image

Jutta Vogt-Tegen

HILDEGARD VON BINGEN

image

image

Inhalt

VORWORT

KAPITEL 1Mensch sein und das Leben gestalten

Ein paar Grundgedanken vorweg

KAPITEL 2Der steinige Weg einer außergewöhnlichen Frau

Biografische Angaben zu Hildegard von Bingen

KAPITEL 3Die vier Grundpfeiler gesunder Selbstfürsorge

Prinzipien für eine vitale Lebensführung voll Lebensfreude

Viriditas

Discretio

Ratio

Subtilität

KAPITEL 4Sich mit den Elementen der Natur verbinden

Die vier Lebenselemente

Feuer

Luft

Wasser

Erde

KAPITEL 5Das rechte Maß in allen Dingen

Der Körper – die Wohnstätte unserer Seele

Ernährung

Rezepte

Schlaf

Bewegung und Ruhe

KAPITEL 6Seele und Körper reinigen

Fasten mit Discretio und Ratio

Fasten-Varianten

Dinkelfasten

Brotfasten

Hildegard-Fasten

Fastenkrisen

KAPITEL 7Stabilisierung seelischer Abwehrkräfte

Natürlicher Umgang mit den Wogen des Lebens

Emotionen

Kräuter & Gewürze

Besinnung

KAPITEL 8Im Dialog mit uns selbst

Die Grünkraft nähren

Tugenden versus Laster

Die Seele umarmen

KAPITEL 9Über die Sinne zum Herzen

Einfluss der Sinne auf unser Wohlbefinden

Riechen

Hören

Schmecken

Tasten

Sehen

KAPITEL 10Sinnsuche und Lebensfreude

Herzensenergie beflügelt und heilt

Herzensenergie

Die Verbindung zum Herzen

NACHWORT

Impressum

Vorwort

Warum Hildegard von Bingen? Was hat uns die heiliggesprochene Äbtissin des Frühmittelalters heute zu sagen? Ihr Wirken und ihre Schriften sind über 800 Jahre alt. Warum also ausgerechnet sie und warum jetzt?

Fakt ist, dass wir auf der Suche sind – auf der Suche nach Antworten auf die großen Fragen des Lebens. Seit jeher suchen wir Menschen Zuflucht bei Gelehrten, Heiligen, Sehern und Philosophen, die uns diese Antworten liefern sollen. Im Zentrum jeder historischen Glaubenstradition stand und steht noch heute eine Person – sei es Jesus, Moses, Siddhartha oder Mohammed –, zu der wir uns vertrauensvoll hinwenden. An ihrer Weisheit möchten wir teilhaben. Die buddhistische Lebensanschauung beispielsweise prägt seit Jahren unser westliches Wertesystem. Die Lehren des Dalai Lama werden hochgeschätzt und immer mehr Menschen intensivieren ihr Leben durch Yoga, Meditation und Achtsamkeit. Der Begriff der Achtsamkeit mag mittlerweile wie ein Modewort erscheinen, doch um achtsame Lebensführung ging und geht es nach wie vor.

Was erfahren wir in Achtsamkeit oder meditativer Stille? Wir finden Antworten darauf, wie wir den Geistesmächten – zum Beispiel Wut, Angst oder Trauer – begegnen können. So befreien wir uns von diesen Regungen und leben fried- und freudvoller. Hildegard von Bingen setzte sich mutig mit allen menschlichen Geisteswirrungen auseinander. Sie schaute tief und ihre Erkenntnisse sind heute aktueller denn je. Nicht nur ihre furchtlose Sicht bis auf den Grund der Seele macht sie so interessant. In ihrem unerschütterlichen Glauben verstand sie, dass der Mensch eine Verantwortung für alles Leben trägt.

„Denn als Gott den Menschen formte, schloss er in ihm seine Geheimnisse ein, da er im Wissen, Denken und Wirken nach dem Bild Gottes gemacht ist.“

(aus: „Das Buch vom Wirken Gottes. Liber divinorum operum“)

Hildegard von Bingen verstand, dass jeder Einzelne über das Wohl der nachfolgenden Generationen entscheidet. Ihre Schriften sind ein Appell, im Einklang mit der Umwelt geistig, seelisch und körperlich gut für uns selbst zu sorgen. Ihre Lehren, von Klarheit, Weitsicht und achtsamer Wahrnehmung getragen, fordern uns auf, tiefer in uns selbst hineinzuspüren und unserer inneren Stimme zu lauschen, die bisher vielleicht nur einen Flüsterton erzeugte.

Lassen Sie sich von dieser weisen Visionärin inspirieren.

Ich wünsche Ihnen viel Freude dabei!

Mensch sein und das Leben gestalten

Ein paar Grundgedanken vorweg

Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass im Buddhismus die Buddha-Figuren häufig mit extrem langen Ohren dargestellt werden. Das hat eine besondere Bedeutung. Die langen Ohren symbolisieren den sechsten Sinn, das „In-sich- Hineinhören“. Hören, was uns unsere innere Stimme sagt, was unser Herz uns rät, und ebenso achtsam auf die Signale des Körpers achten, worauf er uns hinweisen will.

Von Hildegard von Bingen sagt man, dass sie seherische Fähigkeiten besaß. Sie selbst meinte, dass Gott ihr diese Gabe verliehen habe, damit sie die Welt mit den Augen ihrer Seele betrachten und auch ihre Ohren nach innen richten könne, um der Seele zu lauschen. Oft wurde sie als Seherin oder Visionärin bezeichnet, denn immer wieder betonte sie, dass es Gott sei, der durch sie spreche. Doch bedenkt man, wie viele Menschen in der meditativen Versenkung zu einer offenbarenden inneren Schau gelangen, verliert sich das Mystische um diese Gabe der heiligen Frau ein wenig. Hildegard von Bingen war weder weltfremd noch schwebte sie in esoterischen Sphären. Sie besaß ein tiefes Verstehen und Erkennen, weil sie in der Lage war, die Dinge zu durchschauen. Sie sah die Dinge wie sie sind, und erkannte. Sie hatte eine Stufe des Verstehens erreicht, die von unglaublicher Präsenz und achtsamer Wahrnehmung getragen wurde. Denn all ihre „Eingebungen“ waren im Grunde Erkenntnisse ihres Geistes, zu denen sie in einem absoluten Wachzustand gelangte. Wenn Sie meditieren, kennen Sie einen solchen Zustand. Denn in der Meditation bleibt Ihr Geist ebenfalls wach. Sie begeben sich weder in einen Dämmerschlaf noch in eine Trance. Sie bleiben aufmerksam und lenken Ihre Achtsamkeit über den Atem oder über ein Mantra nach innen – auf Gefühle und Gedanken, ohne daran haften zu bleiben.

Hildegard von Bingen selbst nannte diese besondere Art der Wahrnehmung „die Gabe der inneren Schau“. Ihrem Biografen Wilbert von Gembloux schrieb sie dazu folgende Erklärung:

„… Dies aber sehe ich weder mit den äußeren Augen, noch höre ich es mit den äußeren Ohren oder in der Fantasie meines Herzens. Ich empfange es auch nicht durch die Vermittlung meiner fünf Sinne, sondern nur in meiner Seele, mit offenen leiblichen Augen. So erlitt ich niemals eine mich erschöpfende Ekstase dabei, sondern ich sehe es wach, bei Tag und Nacht.“

(aus: „Hildegard von Bingen: Ein spirituelles Lesebuch“)

Als christliche Mystikerin sah sie uns Menschen als eine Zusammensetzung aus Materie, Geist, Leib und Seele.

Dabei sei die Seele der Hauch Gottes. Die Seele ist die Lebenskraft, die in dem Gefäß des Körpers lebt und ihn füllt. Der Körper ist sozusagen das Werkzeug der Seele, durch den diese sich ausdrückt. Und unser Geist verfügt im Grunde über alle Voraussetzungen, dafür zu sorgen, dass sich unsere Seele durch unseren Körper zu etwas Wunderbarem entfaltet und Gutes und Schönes hervorbringt.

Diese wechselseitige Dreifaltigkeit von KörperSeeleGeist wird uns auch immer wieder in der achtsamen Wahrnehmung bewusst. Sobald wir beispielsweise unseren Körper aufrichten und bewusst in uns hineinatmen, uns mit den Füßen fest auf dem Boden erden, spüren wir Kraft und Energie. Und wie oft sitzen wir zusammengesunken mit hängenden Schultern, weil uns die Last des Alltags buchstäblich erdrückt. Durch unsere Körperhaltung drücken wir meist unbewusst unsere Stimmungen aus und entsprechend wirksam sind bewusste Veränderungen der Körperhaltung, um uns energetisch zu stärken. Das können auch Kleinigkeiten sein, die Sie immer mal wieder schnell zwischendurch machen können und die einen erheblichen Einfluss auf Ihren Energiehaushalt haben: Alleine ein herzhaftes Gähnen mit weit geöffnetem Mund und einem begleitenden Strecken und Recken der Arme bewirkt bereits – achtsam durchgeführt –, dass Sie kurzfristig aus dem Denken, aus Ihrem Kopf, herauskommen. Oder ein tiefes, bewusstes Seufzen, bei dem Sie lang durch die Nase ein- und lang durch den Mund ausatmen (ruhig laut mit einem Geräusch), löst innerhalb von Sekunden Ihre inneren Verspannungen und Ihr gedankliches Festhalten. So kann Ihre Energie wieder frei fließen und Sie spüren sofort einen gelösten Effekt.

Ebenso sind es natürlich unsere Gedanken, die uns beispielsweise durch Sorge und Trauer ein Gefühl der Antriebslosigkeit und Mutlosigkeit vermitteln. Ganz anders dagegen Gedanken der Freude und Dankbarkeit, die uns mit Gefühlen von Lebenslust und Sinnhaftigkeit erfüllen.

„Wenn der Mensch die Lebenskraft der Tugenden aufgibt und sich der Dürre seiner Nachlässigkeit überlässt, so dass ihm der Lebenssaft und die Kraft guter Werke fehlen, dann beginnen auch die Kräfte seiner Seele zu schwinden.“

(aus: „Welt und Mensch. De operatione Dei“)

Hildegard von Bingen ging es um die ganzheitliche Betrachtung des Menschen. Sie sah sämtliche Krankheiten, mit denen wir Menschen uns plagen, als ein Wechselspiel aus Körper, Seele und Geist. Damit einhergehend listete sie einen Katalog der Tugenden und Laster auf. Das Wort Tugend mag heute etwas altmodisch und eingestaubt klingen. Manch einer denkt vielleicht sofort an die Zehn Gebote des Alten Testaments. Im Mittelalter entwickelte sich folgende Liste der Himmlischen Tugenden, denen die entsprechenden Untugenden gegenübergestellt wurden:

Demut

Hochmut / Stolz

Mildtätigkeit

Habgier / Geiz

Keuschheit

Wollust

Geduld

Zorn

Mäßigung

Völlerei

Wohlwollen

Neid

Fleiß

Faulheit

Hildegard von Bingen erweiterte in ihrem Werk „Liber Vitae Meritorum: Der Mensch in Verantwortung / Das Buch der Lebensverdienste“ diese Aufzählung sogar zu einem Katalog (siehe Kapitel 8) bestehend aus 35 Tugenden und Lastern. Ihr ging es darum, uns verständlich zu machen, dass in dem Haus unseres Körpers unermüdlich 35 Kräfte unserer Seele, unsere Stärken oder auch „Tugenden“, in einer ständigen Auseinandersetzung mit ihren Gegenkräften, unseren Schwächen oder auch „Lastern“, stehen. Diese Laster werden durch die materielle Welt genährt. Somit kämpfen in unserem Leib unentwegt Gegenpole um die Vorherrschaft. Demnach sind es unsere täglichen Gedanken, Gefühle und Entscheidungen, die maßgeblich dafür verantwortlich sind, ob wir den Tugenden oder den Lastern die Oberhand gewähren. Sie entscheiden nicht nur über unser Lebensglück, sondern letztendlich auch über unsere Gesundheit. Die 35 Tugenden sind es schließlich, die uns zu unserem Seelenheil führen. Und erst wenn wir die Blockaden der Laster überwinden, finden wir Frieden und Freude im Leben.

Bereits an den oben aufgelisteten sieben Himmlischen Tugenden lässt sich deutlich erkennen, dass es bei dem Wort Tugend also vielmehr um eine Werthaltung geht, um eine geistige Einstellung. Wenn wir das tun, was uns und anderen Menschen Freude bringt, wenn wir niemandem schaden und dafür Sorge tragen, dass wir ebenso achtsam mit unserem eigenen Wohlergehen umgehen, ist das bereits die beste Voraussetzung für Gesundheit und Lebensfreude.

Hildegard von Bingen erkannte, dass unsere Lebensenergie aus einer tugendhaften Lebensführung resultiert. Tatsächlich fordern uns die Lehrmeister aller Religionen und Traditionen dazu auf, tugendhaft zu handeln, wie zum Beispiel liebevoll, mitfühlend und gütig. Güte, Liebe und Mitgefühl sind Tugenden oder auch Werte, die extrem kraftvoll sind, wenn man sich achtsam und konsequent nach ihnen ausrichtet. Doch liebevolle Güte bedeutet eben nicht, nur nett und freundlich zu sein. Es geht darum, wert- und urteilsfrei allen Lebewesen und Dingen gegenüber Wertschätzung zu erbringen. Aus der liebenden Güte heraus entwickelt sich unser Mitgefühl.

Andersherum wissen wir alle, wie die von Hildegard von Bingen als Laster bezeichneten Geistesregungen – beispielsweise Missgunst, Geiz oder Spottsucht – für viel Leid sorgen. Nicht nur das Leid, das wir dadurch anderen Menschen zufügen, sondern ebenso das Leid, das wir durch diese „lasterhaften“ Emotionen auch in uns selbst verursachen.

Alle diese tugendhaften Kräfte ruhen tief in unserem Innersten. Sie waren von Anfang an da. Stress, Zeitdruck, Überarbeitung, überhöhte Ansprüche und der Druck von außen machen es oft schwer, diesen Kräften Raum zu geben. Sind wir schwach und angegriffen, haben die „Laster“ ein leichtes Spiel und statt unsere tugendhaften Selbstheilungskräfte zu mobilisieren, flüchten wir in Arbeitswut, Esssüchte oder digitale Süchte. Schlimmstenfalls resignieren wir und landen in der Depression. Hildegard von Bingen fordert uns zur Innenschau auf. Und Innenschau bedeutet nicht nur, das seelische Leiden zu betrachten, sondern ebenso die anderen beiden Teile der Ganzheit – Körper und Geist – miteinzubeziehen.

Ebenso wichtig wie unser geistiges und seelisches Wohlergehen war Hildegard von Bingen unser körperliches Wohlergehen. Alles ist in einem Zusammenhang zu betrachten. Immer wieder betont die Äbtissin, wie notwendig es sei, körperlich alles in Maßen zu halten und achtsam für seinen Körper zu sorgen, sei es in Bezug auf Ernährung, Schlaf oder Bewegung und Ruhe. Vielleicht ist Hildegard von Bingen Ihnen bereits aus der Tradition des Heilfastens bekannt. Neben ihren Texten über den Zustand unserer Seele hinterließ sie uns das Vermächtnis einer ganzheitlichen Heilkunde. Im Vergleich zu anderen alternativen Heilverfahren, wie zum Beispiel Bachblüten-Therapie oder Homöopathie, vereinen ihre Heilweisen unterschiedliche Alternativmethoden: zum Beispiel Edelsteine, Kräuter, Dinkel etc. Immer geht es Hildegard von Bingen nicht nur um die Behebung der körperlichen Symptome, sondern sie begutachtet alles in einem spirituell-religiösen, kosmischen und seelischen Zusammenspiel. Innere Konflikte, negative Gefühle und Gedanken, spirituelle Orientierungslosigkeit, Entfernung von sich selbst – jegliches Seelenleid drückt sich durch den Körper aus.

„Die Seele, die sich im Körper verborgen hält, fliegt durch die ganze Sinnesausstattung des Menschen, indem sie denkt, redet und handelt. Denn der Mensch ist himmlischer und irdischer Art, und die Engel verwundern sich über seine Werke und loben Gott dafür.“

(aus: „Welt und Mensch. De operatione Dei“)

Jede Zelle des Körpers wird von der Seelenkraft durchzogen und damit lenkt die Seele alle Lebensvorgänge im Organismus. Wenn die Seele derart eng mit allen Körpervorgängen verbunden ist, bekommt man eine Ahnung davon, wie wichtig es ist, seiner Seele zu lauschen. Und ebenso gravierend ist unsere geistige Ausrichtung, unsere Absichten und Haltungen im Leben. Denn alles, was wir über unsere Sinne „reinlassen“, wirkt auf unsere Seele. Wenn man sich ein wenig länger über diese weitreichenden Auswirkungen Gedanken macht, erkennt man schnell, wie entscheidend es ist, ob wir für unser Leben die Verantwortung übernehmen oder nicht. Hildegard von Bingen war eine große Verfechterin der Selbstverantwortung. In ihr erkannte sie die Freiheit zu einem glücklichen Leben, frei von jeglichen Zwängen. Ihr Verständnis von Selbstverantwortung bedeutet, sich mit einer entsprechenden Bewusstwerdung und achtsamen Gewahrwerdung gut um den „kleinen Kosmos Mensch“ zu kümmern.

In ihren Texten spricht Hildegard von Bingen davon, dass der Mensch ein Kosmos in Miniatur sei, ein Mikrokosmos. Der Mensch sei aus den gleichen Elementen geschaffen wie die Natur. Und auch alle Vorgänge der Natur spiegeln sich im Menschen wider. Somit ist die Schöpfung, unsere Welt, nicht nur ein Lebensumfeld, mit dem wir verantwortungsbewusst umgehen sollten, sondern wir sind sozusagen als ein kleines „Ganzes“ eng damit verbunden. Wir sind ein in sich „vollkommener“ Teil davon. Daher verbinden uns die Heilverfahren dieser beeindruckenden Visionärin mit der Heilungsenergie des Universums. Das mag für viele vielleicht etwas zu mystisch klingen, doch Hildegard von Bingen spürte diese kosmische Kraft (göttliche Kraft) in sich. Eine Kraft, die bis tief in unsere Herzen reicht. Dort verwurzelt, wirkt sie heilend auf unsere Seele.

„Der Mensch hat nämlich Himmel und Erde und alles, was geschaffen ist, in sich vereinigt, und alles liegt in ihm verborgen … Also sind Gott und Mensch eins wie Seele und Leib …“

(aus: „Ursprung und Behandlung von Krankheiten. Causae et curae“)

Die Niederschriften der Äbtissin sind schwer zu lesen, ihre Sprache ist salopp gesagt „mittelalterlich“ und ebenso fremd erscheinen uns ihre symbolhaften Bilder, die für uns Menschen heute nicht leicht zu verstehen sind. Berücksichtigen muss man sicherlich auch, dass Hildegard von Bingen ihr Wissen auf dem Wege der inneren Schau erfuhr. Das machte sie unangreifbar gegenüber dem damaligen Vorurteil, theologische Erkenntnisse seien den Männern vorbehalten. Dennoch ist das Werk dieser beeindruckenden Frau reich an Erkenntnis und Verstehen. Der Mensch ist von Natur aus eine vollendete Einheit, in ihm verbinden sich Himmlisches und Irdisches zu einer Form vollendeter Schönheit. Hildegard von Bingens Weltsicht führt uns zu einer Sicht der Dinge zurück, die uns im Alltag viel zu leicht verloren geht. Sie gibt uns mit ihrer umfassenden Schau auf Mensch, Natur und Gott viele wertvolle Denkanstöße. Das Vermächtnis ihrer Niederschriften zeugt von einem extrem tiefsinnigen Intellekt. Es fordert uns dazu auf, innezuhalten und zu reflektieren.

Hildegard von Bingens Gottvertrauen ist beispielhaft für ein Urvertrauen, nach dem wir uns oft sehnen. Wer aber war diese Frau, die uns so viele Hunderte Jahre später ein Gedankengut hinterlässt, dass uns einen Weg zu mehr Wertschätzung und Achtsamkeit weist, dass uns den Weg zu uns selbst zeigt?

Der steinige Weg einer außergewöhnlichen Frau

Biografische Angaben zu Hildegard von Bingen

Hildegard von Bingen hatte gewiss kein leichtes Leben. Abgesehen von ihrer schwächlichen körperlichen Konstitution hatte sie im 12. Jahrhundert auch mit der gesellschaftlichen Geringschätzung der Frau zu kämpfen. Außerdem wurde ihre Sehergabe alles andere als mit Bewunderung und Neugierde bedacht. Im Gegenteil, man erklärte sie anfangs für verrückt und von Dämonen heimgesucht. Als Kind erzählte sie noch unbedarft von den vielen Bildern, die sie in ihrem Geiste sah, später jedoch verschwieg sie ihre Schau so gut es ging, wohl wissend um den Spott und das gehässige Gerede der Menschen.