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1.  VALENTINSTAG

Jetzt hätte er doch Zeit

Das war’s, sagte Jo. Ich musterte sein Gesicht und sah trotzige Erleichterung.

Ich bin erledigt, sagte er, aber es klang nicht so. Inzwischen glaube ich ihm, aber als er da am Küchentisch stand, musste ich fast lachen.

Na ja, sagte ich, so schlimm wird es wohl nicht sein.

Wenn das Schlimmste passiert, muss man sich endlich nicht mehr davor fürchten, sagte Jo.

Sehr weise, sagte ich. Haben sie dich rausgeschmissen oder was.

Genau, sagte Jo triumphierend. Wir standen da, starrten uns an, ich schüttelte langsam den Kopf und fing an zu lächeln, als hätte er einen Scherz gemacht.

Nein. Das kann nicht sein.

Genau, es kann nicht sein, und es ist so. Du kannst es nachlesen. Fristlos.

Ich bewegte mich in Jos Worten, als beträfen sie mich nur am Rande. Ein seltsam beschwingtes Gefühl der Leere hielt mich in meinem Lächeln.

Markus hat neulich dort angerufen, wollte Jo erreichen, fiel aus allen Wolken, als sie ihm das sagten, Leute, die vor drei Wochen noch im selben Büro saßen, am selben Kopierer Schlange standen, den gleichen Cappuccino tranken, aus der teuren Espressomaschine, die die Stadtverwaltung für ihre Angestellten angeschafft hat, damit sich alle wohlfühlen. Ganz wichtig, guter Kaffee, zehn Minuten ausspannen, aufstehen, mit der Tasse in der Hand an den Schreibtischen lehnen, sich ein bisschen austauschen, ein paar Dehnungsübungen für den Nacken, einmal kurz das Fenster öffnen.

A. hat gern nach den Kindern gefragt und von neuen Filmen berichtet. Sie kennt sich aus.

T. wollte immer mit Jo laufen gehen. Es hat aber nie geklappt. T. wäre auch zu langsam gewesen, sagt Jo. Jo war gut im Training, früher ist er Marathon gelaufen, seitdem die Kinder da sind, nur noch Halbmarathon, jetzt gar nicht mehr.

Dabei hätte er doch jetzt Zeit. Jetzt könnte er all die Dinge tun, die er sich schon lange vorgenommen hat. Er könnte laufen, Halbmarathon, Marathon, er könnte sich mit chinesischer Geschichte und Philosophie beschäftigen, er könnte schreiben, irgendetwas schreiben, etwas Kürzeres, etwas Längeres, ein Kinderbuch, einen Essay, ich habe ihm ein Klavierbuch geschenkt, mit dem er sich selbst Klavier beibringen könnte.

Er setzt sich, er öffnet den Deckel, den wir sonst geschlossen halten, damit die Kinder nicht mit Marmeladenfingern auf den Tasten herumpatschen. Er rückt den Stuhl zurecht und schlägt das Klavierbuch auf. Ich versuche, ihn nicht zu beobachten. Ich gehe in den Keller und sortiere die Wäsche, oder ich räume mit dem Baby die Holztiere aus und wieder ein, oder ich schaue in den Garten, der sich unter einer Schneemasse duckt, alles abgeknickt, die Büsche vornübergeneigt, als kämen sie nie wieder hoch. Aber mit einem Ohr lausche ich. Klavier kann man nicht überhören.

Es bleibt still. Er sitzt da, die Hände auf den Knien, den Kopf etwas geneigt, und schaut vor sich hin. Nach einer Weile steht er auf, bewegt die Finger, als seien sie vom vielen Spielen steif geworden, und schließt den Klavierdeckel.

Meistens schaffe ich es, nichts zu sagen.

Wozu schenke ich dir das alles, könnte ich sagen.

Warum sitzt du bloß da.

Mach doch wenigstens irgendetwas.

Du bist nicht mehr der Alte.

Schon lange nicht mehr.

Was erwartest du, würde er antworten. Was soll ich denn machen. Was willst du denn jetzt auch noch von mir.

Du vertraust mir nicht.

Er schweigt.

Jetzt rede wenigstens.

Du immer mit deinem Reden, Reden, sagt er. Du siehst doch, wohin das ganze Gerede führt. Das Gequatsche. Die haben auch immer gequatscht.

Das klingt ja so, als wäre ich einer von denen, du siehst schon überall Feinde, Gespenster, Verschwörungen.

Es ist schwierig, sie nicht zu sehen. Für mich ist es schwierig, also für ihn unmöglich.

A., T. und die anderen haben, ohne dass Jo es wusste, alles darangesetzt, ihn kaputtzumachen. Sie haben Beschwerde eingelegt, Aktenvermerke geführt, Strichlisten gemacht, Gespräche protokolliert. Sie haben Jo nie aus den Augen gelassen. Sie haben nach Jos Kindern gefragt, ob die Große schon in die Schule komme, ob das Baby schon sprechen könne, ob sie ein Foto sehen könnten, ob das Baby immer noch diese Grübchen habe. Ob das Baby auf den Vater oder die Mutter komme, also auf mich, vom Foto her, haben sie gesagt, komme es eher auf mich, obwohl es die blauen Augen sicher von Jo habe, so blaue Augen, leuchtend blau, trompetenblau, und sie haben Jo in die Augen geschaut. Sie haben Milch für seinen Cappuccino geschäumt. Zugleich haben sie alles, was er gesagt und nicht gesagt, geschrieben und nicht geschrieben hat, festgehalten, dokumentiert, umgestülpt, auf den Kopf gestellt, gegen den Strich gelesen und für ihre Zwecke benutzt.

Wie soll ich da keine Gespenster sehen, fragt Jo.

Weil es keine Gespenster sind, sage ich. Es sind A., T. und die Chefin. Du kennst sie. Du hast dich jahrelang über sie geärgert. Das kam nicht aus heiterem Himmel.

Über A. und T. habe ich mich nicht geärgert, sagt Jo. Er ist ein sorgfältiger Mensch, der die Dinge auseinanderzuhalten versucht. Er glaubt, er könne die Dinge beurteilen und die Menschen einschätzen. Ungefähr jedenfalls. Aber da hat er sich geirrt. Er hat sie beurteilt und eingeschätzt, es geht ja nicht anders, jeder tut das, ein bisschen Menschenkenntnis bringt man doch mit nach all den Jahren, natürlich kann man auch einmal falsch liegen, jeder kennt das, natürlich kann man sich irren.

So kann man sich doch gar nicht irren, sagt Jo, ich kenne die doch, ich habe mit denen jahrelang, ich meine, wir sind seit Jahren miteinander, Ärger gab es nie, aber das heißt gar nichts.

Über die Chefin hast du dich geärgert, beharre ich, und die Sache mit Markus und mit dem Franzosen, das kam doch nicht aus heiterem Himmel.

Es ist wichtig, die Menschen beim Namen zu nennen. Sonst sind es plötzlich alle gewesen. Es waren nicht alle.

Was heißt heiterer Himmel, sagt Jo.

Wir wissen beide kaum noch, wie ein heiterer Himmel aussieht. Sicher sehr blau und mit frischen, wattigen Wolkentupfern. Im letzten Urlaub gerieten wir in eine Hochwasserkatastrophe. Zwei Wochen lang war der Himmel bleigrau, die Luft nasskalt. Die Kinder waren nach wenigen Tagen beide erkältet.

Das passt ja, sagte ich. Damals war ich noch diejenige, die sich beklagte.

Man kann auch im Regen Spaß haben, sagte Jo.

Wenn du meinst, sagte ich. Die Ferienwohnung ließ sich nicht heizen, es gab zwar Heizkörper, aber sie blieben kalt. Wir hätten die Tage im Bett verbracht, wenn die Kinder nicht um halb sieben aufgewacht wären. Wir wechselten uns ab. Einer schlief weiter, der andere stand auf und ging mit den Kindern durch den Regen zum Bäcker. Die Kinder trugen Regenhosen aus Gummi und glänzten wie abgeduschte Seehunde. Der Rotz hing ihnen auf die Oberlippen. Nachts wachten sie von ihrem eigenen bellenden Husten auf. Das Baby trank nicht mehr, weil es keine Luft bekam. Ich musste ihm die Milch löffelweise eintrichtern.

Wir kommen da nicht mehr raus, sagte ich.

Wieso denn. Jo wehrte ab. Wenn du so redest, dann bestimmt nicht.

Es hängt nicht davon ab, wie ich rede, sagte ich. Der Regen kümmert sich nicht um mich.

Und so ist es. Der Regen nicht, der Schnee nicht. Auch der Frühling kümmert sich nicht. Es schneit und schneit, alles biegt sich, Äste brechen ab, Leute rutschen aus, verspäten sich, verletzen sich, dann schmilzt es, die Feuchtigkeit steht auf den Straßen, dreckiger Matsch häuft sich auf den Fußwegen, wegmachen kann den keiner, weil er nachts überfriert, die Lippen sind rau und wund, es interessiert keinen, und wenn der Frühling kommt und die Amseln morgens schreien, die Krokusse und Schneeglöckchen und Winterlinge und Osterglocken durch die angefaulten Herbstblätter stoßen und die Pollen zu fliegen beginnen, dann muss man froh sein.

Du kannst nicht sagen, dass sich niemand kümmert, sage ich zu Jo und zähle alle Freunde auf, die seit der Kündigung angerufen, selbst gebackenen Kuchen gebracht, uns Weinflaschen und abgelegte Kleider für die Kinder geschenkt haben.

Nicht dass ihr Hartz IV wärt, sagen sie, wir dachten nur, ihr könntet es gebrauchen.

Hartz IV, sagt Jo und lacht. Es klingt so atemberaubend. Manchmal müssen wir sogar lachen. Besser, sie kommen, als dass sie nicht kämen. Sie umarmen uns und sagen, so ein Pech, aber das ist nur eine Frage der Zeit, ihr kommt da wieder raus, wir drücken euch die Daumen. Es ist gut, dass sie das sagen, sie sollen es ruhig sagen, was sollen sie auch sonst sagen. Helfen wird es nicht.

Wenigstens kommen sie, sage ich zu Jo, allein willst du auch nicht sein.

Woher willst du das wissen, sagt er.

Weil ich dich ein bisschen kenne, sage ich.

Er: Das denkst du immer.

Ich: Tu doch nicht so rätselhaft. Wir sind seit sieben Jahren verheiratet.

Er: Und das gibt dir ein Recht, meine Gedanken zu lesen.

Ich: schweige.

Er: Jetzt bist du beleidigt.

Ich: Du willst mich gar nicht kennen.

Er: Als Fremde gehen wir durchs Leben.

Mal sehen, wann sie aufhören zu kommen. Spätestens, wenn wir Hartz IV sind, sagt Jo. Ich verbiete ihm solche Gedanken. Das ist zynisch, tadele ich ihn und tadele ihn umso strenger, weil ich das Gleiche gedacht habe, das sind unsere Freunde, sage ich, du kannst nicht anfangen, alles zu hinterfragen, ein bisschen Menschenkenntnis bringt man doch mit nach all den Jahren.

Wenn ich durch das Haus gehe, überlege ich, was wir mitnehmen würden, wenn wir ausziehen müssten.

Weil wir in eine kleine Wohnung zögen, könnten wir das Klavier nicht mitnehmen, auf dem Jo nicht spielt. Wir könnten auch die Meerschweinchen nicht mitnehmen und die Bücher nicht, zumindest nicht alle, wir brauchen ja auch nicht alle, wir brauchen auch all diesen Platz nicht, es ist reinster Luxus, der den meisten nicht vergönnt ist. Ich darf es nicht laut sagen, nicht vor anderen jammern, wie kann man über den Verlust von etwas jammern, das die meisten gar nicht besitzen. Hauptsache, ihr seid gesund.

Am schlimmsten wäre es für Mona. Sie sagt, das Haus sei ihr Freund. Ich sage ihr, man soll nicht an den Dingen hängen, aber für sie ist das Haus kein Ding. Hallo Haus, ruft sie, wenn sie aus dem Kindergarten kommt, und legt lauschend den Kopf schräg. Dann lacht sie zufrieden und erklärt mir, was das Haus am Morgen alles erlebt hat. Es hat sich vom Nieselregen am Dach kitzeln lassen, und als es müde war, hat es sich rechts und links an seine Freunde angelehnt. Gut, dass wir ein Reihenmittelhaus haben.

Ich habe mich lange dagegen gesträubt, und nun habe ich mich daran gewöhnt. An Bequemlichkeit gewöhnt es sich rasch. An die Nachbarn, das Grillen, den Gemeinschaftsrasenmäher. An die Mülltage, das Federballspielen auf der Spielstraße, den Wein auf der Terrasse. Gewöhnung kann Glück sein.

Andere haben gar kein Haus.

Oder nie Arbeit gehabt.

Oder eine schreckliche Krankheit.

Also könnte es schlimmer sein. Jetzt, wo es so weit ist, denke ich, es könnte schlimmer sein. Jo, der jahrelang gekämpft hat, findet, jetzt, wo es so weit ist, seine Kraft nicht mehr. Er ist aufgebraucht. Man könnte auch sagen: Etwas in ihm ist zerbrochen.

Mona will mit ihm spielen, sobald sie nach Hause kommt. Ist Papa da, ruft sie, und ohne sich zu wundern, warum er nun immer da ist, stürzt sie zu ihm und setzt sich auf seinen Schoß.

Wir haben ihr erklärt, dass Papas Arbeit nicht gut ist und dass er sich eine andere suchen muss. Sie hat abwesend genickt und ihm ins Ohr geblasen, bis er lachte.

Eine andere Arbeit. Vielleicht Forscher. Tierschützer. Tänzer. Doktor. Maler. Tierschützer. Tierdoktor, oder, Papa?

Mal sehen, mein Stern, sagte er und schaute ihr zu, wie sie sich vor dem Sofa drehte und drehte, bis sie anfing zu taumeln und kichernd zu Boden ging. Das Baby saß aufrecht neben den Zeitungen und zerriss die Seiten einzeln, langsam.

Schau mal, sagte ich zu Jo und nickte zum Baby hinüber. Aber Jo schaute immer noch auf das Sofa, wo eben noch Mona getanzt hatte, sie war inzwischen weggesprungen und blätterte in einem Buch. Unverwandt starrte Jo nach vorne, als sähe er sie noch. Jo, rief ich und stieß ihn an, rüttelte an seiner Schulter. Ja, was ist denn, sagte er leise und drehte langsam den Kopf zu mir.

Warum kann er nicht schlafen

Das ist doch noch nicht der Morgen, denke ich, das kann gar nicht sein, alles ist dunkel, noch kein Fenster erleuchtet. Das Baby hat sich geirrt. Aber das Baby irrt sich nicht. Seine Augen, das sehe ich im Dämmerlicht, als ich den Kopf zum Gitterbett drehe, wo das Baby sein Gesicht an die Stäbe presst, sind weit aufgerissen. Es hat sich hochgezogen und hält sich mit beiden Händen am Gitter fest, wippt in den Knien.

Noch sagt es nichts. Es blickt mich an, jedenfalls schaut es in meine Richtung. Gleich wird es anfangen zu sprechen, seine eigene unnachahmliche frischgeborene Sprache, die es mit großem Ernst in den Raum schleudern kann, verschlungene Silbenfolgen, unwahrscheinliche Konsonantencluster aus einer Zeit, als die Sprache gerade neu erfunden war. Man darf ihm darauf nicht mit ähnlichen Nachbildungen antworten, sonst verstummt es. Mona versteht sich auf die angemessene Tonlage, stolz lauscht sie dem erregten Stimmchen und setzt das Gespräch fort.

Ja genau, ruft sie, heute Morgen hat Papa dir die Zähne geputzt, dabei hast du doch erst vier. So spinnt es sich fort, ein Kammerkonzert aus Kinderstimmen. Die Zahnpasta schmeckt scheußlich, nicht wahr. Das Baby saugt hörbar die Luft ein und sammelt sich für den nächsten Sprachschub.

Da, murmelt es und wippt heftiger, und ich sehe nun, dass in den anderen Häusern doch schon hier und da Licht brennt, halb sechs wird es sein oder sechs. Joachim liegt zusammengekrümmt in seine leichte Sommerdecke eingewickelt, obwohl es Februar ist und wir bei offenem Fenster schlafen. Er trägt eine innere Wärme in sich, die ihn selten frieren lässt und ihm warme, trockene Handflächen schenkt, nachts liegt er in einer Insel aus Wärme und schwitzt.

Mona hat Joachims Wärme geerbt und wehrt sich gegen Winterjacken, dicke Schals und Handschuhe, die man ihr immer wieder überstülpt, weil Fünfjährige im Winter warm angezogen zu sein haben und weil die Erzieherin angemessene Kleidung einfordert, alles andere wäre fahrlässig. Aber Mona zeigt geduldig ihre Hände, legt sie den zweifelnden Erwachsenen sogar immer wieder an die Wangen, verlässlich warm wie gebackene Kastanien, ihr Nacken wie frisches Brot.

Jo müsste das Baby auch gehört haben, sein Schlaf ist fein gesponnen und leicht zerrissen. Aber heute Morgen regt er sich nicht, er hat wohl in der Nacht wieder wach gelegen wie oft in den letzten Monaten.

Warum kann er nicht schlafen. Wie alle anderen auch. Dann wäre er morgens ausgeschlafen, ich könnte auch noch Schlaf gebrauchen. Das frühe Aufstehen verbraucht die Kräfte, noch bevor der Tag überhaupt begonnen hat.

Es hat schon Tage gegeben, an denen ich am Küchentisch oder über Bilderbüchern eingenickt bin, einmal sogar beim Vorlesen.

Mona saß an mich gedrängt, mit dem leeren Blick, der Platz für die Geschichten lässt, und hing an meinen Lippen. Ich merkte, wie mir beim Lesen die Zunge schwer wurde und gegen die Zähne anschlug, die Worte ließen sich nicht mehr aussprechen, sie verwischten. Ich muss gelallt haben und in mich zusammengesackt sein, denn Mona riss mich am Ärmel, Mama, was hast du denn, du sprichst so komisch.

Leise schlage ich die Bettdecke zurück.

Dadn, sagt das Baby heftig, aber nicht unfreundlich und reckt den Kopf in die Höhe. Als ich es hochnehme, leicht in die Knie gehend und den Beckenboden anspannend, wie ich es gelernt habe, um das Gewicht überhaupt heben zu können, schlägt mir der süßlich-faulige Windelgeruch entgegen, der uns seit fünf Jahren begleitet. Das wurde ja wohl Zeit, murmele ich und spüre die Kraft in den Achseln des Babys, schon lange kein schlaffes Körperchen mehr, kein weiches Tier, um dessen Atemzüge man nächtens fürchten muss, dem man im Schlaf die Hand auf den Brustkorb legt, um sicherzugehen, dass er sich hebt und senkt.

Bald bist du kein Baby mehr, flüstere ich und lasse es auf meinem Unterarm sitzen. Es drückt sich mit den Armen von meinen Schultern weg, um mir forschend ins Gesicht zu schauen. Dann drängt es sich wieder an meinen Hals, als hätte ich eine Prüfung bestanden. Ich presse es an mich und spüre, wie es mit einem fast unhörbaren Lachen den Druck zurückgibt, und wenn ich lockerlasse, hält es gespannt den Atem an.

Im Haus gegenüber lehnen die frisch geduschten Nachbarn an der Küchentheke, jeden Morgen versammeln sie sich um die Espressomaschine, die im Halogenlicht leuchtet wie ein großes Spielzeug, lachen und fahren sich mit den Fingern durch die feuchten Haare, glänzend gespiegelt in der zimmerhohen Fensterfront. Jeden Morgen stehe ich am Kopf der Treppe und schaue hinüber auf die fröhliche Lagebesprechung, die überscharf ausgeleuchtet im Halbdunkeln schwebt.

Vorsichtig gehe ich die Stufen hinunter, das Gewicht des Babys und die müden Beine lassen mich schwanken.