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Jutta Vogt-Tegen

STRESS

ist auch nur ein Gedanke

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Inhalt

Vorwort

Gewahrsein – erkennen, was wirklich ist

1Das Schneekugel-Prinzip

2Der sechste Sinn

3Widerstandslos zufrieden

4Der kreative Raum

5Gedankenhygiene

6Die Fähigkeiten deines Bewusstseins

Wohlwollende Akzeptanz – annehmen, so wie es ist

1Warum alle über das Wetter reden

2Der Blick durch die Linse

3Nicht hü, nicht hott

4Wer loslässt, gewinnt

Was uns antreibt und was uns im Wege steht

1Auf den Spuren deiner Herzenswerte

2Liebe oder Angst – eine Entscheidung

Perspektivenwechsel – die Haltung der Selbstliebe

1Versöhnung statt Abwehr

2Du selbst mit Gefühl

3Die Basis von allem

4Appell für mehr Eigensinn

5Zeitlos im Hier und Jetzt

Dein Körper – dein Sprachrohr

1Dein Haus der Stille

2Alles im Fluss

3Kinderspiele mit Sinn und ohne Verstand

Du bist du und lass die anderen draußen

1Die einen so, die anderen so

2Das Leben ist ein Fest – feiere es!

3Alles, was du brauchst, ist bereits da

Nachwort

Impressum

Vorwort

Stress ist auch nur ein Gedanke – so einfach kann es doch nicht sein, oder etwa doch?

Stressexperten gehen davon aus, dass es nur circa zehn Prozent äußere Faktoren sind, die uns täglich unter Strom halten. Die übrigen 90 Prozent beruhen auf unseren Gedanken und unserer Haltung, sind sozusagen „hausgemacht“. Man spricht hier auch von inneren Stressoren. Positiv an dieser Einschätzung ist, dass uns damit ein großer Spielraum zur Verfügung steht, in dem wir selbst aktiv werden und etwas verändern können. Diese sogenannten inneren Stressoren sind beispielsweise unrealistische Erwartungen, überhöhte Anforderungen und viel zu ehrgeizige Ziele. Stets der oder die Beste sein zu müssen, alles unter dem Anspruch der Perfektion anzugehen und selbstverständlich für alles und jeden die Verantwortung zu tragen – puh, daran kann man nur scheitern.

Genau genommen bist nicht einmal du selbst dieser unermüdliche Antreiber, der dich gnadenlos Runde für Runde in deinem Hamsterrad scheucht. Es sind Gedankenmuster, Konditionierungen und Glaubenssätze, die du von klein auf aufgenommen hast, meist aus dem Elternhaus. Damals waren viele dieser Prägungen sicherlich gut gemeint, einige hatten bestimmt auch ihren Sinn, doch abgesehen davon, dass viele davon längst überholt sind, frage dich einmal sehr ehrlich: Was haben alle diese Gedankenmuster mit dir, mit dem, was dich in deinem Innersten ausmacht, heute noch zu tun? Das sind beispielsweise Sätze wie „Was denken denn die anderen?“ oder „Du darfst nicht schwach sein“. Bereits beim Lesen dieser Sätze spürt man sofort, wie unsinnig solche Vorgaben sind. Und trotzdem, tief in dir verankert greift hier leider auch kein gesunder Menschenverstand, da kannst du noch so sehr den Kopf über dich selbst schütteln. Was seit Jahren in dir verwurzelt ist, braucht Zeit, um es aufzulösen. Denn diese Sätze sind wie Automatismen, die im Verborgenen arbeiten und dich immer wieder in die gleichen Verhaltensmuster steuern. Passt du nicht auf, wirst du zum Galeerensklaven in deinem eigenen Boot.

Je achtsamer und bewusster du dir dieser Sätze wirst, desto größeren Abstand gewinnst du. Du wirst mehr und mehr spüren, was dir wirklich guttut und welche neuen Sätze und Verhaltensmuster dir dein Leben erleichtern, um wieder fröhlicher, entspannter und voller Lebenskraft den Alltag zu erleben.

„Stress ist auch nur ein Gedanke“ bedeutet vor allem auch zu erkennen, wie negativ du täglich mit dir selbst sprichst. Meistens merken wir das nur nicht. Wir definieren uns viel zu sehr über unsere Defizite. Wir sehen das, was noch nicht perfekt ist, was noch nicht reicht. Wobei hier auch die Frage ist, wer das eigentlich beurteilt. Touché! Kein anderer als du selbst. Doch statt dich auf deine Schwächen und Unvollkommenheiten zu konzentrieren, kannst du mithilfe achtsamer Bewusstwerdung deine Fähigkeiten und Liebenswürdigkeiten in den Fokus rücken. Ja, vielleicht bist du ein Mensch, der verträumter ist als andere und den jegliche Art von Druck schnell nervös macht. Doch dafür hast du einen wunderbaren Humor, bist zuverlässig, gewissenhaft, voller Ideen und hast einen schnellen Intellekt. Das Wunderbare an der achtsamen Haltung ist die Erkenntnis des jeweiligen Moments. Je achtsamer du wirst, desto klarer erkennst du die Schönheit in allen Dingen. Die täglichen Herausforderungen relativieren sich, weil du sie jetzt aus einer gesunden Distanz betrachten kannst. Aus dieser Distanz wertest du weniger streng und wesentlich positiver. Und dieser Abstand ermöglicht dir, auch deine Emotionen aus einer Beobachterposition zu betrachten. Dadurch bist du ihnen nicht länger hilflos ausgeliefert. Du wirst eigenverantwortlicher und selbstbestimmter. Das fühlt sich wesentlich besser an als diese machtlose Haltung, in der du gefangen in deinen Stressgedanken gereizt und unzufrieden mit dem Leben haderst.

Bevor du dich jetzt an die Lektüre machst, noch ein Hinweis: Du wirst in diesem Buch einige Tipps finden, wie du täglich an dir selbst arbeiten kannst. Doch natürlich ist nicht jede Übung für jeden geeignet. Vielleicht bist du von Natur aus ein absoluter Bewegungsmensch. Dann wird dir zum Beispiel Meditation nicht unbedingt leichtfallen. Da alles jedoch auch Spaß bringen soll, beginne im Kleinen. Zehn Minuten meditatives Spazierengehen kann zum Beispiel ein guter Einstieg sein, statt dich sofort 20 Minuten in Stille hinzusetzen. Spüre in dich hinein, was und wie es für dich gut ist. Denn stressen soll dich dieses Buch nun ganz gewiss nicht!

Viel Spaß dabei!

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Gewahrsein – erkennen, was wirklich ist

1. Das Schneekugel-Prinzip

Sicherlich kennst du die Schneekugeln, die im Winter häufig auf Weihnachtsmärkten verkauft werden. In einem runden, mit Wasser gefüllten Glas befinden sich eine Miniaturlandschaft, Märchen- oder Comicfiguren. Außerdem kleine weiße Partikel, die beim Schütteln der Kugel aufwirbeln. Stellst du diese dann ab, sinken die Partikel wie fallender Schnee langsam auf den Grund, bis das Wasser wieder komplett klar ist.

In seinem Buch „Achtsamkeit mit Kindern“ berichtet der buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh von einer einfachen Übung, die er zusammen mit den Kindern praktiziert, die zusammen mit ihren Eltern das Familienretreat in seinem Meditationszentrum Plum Village besuchen. Mithilfe dieser Übung erklärt der Mönch den Kindern unseren Geist und wie Achtsamkeit und Meditation positiv auf diesen einwirken. Das Prinzip der Übung ist im Grunde ähnlich wie das der Schneekugel:

Ein Wassergefäß wird mit klarem Wasser gefüllt und daneben kleine Schälchen aufgereiht, die unterschiedlich gefärbten Sand (Rot, Blau, Grün, Gelb usw.) enthalten. Das Glas mit dem Wasser symbolisiert unseren Geist. Der Sand in den verschiedenen Färbungen steht für unsere täglichen Gedanken und Gefühle. Eines der Kinder beginnt nun mit einem Stab das Wasser in dem Glas in einem gleichmäßigen Tempo umzurühren. Dann nehmen die Kinder eines nach dem anderen etwas von dem Sand und streuen ihn ins Wasser. Für welche Farbe sie sich dabei entscheiden, hängt von ihrem momentanen Gefühl und ihren Gedanken ab, mit denen sie sich gerade beschäftigen. Der Farbton entspricht in etwa ihrer Stimmung. Durch das Rühren werden die Sandkörner kunterbunt umhergewirbelt.

Genauso sieht es täglich in unserem Geist aus: Eine Menge an Gedanken kreisen dort herum. Gedanken an die Vergangenheit, wie zum Beispiel den gestrigen Kinobesuch, den Familienausflug letztes Wochenende oder aber eine kurze Begegnung vor ein paar Minuten auf der Straße. Ebenso viele unserer Gedanken greifen in Richtung Zukunft: Pläne für den ersehnten Feierabend, Aufregung vor dem nächsten Meeting gleich am Nachmittag oder die Freude auf den geplanten Urlaub. Das Vergangene und das Zukünftige schwirren sozusagen permanent in unserem Geist, wobei es doch eigentlich um das Erleben im Jetzt geht. Neben Zukunft und Vergangenheit befassen sich unsere Gedanken außerdem mit Bewertungen, Beurteilungen und Vergleichen. Das geschieht komplett unbewusst.

Achte selbst einmal darauf, wie du beispielsweise eine neue Kollegin blitzschnell mit deinem Bewertungsscanner einzuordnen versuchst: ihre Kleidung, ihre Frisur, ihre Figur, ihr Alter – alle möglichen Details nimmst du innerhalb kürzester Zeit wahr und bewertest sie. Dahinter steckt keine böse Absicht, du versuchst dir quasi automatisch ein Bild zu machen. Ebenso automatisch vergleichst du: zum Beispiel die gute Laune deines Partners am frühen Morgen. Kannst du ebenso fröhlich den Tag beginnen oder bist du zu früher Stunde eher muffelig und wortkarg? Und was macht dieses Vergleichen mit dir? Seine gute Laune setzt dich eventuell unter Druck, weil du nicht „mithalten“ kannst und du dieses „Nicht mithalten Können“ unbewusst als Manko empfindest. Aus diesem schlechten Gefühl heraus reagierst du genervt und gereizt, nörgelst nicht nur an deinem Partner, sogar auch noch an den Kindern herum. All dieses nur, weil seine Frohnatur dich unter Druck setzt. Dabei hat die Laune deines Partners nichts, aber auch rein gar nichts mit dir zu tun. Niemand erwartet, dass du mitziehst. Diese Erwartungshaltung baust du selbst durch den Vergleich auf. Achte zukünftig einmal bewusst darauf, welche Automatismen alleine durch die Bewertung und den Vergleich greifen, ohne dass sie dir bis dato aufgefallen sind.

Nun aber zurück zu der Schneekugel beziehungsweise dem Wassergefäß, in das die Kinder farbigen Sand als Symbol ihrer Gedanken und Emotionen hineinstreuen. Ein Kind rührt mit einem Stab, so dass die Sandkörner kreisen und kreisen. Je hektischer du in deinem Alltag bist, desto heftiger wirbeln die Partikelchen umher. Ebenso wird bei Angst, Ärger, Aufregung, Stress und ständiger Grübelei der Wirbel immer schneller und das Wasser zunehmend undurchsichtiger. Alles ist am Rotieren, alles ist in ständiger Bewegung.

Thich Nhat Hanh lässt am Ende eine Glocke ertönen und das Kind mit dem Stab zieht diesen aus dem Wasser heraus. Dann beobachten alle, was passiert: Langsam sinken die farbigen Sandkörner auf den Grund des Gefäßes. Das Wasser wird ruhig und absolut klar. Gleiches geschieht in der Meditation oder wenn du achtsam atmest und bei dir und deinem Körper bist. Deine Gedanken und Emotionen sind nicht verschwunden. Sie ruhen nur. Du hast es jetzt in der Hand, welche deiner Emotionen und Gedanken du aufrühren möchtest, um sie zu betrachten. Und um etwas zu betrachten, muss man Distanz haben. Erkennst du, welch machtvoller Unterschied das ist? Plötzlich hast du es selbst in der Hand und bist nicht länger Spielball deines Geistes. Außerdem weißt du um die Sicherheit deines Atems. In jeder Situation steht dir dein Atem zur Verfügung. Indem du bewusst und achtsam atmest und in deinen Körper spürst, beruhigt sich dein Geist, deine Emotionen werden friedvoll und „senken sich auf den Grund“. So siehst du klarer und kannst bewusster handeln.

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Probiere es am besten jetzt gleich aus: Setz dich entspannt auf einen Stuhl, lege deine Hände in deinen Schoß und schließe nun die Augen. Für die Länge von einer Minute atme ruhig und gleichmäßig ein und aus und lausche dabei der Stille in dir. Dein gedanklicher Fokus ist auf die Stille gerichtet. Selbstverständlich wirst du Geräusche im Außen hören, zum Beispiel das Ticken der Uhr, den Nachbarn im Treppenhaus oder das Rauschen der Heizung. Lasse dich davon nicht von deinem Fokus ablenken, sondern mache dir eine geistige Notiz – Ticken der Uhr, Nachbar, Heizung – und lasse das Geräusch wieder los. Horche in dich hinein und atme. Spüre dabei, wie sich dein Körper entspannt und vor allem wie sich deine Gedanken entspannen. Genieße die Stille. Abschließend atmest du tief ein und aus, öffnest langsam wieder die Augen und spürst nach.

Du hast jetzt lediglich eine Minute deines Tages in absoluter Stille verbracht. Eine Minute ist nicht viel und dennoch hat sie eine enorme Wirkkraft. Diese Stille, die du eben gekostet hast, diese Stille ist immer in dir vorhanden. Es liegt an dir, dich immer wieder neu mit ihr zu verbinden. Sie ist sozusagen der Ruhepol in dir – deine sichere Insel. Egal wie stressig dein Tag gerade ist, du hast immer die Möglichkeit, dich für eine oder sogar zwei Minuten über deinen Atem mit deiner inneren Kraftquelle zu verbinden. Je öfter du diese einfache Methode nutzt, desto gelassener, klarer und zentrierter wirst du zukünftig handeln. Du stärkst damit deine Stressresistenz. Eine Minute in Stille, eine Minute Achtsamkeit, eine Minute Wertschätzung für dich selbst.

Übrigens habe ich eine kleine Schneekugel bei mir auf dem Schreibtisch stehen. Der ideale Reminder, zwischendurch immer mal wieder für eine Minute in Stille zu gehen.

2. Der sechste Sinn

Bevor du jetzt weitere Tipps zum Abbau von Stress bekommst, macht es Sinn, den Begriff der Achtsamkeit kurz zu betrachten, schließlich ist Achtsamkeit das A und O bei diesem Thema. Obwohl Achtsamkeit längst in aller Munde ist, wissen die wenigsten, worum es dabei wirklich geht. Dabei ist es überhaupt nicht kompliziert, im Grunde ein einfaches Konzept. Jemand sagte einmal, dass der Versuch, Achtsamkeit mit Worten zu beschreiben, ebenso schwierig sei wie der Versuch, einer anderen Person erklären zu wollen, wie eine Mango schmeckt. Und das ist auch bereits die einzige Krux: Du musst es selbst ausprobieren, sprich ins achtsame Sein kommen. Nicht umsonst sagte auch Jon Kabat Zinn, der in den 70er-Jahren das MBSR-Konzept entwickelte (mindfulness based stress reduction – achtsamkeitsbasierte Stressreduktion), dass Achtsamkeit erst durch die Kraft der Anwendung wirke und erst durch die Anwendung wirklich zu verstehen sei. Bei diesem Konzept geht es darum, auf eine ganz bestimmte Art und Weise aufmerksam zu sein, nämlich:

1.bewusst im gegenwärtigen Moment,

2.ohne zu bewerten.

Wie schwer es ist, ohne Bewertung durchs Leben zu spazieren, darauf habe ich bereits im ersten Kapitel hingewiesen. Doch betrachte zunächst den ersten Aspekt: Was bedeutet es, dieses „bewusst im gegenwärtigen Moment“? Wir nehmen die Welt mit unseren Sinnen wahr, sind sozusagen permanent auf Empfang. Unsere fünf Wahrnehmungskanäle sind:

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Die äußere Welt dringt über diese Kanäle zu uns. Nicht immer sind alle Sinne gleichzeitig gefordert, doch generell werden mindestens zwei angesprochen. Davon abgesehen dringen auditive Reize immer in unser Ohr, ob wir nun wollen oder nicht. Betrachte einmal eine typische Alltagssituation: Du sitzt zum Beispiel in der Bahn, siehst deinen Mitreisenden zu oder blickst aus dem Fenster (sehen). Gleichzeitig hörst du die Geräusche um dich herum, ob du nun willst oder nicht (hören). Und natürlich riechst du auch mehr oder weniger bewusst den meist etwas stickigen Bahngeruch (riechen). Je bewusster du dir deiner Sinne bist, desto deutlicher spürst du den Sitz unter deinen Oberschenkeln (fühlen, tasten), und eventuell isst du während der Bahnfahrt auch einen Snack (schmecken). Eine komplett alltägliche Situation, bei der alle Sinne gleichzeitig angesprochen werden. Doch wann bist du dir deiner Sinneswahrnehmungen wirklich bewusst? Sehr selten, in der Regel fast nie. Das ist auch gut so, denn bei der täglichen Reizflutung würden wir ansonsten komplett untergehen. Das könnte keiner aushalten. Trotzdem ist es wichtig, „sinnlicher“ zu werden, gerade wegen der starken Reizbelastung. Je sensibler du dir deiner Sinne bewusst wirst, desto besser kannst du für dich sorgen, um reizresistenter zu werden oder gegebenenfalls Reizen mehr oder weniger aus dem Weg zu gehen. Zum Beispiel in Bezug auf deine Reizresistenz:

Je nach Situation nutzen wir meistens mal den einen, mal den anderen Wahrnehmungskanal verstärkt. Beispielsweise im Kino oder beim Autofahren den Sehsinn, im Konzert oder beim Telefonieren den Hörsinn, beim Essen den Geschmackssinn und bei handwerklichen oder körperlichen Tätigkeiten den Tastsinn (Gefühlssinn). Diese geballte Beanspruchung des jeweiligen Sinnes nehmen wir ebenfalls nicht wirklich wahr. Daher probiere einmal aus, in typischen Situationen bewusst einen anderen Sinn zu aktivieren. Zum Beispiel im Kino auf alle Gerüche zu achten oder beim Essen auf die Geräusche.

Durch diese veränderte Fokussierung wirst du sensibler für die Reize, die tagtäglich deine Sinne beanspruchen. Und dadurch wirst du achtsamer erkennen können, wo du rechtzeitig Grenzen setzen musst. Lärm zum Beispiel kann uns unterschwellig extrem stressen. Bis zu dem Punkt, an dem wir bei Banalitäten plötzlich explodieren. Zum Beispiel arbeitest du in einem Großraumbüro, wo alle Mitarbeiter viel und laut telefonieren. Außerdem ist vor deinem Fenster noch eine Baustelle. Den ganzen Tag bist du diesem Lärm ausgesetzt und kämpfst mit deiner Konzentration, die wichtig ist, um dein Arbeitspensum zu schaffen.

Nach Feierabend sitzt du in einem überfüllten Bus, in dem du ebenfalls von vielen unterschiedlichen Geräuschen umgeben bist. Zu Hause angekommen öffnest du die Wohnungstür und stolperst gleich beim ersten Schritt über die achtlos liegen gelassenen Fußballschuhe deines Sohnes. Auch das noch! Du explodierst und schimpfst sofort lautstark mit deinem Filius, statt ihn freundlich zu begrüßen und erst dann wegen der Unordnung zu maßregeln. Es ist einfach zu viel Lärm, der dich unterschwellig stresst und unter Strom hält. Da reichen oft bereits minimale Auslöser, die mit dem Lärm zwar rein gar nichts zu tun haben, doch sie sind sozusagen das i-Tüpfelchen und bringen das Fass zum Überlaufen.

Übrigens kannst du deine Lärmresistenz trainieren: Begebe dich dazu bewusst in Situationen, in denen du einer hohen Beschallung ausgesetzt bist, zum Beispiel auf einem überfüllten Bahnsteig, in einer Diskothek, in einem gut besuchten Einkaufszentrum. Konzentriere dich lediglich auf deinen Hörsinn und nehme dabei achtsam wahr, was die vielen Geräusche in dir auslösen: Welche Gedanken und Emotionen steigen auf, wie reagiert dein Körper? Je sensibler du für deine „Lärmgrenze“ wirst, desto besser wirst du diese Stressoren erkennen können, um rechtzeitig etwas zu verändern beziehungsweise deine impulsiven Reaktionen zu verstehen, um sie wenigstens im Nachhinein zu korrigieren. Denn je mehr du deine „Mechanismen“ verstehst, desto näher rückst du wieder an dich heran und desto selbstbestimmter wirst du zukünftig agieren.

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Möchtest du deine Sinne insgesamt sensibilisieren, eignet sich dafür am besten ein achtsamer Spaziergang in der Natur. Die ersten 100 Meter achtest du nur auf alle Geräusche: das Knacken der Äste, das Rauschen der Bäume im Wind, das Rascheln im Gebüsch. Die nächsten 100 Meter nimmst du lediglich die Gerüche wahr: die Feuchtigkeit, den Harzgeruch, den Duft der Gräser und Blumen. Danach dann weiter mit allem, was du sehen kannst, und abschließend ertastest du deine Umgebung, indem du die Pflanzen und Bäume erfühlst. Je achtsamer du deine Umgebung bewusst mit den Sinnen wahrnimmst, desto mehr stärkst du dein Bewusstsein für deine Sinne. Dadurch wirst du feinspüriger für Situationen, in denen deine Sinne „überreizt“ werden. Je achtsamer du solche Situationen erkennst, desto verantwortungsbewusster kannst du für dich selbst gut sorgen.

Natürlich sensibilisiert dich diese Übung auch für alles Schöne, was dich umgibt. Du wirst einen bewussteren Blick für die vielen schönen Kleinigkeiten im Alltag bekommen, die ja alle bereits da sind, die wir meistens nur nicht sehen. Du erweiterst dein Wahrnehmungsspektrum, ohne deinen tatsächlichen Erlebnisradius zu vergrößern.

Reden wir davon, uns den gegenwärtigen Moment bewusst zu machen, so hat der Buddhismus uns einen Sinn voraus: Vielleicht ist dir aufgefallen, dass viele der Buddhafiguren auffallend lange Ohren haben. Diese langen Ohren sind symbolisch zu verstehen. Sie stehen für den sechsten Sinn. Der sechste Sinn steht im Buddhismus für die Fähigkeit, das eigene Fühlen, Denken und Tun in das Bewusstsein zu heben. Sobald du dir deiner Gedanken, der damit verbundenen Gefühle und letztendlich deines dadurch verursachten Tuns gewahr wirst, bist du zu 100 Prozent präsent. Du gewinnst dadurch eine Art Distanzierung. Du kannst sozusagen dich selbst beobachten: dein Denken, dein Fühlen, dein Handeln. Diese Verbindung von Gedanken – Emotionen – Handeln ist entscheidend dafür, wie wir die Welt wahrnehmen und letztendlich mit Stress umgehen.