In dieser Anthologie hat Frederik Hetmann Geschichten und Gesänge von der großen Göttin aus vielen Kulturen und Kontinenten zusammengetragen. Sie sind ein faszinierender Lesestoff und auch eine eindrückliche Erinnerung an die Zeit, als die Natur noch als Quelle der menschlichen Existenz erlebt und verehrt wurde.
Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.
Frederik Hetmann (eigentlich Hans Christian Kirsch, 1934–2006) sammelte Märchen und Volkserzählungen, schrieb Biografien und fantastische Romane sowie zahlreiche Jugendbücher, für die er zweimal mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde.
Zur Webseite von Frederik Hetmann.
Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)
Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.
Wie Frauen die Welt erschufen
Mythen, Märchen und Legenden von der weiblichen Gottheit
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.
© by Unionsverlag, Zürich 2020
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Odilon Redon, Ophelia (Ausschnitt), um 1900–1905, Pastell
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30328-7
Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte
Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)
Version vom 30.04.2020, 15:37h
Transpect-Version: ()
DRM Information: Der Unionsverlag liefert alle E-Books mit Wasserzeichen aus, also ohne harten Kopierschutz. Damit möchten wir Ihnen das Lesen erleichtern. Es kann sein, dass der Händler, von dem Sie dieses E-Book erworben haben, es nachträglich mit hartem Kopierschutz versehen hat.
Bitte beachten Sie die Urheberrechte. Dadurch ermöglichen Sie den Autoren, Bücher zu schreiben, und den Verlagen, Bücher zu verlegen.
http://www.unionsverlag.com
mail@unionsverlag.ch
E-Book Service: ebook@unionsverlag.ch
Falls Sie ein E-Book aus dem Unionsverlag gekauft haben und nicht mehr in der Lage sind, es zu lesen, ersetzen wir es Ihnen. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn Ihr E-Book-Shop schließt, wenn Sie von einem Anbieter zu einem anderen wechseln oder wenn Sie Ihr Lesegerät wechseln.
Viele unserer E-Books enthalten zusätzliche informative Dokumente: Interviews mit den Autorinnen und Autoren, Artikel und Materialien. Dieses Bonus-Material wird laufend ergänzt und erweitert.
Durch die datenbankgestütze Produktionweise werden unsere E-Books regelmäßig aktualisiert. Satzfehler (kommen leider vor) werden behoben, die Information zu Autor und Werk wird nachgeführt, Bonus-Dokumente werden erweitert, neue Lesegeräte werden unterstützt. Falls Ihr E-Book-Shop keine Möglichkeit anbietet, Ihr gekauftes E-Book zu aktualisieren, liefern wir es Ihnen direkt.
Wir versuchen, das Bestmögliche aus Ihrem Lesegerät oder Ihrer Lese-App herauszuholen. Darum stellen wir jedes E-Book in drei optimierten Ausgaben her:
E-Books aus dem Unionsverlag werden mit Sorgfalt gestaltet und lebenslang weiter gepflegt. Wir geben uns Mühe, klassisches herstellerisches Handwerk mit modernsten Mitteln der digitalen Produktion zu verbinden.
Machen Sie Vorschläge, was wir verbessern können. Bitte melden Sie uns Satzfehler, Unschönheiten, Ärgernisse. Gerne bedanken wir uns mit einer kostenlosen e-Story Ihrer Wahl.
Informationen dazu auf der E-Book-Startseite des Unionsverlags
Für Regina Babatz:
Freundin, engagierte Buchhändlerin und Menschenhelferin.
»Was du von ganzem Herzen liebst, besteht,
der Rest ist Schlacke.
Was du in rechter Weise liebst,
das kann dir nicht genommen werden …«
Ezra Pound, Canto LXXXI
»Vor den erklärbaren Wesen lebten die unerklärbaren,
sie bevölkerten die Erde …«
H. C. Artmann, Von der Erschaffung der Erde
Inka/Peru, Südamerika
Viacocha, Herrin oder Herr des Universums,
ob nun männlich oder weiblich,
auf jeden Fall Wesen, das über die Hitze
und über die Fortpflanzung gebietet:
Du kannst mit deinem Speichel Zauber bewirken.
Wer bist du?
Wünschte, du würdest dich nicht verbergen
vor dem Sohn des Thina!
Vielleicht bist du oben,
vielleicht bist du unten,
vielleicht auch
weit draußen im Weltenraum.
Wo ist des Mächtigen Gerichtssitz?
Hörst du mich?
Vielleicht liegst du fern hingestreckt über dem oberen Wasser
oder an den Stränden des unteren Wassers.
Vielleicht wohnst du,
Schöpfer der Welt,
Schöpfer des Menschen,
unter meinen Vorfahren.
Vor deinem Angesicht
bricht mir das Auge,
obgleich es dich so sehr zu sehen verlangt,
dich zu kennen verlangt,
von dir zu lernen verlangt,
dich zu verstehen verlangt.
Du wirst mich sehen.
Du wirst mich kennen.
Die Sonne – der Mond, der Tag – die Nacht,
Sommer und Winter
kommen und gehen nicht zufällig
in geordneter Reihenfolge.
Sie erscheinen, wann immer du aufstampfst,
mit deinem Königsstab,
Schöpfer.
Oh! Höre mich an,
lass es nicht zu,
dass ich schon bald
müde werde
und sterben muss.
P. Ainsworth Means: Ancient Civilisations of the Andes, S. 437.
Nach Dr. Miguel Mossi, Lavone Quevedo, S. 339 (Quechua-Text).
Einleitung
»Die Erdmutter ist eine kosmogonische Gestalt, die ewig fruchtbare Quelle von allem. Sie ist die Mutter schlechthin. Die Gesamtheit des Kosmos ist ihr Körper, sie gebiert alles aus ihrem Schoß und nährt alles aus ihren Brüsten. Es gibt keine wesentliche Veränderung oder Individuation. Jedes Wesen, jedes Ding ist eine Manifestation ihrer selbst, alle Wesen nehmen teil an ihrem Leben, durch den ewigen Zyklus von Geburt, Tod und Wiedergeburt.«
Encyclopedia Britannica
Die Erkenntnisse der archäologischen Forschung verweisen darauf, dass die frühesten Gottheiten in Menschengestalt ausschließlich weiblichen Geschlechts waren.
Eine der wichtigsten Fundstellen, die zu dieser Erkenntnis führte, ist Çatal Hüyük1, eine Erhebung 50 Kilometer südöstlich von Konya in Anatolien, Türkei. Hier entdeckte man die bisher größte Siedlung aus der frühen Jungsteinzeit. Hervorragend erhalten haben sich dort in einer Tiefe von 17 bis 19 Metern zwölf Siedlungsschichten aus dem Zeitraum 6500 bis 5700 v. Chr. Es scheint, dass die mehrere Tausend zählende Einwohnerschaft sich von Ackerbau und Viehzucht, ergänzt durch Jagdbeute, ernährte. In den achthundert Jahren des Bestehens des Ortes wurde dort Rinder- und Schafzucht betrieben und vierzehn verschiedene Kulturpflanzen angebaut.
Siebzehn große Wandreliefs zeigen das Bild der Göttin, zum Teil nackt, zum Teil bekleidet, häufig in einer eigenartigen Haltung dargestellt, die die Anthropologen als Gebärstellung kennzeichnen. Neben der weiblichen Gottheit sind Stier-, Widder- und Hirschköpfe abgebildet, Manifestationen des männlich-göttlichen Prinzips. Oft tritt aus der Geburtsöffnung der weiblichen Gestalten ein Tierkopf hervor. Gerade die Tiergeburt macht nach Ansicht der Anthropologen »die weibliche Kultfigur zu einer wirklichen Göttin, zu einer Gottesgebärerin, und hebt sie weit über irgendein vages Fruchtbarkeitssymbol hinaus«.2
Die türkische Fundstelle ist nicht der einzige Ort, an dem solche Darstellungen einer frühen weiblichen Gottheit auftreten. Aus Australien beispielsweise sind Felszeichnungen aus einem bis zu 20 000 Jahre zurückliegenden Zeitraum bekannt. Auf ihnen ist eine Urmutter abgebildet, häufig auch zwei Schwestern, zwischen deren Schenkeln das Menschengeschlecht hervortritt. Auch auf den Felszeichnungen im Raum von Brescia in Oberitalien finden sich Darstellungen der Göttin in Gebärhaltung.
Die Geburt, die Fruchtbarkeit sind offenbar entscheidende Eigenschaften der Göttin. Von daher wird mit ihr später das für die Fruchtbarkeit der Erde nötige Wasser assoziiert. So sind dann bei den keltischen Völkern der Frühgeschichte Quellen der Wohnsitz der Göttinnen, und die Namen vieler Flüsse wurden von denen weiblicher Gottheiten abgeleitet.
Die Verbindung der Göttin mit bestimmten Tieren hat zu der Bezeichnung »Herrin der Tiere« geführt. Bei 26 weiblichen Figuren aus Çatal Hüyük stützt sich die dort abgebildete Göttin während des Geburtsvorgangs auf zwei Raubkatzen. Darstellungen der Göttin mit weiblichen Raubkatzen sind aus dem vorderasiatischen und griechischen Kulturbereich bekannt. Auch auf dem berühmten Löwentor von Mykene sind die Tiere weiblich. Der Löwe als männliches Wappentier tritt erst viel später auf.
In der Vorstellungswelt der frühen Menschen symbolisierten gewisse Tierarchetypen Fruchtbarkeit und Tod. Die Tiere stehen neben der großen Mutter als eine Art symbolhafte Verkörperung. Sie sind weder Totems noch unabhängige Gottheiten einer polytheistischen Vorstellungswelt. Sie verkörpern die Göttin selbst und machen Aussagen über deren Persönlichkeit, über ihre Kraft und ihre Macht. Sie agieren in den Mythen als Boten und Seelenträger, und in dieser Funktion treten sie auch in den Märchen und Träumen auf. Sie sind, wie wir noch sehen werden, jene Gestalten, mit denen sich die Spuren der alten Bedeutung der Göttin und ihre Nachwirkungen bis in unser Seelenleben hinein am deutlichsten erhalten haben.
Häufig ist die Göttin auch mit einer Schlange oder mit einem jungen Mann dargestellt. Die Schlange ist ihr Sohn. Der Sitz der Göttin mit der Schlange ist der Baum, der Himmel und Erde verbindet, also den gesamten Kosmos durchmisst. Freilich bildet sich in der Schlange auch die alte Vorstellung von der göttlichen Erde ab, in der dieses Tier seine Wohnung hat. Andererseits ist die Schlange auch ein phallisches Symbol. Der Anfang der Schöpfung ergibt sich folglich aus der Vereinigung von Mutter und Sohn. Schließlich steht die Schlange als sich häutendes Wesen auch für die Veränderung, die die Göttin bewirkt.
Eine der ältesten Verbindungen der Schlange mit der Göttin trifft man bei den Pelasgern, die die klassischen Autoren als die frühesten Einwohner von Griechenland bezeichnen. Eine Schöpfungsmythe der Pelasger erzählt davon, wie Eurynome, die Göttin aller Dinge, sich aus dem Chaos erhebt. Sie scheidet den Himmel vom Wasser und beginnt einen Tanz auf den Wellen. Aus dem Wind, den sie mit ihrem Tanzen und ihren wilden Bewegungen erregt, entsteht eine große Schlange mit Namen Ophion, die sich um Eurynomes Körper ringelt und sich mit ihr vereinigt. Eurynome verwandelt sich in eine Taube, und über dem Wasser brütend, legt sie ein Ei. Die Göttin bittet Ophion, sich um das Ei zu legen. Als es aufbricht, entspringt ihm die gesamte Schöpfung: Sonne, Mond, Planeten, die Erde und alle Lebewesen.
Als ein Symbol des Anfangs drückt der Ouroborus, die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, die ursprüngliche Situation der maskulinen und femininen Elemente in einer Vereinigung aus, in der keines das andere beherrscht. Ursprünglich in der indischen Mythologie als Ananta, als »zweites Reittier« Vishnus und seiner Frau Lakshmi auftretend, gelangte dieses Signum von dort im Altertum bei dem Versuch, den Kosmos zu begreifen, in die griechische Mythologie und diente dann als Symbol für den Kosmos oder den Kreislauf der Zeit. Freud sah in der Schlange ein phallisch-männliches Symbol. Es gibt aber auch Deutungen, die in ihr eine androgyne Überblendung von Männlichem und Weiblichem sehen. Joseph Campbell schreibt: »Die phallische Assoziation ist unmittelbar, aber als ein Wesen, das verschlingt, wird auch das weibliche Organ assoziiert, sodass ein duales Bild entsteht, das unbedingt auf die Gefühle wirkt.«3
Die Schlange und der Baum der Weisheit gehen wohl zurück auf die Unterwelt-Göttin Gula-Bau, eine der wichtigsten Gottheiten der babylonischen Völker. Sie lebte in einem Garten im Mittelpunkt der Welt. Ihre Geschichte stellt eine andere Facette der Schöpfungsmythe des Mittleren Ostens dar, die dem Alten Testament vorausging. Ein frühes Siegel aus dem Reich der Akkader im Vorderen Orient aus der Zeit von 2350–2150 v. Chr. stellt die Schlange hinter der sitzenden Vegetationsgöttin dar. Gula-Bau und ihr Hörner tragender Sohn Dumuzi, der zugleich ihr Geliebter ist, sitzen auf zwei Seiten eines Palmenbaumes, von dessen Ästen Datteln herabhängen. Beide strecken die Hände aus und bieten die Früchte jenen dar, die hungrig sind. Dumuzi verkörpert einen wiederauferstandenen Erlöser, die sumerische Version der Vegetationsgottheit.
Als eine Unterwelt-Göttin wurde sie als Göttin des Getreides verehrt und war somit eine Vorläuferin von Demeter und Persephone. Wo Bäume angebetet wurden, findet sich auch die Schlange in der Nähe oder ringelt sich um den Stamm. Wie viele andere Göttinnen dieser Periode war Gula-Bau auch eine große Ärztin, eine Lebensspenderin, die Leiden durch die Berührung mit ihrer Hand heilte und die Toten in ein neues Leben führte.
Der Ursprung der alttestamentarischen Geschichte von Adam und Eva, der Schlange und dem Baum der Erkenntnis, stellt sich etwa so dar: Hawwa oder Heba, später Eva oder Eve, war eine Erdgöttin von Jerusalem. Sie herrschte über ein Obstgarten-Paradies, das Heide Göttner-Abendroth »eine typische elysische Jenseitswelt« nennt. Leben brachte sie mit der phallischen Schlange hervor. Ihr späterer Heros hieß Abdiheba (Adam), ein Name, der von jenem der Göttin abgeleitet worden war. »Er war der Fürst und Schutzpatron des präsemitischen Jerusalem. Sie heiratete ihn jährlich, nachdem sie ihm den klassischen Liebes- und Todesapfel überreicht hatte, um ihm in ihrem Apfelparadies das ewige Leben und die ewige Jugend zu schenken. Den Namen dieser Göttin nahm der semitische Gott Jehova (Jehva = Eva) in Besitz, und mit dem Namen ihr Paradies. Dabei wurde die Nymphen- und Liebesgöttin Eva zum sündigen Weib … die Phallus-Schlange, ihr ureigenes Symbol der Kreativität aus Lust, wurde zum Prinzip des Bösen schlechthin, an dem sie durch ihre ›verführbare Natur‹ stets Anteil hatte.«4
Es bleibt die Frage, warum Jehova sich genötigt fühlte, die Schlange von der Frau und all ihren zukünftigen Generationen zu trennen. Die Antwort könnte sich aus der Tatsache ergeben, dass nach dem Glauben der Juden die Schlange über eine lange Zeitepoche hin den Frauen bei der Geburt beigestanden hatte. Es gab die Vorstellung, dass eine Schlangenhaut, die sich eine Frau um den Leib band, eine leichte Geburt bewirke. Der Schlangengürtel, verbunden mit Bildern der Göttin, tauchte häufig auf. Die minoische Schlangengöttin besaß ein solches Amulett, ebenso wie die kretische Göttin Eileithya, die Göttin der Geburt. Die Medusa auf Korfu, die in Gebärhaltung dargestellt wird, hat einen Gürtel um, auf dem sich zwei Vipern paaren, und auch die aztekische Mondgöttin Coyalxauhqui trägt einen Schlangengürtel. In der Geschichte von Adam und Eva ist die Schlange die Verkörperung der Lebenskraft und der Wiedergeburt.
Die Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments enthält zwei stark voneinander abweichende, ja sogar widersprüchliche Versionen. Nach der einen in Genesis 1:26–31 werden Mann und Frau gleichzeitig geschaffen und in einen schönen Garten voller Blumen und singender Vögel gesetzt. Inmitten dieses Gartens erfreute sich die Schlange, als Geschöpf der Erde, eines natürlichen Lebensraumes. Eva ist hier noch als die Herrin der Pflanzen und der Tiere zu erkennen.
Anders die Darstellung in Genesis 2:4–23. Hier wird zunächst Adam erschaffen, dann die niederen Tiere, und erst als sich herausstellt, dass diese Adams Bedürfnis nach Gesellschaft nicht befriedigen können, erschafft Gott, wie Robert von Ranke-Graves und Raphael Patai anmerken, »zur Verkleidung ihres ursprünglichen Göttinnenstatus«, Eva aus Adams Rippen. Die spätere Version des Jahwisten, so James Frazer, zeige dessen deutliche Verachtung für die Frauen. Es erweise sich hier, schreibt Buffie Johnson, eine Abneigung gegen natürliche Symbole, die durch unnatürliche ersetzt würden. Sie weist zudem auf die Analogie zwischen der Erschaffung Evas aus Adams Rippe und jener griechischen Mythe hin, nach der Athene in voller Größe dem Kopf des Zeus entsprungen sein soll. »Das unnatürliche Symbol wurde zu einem Markenzeichen für den patriarchalischen Geist, aber der harsche Impuls, den es darstellte, führte zu einem Streich, der in einem tieferen Sinn fehlschlug, denn es erlaubte dem matrizentralen Charakter des natürlichen Symbols, sich in der Tiefe der Psyche zu behaupten. Nach außen hin aber war dieser Angriff außerordentlich erfolgreich. Die Beharrlichkeit der patriarchalen Attacke unterdrückte die Religion der Göttin und versetzte die Frauen in eine Position der Unterordnung unter die Männer.«5
Robert von Ranke-Graves und Raphael Patai sehen eine Parallele in Griechenland und schreiben: »Das Hauptthema der griechischen Mythe ist die allmähliche Reduzierung der Frauen von heiligen Wesen zu beweglicher Habe. Ähnlich wie Jehova Eva für den Sündenfall der Menschen bestrafte … machten die Griechen die Frau für das unglücklich verlaufende Schicksal des Menschengeschlechts verantwortlich, indem sie die Fabel von Hesiod über die Büchse der Pandora übernahmen, aus der die törichte Ehefrau des Titanen Krankheit, Alter und Laster freisetzt. Pandora, ›alle Gaben‹, so muss man wissen, war einst der Titel für die Schöpfungsgöttin.«6
Die gnostischen Evangelien unterdrückten zwar auch alle Hinweise auf die ehemals weibliche Natur der Gottheit. Immerhin wird der Muttergottes neben den Eigenschaften des mystischen Schweigens und der Inspiration durch den Heiligen Geist noch eine dritte Eigenschaft zugeordnet: Sie ist »Sophia«, Weisheit, die große schöpferische Kraft, von der alle Dinge herrühren. Sie kann aus sich selbst empfangen ohne ein männliches Gegenstück, sie ist die Mutter alles Lebens. Die jüdisch-christliche Überlieferung von Adam und Eva als dem Urelternpaar ist relativ späten Datums.
Aus einer viel früheren Zeit hingegen stammen die häufigen Darstellungen von Mutter und Tochter, so in Griechenland von Demeter und Kore bzw. Persephone. Die Göttinnen werden erwähnt bei Homer (8. Jh. v. Chr.), bei Aristophanes (445–385 v. Chr.) und bei Hesiod (70 v. Chr.). Der Mythos soll Griechenland über Kreta erreicht haben, die Geschichten um Mutter und Tochter sind wahrscheinlich Teil eines Fruchtbarkeitsrituals: Die Weizenpriesterin hatte sich vor aller Öffentlichkeit dem Heiligen König zur Zeit der Herbstsaat hingegeben, um eine gute Ernte zu sichern. Außerdem verkörpern die beiden Frauen zwei, durch Persephones Aufenthalt in der Unterweltreise und »Wiedergeburt« sogar alle drei Aspekte der dreigesichtigen weiblichen Gottheit. Dabei werden Abbildungen wie jene auf einer ägäischen Marmorstatuette, bei der die kleine Tochter auf dem Kopf der Mutter steht, als Hinweis auf die Vorstellung der Parthenogenesis, also einer Geburt aus dem Weiblichen ohne Verbindung mit einem Vatergott, gedeutet.
Eine andere Insignie für die Veränderung im Weiblichen ist der Mond als eine Einheit mit drei Phasen, nämlich als weißer Sichelmond, Symbol der Mädchengöttin mit dem kultischen Jagdbogen; als roter Vollmond am Horizont mit dem purpurnen Weltei, Attribut der reifen, Leben hervorbringenden Frau; schließlich als unsichtbarer Neumond, scheinbar nicht vorhanden und doch präsent, Symbol der dunklen, paradoxen Unterweltsgöttin, der Göttin der Wende von Licht zu Dunkelheit und von Dunkelheit zu Licht.
Der Zusammenhang zwischen der Göttin und einem jugendlichen Gott, der in Abhängigkeit zu ihr steht, drückt sich in der Konstellation der »Göttin mit ihrem Heros« aus, die von Heide Göttner-Abendroth so beschrieben wird: Im Vergleich mit der »frühen Dreifaltigkeit« des Mondes als Einheit in drei Phasen ist für sie die »Herosstruktur« weniger stark gegliedert, »denn der Mann repräsentiert mit seinen Kräften nicht den Kosmos. Er erscheint in begrenzteren Dimensionen, seine Gestalt ist nur eine und in jeder Phase auf die matriarchale Göttin bezogen. Durch sie gewinnt er überhaupt erst Anteil an Gütern und Würden (Initiation); er ist als Teil integriert in ihre panhafte Fruchtbarkeit (Heilige Hochzeit); er erfährt durch sie an sich selbst die gesetzmäßigen Durchgänge von Tod und Wiederkehr (Opfer und Wiederauferstehung). Die Göttin wird bei diesen zyklischen Jahreszeiten-Feiern repräsentiert durch ihre Priesterin oder die sakrale Königin; diese ist die gesetzgebende aktive Partnerin. Der sakrale König oder Heros dagegen ist der Vertreter der Menschen, mit dem sich die Göttin in Gestalt der Priesterin verbindet, um ihrem Volk neues Leben zu schenken. Alle Rituale wurden nicht nur symbolisch, sondern tatsächlich vollzogen: Die Initiation ist die Verleihung der Königswürde; die öffentliche Heilige Hochzeit ist das Fruchtbarmachen aller kosmischen Regionen; der Tod des Königs ist seine Opferung, um die kosmischen Regionen durch sein Blut für das nächste Jahr fruchtbar zu erhalten; seine Wiederauferstehung ist die Wiederkehr im Nachfolger, wobei von der Idee der Seelenwanderung ausgegangen wird. Tod ist in diesem Weltbild nichts Endgültiges, sondern nur ein anderer Zustand, der sich gemäß den kosmischen Gesetzen vollzieht und wieder auflöst.«7
Da der Mond nicht nur die Gezeiten und den Zyklus weiblicher Fruchtbarkeit, sondern auch das Pflanzenwachstum bestimmt, ist die Göttin als »Herrin der Pflanzen« auch zuständig für die Vegetation, die Aussaat und die Ernten und wird auch mit dem Ablauf der Jahreszeiten in Zusammenhang gebracht. Dabei entwickelt sich die Triade, in der für den Frühling die jungfräuliche Frau steht, für den Sommer die reife, die mütterliche Frau und für den Winter die hässliche alte Frau, die den Tod verkörpert.
Es scheint erwiesen, dass die Anfänge der Pflanzenkultivierung sich als eine weibliche Innovation vollzogen. Frauen waren es, die beim Auskeimen der Vorräte den Regenerationsvorgang der Pflanzen beobachteten. »Aus der Sammlerin wurde die Gärtnerin, die den Samen und die Knolle bewusst setzte, und später die Bäuerin, die mit der Hacke oder dem primitiven Holzpflug die Felder bestellte, wie dies heute noch die Frauen vieler Naturvolkgruppen tun«, erläutert Carola Meier-Seethaler diesen Prozess.8
Von daher ist es auch nicht erstaunlich, dass die Göttinnen der frühen Hochkulturen, deren Grundlage der Ackerbau war, als dessen Erfinderinnen und Lehrmeisterinnen dargestellt wurden. So tritt die griechische Demeter mit einer Ähre in der Hand auf, in der Mythologie der nordamerikanischen Indianer sind es weibliche Gottheiten, die die drei wichtigsten Kulturpflanzen, den Mais, den Kürbis und die Bohne, den Menschen schenken.
Die »Herrin der Pflanzen«, die »Mutter Erde«, scheint aber nur eine Facette des Bildes der weiblichen Schöpfungsgöttin zu sein. Auch bei den Inuit, die aufgrund der klimatischen Bedingungen nie Ackerbau trieben und sich ihre Nahrung als eiszeitliche Fischer und Jäger beschafften, finden wir die Vorstellung von der Göttin unter verschiedenen Namen, nämlich Sedna (Jene, die vorher ist), Imapnukiak (Meerfrau), Arnakapsaluk (Alte Frau) oder Nuliajuk (Die immer Brünstige). Von Knud Rasmussen wird eine Mythe der Inuit überliefert, der zufolge die Meerfrau auf dem Grund der See haust und, wenn sie den Menschen zürnt, die Seetiere in ihren Haaren gefangen hält.
Sicher scheint damit, dass der Kult der großen Göttin sich weder aus einer bestimmten Wirtschaftsform, also beispielsweise der Landwirtschaft, herleitet noch auf sie beschränkt ist. Ein überzeugendes Beispiel dafür führt Carola Meier-Seethaler an, indem sie auf die Zigeuner verweist: »Ein Volk, das auf seinen endlosen Wanderungen nie sesshaft wurde und in Osteuropa zum Teil heute noch ein Leben wie die Wildbeuter führt.« Die Zigeuner verehren eine schwarze Göttin, »die während der Christianisierung zur ›Heiligen Sarah‹ wurde, die aber ihre uralte Herkunft verrät, wenn sie beim jährlichen Hauptfest der Zigeuner in Saintes-Maries-de-la-Mer in feierlicher Prozession ans Meer getragen und dort mit den Wellen des Meeres genetzt wird. Dabei fungiert die Tochter des Anführers als Priesterin – trotz der längst patriarchalischen Sippenordnung der Zigeuner –, und alle anwesenden Zigeunerinnen üben während des Festes ihre Wahrsagekunst, wenn diese auch zu merkantilen Zwecken herabgewürdigt ist und die ursprüngliche Würde der Seherin nur noch ahnen lässt.«9
Wenn die ursprünglich weibliche Schöpfungsgottheit in einen männlichen Schöpfungsgott umgewandelt wurde, so deutet das auf den Sieg einer patrizentrischen Gesellschaftsordnung über eine matrizentrische hin, nämlich eine, in deren Mittelpunkt eine weibliche und nicht eine männliche Schöpfer-Gottheit steht. Göttner-Abendroth nennt als Kennzeichen einer matriarchalen Gesellschaft: eine Mythologie der Erd- oder Mondgöttinnen, Jahreszeitenfeste der Initiation (Einweihung), der Hochzeit, des Todes und der Wiederkehr, eine Sippenstruktur mit Mutterrecht, weibliche Herrschaft, Garten- und Ackerbau, Boden und Bodenerzeugnisse im Gemeinschaftsbesitz der Sippe.
Manchmal ist bei genauerem Hinsehen der männliche Schöpfungsgott tatsächlich eine Göttin. So bei den Ayizo in Westafrika. Bei anderen Naturvölkern lässt sich ganz deutlich erkennen, wie die ursprüngliche Schöpfung durch eine weibliche Gottheit mit erzählerischen Tricks in die Tätigkeit einer männlichen Gottheit umgedeutet wurde. So bei den Hopi-Indianern im Südwesten der USA. Der Sonnengott Tawa erschafft die Welt und in ihr zuerst die Insekten, aber er erkennt ihre Unvollkommenheit. Also beauftragt er Großmutter Spinne, die Insekten in eine andere, oben liegende Welt zu führen. Bei dem mühseligen Aufstieg dorthin entwickeln sich – ein mythologisches Bild für die Evolution – zunächst die größeren Tiere und dann die Menschen. »Großmutter Spinne lehrt die Menschen Kleider zu nähen, Töpfe anzufertigen und Bäume zu pflanzen, unter anderem den Bambus, der bis hinauf zum Himmelsloch wächst, durch das die Menschen in eine obere Welt klettern. Dabei singen sie, damit der Bambusbaum gerade hinauf in den Himmel strebt, und die Großmutter Spinne tanzt dazu, um die Menschen bei ihrem Aufstieg zu unterstützen.«10
Häufig werden die Göttin und der Schöpfungsvorgang mit der Erfindung des Webens in Zusammenhang gebracht. So bei den Toba Batak in Südostasien, in deren Mythe eine Göttin die obere und die untere Welt miteinander verwebt und so die Menschenwelt erschafft. Die Handwerkskunst des Webens wird dabei mit einem kosmologischen Vorgang gleichgesetzt, wie dies auch in dem »Lied vom himmlischen Webstuhl«11 der Tewa-Indianer der Fall ist, in dem es heißt:
»O Erde, unsere Mutter, o unser Vater im Himmel,
eure Kinder sind wir, und mit unserem ermüdeten Rücken
bringen wir euch Geschenke der Liebe.
Dann webt für uns ein Kleid aus Helligkeit.
Möge der Schuss das weiße Licht des Morgens sein.
Möge die Kette das rote Licht des Abends sein.
Mögen die Fransen der fallende Regen sein.
Möge die Borte den Regenbogen darstellen.
Also webt für uns ein Kleid aus Helle.
Damit wir dahin gehen, wo Vogelgesang ertönt.
Damit wir dahin gehen, wo das Gras grün ist.
O unsere Mutter, die Erde, o Himmel – unser Vater.«
Das Bild der Göttin bleibt also schließlich nicht auf das einer Erdgottheit beschränkt, vielmehr erweitert es sich um die Eigenschaften einer Kulturgüter bringenden Heldin.
Die Verehrung der Göttin begann im Paläolithikum (vor ca. 100 000 Jahren) und setzte sich durch das Neolithikum (vor ca. 5000 Jahren) bis in die Kupferzeit (vor 2500 Jahren) fort. Es liegt auf der Hand, warum dieser lange und an kulturellen Errungenschaften reiche Zeitraum – die Epoche der matrizentrischen Religion – in unserem Geschichtsbewusstsein nicht vorkommt. Die Zeugnisse über die weibliche Schöpfungsgottheit sind zunächst bildhafter Art. Allmählich setzen – zunächst aus Mesopotamien und Ägypten – schriftliche Zeugnisse ein. Eine europäisch-abendländische Geschichtsschreibung beginnt erst bei den klassischen Staaten der Antike, dem hellenistischen Griechenland und dem Römischen Reich, also zu genau dem Zeitpunkt, da der Wechsel von matriarchalen zu patriarchalen Gesellschaften im mediterran-europäischen Raum abgeschlossen war.
12
Robert von Ranke-Graves hat als Kennzeichen ergreifender Dichtkunst die Eigenschaft bezeichnet, dass sie die Gestalt der Göttin, bei ihm als »White Goddess« bezeichnet, beschreibe oder verherrliche. Über sie, die die wahren Dichter besingen oder besingen sollten, schreibt er: »Die Göttin ist eine liebliche schlanke Frau mit Hakennase, todbleichem Gesicht, elsbeerroten Lippen, erschreckend blauen Augen und langem blondem Haar; sie verwandelt sich unvermittelt in eine Sau, eine Stute, Hündin, Füchsin, Eselin, in ein Wiesel, eine Schlange, eine Eule, eine Wölfin, Tigerin, ein Meerweib oder eine widerliche alte Hexe. Ihre Namen und Titel sind ohne Zahl. In Geistergeschichten kommt sie oft als die ›Weiße Dame‹ vor und in den alten Religionen, von den Britischen Inseln bis zum Kaukasus, als die ›Weiße Göttin‹. Ich kenne keinen wahren Dichter, von Homer bis heute, der nicht unabhängig sein Erleben mit ihr berichtet hätte. Die Wahrheitsprobe auf die Vision eines Dichters, so könnte man sagen, ist die Wahrhaftigkeit seines Bildes der Weißen Göttin und der Insel, über die sie herrscht. Der Grund dafür, warum sich einem die Haare sträuben, die Augen feucht werden, die Kehle wie zugeschnürt ist, die Haut prickelt und einem ein Schauder über den Rücken läuft, wenn man ein wahres Gedicht schreibt oder liest, liegt darin, dass ein wahres Gedicht notwendig eine Anrufung der Weißen Göttin oder Muse oder Mutter allen Lebens, der uralten Macht von Furcht und Wollust ist – der weiblichen Spinne oder der Bienenkönigin, deren Umarmung der Tod ist.«13
Leicht ironisch hat Gary Snyder, der amerikanische Dichter, Zen-Philosoph und Naturliebhaber, über die Urszene aller Mythen einen Vers geschrieben, der die Göttin gar als Schöpferin allen Bewusstseins darstellt:
»Der Vater ist das Nichts,
die Mutter Welle Licht,
ihr Kind die Materie.
Materie treibt es mit ihrer Mutter,
und ihr Kind ist Leben, eine Tochter.
Die Tochter ist die große Mutter,
die mit ihrem Vater
Bruder Materie als Geliebten
Bewusstsein zur Welt bringt.«14
Der Leser und die Leserin können diesen Vers als den Schlüssel zum Tor betrachten, hinter dem der Zaubergarten liegt, dessen Blumen die Geschichten vom Wesen und von der Macht der Göttin sind.
Sumerisches Siegel. Die Göttin des Baumes.