Andreas Rödder
Konservativ
21.0
Eine Agenda
für Deutschland
C.H.Beck
Die Volksparteien sind in der Defensive. Nicht nur die SPD, sondern auch die Unionsparteien verlieren immer weiter an Wählerzuspruch – mit ernsten Gefahren für unsere Demokratie. Wie aber muss ein Konservatismus für das 21. Jahrhundert aussehen, um diesen Trend umzukehren? Andreas Rödder, Historiker und CDU-Mitglied, analysiert die fatale Sprachlosigkeit der Mitte und legt zehn Thesen vor. Konservativ 21.0 ist eine brillante Analyse der Defizite, an denen konservative Politik heute krankt, und zugleich ein leidenschaftlicher Appell, sich nicht ins populistische Bockshorn jagen zu lassen.
Andreas Rödder ist Professor für Neueste Geschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und einem breiteren Publikum vor allem durch seine weithin beachteten Bücher 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart und Wer hat Angst vor Deutschland? Geschichte eines europäischen Problems bekannt geworden.
Prolog:Die K-Frage
I: Sprachlose Mitte: Zur Lage der Nation
Zwischen Siegeszug und Populismus: Die westlichen Demokratien seit 1990
Moralisierung und Polarisierung
Das Ende der Volksparteien?
II:Konservativ 21.0
Ein Kind des Wandels
Der große Unterschied: Liberaler und illiberaler Konservatismus
Das konservative Paradox
Konservativ 1: Der lange Atem der Zeit
Konservativ 2: Fröhliche Skepsis
Konservativ 3: Erfahrung und Alltagsvernunft, Maß und Mitte
Konservativ 4: Gesellschaft vor Staat, Freiheit und Subsidiarität
III: Eine Agenda für Deutschland
1. Internationale Politik: Mehr Realismus und mehr Engagement
2. Eine Strategie für Europa: Flexible Union statt ever closer union
3. Bildung: Echte Chancen und neue Aufklärung
4. Digitalisierung: Be-Denken first
5. Ein neuer Ruck für das «Modell Deutschland»: Infrastruktur, Stadt und Land
6. Klimawandel und Umweltpolitik: Offenheit statt Ideologie
7. Soziale Marktwirtschaft: Ordoliberalismus wiederentdecken und Lebensverläufe neu denken
8. Männer und Frauen: family mainstreaming statt Ständegesellschaft
9. Asyl und Migration: Klare Regeln und verlässliche Umsetzung
10. Eine bürgergesellschaftliche Leitkultur
Streitbare Mitte:Konservatismus, Bürgergeist und Demokratie im 21. Jahrhundert
Anmerkungen
Prolog:Die K-Frage
I: Sprachlose Mitte: Zur Lage der Nation
II:Konservativ 21.0
III: Eine Agenda für Deutschland
Streitbare Mitte:Konservatismus, Bürgergeist und Demokratie im 21. Jahrhundert
Prolog
Deutschland geht es so gut wie nie zuvor. Löhne und Gehälter steigen, und im Oktober 2018 fiel die Arbeitslosigkeit erstmals seit 1981 unter 5 Prozent. Zugleich greift ein Gefühl der Krise um sich. Funklöcher und BER, Fahrverbote und Verkehrsinfarkt: Deutschland, so scheint es, verliert den Anschluss in einer Welt, die sich immer schneller wandelt und die vor ungekannten Herausforderungen und Gefahren steht. Schon jetzt stellen populistische Bewegungen die Demokratie in Frage, wie wir sie kennen.
Die Geschichte der Moderne zeigt: Beschleunigter Wandel kann große Fortschritte erbringen. Er kann aber auch in Katastrophen enden. Den Wandel so zu gestalten, dass er für die Menschen verträglich wird und daher gelingen kann – das ist das Anliegen eines liberalen Konservatismus. Und davon handelt dieses Buch.
Die Sache des Konservativen war und ist allerdings seit jeher widersprüchlich und paradox. Der Konservatismus ist die Bewegung des Bewahrens. Doch ohne den Wandel kann er gar nicht existieren. Er wurde immer wieder totgesagt und ist doch nicht totzukriegen. Demoskopen meinen, mit dem Begriff «konservativ» sei in Deutschland kein politischer Blumentopf zu gewinnen. Zugleich gerät er von Zeit zu Zeit in Mode und in die Auslagen der Buchhandlungen – und dann gern unter Verkehrung der Fronten: Während der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg «für eine neue Idee des Konservativen» wirbt,[1] macht sein christdemokratischer Amtskollege in Nordrhein-Westfalen deutlich, «dass der Markenkern der Christlich Demokratischen Union eben nicht das Konservative ist, sondern dass das christliche Menschenbild über allem steht».[2] Demgegenüber wünschte die knappe Hälfte der Delegierten, die auf dem Hamburger Parteitag der CDU am 8. Dezember 2018 für Friedrich Merz stimmte, eine stärker liberal-konservative Orientierung der Partei. Nach den Jahren der Führung durch Angela Merkel sucht die CDU nach ihrem programmatischen Profil. Unterdessen nimmt Alexander Gauland für die AfD in Anspruch, die eigentlich konservative Kraft in Deutschland zu sein.[3]
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, was eigentlich konservativ ist – und was dies konkret bedeutet. Um diese beiden Fragen soll es in diesem Buch gehen. Es ist ein politisches Buch eines Historikers, der auf der Grundlage seiner wissenschaftlichen Kenntnisse als Bürger argumentiert. Darum ein persönliches Wort. Ich bin 1993, als allenthalben von «Parteienverdrossenheit» die Rede war, in die CDU eingetreten und habe ihre programmatische Entkernung in den vergangenen Jahren mit zunehmender Kritik verfolgt. Denn ich bin davon überzeugt, dass die Demokratie vom Wettbewerb zwischen unterscheidbaren politischen Konzepten und von der öffentlichen Auseinandersetzung lebt.
In diesem Sinne argumentiert dieses Buch für einen modernen Konservatismus. Es richtet sich an alle, die sich als konservativ verstehen und die mehr darüber wissen wollen. Und es wendet sich an alle, die sich Gedanken darüber machen, was die großen politischen Ideen und Strömungen der Moderne in der Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts bedeuten können – und ob sie noch eine Zukunft haben.[4]
I
Wir stehen vor den Trümmern unserer Erwartungen. Im November 1990 sah die Charta von Paris ein «Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit» nach dem Ende des Ost-West-Konflikts voraus.[1] 1992 bekannte sich der Vertrag von Maastricht zur «immer engeren Union der Völker Europas». Helmut Kohl erwartete, Großbritannien werde binnen weniger Jahre den Euro einführen. Und Francis Fukuyama verkündete das «Ende der Geschichte»,[2] weil sich das westliche Modell von Demokratie und Marktwirtschaft weltweit durchsetzte.
Ein Vierteljahrhundert später ist in der internationalen Politik wieder jenes Faustrecht eingezogen, das viele Zeitgenossen 1990 überwunden geglaubt hatten. Die Europäische Union wurde durch die Euro-Schuldenkrise und den Austritt des Vereinigten Königreichs erschüttert. Freie Märkte sehen sich mit zunehmendem Protektionismus konfrontiert. Von Russland über die Türkei bis Brasilien werden demokratische Ansätze durch autoritäre Regime und Machthaber verdrängt. Dass sie auch noch auf demokratischem Wege gewählt werden, widerspricht der westlichen Vorstellungskraft ebenso grundsätzlich wie das chinesische Experiment eines Kapitalismus ohne Demokratie. Sein Erfolg stellt das westliche Modell grundlegend in Frage – und es bleibt einstweilen offen, ob die Antwort so ausfällt wie im Zeitalter der Weltkriege, als die bedrängten westlichen Demokratien schließlich die Oberhand behielten, oder ob sich hier ein ganz neuer Pfad der Entwicklung auftut.
Nicht nur von außen, auch im Innern werden die westlichen Demokratien zunehmend bedrängt. «Populismus» hat sich als Sammel- und zugleich als Verlegenheitsbegriff eingebürgert, um die Gemeinsamkeit von Phänomenen zu beschreiben, die sich national jeweils recht unterschiedlich darstellen.[3] Der amerikanische Präsident Donald Trump stilisiert sich als Vertreter des einfachen Volkes gegen das Washingtoner Establishment und gibt nichts auf traditionelle Formen der Politik, ist aber durch die «Grand Old Party» der Republikaner an die Macht gekommen. Die United Kingdom Independence Party (UKIP) zielte vor allem auf den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU, für den sie offenkundig auch den Einsatz von fake news nicht scheute.[4] Rechtspopulistische Bewegungen wie der französische Rassemblement National, die niederländische Partij voor de Vrijheid, die Finnen, die Freiheitliche Partei Österreichs oder die Alternative für Deutschland haben ihren ideologischen Kern in einem ethnisch verstandenen Nationalismus, der sich gegen Zuwanderung und insbesondere gegen den Islam richtet. In ihrer Kritik an der Europäischen Union und in manchen sozialpolitischen Forderungen treffen sie sich mit Linkspopulisten in Frankreich, Italien und Griechenland, die gegen den ‹neoliberalen Konsens› und die ‹Herrschaft der Konzerne› in Europa kämpfen. Mit den Cinque Stelle bilden sie in Italien sogar ein Regierungsbündnis mit der rechtsnationalistischen Lega. Besondere Fälle stellen die Regierungen in Ungarn und in Polen dar, die im Falle Viktor Orbáns von ‹illiberaler Demokratie› sprechen und insbesondere in den Bereich der Medien und der Justiz eingreifen.
All diese Bewegungen handeln nach der Devise ‹für die Nation, gegen die Eliten›: Die Nation werde von außen bedroht, so das Narrativ, aber die Eliten kümmerten sich nicht darum. Die populistischen Bewegungen hingegen nehmen für sich in Anspruch, das ‹wahre Volk› gegen das ‹Establishment› zu vertreten. Dabei neigt die Kritik an den bestehenden Verhältnissen und den Eliten zu Verschwörungstheorien wie zum Beispiel der Annahme, Angela Merkel verfolge ein Programm der ‹Umvolkung› Deutschlands.[5] Solche Vorstellungen eines einheitlichen, steuernden Willens bieten einfache Erklärungen für komplexe, widersprüchliche Realitäten. In diesem Willen zur Eindeutigkeit sind populistische Bewegungen zugleich antipluralistisch.
Solchen gemeinsamen Phänomenen stehen unterschiedliche Ursachen gegenüber. Es lässt sich nicht genau unterscheiden, ob die populistischen Bewegungen vor allem auf sozial-ökonomische Verlusterfahrungen und Abstiegsängste zurückgehen oder ob sie auf politische und kulturelle Konfliktlinien zurückzuführen sind, die durch den Zuzug von Migranten noch verstärkt wurden.[6] Beides muss aber auch kein Gegensatz sein, weil sich sozialökonomische und politisch-kulturelle Prozesse in den Basistrends des frühen 21. Jahrhunderts überlagern.[7]
Die Digitalisierung verstärkt einen bereits seit Jahrzehnten währenden Prozess, in dem Dienstleistungen im Vergleich zum produzierenden Gewerbe immer weiter zunehmen. Zugleich hat die Bildungsexpansion eine immer größere Zahl von akademisch Qualifizierten hervorgebracht. Und eine fortschreitende Lösung der Individuen aus kollektiven Bindungen hat die Unterschiedlichkeit der Lebensstile vervielfältigt. Alles in allem haben sich die Standards dessen verschoben, was noch in den 1970er Jahren als normal galt: die Kleinfamilie mit heterosexuellem Elternpaar, das sogenannte Normalarbeitsverhältnis oder die Volksparteien.
Diese Entwicklungen gingen mit Prozessen der Auf- und der Abwertung einher. Verlierer waren die nichtakademischen Unterschichten der Geringqualifizierten, deren un- und angelernte industrielle Beschäftigungsverhältnisse verloren gingen. Sie müssen sich mit prekären Jobs über Wasser halten oder haben sich in den sozialen Sicherungssystemen eingerichtet. Daneben mussten die alten Mittelschichten erleben, wie ihre mittleren Berufsabschlüsse gegenüber akademischen Abschlüssen an Wert verloren und wie ihre Zukunftsaussichten angesichts von Digitalisierung und Globalisierung mit ihren sich schnell wandelnden Anforderungen unsicherer wurden. Besonders betroffen waren davon die Peripherien der Kleinstädte und der ländlichen Regionen.
Ihnen gegenüber stehen die Gewinner: eine hoch qualifizierte akademische Mittelschicht in kosmopolitischen urbanen Zentren, die zugleich den Anspruch gesellschaftlicher Vorbildlichkeit erhebt. So bildete sich, wie es Andreas Reckwitz interpretiert, eine neue kulturelle Klassengesellschaft heraus, deren Statusunterschiede durch hohe Immobilienpreise in den Städten, durch Bildungsabschlüsse und durch Lebensstile des Essens, des Reisens oder der Körperkultur sichtbar werden.[8] Diese Entwicklung wurde noch verstärkt durch die weibliche Emanzipation in der Arbeitswelt. Da der Inhaber einer Facharztpraxis nicht mehr (oder viel seltener) die Sprechstundenhilfe heiratet, sondern eine Ober- oder Chefärztin, vergrößern zwei gut verdienende Partner die sozialkulturelle Ungleichheit und die Segregation gegenüber nichtakademischen Schichten im Vergleich zu Zeiten männlicher Alleinverdienerfamilien.
Diese Eliten verkörpern einen kulturellen und ökonomischen Globalismus der Grenzüberschreitung, der Öffnung und der kulturellen Hybridbildungen, der sich sowohl in einem neoliberalen Finanzmarktkapitalismus als auch in der Kultur von Diversität, Antidiskriminierung, gender mainstreaming und Inklusion niederschlägt. Diesen Anywheres, wie David Goodhart sie genannt hat,[9] stehen die Somewheres gegenüber, die sich in ihrem Status bedroht fühlen und von einer herablassenden Kulturelite missachtet sehen, wenn Hillary Clinton im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2016 von den «Bedauernswerten», den «Deplorables» sprach.[10] Sie wählten Donald Trump, oder sie zogen sich gelbe Westen an und protestierten in Frankreich – gegen neoliberale Bankmanager ebenso wie gegen globale grüne Eliten, denen hohe Kraftstoffpreise nichts ausmachen: «Die weltoffenen Gewinner der Globalisierung in den Städten gegen ihre Verlierer an den Rändern. Die aufgeklärten ‹Gutmenschen› des ökologischen Umbaus gegen die Populisten, die sich der Volkserziehung verweigern. Die Partei des Fortschritts gegen die hinterwäldlerischen Nationalisten. Grün und Geld gegen Gelb und Arm. Die einen fürchten das Ende der Welt, die anderen das Ende jedes Monats.»[11]
Wie die Pariser Ereignisse zeigten, ist es mit einfachen Zuschreibungen von links und rechts nicht getan. Vielmehr formiert sich Protest gegen ein als überheblich und abgeschlossen wahrgenommenes politisches Establishment, dem auch ein Emmanuel Macron zugerechnet wird, obwohl gerade er sich doch mit La République en Marche als neuer Bewegung gegen das Establishment profiliert hatte.
Zugleich offenbarten die Pariser Ereignisse, welche politische Bedeutung digitale Medien und soziale Netzwerke gewonnen haben. Nur durch das Internet hatten die Initiatoren – eine ehemalige Bankangestellte, ein Fernfahrer und eine Hypnotherapeutin – die Möglichkeit, die Bewegung gegen die Erhöhung der Treibstoffabgaben zu initiieren, bevor sie in Proteste und Straßensperren samt gewaltsamer Auseinandersetzungen überging. Diese Diffusion der Öffentlichkeit entzieht den traditionellen Eliten ihre Deutungshoheit, wie Donald Trumps Twitter-Kommunikation zeigt. Teilöffentlichkeiten führen zugleich zur Bildung von Blasen, in denen sich die eigene Meinung immer weiter verstärkt, wie sich an Verschwörungstheorien oder am Vorwurf der ‹Lügenpresse› auf Seiten der AfD ablesen lässt.[12] Ebenso neigen aber auch die Massenmedien zu sich selbst ver- und bestärkenden Blasenbildungen des mainstreams, wie zum Beispiel in der Flüchtlingspolitik des Herbstes 2015 sichtbar wurde.[13] Das Ergebnis ist eine zunehmende Polarisierung der politischen Öffentlichkeit, die durch Moralisierung noch zusätzlich angeheizt wird.
Was auf der rechten Seite geschieht, lässt sich als Moralisierung des Eigenen bezeichnen. Oder als Abwehr des Kosmopolitismus durch einen Kulturessentialismus, der die eigene Kultur für wesentlich und unverhandelbar erklärt.[14] Dabei mischen sich reale Probleme wie die Erfahrung der Machtlosigkeit und des Kontrollverlusts der deutschen Politik in der Migrationskrise 2015/16 mit Ressentiments gegen Zuwanderung und Islam sowie gegen ‹das Establishment› und die ‹Lügenpresse›. Dabei rekurriert die neue Rechte auf ein Denken in den Kategorien von Freund und Feind in der Tradition von Carl Schmitt: ‹wir› gegen ‹die›, gutes Volk gegen korrupte Eliten, Abendland gegen Islam. Zugleich greifen Metaphern wie «Blutsauger» oder «Vampir» für das Finanzkapital oder «Monster» für die EU auf Ernst Jüngers Devise zurück: «Das Volk bedarf anschaulicher und nicht begrifflicher Wahrheiten.»[15]
Was auf der linken Seite geschieht, lässt sich als Moralisierung des Regenbogens bezeichnen. Das Paradigma von Diversität und Antidiskriminierung, gender mainstreaming und Inklusion geht auf den postmodernen Dekonstruktivismus der achtziger Jahre zurück und wurde zur Leitkultur westlicher Gesellschaften, spätestens nachdem das marktliberale Paradigma mit der Weltfinanzkrise von 2008 seine politisch-kulturelle Glaubwürdigkeit verlor.[16] Die Kultur des Regenbogens erbrachte überfällige Emanzipationsgewinne für vormals Benachteiligte und Marginalisierte, insbesondere für Frauen und für Homosexuelle.
Sie neigt aber zugleich zu einer ideologischen Verabsolutierung, die aus mangelnder Selbstreflexion resultiert. Grund-lage des Weltbildes von postmodernem Dekonstruktivismus, Feminismus und Postkolonialismus ist nämlich die kritische Einsicht, dass Ordnungskategorien wie Nation oder Geschlecht keine naturgegebenen Größen sind, sondern dass das ‹Wir› erst durch die Konstruktion des ‹Anderen› erschaffen wird. Das hindert seine Vertreter in Kulturbetrieb und Wissenschaft, Leitmedien und Politik aber nicht daran, sich nach ebendiesen Mechanismen durch die Abgrenzung von ‹rechts› selbst zu bestätigen.[17] Dabei greifen sie umstandslos zum Vorwurf des Rassismus und des Sexismus, wenn Mohren-Apotheken mit Farbbeuteln beworfen werden, Eugen Gomringers Gedicht «Avenidas»[18] von der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin entfernt werden sollte und ‹alte weiße Männer› zum Feindbild gemacht werden. Ausgrenzung findet dabei nicht durch formelle Redeverbote statt – sagbar ist tatsächlich alles, was nicht mit Recht und Gesetz in Konflikt kommt –, sondern durch moralische Empörung.
Die aber wirkt. Denn Moralisierung erhöht den Sprechenden und verleiht seiner Position vermeintlich objektiven, nicht bestreitbaren Status, während der Gegner als moralisch minderwertig disqualifiziert wird.[19] Auf diese Weise wird seine Meinung aus dem Kreis desjenigen ausgeschlossen, «was man öffentlich äußern kann, ohne sich zu isolieren» – so Elisabeth Noelle-Neumanns klassische Definition der «öffentlichen Meinung».[20] Damit erklärt sich der Sprecher für alternativlos, und so erweisen sich Kulturalismus von links und Populismus von rechts als gleichermaßen antipluralistisch. Zugleich schaukeln sich die kosmopolitischen und die rechtspopulistischen Echokammern, moralische Überheblichkeit von links und Ressentiment gegen «political correctness» von rechts gegenseitig auf.[21] Was den einen ‹Münklerwatch› – die öffentliche Diffamierung eines Hochschullehrers –, ist den anderen ‹Lehrerwatch›, die AfD-Plattform «Lehrer-SOS», auf der Schüler unkorrektes Verhalten von Lehrern öffentlich melden sollen.
Dazwischen steht die politische Mitte unter Druck – und verharrt in einer Mischung aus Empörungsritualen und Sprachlosigkeit oder auch stiller Wut. Angela Merkels Regierungsstil der Alternativlosigkeit, der asymmetrischen Wählerdemobilisierung (d.h. Stellungnahmen zu kontroversen Themen zu vermeiden, damit die potentiellen Wähler des politischen Gegners nicht zur Wahl gehen)[22] und der rot-grünen Verschiebung der CDU hat die Debattenkultur in der Mitte der Gesellschaft lahmgelegt und politische Konflikte an die Ränder verlagert. Das «System Kauder» erzwang Geschlossenheit der Parlamentsfraktion und verlagerte sich auf die Routinen eines Regierens auf schwächer werdender Basis. Das galt auch für die SPD, die es niemals schaffte, Gerhard Schröders Agenda 2010 als ihre Erfolgsgeschichte des deutschen Aufschwungs seit 2005 anzunehmen, die sich aber auch nicht konsequent von diesem Erbe distanzierte – und bislang keine programmatische Antwort auf die Frage fand, wofür die Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert eigentlich steht.
Das Problem ist freilich nicht auf Deutschland beschränkt. Seit Jahrzehnten verlieren die Volksparteien bzw. die großen Richtungsparteien in ganz Europa Wähler, Mitglieder und Vertrauen. Der Abwärtstrend der europäischen Mitte-Links-Volksparteien begann, nachdem sie Anfang der siebziger Jahre ihren Höhepunkt erreicht hatten. Und er beschleunigte sich seit Ende der 90er Jahre, also gerade seit der Zeit, als New Labour, die Partij van de Arbeid oder die SPD unter Gerhard Schröder sich auf einen ‹dritten Weg› gemacht hatten. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel sieht darin einen «Hinweis darauf, dass sich für Mitte-Links-Parteien die Preisgabe ihres ideologischen Markenkerns längerfristig nicht in Gewinnen, sondern in Wählerverlusten ausdrückt».[23]
Bei den Mitte-Rechts-Volksparteien verlief die Entwicklung langsamer und kontinuierlicher. Auf europäischer Ebene erreichten sie ihren Höhepunkt Anfang der 60er Jahre, in der Bundesrepublik zwischen den späten 50ern und den achtziger Jahren. Auch ihre Entwicklung hin zur Mitte führte zu einer «Beschädigung des konservativen Markenkerns», der vor allem im 21. Jahrhundert einen Raum eröffnete, in dem sich rechtspopulistische Parteien etablierten. Eine Ausnahme stellte das Vereinigte Königreich dar, wo das Mehrheitswahlrecht für stabile Verhältnisse eines von zwei Parteien dominierten Parlaments sorgte. Daneben verblieb die CDU/CSU als eine der letzten Volksparteien in Europa. Aber auch sie erlebte in der langen Linie einen Rückgang um ein Drittel der Wähleranteile: von 48,8 % bei Regierungsantritt Helmut Kohls im Jahr 1983 über 38,5 % mit Edmund Stoiber in der Bundestagswahl von 2002 auf 32,9 % in der letzten Bundestagswahl mit Angela Merkel 2017; im Oktober 2018 erreichten die Umfragewerte die 25 %-Marke.
Der europaweite Niedergang der großen Parteien hatte strukturelle Gründe, insbesondere die Auflösung vergleichsweise geschlossener sozialkultureller Milieus, die traditionell die Wählerbasis der großen Parteien gewesen waren: das Milieu der Arbeiterschaft im Falle der Sozialdemokraten, das katholisch-christlich gebundene Milieu im Falle der Unionsparteien. Zugleich war diese Entwicklung nicht nur eine Naturgewalt, sondern sie hing auch mit Richtungsentscheidungen der Parteiführungen zusammen. Im Falle der CDU bedeutete die sogenannte «Modernisierung» unter Angela Merkel, sich an rot-grüne Positionen und Wählerschichten anzunähern und an die «Erwartungen der dominierenden Medien»[24] anzupassen, die ihr umgekehrt entsprechende Sympathien entgegenbrachten.[25] Diese Symbiose mit dem politisch-kulturellen juste milieu zeigte sich insbesondere in der Flüchtlingspolitik im Herbst 2015, als weite Teile der Medien selbst politisch Partei nahmen und kritische Gegenstimmen zur Regierungspolitik «in belehrendem oder […] auch verächtlichem Ton» herabwürdigten.[26] Ähnliche Mechanismen ließen sich auch im Falle anderer großer Entscheidungen wie der Energiewende oder der Aussetzung der Wehrpflicht, der Familienpolitik oder der Ehe für alle beobachten.
Diese Politik nahm insbesondere der SPD die Luft zum Atmen und war ein Grund für ihren beschleunigten Niedergang,[27] der wiederum der Union ihre Regierungsfähigkeit sicherte. Zugleich eröffnete die CDU auf diese Weise eine Repräsentationslücke in der rechten Mitte. Die Vernachlässigung des liberalkonservativen Teils führte zu einer inneren Spaltung der Partei, die sich spätestens auf dem Hamburger Parteitag im Dezember 2018 offenbarte, als fast die Hälfte der Delegierten für Friedrich Merz und damit bewusst gegen den Kurs von Angela Merkel stimmte. Schon 2013 hatte sich eine neue Partei rechts der Union gebildet, die sich mit ihrer Kritik an der Euro-Rettungspolitik unter Bernd Lucke zunächst als liberal-konservative Abspaltung von der CDU präsentierte, dann aber markant nach rechts bewegte.
Auch diese Abspaltung, in Verbindung mit der Schwäche der SPD, sicherte der CDU einstweilen ihre strategische Regierungsfähigkeit, da Koalitionsoptionen ohne die CDU nicht in Sicht waren. Diese Pluralisierung der Parteien machte es zugleich immer schwieriger, handlungsfähige Regierungen zu bilden, wie sich bei den gescheiterten Verhandlungen über ein Bündnis aus CDU/CSU, FDP und Grünen nach der Bundestagswahl von 2017 zeigte.
Dabei steht der nachlassenden Integrationskraft der Parteien, so Wolfgang Merkel, ihre konstante gesellschaftlich-politische Macht gegenüber. Dass dieser Befund an die Kritik erinnert, die Wilhelm Hennis bereits in der alten Bundesrepublik der 80er Jahre übte, die Parteien hätten sich «überdehnt» und vom Volk «abgekoppelt»,[28] zeigt auf der einen Seite, dass die Probleme der Gegenwart nicht ganz neu sind. Das ändert auf der anderen Seite aber nichts daran, dass die schwindende Akzeptanz der Parteien und ihre daraus resultierenden Rekrutierungsprobleme die Gefahr mit sich bringen, dass die gesamte repräsentative Demokratie an Legitimität und Akzeptanz verliert.
Gehen die Volksparteien – also Parteien, die sich an das ganze Volk, nicht nur an eine bestimmte Klientel wie Klassen, Konfessionen oder Milieus wenden –, gehen die klassischen politischen Richtungen und Strömungen insgesamt ihrem Ende zu? So wird es oft gesagt, und vielleicht stimmt es auch. Die klassischen sozialmoralischen Milieus als Stützen der Volksparteien sind weitgehend verschwunden. Social media verändern die politische Kommunikation, indem sie traditionellen Eliten ihr Monopol nehmen und neuen Akteuren neue Wege der Kommunikation eröffnen, wie Donald Trumps Regieren via Twitter zeigt. Die Konfliktlinien zwischen Anywheres und Somewheres sind ganz andere als die überkommenen politischen Formationen, aus denen sich die klassischen europäischen Richtungsparteien herausgebildet haben. Probleme wie Klimawandel, Digitalisierung und Mobilität der Zukunft, Ferkelkastration oder das Monopol von Google, Apple, Facebook und Amazon passen möglicherweise tatsächlich nicht mehr in das traditionelle Rechts-Links-Schema. Vielleicht erleben wir einen folgenreichen Strukturwandel von Erwartungen des Allgemeinen zu Erwartungen des Besonderen, wo doch demokratische Politik klassischerweise der Agent des Allgemeingültigen war.[29]
30