Über das Buch:
Carnton Plantage, Franklin,1864:
Lizzie Clouston ist Hauslehrerin auf der Südstaaten-Plantage der Familie McGavock und eine heimliche Gegnerin der Sklaverei. Voller Hingabe widmet sie sich der Erziehung ihrer kleinen Schützlinge, sehnt sich jedoch danach, bald ihre eigene Familie zu gründen. Sie ist mit ihrem Kindheitsfreund Towny verlobt, doch irgendetwas lässt Lizzie zögern. Als das beschauliche Carnton unerwartet von den Wirren des Bürgerkriegs heimgesucht wird, gerät Lizzies Welt schlagartig aus den Fugen. Einfühlsam kümmert sie sich um die verwundeten Soldaten, unter ihnen auch der gutaussehende und charmante Hauptmann Roland Jones, der in Lizzie nie gekannte Gefühle weckt. Doch was ist mit Towny? Ihr Gefühlschaos ist komplett, als sie erfährt, dass Roland ein Sklavenhalter ist. Und ausgerechnet er begleitet sie nun auf der gefährlichen Mission, den letzten Wunsch eines sterbenden Soldaten zu erfüllen …
Über die Autorin:
Tamera Alexander ist für ihre historischen Romane schon mehrfach mit dem Christy Award ausgezeichnet worden, dem bedeutendsten christlichen Buchpreis in den USA. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei erwachsenen Kindern in Nashville.
Kapitel 6
Was hatte sie getan?
Lizzie merkte, dass ihr der Korb mit den Verbänden fast aus der Hand rutschte, und stellte ihn schnell auf den Boden. Sie starrte die regungslose Gestalt auf dem Bett an. Sie war so sicher gewesen. Die Zuversicht des Hauptmanns hatte sie so angesteckt, dass sie offenbar blind dafür geworden war, was ein erfahrener Arzt für das Beste hielt. Sie hörte wieder ihre eigene Stimme, mit der sie Dr. Phillips widersprochen und sich seinem geplanten Vorgehen widersetzt hatte.
Überall um sie herum waren an diesem Abend Männer gestorben. Viele lagen auch jetzt im Sterben. Aber am Tod der anderen war sie nicht beteiligt gewesen. Eine starke Übelkeit erfasste sie. Sie klammerte sich an den Türrahmen.
„Miss Clouston! Da sind Sie wieder.“
Sie drehte sich um und sah verschwommen Dr. Phillips am Operationstisch stehen. Neben ihm stand der junge Sanitäter, der immer noch ihren Platz einnahm. Mit dem Skalpell in der Hand deutete der Arzt auf den Korb bei ihren Füßen. „Sie kommen genau rechtzeitig. Ich bin hier fast fertig.“
Lizzie hob den Korb hoch, der ihr jetzt doppelt so schwer wie vorher erschien. Und obwohl ihre Gedanken wild in alle Richtungen rasten, konnte sie in ihrem Kopf nur ihre eigenen Worte hören: Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid.
Der Sanitäter überließ ihr gerne das Chloroform und das Tuch. Lizzie stand da und schaute in das knabenhafte Gesicht eines jungen Soldaten hinab, dessen linkes Bein jetzt abgetrennt in einem Korb auf dem Boden lag. „Zu viel“, hörte sie sich flüstern und fühlte, wie ein Zittern tief in ihrem Inneren einsetzte. „Sie haben zu viel gegeben.“ Sie schluckte. Bruder kämpfte gegen Bruder. Landsmann gegen Landsmann. Dieses ganze Blutvergießen und Töten. Wozu? Wann würde es aufhören? Sie hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen.
„Miss Clouston, das Chloroform.“
Lizzie blinzelte, um wieder klar sehen zu können, und legte das Tuch über die Nase des Jungen. Bei jedem Tropfen des Anästhetikums sah sie Blut. Das Blut, das diese Männer – und Jungen – vergossen hatten. Plötzlich spielte es keine Rolle mehr, dass sie den Gründen, aus denen sie kämpften, nicht zustimmte. In ihr machte sich eine große Wut breit. Wie hatte es so weit kommen können, dass in diesem Land so viele Menschen ihr Leben verloren? Trotz ihrer Ausbildung zur Lehrerin, trotz all ihrer Bildung wusste sie darauf keine Antwort. Sie fühlte sich ohnmächtig und hatte keine Ahnung, wie man diesem Krieg ein Ende setzen könnte. Sie versuchte zu beten, aber sie fand keine Worte, um das Kämpfen und das Ringen in ihrem Inneren auszudrücken.
Sie schaute auf den jungen Soldaten hinab, der vor ihr lag, und dachte an seine Mutter, der es das Herz brechen würde, wenn sie ihren Sohn das erste Mal mit verstümmeltem Körper wiedersehen würde. Aber diese Mutter würde sich trotzdem freuen, dass ihr geliebter Sohn noch am Leben war. Eine Freude, die Hauptmann Jones’ Frau nicht erleben würde.
„Das ist der letzte Faden.“ Dr. Phillips nähte die Wunde zu und verband das, was vom Bein des Jungen übrig war.
Lizzie fühlte den Blick des Arztes auf sich und wusste, worauf er wartete. „Es tut mir leid“, flüsterte sie und zwang sich, ihm in die Augen zu schauen, obwohl dies das Letzte war, was sie wollte.
Er runzelte die Stirn. „Was tut Ihnen leid, Miss Clouston?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich hätte Sie nicht daran hindern sollen, das zu tun, was Sie für das Beste hielten, und jetzt … Bitte vergeben Sie mir, Dr. Phillips. Ich habe ein schlechtes Urteilsvermögen bewiesen, als ich mich für Hauptmann Jones’ Wünsche einsetzte. Er stand unter der Wirkung des Morphiums und ich …“ Sie warf einen Blick auf das Bett. „Ich hätte das berücksichtigen müssen. Mir tut mein Teil an dem, was passiert ist, schrecklich leid.“
„Hauptmann Jones?“, wiederholte er verständnislos. Er folgte ihrem Blick zu der zugedeckten Gestalt auf dem Bett. Dann schaute er sie schnell wieder an. „Oh.“ Er seufzte. „Das ist nicht der Hauptmann. Hauptmann Jones liegt auf dem Boden vor dem Feuer.“
Lizzie schaute den Arzt fragend an. Da sie es mit eigenen Augen sehen musste, stieg sie über die Männer, die auf der anderen Seite von Winders Bett auf dem Boden lagen. Sie atmete stockend aus. Hauptmann Jones lag tatsächlich vor dem Feuer auf dem Boden. Er hatte die Augen geschlossen, aber das rhythmische Heben und Senken seiner Brust vertrieb ihre Befürchtungen und ihre Schuldgefühle verflogen. Da sie wusste, wie groß seine Verletzungen waren und welche Schmerzen er bereits ertragen hatte und noch ertragen müsste, konnte sie seine Entschlossenheit fast fühlen. Diese Entschlossenheit hatte sie dazu gebracht, Ja zu sagen, als er sie gebeten hatte, ihm ihr Versprechen zu geben.
Mit einem Mal spürte sie, dass jemand hinter ihr stand. Als sie sich umdrehte, sah sie Dr. Phillips.
„Er hat gesagt, dass er so viele Jahre auf dem Boden geschlafen hat, dass er sich in einem Bett fremd fühlt. Deshalb haben ihn die Sanitäter hier auf den Boden gelegt.“
Neue Hoffnung keimte in ihr auf. „Er wird also wieder gesund, meinen Sie?“
„Nein, Miss Clouston.“ Seine Stimme wurde ernst. „Ich bin nach wie vor der Meinung, dass in Hauptmann Jones’ Fall nicht die beste Entscheidung getroffen wurde.“
Sie schluckte.
„Es widerspricht allem, was ich in den letzten 20 Jahren gelernt und praktiziert habe, nicht alles zu tun, um ein Menschenleben zu retten. Aber“, fügte er hinzu und wandte kurz den Blick ab, „meine Entschlossenheit, Menschenleben zu retten, kann mich manchmal dafür blind machen, das Richtige zu tun. Sie haben das getan, Miss Clouston. Sie haben recht: Ein Soldat sollte selbst entscheiden können, ob er sein Bein behalten will oder nicht, selbst wenn ihn diese Entscheidung sein Leben kosten kann. Wenn der Hauptmann stirbt, Ma’am, sind Sie nicht für seinen Tod verantwortlich. Und ich, ehrlich gesagt, auch nicht. Auch wenn ich die Bürde meiner Entscheidung bis ins Grab tragen werde.“ Sein Blick wanderte an ihr vorbei zu Hauptmann Jones. „Sie haben sich in einem Moment für die Wünsche eines Soldaten eingesetzt, in dem ich daran erinnert werden musste, was er will, und nicht an das, was ich für das Beste halte. Und wenn ich das so sagen darf, Miss Clouston: Sie haben das ausgezeichnet gemacht.“
Lizzie lächelte ihn schwach an. „Danke, Dr. Phillips. Aber falls er sterben sollte, werde ich einen Teil dieser Bürde auch bis an mein Lebensende tragen.“ Sie warf erneut einen Blick auf den Hauptmann. Seine Augen waren immer noch geschlossen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er ein Blatt Papier an seine Brust drückte.
„Miss Clouston!“
Lizzie erblickte Tempy, die mit einem Gefäß im Türrahmen stand, und ging zu ihr. Lizzie schaute in das Gefäß hinein. „Ist das etwa …?“
„Faden, Ma’am. Faden aus Rosshaar.“ Tempy strahlte. „Ich musste den Oberst erst um Erlaubnis fragen, bevor ich seinen edlen Pferden die Schweifhaare abschneiden durfte. Aber er hat gesagt: ‚Mach es, Tempy!‘ Also habe ich es gemacht. Dann habe ich die Haare ausgekocht. Sie können jetzt benutzt werden.“ Tempy drückte ihr das Gefäß in die Hand und wandte sich zum Gehen.
„Dr. Phillips“, rief Lizzie und berührte Tempys Arm.
„Was haben wir denn hier, Miss Clouston?“ Der Arzt untersuchte den Inhalt des Gefäßes.
„Nähfaden aus echtem Rosshaar, Sir. Das verdanken wir Tempy.“
Er hob den Blick. „Und sie sind auch schon ausgekocht und können sofort benutzt werden!“
Tempy senkte zustimmend den Kopf. „Ich habe den anderen Ärzten draußen auch schon welche gebracht, Sir.“
Dr. Phillips nickte. „Gut gemacht. Jetzt zurück an die Arbeit.“
Lizzie lächelte Tempy zum Abschied zu, dann fühlte sie einen leichten Druck auf ihrem Arm.
Tempy blickte zu ihr auf. „Sie machen das auch gut, Miss Clouston“, flüsterte sie und warf einen Blick auf den Operationstisch. „Sie machen das richtig gut.“
* * *
Es war halb zehn, als Lizzie es zum ersten Mal bemerkte: Von den dunklen Feldern draußen drang eine ungewohnte Stille herein. „Hören Sie das, Dr. Phillips?“
„Ob ich was höre?“
Sie drehte ihr Gesicht dem eisigen Wind zu, der durch das offene Fenster hereinwehte. „Die Stille.“
Das Skalpell in seiner Hand erstarrte. Er hob langsam den Kopf. Seine Augen kniffen sich zusammen. „Kein Kanonenfeuer mehr.“
„Und auch kein Gewehrfeuer.“ Sie drehte sich um. „Glauben Sie, es ist vorbei?“
Sein Blick wanderte zum Fenster und eine vorsichtige Hoffnung trat in seine Miene. „Das weiß ich nicht. Aber beten wir zu Gott, dass es so ist.“ Mit einem Seufzen wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. „Beenden wir erst einmal hier oben unsere Arbeit. Dann brauche ich eine Tasse Kaffee und will kurz hinausgehen und sehen, wie die anderen Ärzte vorankommen. Ich bleibe nur ein paar Minuten. Danach machen wir hier weiter. Wenn Sie noch können.“
Lizzie nickte. Ihre Kopfschmerzen waren immer noch da. Aber wenigstens wurden sie nicht schlimmer.
Als Dr. Phillips fertig war und die Sanitäter den Soldaten wieder auf den Boden zurücklegten, schaute Lizzie nach den Verwundeten im Zimmer, auch nach Hauptmann Jones. Seine Augen waren geschlossen, aber seine gleichmäßigen Atemzüge beantworteten ihre drängendste Frage. Wenn sein Kinn nicht so energisch vorgeschoben gewesen wäre, hätte sie geglaubt, er schlafe. Trotz seines Vollbarts, der wild und ungekämmt war, konnte sie seine Anspannung sehen. Aber sie wollte ihn nicht stören und gönnte ihm ein wenig Ruhe.
Im Stillen zählte sie die Männer, die Dr. Phillips operiert hatte, seit sie angefangen hatte, ihm zu assistieren. Sie kam auf 21 Männer, die alle mindestens einen Teil eines Armes oder Beins oder einer Hand verloren hatten. Oder mehrere Teile. Und Dr. Phillips war nur einer von fast einem Dutzend Ärzten, die heute Nacht hier operierten.
Ein Buch auf dem Tisch, auf dem die Instrumente des Arztes lagen, erregte ihre Aufmerksamkeit: Handbuch für Operationen an Soldaten – Konföderierte Armee. Sie nahm das Buch und schlug es auf. Es war erst vor Kurzem, 1863, herausgegeben worden. Und es war illustriert, stellte sie mit einem gewissen Zittern fest, während sie in den Seiten blätterte. Das Buch war in Kapitelüberschriften unterteilt. Operationsrisiken. Schusswunden. Arterien. Amputationen. Und so weiter.
Sie schlug schnell das Kapitel über Amputationen auf und begann, die detaillierte Beschreibung der Operationen, die Dr. Phillips heute vor ihren Augen durchgeführt hatte, zu lesen. Jeder Schritt wurde mit schmerzlicher Genauigkeit beschrieben. Aber nachdem sie die Operationen mit eigenen Augen gesehen hatte, war das Lesen dieses Textes weitaus weniger erschreckend. Sie klappte das Buch zu und schaute sich im Raum um. Es fiel ihr immer noch schwer, das, was hier geschah, zu akzeptieren.
Die grausame Realität des Krieges ließ sich einfach nicht mit dem Leben in Einklang bringen, das sie innerhalb der Mauern dieses Hauses in den letzten Jahren geführt hatte. Aber jeder Schritt, den sie nun auf dem blutgetränkten Teppich ging, verriet ihr, dass dies kein Traum war. Und irgendwie wusste sie, dass das Leben und die Welt, die sie gekannt hatte, für immer der Vergangenheit angehörten.
Das Stöhnen und die Schreie der Männer zehrten immer noch an ihr. Es gab so wenig, was sie für sie tun konnte. Die Not war so groß. Ihr Blick fiel auf Hauptmann Jones, der jetzt die Augen aufgeschlagen hatte.
Sie kniete neben ihm nieder. „Hauptmann Jones“, flüsterte sie. „Kann ich Ihnen irgendetwas bringen, Sir?“
„Ein großes Glas Tennessee-Whiskey“, antwortete er, ohne zu zögern. Ein paar Soldaten neben ihm stimmten ihm mit einem lauten „Amen!“ zu. Er drehte den Kopf zu ihr herum und konzentrierte sich auf ihr Gesicht. „Aber ich wäre für einen Schluck Wasser auch sehr dankbar, Ma’am.“
Lizzie nickte. „Wasser kann ich Ihnen bringen.“
Sie holte den Eimer mit Kelle, den Tempy im Flur abgestellt hatte, und in den nächsten Minuten half sie Hauptmann Jones und den anderen Männern, ihren Durst zu stillen. Sie konnte sich die Schmerzen, die sie ertragen mussten, kaum vorstellen.
„Miss Clouston.“
Sie drehte sich um. „Ja, Hauptmann Jones.“
„Wenn Sie einen Moment Zeit haben, Ma’am, wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir diesen Brief vorlesen könnten.“
„Selbstverständlich.“ Sie stellte den Eimer ab.
Der Kinderstuhl, der in der Ecke stand, war für einen kleinen Jungen von Winders Größe gedacht, aber sie hatte schon einige Male darauf gesessen und wusste, dass er sie trug. Und da es im ganzen Raum keinen anderen freien Stuhl gab, holte sie ihn und stellte ihn neben den Hauptmann.
Sie nahm das verknitterte Briefpapier, das er ihr hinhielt, und strich es auf ihrem Rock glatt. Dann überflog sie den Briefkopf.
An Leutnant R. W. Jones
Nashville, Tennessee
c/o Hauptmann P. R. Leigh
von den Oakachickamas
Mississippi-Freiwilligenheer
Sie erinnerte sich: Er hatte gesagt, dass er aus Mississippi kam. Und ein Scharfschütze war. Sie warf einen Blick auf seine rechte Hand und fragte sich, mit welchem Finger er abgedrückt hatte. Mit dem Zeigefinger seiner linken Hand? Oder mit dem, den er vorher an seiner rechten Hand gehabt hatte? Dann fiel ihr etwas auf: Leutnant?
Der Brief musste geschrieben worden sein, bevor er zum Hauptmann befördert worden war. Sie warf einen Blick auf das Datum. Tatsächlich: 11. Dezember 1861. Vor fast drei Jahren. Das war ein wenig seltsam. Sie war natürlich davon ausgegangen, dass der Brief jüngeren Datums sei.
„Mein lieber Roland“, begann sie leise und sprach nur so laut, dass er sie hören konnte und die anderen im Raum hoffentlich nicht.
„Dein lange ersehnter Brief (denn für mich ist es wie eine Ewigkeit) ist endlich gekommen. Ich weiß, dass mir die Freude, von meinem geliebten Roland zu hören, nicht deshalb so lange verwehrt wurde, weil du mich vergessen hättest. Denn deine letzten Worte waren: ‚Biene, ich schreibe dir, sobald ich in Nashville bin.‘ Roland, es ist schwer, von dir getrennt zu sein. Ich weiß natürlich, dass dein Pflichtgefühl und ein starkes Ehrgefühl, die immer deine Antriebskraft sind, uns diese Trennung aufgezwungen haben.“
Lizzie schaute ihn kurz während des Lesens an, um sich zu vergewissern, dass er noch wach war. Er war nicht nur wach. In seiner Miene lag eine Sehnsucht, die in ihr eine gewisse Eifersucht auf die Frau entfachte, der die treue Liebe dieses Mannes gehörte. Sie verdrängte diesen ungebetenen Gedanken und las weiter.
„Ich schicke dir ein Blatt von meinen Geranien, die mir Bettie Cooke geschenkt hat. Sie blühen sehr schön. Schreibe mir und …“
„Bitte lesen Sie beim nächsten Absatz weiter, Miss Clouston.“
Er kannte den Brief offensichtlich auswendig, stellte Lizzie fest. Sie kam seiner Bitte nach.
„Wie viele Predigten hast du gehört, seit du in Nashville bist? Ich gehe davon aus, dass du regelmäßig den Gottesdienst besuchst. Schwester Ruth und ich waren im Garten, um ein paar Blumen zu pflücken. Als wir auf dem Rückweg waren, bekamen wir einen großen Schreck, weil der Feueralarm ertönte. Ich bin ein paar Minuten so schnell gelaufen, wie ich konnte, aber es stellte sich bald heraus, dass nur Ruß im Kamin gebrannt hat. Du kannst mir glauben, dass wir sehr erleichtert waren. Du hättest gelacht, wenn du mich laufen gesehen und schreien gehört hättest. Ich bin nicht mehr so flink wie früher.“
Ein leichtes Lächeln umspielte Lizzies Mund. Als sie aufblickte, sah sie in seinem Gesicht die gleiche Reaktion. Es war ein gutes Gefühl, inmitten tiefer Schatten und Schmerzen einen solchen Moment mit einem anderen Menschen zu erleben.
„Ich wünschte so sehr, du könntest an diesem ruhigen Abend bei uns sein“, las sie weiter. Es war ihr unmöglich, ihre eigenen Briefe an Towny nicht mit dem Ton dieses Briefes von Mrs Jones an ihren Mann zu vergleichen. „Die große Lücke, die deine Abwesenheit in meinem Herzen hinterlässt, könnte nur gefüllt werden, wenn es in deiner Macht stünde, mit uns zusammen am Feuer zu sitzen. Ich lausche jeden Abend, wenn die Züge unten vorbeifahren, auf deine Schritte auf der Veranda. Was wäre es für eine Freude, wenn ich sie hören könnte! Ich muss diesen Brief für heute Abend beenden. Gute Nacht. Und tausend Küsse an meinen geliebten Roland. Mit der festen Hoffnung, dich bald wieder zu Hause zu sehen. Deine dich liebende Frau. Biene.“
Lizzie blieb einen Moment sitzen, starrte diesen Kosenamen an und ließ die Schönheit der Worte und die Gefühle, die sie beschrieben, auf sich wirken.
„Danke, Ma’am“, flüsterte er mit tief bewegter Stimme.
„Es war mir eine Freude, Hauptmann Jones.“ Sie faltete den Brief zusammen und gab ihn ihm zurück. Sie überlegte, ob sie etwas sagen sollte oder nicht. Schließlich siegte ihr Herz. „Sie müssen Ihre Frau sehr vermissen, Sir. Und sie vermisst Sie offensichtlich auch sehr.“
Er schaute sie nicht an. Er starrte nur weiterhin einen Punkt über sich an der Zimmerdecke an. „Ich vermisse sie mehr, als Sie sich vorstellen können, Miss Clouston. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass ein Mensch einen anderen so sehr vermissen und immer noch atmen kann. Aber es ist nicht …“
Ein plötzlicher Lärm von unten hallte die Treppe herauf. Lizzie glaubte, ein paar Männer jubeln zu hören.
„Die Yankees haben den Schwanz eingezogen und sind geflohen!“, rief ein Mann von unten. „General Hood sagt, dass er seine Armee nach Nashville führt und General Thomas und seine Männer kurz und klein schlägt!“
* * *
„Haben Sie das gehört, Hauptmann Jones? Sie sagen, dass sich die Unionsarmee zurückzieht.“
Roland, der in Miss Cloustons Stimme eine starke Ungläubigkeit hörte, wusste, dass er unehrlich wäre, wenn er ihr nicht offen sagen würde, was er dachte. Denn er kannte die Wahrheit. Er wusste, wie dieser Krieg enden würde. Das sollte eigentlich jeder Mann wissen, der heute auf diesem Schlachtfeld gewesen war. Jeder, der etwas anderes glaubte, war entweder ein Narr oder ein verrückter Träumer.
„Ich bin wirklich nur ungern derjenige, der einen Funken Hoffnung erstickt, Miss Clouston …“ Er brach ab, da seine Beine vor Schmerzen pochten und die Schmerzen in seinem Kopf – vom Chloroform, vermutete er – ihn immer noch daran hinderten, klar zu denken. „Aber das, was ich heute Abend erlebt habe, war kein Rückzug. Ich habe die Schützengräben der Unionstruppen heute Nachmittag vom Merril’s Hill aus gesehen. Und später sah ich sie aus der Nähe. Mir fällt es schwer, diese Nachricht mit dem, was wir erlebt haben, in Einklang zu bringen. So sehr es Sie sicher schmerzen wird, das zu hören“, sagte er mit leiser Stimme, „glaube ich, dass die Sache, für die wir kämpfen, heute Nacht verloren wurde.“
Es fiel ihm sehr schwer, diese Worte laut auszusprechen. Miss Cloustons schmerzverzerrte Miene verriet, dass auch sie sehr unter dieser Niederlage litt. Vielleicht hätte er nicht so offen mit ihr sprechen sollen. Wie lange war es her, seit er sich das letzte Mal mit einer Frau unterhalten hatte? Es war eine willkommene Abwechslung, das stand außer Frage. Aber sich mit Miss Clouston zu unterhalten war ganz anders als die Gespräche, an die er sich in den letzten drei Jahren gewöhnt hatte.
„Entschuldigen Sie, Ma’am. Ich wollte nicht …“
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Hauptmann Jones.“ Sie schaute kurz auf ihre Hände hinab, die sie auf dem Schoß gefaltet hatte. „Und ich glaube, dass Sie recht haben könnten.“
Diese Frau besaß wirklich eine unglaubliche Stärke. Selbst angesichts der bevorstehenden Niederlage der Konföderation strahlte sie eine stille Würde und Anmut aus. „Ich habe heute Dinge gesehen, die ich mir selbst in meinen schlimmsten Albträumen nicht hätte vorstellen können. Ich bin in Bezug auf den Krieg nicht mehr naiv, Hauptmann Jones. Auch wenn ich das bis vor ungefähr fünf Stunden noch war. Ich will die Wahrheit wissen. Ich will verstehen, was da draußen heute passiert ist. Sprechen Sie also bitte weiter.“
Roland blickte zu ihr hinauf und wusste, dass sie immer noch sehr naiv war. Denn sonst würde sie nach allem, was sie gesehen hatte, keine solche Bitte aussprechen. Trotzdem konnte er gut verstehen, dass sie wissen musste, was passiert war. Dass sie es begreifen musste.
In dem Versuch, die Schmerzen in seinem Rücken zu lindern, drehte er sich leicht. Aber die Schmerzen in seinen Beinen waren dabei so stark, dass ihm schwindelig wurde. Er atmete mit zusammengebissenen Zähnen scharf ein. Die glühenden Schmerzen waren jetzt noch schlimmer als vor der Operation.
Er stand kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, und wollte einerseits diesem Gefühl nachgeben und in der Bewusstlosigkeit versinken, weit weg von allem hier. Weg aus einer Welt, die sich auf eine Weise veränderte, die ihm überhaupt nicht gefiel. Er musste zugeben, dass ihm diese Veränderungen Angst einjagten. Aber gleichzeitig wusste er, dass Gott mit ihm noch nicht fertig war. Auch wenn er und Gott in letzter Zeit kein besonders gutes Verhältnis zueinander gehabt hatten.
Kapitel 7
„Hauptmann Jones, geht es Ihnen gut?“
Roland fühlte den sanften Druck auf seinem Arm, ein starker Gegensatz zu den brennenden Schmerzen, die durch seine Adern schossen. Er klammerte sich an den Trost, den ihre Berührung und ihre Stimme boten.
Er verzog das Gesicht. „Mir geht es gut. Aber ich glaube, ich sollte mich lieber nicht bewegen.“
„Was kann ich noch für Sie tun? Sagen Sie es mir.“
Er schluckte. „Sie tun es bereits, Ma’am. Geben Sie mir nur eine Minute.“
Langsam, viel zu langsam, ließ der schier unerträgliche Schmerz ein wenig nach und kehrte zu dem vertrauten, beständigen Schmerzniveau zurück. Miss Clouston hielt die Kelle an seine Lippen und er trank. Das Wasser lief in seinen Bart hinein. Er fühlte sich so schwach, so hilflos. Wie ein Gefangener in seinem eigenen Körper, ein Sklave seiner Wunden. Und doch war er dankbar, dass er noch lebte.
„Miss Clouston, Ma’am?“
Ohne den Kopf zu drehen, schaute Roland in Richtung Tür, wo er die alte Sklavin erblickte, die er schon einmal gesehen hatte.
Miss Clouston stand auf. „Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment.“
Die zwei Frauen senkten die Stimme, aber er konnte sie trotzdem verstehen.
„Ich habe Töpfe mit Rinderknochen auf dem Ofen stehen, Miss Clouston. Ich verdünne die Brühe, damit sie für alle reicht, aber wenigstens haben diese Männer dann etwas Warmes im Bauch. Mrs McGavock hat mir aufgetragen, dass ich Ihnen das sagen soll. Wir haben gedacht, dass wir sie in Wassereimern verteilen, da wir nicht genug Tassen für alle haben. Nicht einmal dann, wenn wir Mrs McGavocks gutes Geschirr nehmen.“
„Das ist wunderbar, Tempy. Es dürfte noch ein paar Minuten dauern, bis Dr. Phillips zurückkommt. Ich bin hier drinnen gleich fertig. Dann komme ich und helfe dir.“
„Ich habe Dr. Phillips gerade hinter dem Haus gesehen. Er hilft dort einem anderen Arzt. Einem Oberst, einem Koloss von einem Mann, wird unter dem Milchorangenbaum ein Bein abgenommen. Irgendwie gibt es dabei Probleme, habe ich sie sagen hören. Ich weiß aber nichts Genaueres.“ Sie schüttelte den Kopf. „Diese Männer machen eine grausame Arbeit, aber anscheinend muss sie gemacht werden.“
Miss Clouston sagte etwas dazu, was Roland aber nicht verstehen konnte.
Als sie durch das Zimmer zurückkehrte, flüsterte sie den Verwundeten, an denen sie vorbeiging, ermutigende Worte zu. Alle spürten ihre Freundlichkeit. Die Soldaten reagierten darauf sehr positiv. Und ob es Miss Clouston merkte oder nicht – Roland war ziemlich sicher, dass sie es nicht merkte –, folgten ihr die Blicke der Männer. Rolands Blicke eingeschlossen.
Sie setzte sich auf den Kinderstuhl neben ihm und schaute ihn erwartungsvoll an. Eine hübsche braune Locke rutschte aus dem Haarknoten an ihrem Hinterkopf.
„Entschuldigen Sie bitte die Störung. Sie wollten mir erzählen, was Sie heute gesehen haben. Oben auf dem Merrill’s Hill.“
Obwohl er das eigentlich nicht wollte, kehrte Roland zu den Erinnerungen zurück, die er lieber verdrängt hätte. „Die Unionsarmee war uns um mehrere Stunden in Franklin zuvorgekommen. Als wir hier ankamen, hatten sie ihre Schützengräben ausgehoben und sich Deckung verschafft. Sie waren fleißige, kleine Biber, wie einer der Offiziere, die neben mir standen, sagte.“ Er dachte an Daniel Ranslett, ebenfalls Hauptmann und Scharfschütze, der ihn zum Merrill’s Hill begleitet hatte. Ranslett war ein guter Offizier und ein erstklassiger Schütze und er kam aus dieser Gegend. Seit sie auf dem Schlachtfeld getrennt worden waren, hatte er Ranslett nicht mehr gesehen. Er hoffte von ganzem Herzen, dass sein Freund noch lebte. „Nach dem zu urteilen, was ich vor der Schlacht gesehen habe und was ich dann inmitten dieses Kessels aus Rauch und Feuer beobachtet habe, nachdem die Schlacht begonnen hatte …“
Er schloss kurz die Augen. Entsetzliche Bilder tauchten vor seinem geistigen Auge auf. Bilder, die sich, wie er befürchtete, so tief in ihn eingebrannt hatten, dass er nie wieder die Augen schließen könnte, ohne sie zu sehen: konföderierte Brüder, die wie Schneewehen im Winter übereinandergehäuft waren. Männer, die getötet worden waren, während sie ihre Musketen neu luden. Im Tod noch hielten sie die Waffen und den Ladestock in ihren Händen.
„Die Unionstruppen haben ganz bestimmt nicht den Schwanz eingezogen und sind geflohen, Ma’am. Sie waren auf uns vorbereitet. Wir kamen ihnen im hellen Tageslicht auf freiem Feld entgegen. Sie konnten uns bei jedem Schritt sehen. Selbst als die Sonne hinter den Hügeln untergegangen war, hat ihre Artillerie den Nachthimmel über uns erhellt. Sie hatten Gräben ausgehoben und anderthalb Meter hohe Schanzen errichtet und mit Kopfschutz versehen.“
Sie zog die Stirn in Falten. „Was meinen Sie mit Kopfschutz?“
„Man nimmt einen Baumstamm oder Ast, so dick, wie man ihn finden kann, und legt ihn oben auf die aufgehäufte Erde. Dann gräbt man darunter ein wenig Erde heraus, damit man ein Guckloch hat. So groß, dass der Lauf eines Gewehres hindurchpasst. Auf diese Weise ist der Kopf beim Zielen besser geschützt.“
Sie nickte und ihre Stirn glättete sich wieder.
„Ihre Schützengräben erstreckten sich über gut drei Kilometer in einer Art Halbmond vom Fluss Harpeth im südöstlichen Teil der Stadt bis zur Flussbiegung im Nordwesten. Wir haben sechs Artilleriebatterien gezählt und 38 Feldkanonen.“
„Kanonen“, wiederholte sie leise. „Ich habe heute auch welche gesehen. Vom Balkon im ersten Stock auf der Rückseite des Hauses.“
Er nickte. „Als wir über das Feld blickten, konnten wir sehen, wie sich die letzten Sonnenstrahlen auf ihren Bajonetten widerspiegelten. General Schofields Männer hatten sie für uns besonders gut poliert.“
Ihre Miene wurde nüchtern und er wusste, dass sie versuchte, sich diese Szene vorzustellen. Er weigerte sich aber, ihr die Szene so zu schildern, wie sie tatsächlich gewesen war. So etwas musste eine Frau nicht hören. Außerdem hatte er so viel über Schlachten gesprochen, dass es für zwei Menschenleben reichte. Er wollte ihr etwas anderes sagen.
„Ich wollte Ihnen danken, Ma’am, für alles, was Sie getan haben. Leutnant Shuler hat mir ausführlich geschildert, wie Sie sich für mich eingesetzt haben, als der Arzt mein Bein amputieren wollte.“ Roland deutete mit dem Kopf auf Shuler, der neben ihm lag. „Shuler hat gesagt, dass Sie es jederzeit mit General Schofield aufnehmen könnten.“
„Das stimmt“, mischte sich Shuler ein. „Sie hat Dr. Phillips genau gesagt, was Sache ist. Und sie hat keinen Millimeter nachgegeben.“
Roland lächelte. „Das glaube ich gern. Obwohl ich diese Frau noch nicht lange kenne, habe ich gelernt, dass sie ein großes verbales Arsenal zur Verfügung hat.“
„Ein verbales Arsenal?“, wiederholte sie mit hochgezogener Braue. „Ich bin nicht sicher, ob ich das als Kompliment verstehen soll.“ Aber das Funkeln in ihren Augen verriet sie. Sie bedachte sowohl ihn als auch Shuler mit einem gespielt strengen Blick, und als Roland das Grinsen des jungen Leutnants sah, hätte er für einen Moment glauben können, dass Shuler eine weitere Dosis Morphium bekommen hatte. Miss Cloustons freundliche und beruhigende Art wirkte definitiv berauschend. Und diese tiefblauen Augen waren auch nicht zu verachten.
So unschuldig diese Beobachtung auch war, wurde ihm in diesem Moment bewusst, dass es seit Susans Tod, fast auf den Tag genau vor 19 Monaten, das erste Mal war, dass ihm eine Frau wirklich auffiel. Er hatte jedoch das Gefühl, das Andenken an seine Frau zu verraten. Als er wieder an seine geliebte Biene und an Lena dachte, erfüllte ihn erneut das schmerzliche Gefühl des großen Verlustes. Ich lausche jeden Abend, wenn die Züge unten vorbeifahren, auf deine Schritte auf der Veranda. Was wäre es für eine Freude, wenn ich sie hören könnte!
Er kannte die Worte ihres Briefes fast auswendig. Er hätte bei den beiden zu Hause sein sollen. Vielleicht hätte er dann das, was passiert war, verhindern können. Ein nagender Schmerz regte sich in ihm, ein Schmerz, der nichts mit seinen körperlichen Verletzungen zu tun hatte, aber sich genauso real anfühlte. Wie schon so oft fragte er sich, ob der Preis für seine Entscheidung, seine Familie zurückzulassen und in den Kampf zu ziehen, nicht viel zu hoch gewesen war. Er hatte sie verlassen, um schließlich unter einer Führung zu dienen, die er unzählige Male infrage gestellt hatte, besonders, als General Hood das Kommando übernommen hatte.
Ab dem Moment, in dem er erfahren hatte, dass sich Mississippi von der Union trennen wollte, hatte er gewusst, dass er zu den Waffen greifen würde. Welcher Ehrenmann würde seinen Staat, sein Zuhause, sein Land und seine Familie nicht verteidigen? Aber während er fort gewesen war und sie vor den Unionssoldaten verteidigt hatte, war ein anderer Feind, unsichtbar und noch unerbittlicher, in sein Haus eingedrungen und hatte sie ihm geraubt. Er drückte die Augen zu, die sich mit Tränen der Wut und des Schmerzes füllten. Trauer, gepaart mit Bedauern, zwang selbst den stärksten Mann in die Knie und es gab Momente wie jetzt, in denen er sicher war, dass er unter dieser Last erdrückt wurde.
Deshalb war er, als er auf dem Schlachtfeld gelegen und gemerkt hatte, dass er wegen seines Blutverlusts immer schwächer wurde, bereit – sogar sehr gern bereit – gewesen, zu Susan und Lena in den Himmel zu gehen. Doch dann hatte er nach oben geblickt und den großen Herbstmond gesehen. Und auch wenn sich etwas in ihm danach gesehnt hatte zu sterben und diese Welt hinter sich zu lassen, hatte er gewusst, dass seine Zeit noch nicht gekommen war.
„Und obwohl ich sicher bin, dass Leutnant Shuler den Wortwechsel mit Dr. Phillips viel zu sehr beschönigt hat …“
Roland blinzelte und hörte erst jetzt, was Miss Clouston sagte. Sie schaute ihn wieder an.
„… bin ich dankbar, dass er auf mich gehört hat und dass das, was nach Ihrem Willen geschehen sollte – besser gesagt nicht geschehen sollte –, eingetreten ist. Aber …“ Sie erhob sich und warf einen vielsagenden Blick auf sein rechtes Bein. „Dr. Phillips macht sich wegen der Gefahr von Wundbrand sehr große Sorgen. Und ich auch. Wir müssen also streng darauf achten, dass die Wunde sauber bleibt.“
Roland zwang sich zu einem Nicken, obwohl sein Herz genauso schmerzte wie seine Beine. „Ich tue, was ich kann, Ma’am.“
* * *
„Diese Suppe schmeckt lecker, Ma’am. Was ist das?“
Von der aufrichtigen Dankbarkeit in der Stimme des jungen Soldaten gerührt, füllte Lizzie die Schöpfkelle erneut und hielt sie ihm an den Mund. Sein linker Arm war nur wenige Zentimeter unter seiner Schulter amputiert worden und sein rechter Arm war verbunden und wurde von einem Stoff gehalten, der früher zu Mrs McGavocks Unterwäsche gehört hatte. Was würde der Unteroffizier wohl sagen, wenn er wüsste, dass er von Damenunterwäsche zusammengehalten wurde? „Das ist eine warme Rinderbrühe. Oberst McGavock und seine Frau werden alles tun, um Ihnen allen morgen etwas zu essen geben zu können, das sättigender ist.“
Er hob den Blick. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie das sein könnte, Ma’am. So etwas Gutes habe ich sehr lange nicht mehr gegessen.“
Lizzie war von seiner Dankbarkeit gerührt und bekam von den übrigen Männern, die sie auf dem Flur im ersten Stock bediente, ähnliche Kommentare zu hören. Da Dr. Phillips noch nicht zurück war, ging sie in die Küche und füllte ihren Eimer wieder mit Brühe auf, bevor sie erneut die Stufen hinaufstieg.
Obwohl sie eigentlich keinen Hunger hatte, wusste sie, dass sie darauf achten musste, selbst bei Kräften zu bleiben. Deshalb füllte sie die Kelle fast bis zum Rand, trank die warme Brühe und fühlte, wie sie durch ihren Hals hinunterlief. Auch wenn sie kein Vergleich zu Tempys Rindersuppe mit Gemüse war, hatte sie dank der Brühe etwas im Magen und das war gut.
Hauptmann Jones hatte tatsächlich zugegeben, dass die Konföderation seiner Meinung nach diesen Krieg verlieren würde! Sie hatte gesehen, welchen Kampf es für ihn bedeutet hatte, diese Worte laut auszusprechen. Und sie hatte sich sehr beherrschen müssen, um ihre wahren Gefühle nicht zu zeigen. Sie betete nur, dass der Hauptmann recht behielte und dieser Krieg bald vorüber wäre.
Sie bediente die verwundeten Männer, die im Schlafzimmer der McGavocks und draußen auf der Veranda im ersten Stock lagen, wo die Nacht bitterkalt geworden war. Nachdem sie ihren Eimer noch einmal gefüllt hatte, ging sie zu den Soldaten im Gästezimmer und wollte danach zu Hatties Zimmer weitergehen. Sie stellte aber fest, dass hier schon Hattie und Sallie mit Mrs McGavock waren. Die drei arbeiteten sich durch das Labyrinth an verwundeten Männern, die zwischen den Spuren von Hatties Kindheit auf dem Boden lagen. Ihr Puppenhaus und die Porzellanpuppen lehnten mit offenen Augen an der Wand; in der Wiege lag ihr Stoffbär; und daneben standen der kleine Tisch und die Kinderstühle, auf denen Hattie ihren imaginären Freundinnen Tee servierte. Sallie hielt den Eimer mit beiden Händen, während Hattie die Kelle eintauchte und die Brühe vorsichtig an ihre Münder hob. Mrs McGavock sprach mit jedem Soldaten, zu dem sie kam, berührte ihre Köpfe und Schultern und tröstete die Männer, wie nur eine Mutter trösten konnte.
Lizzie blieb einen Moment stehen und betrachtete diese Szene. Wie sehr veränderte diese Nacht die lieben Mädchen? Wie ging eine Neunjährige mit so etwas um? Und wie konnte sie, als die Gouvernante der Familie, je eine Möglichkeit finden, den Kindern das alles zu erklären? Wie konnte sie ihnen helfen, sich in den unauslöschlichen Erinnerungen zurechtzufinden, die nicht nur die Menschen formten, zu denen sie sich entwickelten, sondern auch ihre Meinung von der Welt beeinflussen würden – vor allem von ihren Nachbarn im Norden.
Sie wusste auf diese Fragen keine Antwort. Im Gegenteil, ihre Fragen wurden immer mehr. Sie ging durch den Flur in Winders Zimmer. Sobald sie das Zimmer betrat, wanderte ihr Blick zu Hauptmann Jones. Offenbar war er endlich eingeschlafen. Die Ruhe würde ihm guttun.
Jeder Soldat, an den sie Brühe verteilte, trank sie hungrig und blickte dann zu ihr auf, als hätte sie ihm ein Lebenselixir verabreicht. Als alle etwas zu essen bekommen hatten – wobei essen ein sehr großzügiges Wort war –, wusste sie, dass sie Dr. Phillips suchen und ihn fragen musste, ob sie ihm assistieren sollte. Oberst McGavock, seine Frau und die Kinder versorgten die Männer im Haus und Lizzie hatte jetzt nichts mehr zu tun. Ihre Arme und Beine schmerzten und ihr Körper sehnte sich nach Ruhe, aber ein Blick durch den Raum machte ihr bewusst, wie dankbar sie sein sollte. Wie dankbar sie war.
Sie schaute ein letztes Mal nach Hauptmann Jones. Er schlief immer noch tief und fest. Sie stellte den Eimer mit der Brühe neben ihn und dachte an den Brief von seiner Frau. Die wunderschön beschriebenen Gefühle. Und die Liebe, die aus ihren Worten sprach.
„Die große Lücke, die deine Abwesenheit in meinem Herzen hinterlässt …
Ich lausche jeden Abend, wenn die Züge unten vorbeifahren, auf deine Schritte auf der Veranda …
Tausend Küsse an meinen geliebten Roland.
Sie dachte zwar oft an Towny, hoffte, es ginge ihm gut, und wollte, dass er zurückkehrte – aber könnte sie sagen, dass sie „durch seine Abwesenheit eine große Lücke in ihrem Herzen“ verspürte? Oder dass sie jeden Abend lauschte, ob sie seine Schritte auf der Veranda hörte, während sie für ihn betete? Und was diese tausend Küsse anging …
Towny hatte sie geküsst. Einmal. An dem Januarmorgen, an dem er zu seiner Brigade zurückgekehrt war. Es war ein etwas sonderbares Gefühl gewesen, ihn zu küssen, aber sie hatte es damit erklärt, dass sie noch nie zuvor geküsst worden war. Deshalb war es für sie eine neue Erfahrung gewesen. Alles wäre für sie neu.
Ihre Gedanken kehrten zu dem Sommer zurück, in dem sie zwölf gewesen war. Sie hatte mit ihrer Mutter auf der Veranda vor dem Haus gesessen und Bohnen geschält. „Küssen und solche Sachen sind etwas, das Männer und Frauen machen, wenn sie verheiratet sind, Lizzie. Einige öfter, andere weniger oft. Aber du brauchst keine Angst davor zu haben, denn es ist nicht unangenehm, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat.“
In den Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte sich Lizzie deutlich mehr Wissen zu diesem Thema angeeignet. Dank ihrer Freundinnen, die schon verheiratet waren. Aber etwas an der Formulierung in Susans Brief ließ sie nicht los. Und während Lizzie Hauptmann Jones anschaute – die Stärke in seinen Gesichtszügen, seine muskulösen Schultern und Arme –, stellte sie fest, dass ihre Gedanken viel zu persönliche Wege einschlugen. Sie wandte sich schnell um und lenkte sich damit ab, dass sie zwei weitere Holzstücke ins Feuer legte und dann zusah, wie die Flammen knisterten und knackten, als sich das Holz schließlich der Hitze ergab.
Im Laufe der Zeit würde sie für Towny sicher das empfinden, was Hauptmann Jones’ Frau offensichtlich für ihren „geliebten Roland“ fühlte. Lizzie nickte, wie um diesen Gedanken zu bestätigen. Wenn Towny und sie erst einmal verheiratet waren und wie Eheleute auch das Bett miteinander teilten, würden sich ihre Gefühle ändern. Sie würden wachsen. So hatten es andere beschrieben. Es bestand also kein Grund, sich wegen „Küssen und solchen Sachen“ den Kopf zu zerbrechen. Fest entschlossen, diesen Gedanken hinter sich zu lassen, verließ sie das Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Als sie die Treppe hinabstieg und durch die Eingangshalle trat, hörte sie Oberst Nelson immer noch schreien. Sein Flehen war jetzt von Schimpfwörtern begleitet. Der arme Mann! Sie fragte sich, ob diese Sprache zu seinem normalen Wortschatz gehörte oder ob das nur eine Reaktion auf die Schmerzen war. Mit einem schnellen Gebet, dass die Kinder diese Worte nicht hören würden, blieb sie im Türrahmen zum Esszimmer stehen. Den Herrn um Heilung zu bitten, war für sie etwas Selbstverständliches, aber nach dem, was sie über Oberst Nelsons Zustand wusste, erschien es ihr nicht ehrlich, um seine Heilung zu beten. Deshalb gab sie dem leisen Flüstern in ihrem Herzen eine Stimme. „Herr, bitte nimm ihn zu dir nach Hause. Erlöse ihn von diesen Qualen und hole ihn heim.“
Als sie einige Minuten später durch die Hintertür den Flur verließ, blieb sie stehen und fragte sich, ob der Soldat, der den Psalm aufgesagt hatte, immer noch …
Aber er war fort. Nur ein Blutfleck auf der Tapete verriet, dass er hier gewesen war.
Schweren Herzens hörte sie, wie die Uhr im kleinen Salon Mitternacht schlug und Oberst Nelsons Schmerzensschreie noch lauter wurden.