »Das wäre nett.«
Zusammen begannen sie mit dem Aussortieren. Sie musste ihm nicht groß Anweisungen geben, er schien genau zu wissen, wo er sich als nützlich erwies und wo er störte.
Nevis stellte eine Kiste bereit, in die sie alles packten, was Christine mitnehmen würde. Das waren unter anderem Henrys goldene Schreibfedern, die Ersatzbrille, seine Uhr, den Briefbeschwerer aus Kristallglas sowie eine Miniaturstatue des Herkules Farnese. Sie gingen alle Papiere durch, entsorgten, sortierten und legten sie für Adrian auf einen Stapel. Eine langwierige Arbeit, bei der man gar nicht bemerkte, wie schnell die Zeit verging. Dabei ließ sich Christine von Nevis’ Geplapper berieseln. Nur Belangloses, aber es war genau das, was sie jetzt brauchte. Die Gespräche bewiesen ihr, dass es auch noch anderes auf dieser Welt gab als Henrys Tod.
»Was geschieht eigentlich mit Ihnen?«, fragte sie ihren Helfer, als sie begriff, dass sie das Büro nach diesem Nachmittag nie mehr betreten würde. Auch ihre Wege würden sich trennen, und obwohl ihre Begegnungen immer nur flüchtiger Natur waren, überkam sie ein beklemmendes Gefühl. »Ist Ihre Anstellung durch den … Tod meines Mannes gefährdet?«
Er machte ein Gesicht wie jemand, der etwas herunterspielen wollte. »Ach, Madame Gillard, damit müssen Sie sich nicht befassen. Sie haben doch schon genug zu tun.«
Da schau einer an, dachte sie. Wie konnte sie nur so blind sein? Henrys Tod zog weit mehr Verluste mit sich, als sie zunächst geglaubt hatte. Nur weil Nevis sich nicht darüber beschwerte – was sehr für seinen Anstand sprach – bedeutete das nicht, dass er ohne Sorge lebte.
»Adrian hat Sie doch nicht etwa entlassen?«, fragte sie misstrauisch.
Er neigte nur den Kopf und zog die Mundwinkel an. »Das ist noch ungewiss. Es ist nun einmal so, dass die Arbeit im Büro zunehmend von kostengünstigeren Frauen ausgeübt wird. Und der jüngere Monsieur Gillard verfügt bereits über zwei Sekretärinnen.«
Sein Pragmatismus erstaunte sie. »Wie alt sind Sie?«
»Fünfundzwanzig, Madame.«
Nur fünf Jahre jünger als ich, bemerkte Christine. Dennoch empfand sie es als wichtig, ihm einen Rat zu erteilen. »Sie sind ein tapferer und fleißiger junger Mann, Mr. Nevis. Ich bin mir sicher, selbst wenn Adrian Sie entließe, was ich aber nicht glaube, werden Sie mit Ihrem Können gewiss eine neue Anstellung finden.«
Auf seiner Stirn war kaum eine Regung zu erkennen. Ihre Worte schienen ihn nicht zu beeindrucken. Glaubte er ihr nicht? Hielt sie seine Worte für eine bloße Abfertigung?
»Es ist nur so, Madame, dass ich von Monsieur Gillard kein Arbeitszeugnis erhielt. Und nun, da er verstorben ist …«
»Du lieber Himmel! Wie konnte er das vergessen?«
»Die Krankheit ist letzten Endes wohl doch zu schnell fortgeschritten, um noch an solche Belanglosigkeiten zu denken«, antwortete er ohne Vorwurf in der Stimme.
»Dann werde ich mich darum kümmern und Ihnen eines als Stellvertretung meines Mannes ausstellen. Bleiben Sie also bitte zuversichtlich, Mr. Nevis. Es soll für Sie gesorgt sein.«
Endlich lächelte er, was auch Christine froh machte. Es spendete ihr Kraft, an diesem traurigen Tag etwas Gutes bewirkt zu haben. Sie hatte einem Mann einen Arbeitsplatz sichergestellt. Das Wort der Gillards war eines, das in der Geschäftswelt etwas zählte.
»Ich danke Ihnen, Madame Gillard. Sie sind sehr freundlich.«
Christine blickte auf ihre goldene Taschenuhr. Bei ihrem Anblick musste sie lächeln. Mit dieser Uhr hatte die ganze Geschichte begonnen.
Sie besaß sie seit vielen Jahren, es war ein teures Andenken ihrer Eltern, das man zu viel Geld hätte machen können. Aber Christine behielt sie nicht ihrer Eltern wegen. Sie war für sie ein Symbol der Rebellion, denn sie hatte sie ihrem Vater damals gestohlen, als sie mit einem damaligen Liebhaber durchbrannte.
In London war Christine jedoch so mittellos gewesen, dass sie sich trotzdem von ihr trennen musste. So versetzte sie die Uhr bei einem Pfandleiher. Dieser verhandelte mit ihr den Preis oder besser gesagt: Sie stritten darum, und zwar so lebhaft, dass Christine gar nicht bemerkte, wie hinter ihr ein älterer Gentleman das Geschäft betrat und sie fasziniert beim Feilschen musterte.
»Warum möchten Sie die Uhr versetzen, wenn Sie Ihnen so viel bedeutet?«, hatte er sich eingeschaltet. Eine überflüssige Frage, wieso sollte man wohl zu einem Pfandleiher gehen? Er hatte bestimmt keine Geldsorgen, dieser geschniegelte, feine Herr. Gewiss war er einer von denen, die sich am Unglück anderer labten und versuchten, ein Schnäppchen zu ergattern bei all den kostbaren Schmuckstücken und Familienerbstücken, die in der Lade vergebens auf die Rückkehr ihrer Besitzer hofften.
»Ich wüsste nicht, was Sie das anginge«, erwiderte Christine schnippisch, womit das erste Gespräch mit ihrem zukünftigen Ehemann eröffnet war.
Henry hatte sie daraufhin in Ruhe gelassen und ihr wortlos bei der Abwicklung des Geschäfts zugesehen. Beim Verlassen des Pfandhauses grüßte er sie noch einmal freundlich, was sie, der Borniertheit ihrer Jugend geschuldet, einfach ignorierte.
Mit dem Geld konnte sich Christine über Wasser halten und eine Arbeit als Journalistin bei Vanity Fair, einem bekannten Gesellschaftsblatt, finden. Sie hatte schließlich eine gute Erziehung und Bildung genossen und konnte nicht nur anständig schreiben, sondern kannte sich mit den gesellschaftlichen Gepflogenheiten und Konventionen bestens aus. So durfte sie an der Seite des berühmten Karikaturisten Leslie Ward, besser bekannt als »Spy«, bald an den gesellschaftlichen Anlässen teilnehmen und einflussreiche Leute kennenlernen.