Joachim H. Peters


Verachtung ist der wahre Tod








Paderborn-Krimi






Prolibris Verlag




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Titelbild: © Joachim H. Peters
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-195-2
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-186-0

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Der Autor
Joachim H. Peters, Baujahr 1958, schrieb 2008 seinen ersten Kriminalroman, seither sind dreizehn Bücher von ihm erschienen. Der Kriminalbeamte steht aber auch als Schauspieler, Kabarettist, Leser oder Moderator auf der Bühne. Der gebürtige Gladbecker lebt und arbeitet seit 2004 in seiner Wahlheimat Detmold. Im Prolibris Verlag veröffentlichte er drei Kurzgeschichten in den kriminellen Weihnachtsanthologien aus Ostwestfalen-Lippe und nun auch einen Kriminalroman.




Für Katharina und Antonius Linnemann
Danke für viele Jahre Kultur und Literatur in Paderborn






Verachtung ist der wahre Tod
Friedrich Schiller
Vorwort
Liebe Leserinnen und Leser!

Alle Personen sowie die Handlung im dritten Band dieser in Paderborn spielenden Krimiserie sind wieder reine Fiktion und frei erfunden. Allen voran Jürgen Kleekamp, dieses »Enfant terrible« der Paderborner Polizei. Daher sind alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sowie Vorkommnissen oder Handlungen rein zufällig und unbeabsichtigt.
Was jedoch real existiert, ist die wunderschöne Domstadt in der Region Hochstift, die im Gegensatz zur Romanhandlung natürlich sehr viel sicherer und auch immer eine Reise wert ist.

Joachim H. Peters
Kapitel 8
Als der Streifenwagen auf den Parkplatz des Friedhofs »Auf dem Döhren« einbog, sahen sie ihren Kollegen Sebastian Brinkmann bereits am Kotflügel seines Dienstwagens lehnen. Natalie parkte daneben ein und stieg für Kleekamps Geschmack etwas zu schnell aus.
»Hallo! Gut, dass du schon hier bist. Wir haben gerade Frau Olbrich abgeholt.«
Kleekamp wälzte sich missmutig aus dem blausilbernen BMW. Diesen Brinkmann hatte er noch nie leiden können. Er passte exakt in das Schema von Männern, für das Kleekamp nur ein abfälliges Lächeln übrighatte, denn sie verkörperten genau das Gegenteil von ihm. Alle groß, schlank, extrem auf ihre Figur und Frisur bedacht, jedem Vorgesetzten gegenüber betont freundlich bis zur Arschkriecherei, zu Frauen ausgesprochen charmant und dabei immer adrett und hochmodisch gekleidet.
Modische Trends hatte Kleekamp noch nie mitgemacht. Er war nie mit einem Halstuch oder einem Schal rumgelaufen und einen Drei-Tage-Bart ließ er sich nicht wachsen, weil es Mode war, sondern weil er zu faul war, sich zu rasieren. Er gehörte auch nicht zu den Typen, die sich beim Pinkeln hinsetzten. Das tat er nur, wenn er zu betrunken war, um es im Stehen zu tun. Er mochte keine Tätowierungen und suchte seine Bekleidung mehr nach Zweckmäßigkeit und Preis als nach Trend und Marke aus. Die jedoch jede Mode mitmachten,  waren für ihn alle nur Fatzkes.
Und dieser Brinkmann war einer von ihnen. Wenn er den schon sah mit seinen nach hinten gegelten Haaren, seiner runden Schüler-Pfeiffer-Brille und dem Grübchen am Kinn. Glatte und porentief reine Haut, dank irgendwelcher Wässerchen und Hautcremes. Die einzige Creme, die Kleekamp bisher benutzt hatte, war Nivea, obwohl er sie in letzter Zeit immer häufiger gegen Voltaren tauschen musste. Rasierwasser nahm er so gut wie nie. Brinkmann hingegen war stets exakt rasiert und frisiert, ihn umwehte ein süßlich-herber Herrenduft und er trug ständig diese spitzen Schühchen, die gerade im Trend lagen.
Was Kleekamp aber noch mehr ärgerte, war das Lächeln, mit dem er Natalie ansah, und dass sie es tatsächlich erwiderte. Es schien so, als läge dabei eine seltsame Spannung in der Luft, was ihm überhaupt nicht behagte. Er öffnete die hintere Beifahrertür und ließ Sigrid Olbrich aussteigen.
Sofort kam Brinkmann auf sie zu und reichte ihr die Hand. »Sebastian Brinkmann. Ich bin vom polizeilichen Opferschutz und werde mich nun um Sie kümmern. Meine Kollegin, Frau Börns, hat sie ja freundlicherweise hierhergebracht. Ich war leider in eine sehr wichtige Besprechung eingebunden, sonst hätte ich Sie natürlich persönlich abgeholt.« Er nickte Kleekamp freundlich zu und bot Frau Olbrich seinen Arm an. »Ich weiß, dass das nun ein schwerer Gang wird, aber leider können wir Ihnen den nicht ersparen.«
Sigrid Olbrich bewegte kaum merklich den Kopf zu einer resignierten Zustimmung und fügte sich in ihr Schicksal. Brinkmann führte sie behutsam auf den Eingang zu.
»Sollen wir mitkommen?«, bot Natalie an, doch Brinkmann winkte dankend ab.
Als die beiden auf dem Friedhofsgelände verschwunden waren, drehte Natalie sich zu Kleekamp um. »Oh Mann, ich bin froh, dass ich sie nicht da hinein begleiten muss.«
Kleekamp grunzte nur ärgerlich, während Natalie auf ihn zukam.
»Ich finde, Sebastian kann gut mit Menschen umgehen, bei ihm fühlt man sich gleich geborgen.«
»Weißt du das aus eigener Erfahrung?«
Der Unmut in seinen Worten blieb Natalie nicht verborgen.
»Und wenn dem so wäre?«, konterte sie ebenso unfreundlich. Was ging es ihn denn an, ob sie abend ausging und mit wem sie sich in ihrer Freizeit traf?
»Gar nichts, ich kann ihn bloß nicht leiden«, versuchte Kleekamp, abzuwiegeln. »Ich möchte halt nicht, dass du auf solche Typen reinfällst.«
»Ach, ist der Herr etwa eifersüchtig?« Natalie schaute ihn neugierig an.
»Quatsch! Doch nicht auf so einen. Der ist ja noch grün hinter den Ohren und der muss erst mal so viel Dienst gemacht haben …«
»Ja ja, ich weiß … wie du schon krankgefeiert hast.« Das war einer von Kleekamps Lieblingssprüchen. »Aber wenn du meinst, dass einer mit knapp vierzig Jahren noch Grün hinter den Ohren ist, dann fehlt dir, glaube ich, jegliche Objektivität.« Natalie verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
»Na, komm schon, war doch nicht so gemeint«, versuchte Kleekamp, sie zu beschwichtigen.
»Oh doch, das war genauso gemeint. Du hasst ja mittlerweile alle, einschließlich dich selber«, beklagte sich Natalie. »Manchmal nervt das nicht nur die Kollegen, sondern auch mich.«
Dicke Luft. Wirklich Unrecht hatte sie ja nicht, musste Kleekamp ehrlicherweise zugeben, er war zurzeit mal wieder ganz schön auf Krawall gebürstet. Es lief in seinem Leben nicht so, wie er sich das erhofft hatte, und nun auch noch diese Sache mit Brinkmann. Und dann die mit seiner neuen Chefin. Hoffentlich war’s das jetzt!
»Äh, hast du mitbekommen, was Juan gerade erzählt hat, als wir die Olbrich abgeholt haben?«, versuchte er, das Thema zu wechseln.
Natalie schüttelte den Kopf.
»Er sagte, dass da wohl einer im Puff in OP-Kleidung rumvögeln würde und immer ein Skalpell bei sich hätte.«
»Was?« Natalie glaubte, sich verhört zu haben. »Was für komische Typen gibt es denn noch? Ich dachte in drei Jahren Polizeidienst hätte ich schon fast alle Arten von Spinnern kennengelernt.«
»Warte mal, bis du dreißig Jahre auf dem Buckel hast, und selbst dann wirst du dich noch wundern. Das Spektrum an menschlicher Perversität ist scheinbar unbegrenzt.«
»Glaubst du, dieser Typ hat was mit dem Tod von Melanie Olbrich zu tun? Ich meine, wegen der zerschnittenen Augäpfel?« Natalie schüttelte sich bei dem Gedanken an die abscheuliche Tat. »Das solltest du umgehend den Kollegen der Mordkommission mitteilen, das ist doch bestimmt wichtig, oder?«
Kleekamp schnaufte verächtlich. »Erst mal werde ich das selber checken, sonst heißt es wieder das wäre eines meiner Hirngespinste.«
»Wenn du auf eigene Faust ermittelst, könnte das aber Ärger geben, wäre ja wirklich nicht das erste Mal«, warnte Natalie.
»Ich ermittele ja nicht, ich gehe einfach nur mal ein bisschen in den Puff. Wer will mir das denn verbieten?«
Natalie zuckte resigniert mit den Schultern. »Mach, was du willst. Aufhalten kann man dich ja ohnehin nicht.«
»Eben«, antwortete Kleekamp und grinste.
Kapitel 9
E-Bikes sind was für Rentner und faule Menschen, dachte Antonia Freund und trat kräftig in die Pedale ihres Mountainbikes. Der Lichtkegel ihres Ansteckscheinwerfers tanzte vor ihr hin und her. Sie liebte es, nach ihrem Job im Fitnesscenter, bei dem sie mehr mit dem Training anderer Leute als mit ihrem eigenen beschäftigt war, selbst ordentlich Gas zu geben. Da kam ihr der Anstieg auf ihrem Heimweg genau richtig. Nur noch über die Bahngleise, den Dr. Rörig-Damm runter und unten kurz die Salierstraße entlang. An der nächsten Einmündung würde sie dann nach links in die Mährenstraße abbiegen und den Rest der Fahrt gemächlicher zurücklegen.
Sie freute sich schon auf ihre Badewanne. Seit Kurzem hatte sie eine neue, große, in der sie sich ganz ausstrecken und sogar untertauchen konnte. Darin würde sie sich zunächst eine halbe Stunde Entspannung mit einem Glas Prosecco und etwas Musik gönnen, um sich danach in aller Ruhe mal wieder die Beine zu rasieren.
Antonia Freund legte sehr viel Wert auf ihr Äußeres. Ihr Körper war durch das ständige Training und die Arbeit im Fitnessstudio in Topform. Alle Muskelpartien gut definiert, aber nicht zu übertrieben. Sie wollte auf keinen Fall eine Figur bekommen wie diese durchgeknallten Bodybuilderinnen, bei denen man vor lauter Muskeln nicht mehr wusste, ob sie Männer oder Frauen waren. Kein Busen, dafür einen Halsansatz wie ein Gorilla.
Nein, sie war sehr darauf bedacht, sich ihr weibliches Aussehen mit all seinen Reizen zu erhalten. Erst letztes Jahr hatte sie sich deswegen die Brüste vergrößern lassen, weil sie der Meinung gewesen war, sie seien zu klein. Zugegeben, das hatte sie ein Vermögen gekostet, aber das Ergebnis war es ihr wert.
Sie schaltete auf den nächsthöheren Gang und ließ das Rad locker rollen.
Dass Männer sie begehrlich betrachteten, genoss sie. Sie mochte es, im Mittelpunkt zu stehen und Aufmerksamkeit zu erregen. Nicht selten ging sie in ihrer glänzenden, enganliegenden Trainingshose und dem bauchfreien Top extra an den besetzten Hantelbänken vorbei, auch wenn es kürzere Wege zum Büro gab. Da konnte es dann sein, dass der ein oder andere Kerl Probleme bekam, die Hantel zurück auf den Ständer zu bekommen.
Es war zwar schön, dass es immer wieder neue Bewunderer gab, doch sie hatte sich selbst eine Auflage erteilt. Keine Beziehungen mit Kunden aus dem Studio. Sie flirtete gern mal bei einem Eiweiß-Shake mit ihnen an der Theke, aber weiter ging sie nie. Das gab nur Ärger, einige Kolleginnen waren darüber gestolpert und gefeuert worden.
Egal wie nett die Kerle waren, etwa so wie dieser Typ, der seit Neustem kam. Sie bekamen hin und wieder mal ein freundliches Lächeln von ihr, doch nie die Zusage für ein Date. Klar fragten sie nach, sie ließ sie allerdings immer auflaufen, und dann kühlte sich ihre Begeisterung für sie ganz schnell ab.
Sie bog in die Mährenstraße ein und radelte auf dem Gehweg in Richtung Sportplatz.
Momentan war sie solo. Seit sie ihren Freund mit seiner Arbeitskollegin in ihrem Bett erwischt hatte, tendierte ihr Bedarf an männlicher Gesellschaft gegen null. Sie konnte jetzt tun und lassen, was sie wollte. So wie gleich noch zu baden, obwohl es bereits nach elf war. Auch morgen hatte sie die Nachmittagsschicht und würde ausschlafen. Das nächste Wochenende war dienstfrei, und sie dachte mit Freude an die Karte für das James-Blunt-Konzert, die an der Pinnwand in ihrer Küche hing. Darauf freute sie sich schon seit fünf Monaten. Das würde mal wieder ein schöner Trip mit den Mädels werden.
Sie summte »You’re beautiful« vor sich hin, ihren Lieblingssong des britischen Musikers, dem sie ein Date nicht versagt hätte. Aber sie würde sich wohl damit begnügen müssen, ihn mit tausend anderen Frauen vor der Bühne anzuschmachten.
Gerade fuhr sie am Vereinsheim des SV Heide Paderborn vorbei, das geschlossen und ruhig dalag. Nachdem sie den Wendehammer passiert hatte, benutzte sie den Fußweg, der zwischen den beiden Sportplätzen hindurch in Richtung Rothebach führte. Jetzt kam ein Stück Weg, der von Bäumen gesäumt war. Die sorgten zwar dafür, dass es dunkel war, aber Antonia hatte keine Angst. Sie war sich ihrer körperlichen Stärke sicher und würde sich zu wehren wissen, falls einer der Meinung war, ihr hier auflauern zu müssen. Sie passierte diesen Bereich und würde gleich nach links in den Rotheweg einbiegen. Dann waren es nur noch ein paar Hundert Meter bis nach Hause.
Sie hörte einen Motor laufen, dachte sich jedoch nichts dabei. Das hier war eine Wohngegend, da kam immer mal wieder jemand spät heim oder fuhr nach einem Besuch weg. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie einen Schatten auf sich zukommen. Im ersten Moment registrierte sie gar nicht, dass es sich um ein Auto ohne Beleuchtung handelte.
Der Wagen machte plötzlich einen Satz nach vorne. Ehe sie reagieren konnte, rammte er ihr Rad, brach ihr den rechten Unterschenkel und ließ sie stürzen. Noch im Fallen bereute sie, dass sie sich immer gegen das Tragen eines Fahrradhelms gewehrt hatte. Der Aufprall ihres Kopfes auf dem Pflaster verdeutlichte es ihr schmerzhaft.
Was war das denn für ein Typ, der hier ohne Licht in der Gegend rumraste? Sie versuchte aufzustehen, doch der dabei entstehende Schmerz belehrte sie eines Besseren. Sie griff sich ans Schienbein und spürte, dass ihre Hose dort nass war. Verdammt, das war Blut.
Mit einem Schmerzensschrei ließ sie sich wieder fallen und lag weiterhin unter ihrem Fahrrad, das vom Auto auf den Boden gedrückt wurde. Was für eine Scheiße, dachte sie, wenn das Bein operiert werden müsste, könnte sie den Konzertbesuch abhaken. Im selben Moment schoss ihr durch den Kopf, was für Kleinigkeiten einem in einer solchen Situation in den Sinn kamen.
Die Fahrertür des dunklen Wagens hatte sich geöffnet und eine Person war ausgestiegen. Antonia Freund nahm sie erst wahr, als sie schon fast vor ihr stand. »Bist du bescheuert?«, fragte sie mit wütender Stimme. »Kannst du nicht aufpassen oder bist du besoffen? Komm, hilf mir wenigstens mal mit dem Fahrrad!« Sie versuchte erneut, unter dem Rahmen hervorzukriechen. »Und überhaupt, warum hast du kein Licht an?«
Die Person kam schweigend näher und beugte sich zu ihr hinunter.
»Du?« Antonia Freund erkannte zwar den Fahrer, aber gleichzeitig auch die Eisenstange, die er zum Schlag erhoben hatte.
Der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken.
Kapitel 10
»Hallo.« Katharina Vogt lächelte ihm freundlich zu, als er ihr auf dem Flur des Dienstgebäudes an der Paderborner Riemekestraße entgegenkam.
»Hallo«, nuschelte Kleekamp. Da er unsicher war, in welchem Verhältnis sie nach der Nacht im Hotel Aspethera zueinander standen, verzichtete er auf eine weitere persönliche Anrede. »Und? Gut eingelebt?«
Es war schwierig, Konversation zu machen, wenn man nicht wusste, ob man sein Gegenüber duzte oder siezte. Bei ihrer Vorstellung hatte sie ihn zwar gesiezt, doch vielleicht nur, weil die gesamte Mannschaft anwesend gewesen war. Heute hatte ihr Hallo schon etwas vertrauter geklungen, fand er.
»Ja, danke. Es ist alles noch recht neu für mich, aber ich denke, das wird sich in den nächsten Wochen legen.« Katharina Vogt war stehen geblieben und strich sich mit der linken Hand die blonden Haare hinter das Ohr.
Kleekamp erinnerte sich dunkel daran, dass sie diese Handbewegung auch an besagtem Abend in der Hotelbar des Öfteren gemacht hatte. Verdammt, hätte er doch nur weniger gesoffen. »Und was macht die Wohnungssuche?« Er versuchte krampfhaft, das Gespräch in Gang zu halten, und hoffte, dass sie sich irgendwann offenbaren würde.
»Ach, da habe ich Glück gehabt und ein nettes kleines Appartement in der Nähe der Innenstadt gefunden. Es wurde gerade frisch renoviert und ist sofort bezugsfertig. Am Wochenende werden bereits meine Möbel gebracht. Ist von Dortmund ja keine allzu große Entfernung nach Paderborn.«
Er hatte genug von dem Manövrieren und entschloss sich zum Sie. »Hilft Ihnen Ihr Mann dabei?«, fragte er scheinheilig.
»Nein, das macht eine Umzugsfirma. Über die Sache mit meinem Mann hatten wir doch neulich gesprochen«, erinnerte sie ihn.
»Ach ja.« Er tat so, als erinnerte er sich. Verdammter Mist. Lebte sie in Scheidung? War ihr Mann abgehauen? Diese verfluchte Erinnerungslücke. Das Klingeln seines Handys ersparte ihm eine tiefer gehende Antwort. Auf dem Display sah er Natalies Nummer. Was wollte die denn?
»Wichtige Anrufe sollte man sofort entgegennehmen«, riet Katharina Vogt, »ich muss auch weiter, bis dann mal.«
Mit dem klingelnden Handy in der Hand ließ sie ihn mitten auf dem Flur stehen und klopfte bereits an die nächste Zimmertür.
Kleekamp war noch einen Moment sprachlos, dann nahm er den Anruf an. »Was ist los? Einsatz?«
Natalies Stimme kam leise aus dem Gerät. »Ja, wir sollen zum Rothebachweg fahren. Dort hat ein Anwohner in einem Gebüsch ein Mountainbike gefunden.«
Kleekamp schnaufte empört. »Können die da nicht das Fundbüro hinschicken? Was sollen wir denn da? Außerdem, wenn das Ding geklaut ist, können wir es in unserem ohnehin schon zu kleinen BMW gar nicht transportieren.«
»Deswegen hab ich uns ja auch schon einen Bully organisiert«, entgegnete Natalie. »Außerdem soll sich Blut am Rahmen befinden, hat der Anrufer gesagt.«
»Wird sich wohl einer im besoffenen Kopf auf die Schnauze gelegt und dann das Fahrrad vor lauter Frust in die Büsche geschmissen haben«, vermutete Kleekamp.
»Jürgen, wir sollen da hinfahren, also komm und streite nicht mit mir rum.« Natalie klang genervt. Manchmal diskutierte Kleekamp so lange über einen Auftrag, dass man ihn in der Zeit schon hätte erledigen können. Außerdem brachte es nichts, die Sache hinauszuzögern, denn sie mussten den Einsatz ja letztendlich doch fahren.
»Ja ja, ich komm ja schon«, gab Kleekamp maulend nach. Etwas, das er nur bei Natalie tat, ansonsten hätte er die Angelegenheit bis zum Sankt Nimmerleinstag ausdiskutiert.
Er machte sich auf den Weg zur Wache, als ihm sein Kollege Siegfried Dannwolf von der Kripo entgegenkam. »Na, Spätdienst?«, wollte Kleekamp wissen.
»Nein, ich komme gerade aus der Rechtsmedizin in Münster. Heute ist die Tote vom Bauernhof obduziert worden.« Dabei hielt er eine dicke Ermittlungsakte hoch.
»Und was hat man rausgefunden?« Kleekamp dachte mit Schrecken an die Entdeckung der Leiche. »Todesursache?«
Dannwolf stütze die Akte auf dem Treppengeländer ab. »Man hat ihr die Kehle durchgeschnitten.«
»Und was war mit den Verletzungen an ihren Augen?«
Dannwolf schüttelte sich, als er daran erinnert wurde. »Postmortal.«
»Na, immerhin etwas«, schnaufte Kleekamp. »Dann hat sie das wenigstens nicht mehr erleiden müssen.«
»Du bist vielleicht lustig. Als wenn es nicht schon reicht, dass einem die Kehle durchgeschnitten wird.« Dannwolf verzog angewidert das Gesicht.
»Ach, komm schon, du weißt genau, wie ich das meine«, erwiderte Kleekamp. »Ich will mir so was bei einem lebenden Menschen gar nicht vorstellen. In einem Film habe ich das mal gesehen.«
»Was für Horrorschinken guckst du denn?«, wollte sein Kripokollege wissen.
»Nix Horror. Das war ein alter Schwarzweißfilm. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie er hieß oder von wem er war, aber an die Szene kann ich mich genau erinnern. Ein Mann steht hinter einer sitzenden Frau und zieht ihr ein Rasiermesser über die Augen.«
Dannwolf schüttelte sich. »Vielleicht ist ja der Regisseur dieses merkwürdigen Films unser Mörder.« Er nahm die Akte wieder auf. »Aber die Sache ist schon seltsam, selbst der Rechtsmediziner hat so was noch nie gesehen.« Der Kripobeamte runzelte die Stirn. »Meine größte Sorge ist, dass ich nicht weiß, was diese Handlungsweise zu bedeuten hat. Schon möglich, dass sie auf einen psychisch kranken Mörder hinweist.«
»Sind nicht alle Mörder irgendwie krank?«, wand Kleekamp ein.
»Ja, das stimmt schon. In diesem Fall«, Dannwolf deutete auf die Akte, »habe ich aber vor allem Schiss davor, dass er so was noch mal tut.«
Kleekamp blickte seinen Kollegen verwundert an. »Du meinst, es könnte ein Serienmörder sein?«
Dannwolf nickte nur.
»Von denen habe ich die Nase gestrichen voll«, bekannte Kleekamp. »Zum Glück ist das ein Fall für die Kripo, denn so was brauche ich nicht mehr.« Er klopfte Dannwolf auf die Schulter. »Na, dann ermittelt mal schön, ich gehe Fahrräder einsammeln.«
Damit drehte er sich um und ließ seinen verdutzt schauenden Kollegen im Flur stehen.
Kapitel 11
»Also, was haben wir?«, fragte Kriminalhauptkommissar Walter Langhans, der zum Leiter der Ermittlungskommission Olbrich bestimmt worden war.
Siegfried Dannwolf stand auf und trat im Besprechungsraum der Kripo an die Pinnwand, an der Melanie Olbrichs Foto hing. »Zusammengefasst sehr wenig«, musste er gestehen. »Wir haben keine Funkzellenauswertung von ihrem Handy, da es defekt ist und sie es schon ein paar Tage nicht mehr benutzt hat. Das wissen wir von ihrer Mutter. Der Schnitt durch den Hals war übrigens die Todesursache.«
Langhans setzte sich an das Kopfende des Tisches und seufzte. »Was ist mit den Augenverletzungen?«
Dannwolf zuckte mit den Schultern. »Postmortal zugefügt, sagt der Rechtsmediziner. Vermutlich eine Art von Überreaktion des Täters. Könnte sein, dass er sie bestrafen wollte.«
»Aber wofür?« Langhans schüttelte ungläubig den Kopf.
»Vielleicht hat sie etwas gesehen, das sie nicht hätte sehen sollen«, vermutete sein Kollege.
»Das glaube ich nicht«, Langhans blieb skeptisch. »Sie war doch schon tot.«
»Aber vielleicht sollte das symbolisch sein, oder könnte es eine rituelle Handlung sein?« Langhans legte seine Stirn in Falten. So eine Handlungsweise war selbst ihm als langjährigem Ermittler noch nicht untergekommen. Daran würden sie garantiert länger herumrätseln, da war er sich sicher. »Weiter!«, forderte er Dannwolf auf.
»Sie ist nicht missbraucht worden. Die Rechtsmedizin schließt ein Sexualverbrechen aus.« Dannwolf wedelte dazu mit dem entsprechenden Gutachten.
»Das hätte uns auch gerade noch gefehlt, so wie sie bereits zugerichtet war«, warf Bernhard Vennbrock verärgert ein. »Unsere Spurensuche ist ebenfalls äußerst dürftig verlaufen. Wir gehen davon aus, dass sie woanders ermordet und dann zum Hof von Joschka Fleischer gebracht wurde.«
»Was uns zu Fleischer selber bringt. Wie sieht es aus? Könnte der was mit der Sache zu tun haben?« Langhans blickte in die Runde.
Dannwolf lachte zynisch auf. »Als wir ihn vernommen haben, hat er sich fast in die Hose gemacht. Der ist für jeden Scheiß gut, aber einen Mord traue ich dem nicht zu. Er war ehrlich schockiert und hatte mordsmäßig Schiss, dass wir ihm das anhängen. So wie es aussieht, lag die Tote auch noch nicht so lange dort und Fleischer war ein paar Tage gar nicht auf dem Hof. Er hat einen Bekannten in Oldenburg besucht.«
»Und?« Langhans sah ihn auffordernd an.
»Ist von den Oldenburger Kollegen bereits überprüft worden und stimmt. Wie es aussieht, scheidet Fleischer als Tatverdächtiger aus.«
»Also vielleicht ein Raubmord? Aber was sollen dann die Augenverletzungen?« Langhans’ Frage blieb unbeantwortet.
In diesem Moment ging die Tür auf. »Ich glaube, ich habe da was Interessantes«, sagte Wilfried Marx und warf einen dünnen Hefter auf den Besprechungstisch. Er zog einen Stuhl zurück und ließ sich darauf fallen. »Ist noch Kaffee da?«
Kriminalhauptkommissar Walter Langhans griff nach der Thermoskanne und schüttelte sie. »Ich glaube, der ist von heute Morgen.« Es hätte auch an ein Wunder gegrenzt, wenn jetzt, um halb zwölf frischer Kaffee da gewesen wäre.
Seufzend stand Marx wieder auf und marschierte zur Kaffeemaschine hinüber. Er entfernte den benutzten Filter und ging dann mit der Kanne zur Spüle. »Was habe ich nur verbrochen, dass ich hier nie Kaffee bekomme«, maulte er und ließ Wasser einlaufen.
»Was hast du denn Interessantes gefunden?«, fragte Siegfried Dannwolf, der zusammen mit seinem Kollegen Horst Sporkmann die Protokolle der neuesten Anrufe von potenziellen Zeugen durchging. Kurz nach dem Leichenfund und seinem Bekanntwerden in der Presse, hatte man eine Hotline geschaltet, da man nun damit rechnen musste, dass sich viele Leute melden würden, die glaubten, etwas beobachtet zu haben. Meist waren diese Hinweise unbrauchbar, aber man wollte sichergehen, dass alles ausgewertet wurde. Tatsächlich hofften sie doch auf eine Information, die sie weiterbringen würde, denn bisher sah die Spurenlage mehr als bescheiden aus. Man hatte weder die Kleidung noch die Geldbörse der Getöteten gefunden. Daher resultierte auch Langhans’ Vermutung, dass es sich um einen Raubmord handeln könnte.
Marx goss Wasser in die Kaffeemaschine, setzte einen neuen Filter ein und füllte Kaffeepulver auf. Erst als er die Maschine eingeschaltet hatte, antwortete er. »Ich habe mich mal ein bisschen im Umfeld von Melanie Olbrich umgehört. Nachbarn, Arbeitsstelle, alles, was so dazugehört.«
»Und was hat man dir erzählt?« Walter Langhans lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und streckte die Beine unter dem Tisch aus.
»Sie hatte zwar keinen Freund, aber anscheinend einen Verehrer.«
Sporkmann blickte von seiner Liste auf. »Sagt wer?«
»Eine Kollegin von ihr. Aber sie kennt ihn nicht, sie wusste nur, dass Melanie sich wohl mal mit ihm verabredet hat.«
Neugierig geworden, richtete sich Langhans wieder auf. Die meisten Tötungsdelikte waren Beziehungstaten. Täter und Opfer kannten sich. Liebe. Eifersucht. Mord. Das könnte eine Spur sein.
»Hast du wenigstens einen Namen oder eine Beschreibung?«, wollte er wissen.
Wilfried Marx schüttelte den Kopf. Sein Blick war an der röchelnden Kaffeemaschine hängen geblieben. »Die muss wohl dringend mal entkalkt werden«, vermutete er. »Nee, kein Name und keine Beschreibung. Ihre Kollegin wusste nur, dass sie den Typen wohl auf ihrer Arbeitsstelle kennengelernt haben muss. Melanie hat ihr davon erzählt.«
»Und sie hat wirklich keinen Namen genannt?« Siegfried Dannwolf runzelte die Stirn. »Ich habe immer gedacht, Frauen wären in solchen Dingen sehr redselig.«
»Das kam mir auch seltsam vor und ich habe extra noch einmal nachgefragt.« Marx klappte den Filter aus, um zu sehen, ob das Wasser überhaupt durchlief. »Ihre Kollegin hat gesagt, dass Melanie in letzter Zeit wohl öfter Pech mit Männern gehabt hat. Aus diesem Grund wollte sie ihrer Kollegin erst dann mehr erzählen, wenn es etwas Ernstes würde.«
»Also müssten wir theoretisch ihre gesamten dienstlichen Kontakte durchgehen, damit wir den Typen finden, richtig?« Dannwolf war aufgestanden und trat neben Marx an die Kaffeemaschine.
Der zog die Kanne heraus und schüttete seinem Kollegen Kaffee ein. »Ja, und deshalb habe ich auch gleich ihren Fachbereichsleiter aufgesucht und darum gebeten, uns Zugang zu ihrem dienstlichen Rechner und all ihren Akten zu verschaffen.«
Walter Langhans verschränkte die Arme vor der Brust. »Und was hat er gesagt?« Er war auf die Antwort gespannt, denn für manch einen Sachbearbeiter im Jugendamt war die Polizei eher kein Freund und Helfer. Notfalls würde er als Leiter der Mordkommission noch mal auf anderem Weg Druck machen.
»Der Typ war sehr kooperativ. Dieser Fall hat alle geschockt, und sie sind sehr darauf bedacht, uns zu helfen. Vor allem unter dem Aspekt, dass der Täter möglicherweise aus ihrer Klientel stammen könnte. Ich will um ein Uhr wieder hinfahren, dann kommt ein IT-Experte und verschafft mir Zugang zu ihrem Computer.« Marx blickte erwartungsvoll in die Runde. »Da man mir dann auch ihre Akten vorlegen wird, wäre ein bisschen Unterstützung nicht schlecht.«
Langhans schaute Dannwolf an. »Siegfried?«
Der nippte gerade an seinem Kaffee. »Mit den Anruflisten sind wir fast durch und den Rest kann Horst sicher alleine machen, oder?«
Sporkmann nickte.
»Okay, dann bin ich kurz vor eins in deinem Büro.« Dannwolf trat mit der halbvollen Kaffeetasse an die Spüle. »Ich hoffe mal, dass du als Ermittler bessere Qualitäten aufweist, als beim Kaffeekochen, denn die Brühe hier …«, mit angewidertem Gesichtsausdruck schüttete er seine Tasse in den Ausguss, »… kann echt kein Mensch trinken.«
Kapitel 12
»Es könnte auch Unfallflucht gewesen sein. Ist ihnen ein Fahrzeug aufgefallen?« Natalie hatte das Fahrrad aus den Büschen gezogen und auf dem Gehweg des Rothebachweges auf den Ständer gestellt.
»Nein, ich habe keine Ahnung«, sagte Frank Dorscheid, Frührentner und Besitzer eines Rauhaardackels und Finder des Mountainbikes. »Pauli und ich haben unsere morgendliche Runde gedreht, als wir es im Gebüsch gefunden haben.«
»Nur mal fürs Protokoll …«, grinste Kleekamp, der gelangweilt mit beiden Händen in den Hosentaschen am Streifenwagen lehnte, »… wer war es denn nun? Sie oder Ihr Dackel?«
Natalie war in die Hocke gegangen, um das Fahrrad genauer in Augenschein zu nehmen. Sie blickte zu ihrem Kollegen hinüber und verdrehte genervt die Augen. Warum konnte Jürgen einen Zeugen nicht einfach mal ganz normal behandeln?
»Ja, also, das war so«, Dorscheid war sichtlich aufgeregt, »ich habe ihn ohne Leine laufen lassen, und als er auf Rufen nicht wiederkam, hab ich ihn gesucht.« Der Rentner räusperte sich verlegen. »Normalerweise lasse ich ihn ja nie frei, ist ja nicht erlaubt, aber heute Morgen war er so wild, da dachte ich … wo doch niemand in der Nähe ist.«
»Aha, und weiter?« Kleekamp zuckte nur lächelnd mit den Achseln, als er Natalies erneuten bösen Blick bemerkte.
»Ja, also … plötzlich sehe ich Pauli neben dem Fahrrad. Genau genommen hat er es gefunden. Nicht wahr, Pauli?« Der Hundebesitzer beugte sich zu seinem Dackel hinunter und streichelte ihn.
»Gut, dass wir das geklärt haben.« Kleekamp stieß sich vom Streifenwagen ab und schlenderte zu seiner Kollegin hinüber. »Und? Ist es Blut?«
»Könnte gut sein.« Natalie stand auf und deutete auf Dorscheid. »Notierst du bitte seine Personalien? Ich möchte mich noch etwas umsehen.«
Widerwillig holte Kleekamp sein zerfleddertes Notizbuch aus der Hemdtasche und wandte sich dem Rentner zu. »Na, Meister, dann sagen Sie mir mal Ihren Namen.«
Während Dorscheid diktierte und Kleekamp schrieb, war Natalie den Rothebachweg einige Meter bis zu der Stelle gegangen, wo der Fußweg vom Sportplatz einmündete. Hier fielen ihr auf dem Straßenbelag ein paar frische Kratzer auf. Als sie sich ihnen näherte, bemerkte sie einen dunklen Fleck. Ob das Blut war? »Jürgen? Kommst du mal bitte!«
Kleekamp ließ den Rentner stehen und begab sich zu seiner Kollegin. Nachdenklich betrachtete er die Stelle, die Natalie gefunden hatte. Von hier führte eine Wischspur zur Seite. Es sah aus, als hätte man etwas über die feuchte Stelle gezogen. Ächzend kniete er sich hin und strich mit den Fingern über den eingetrockneten Fleck.
»Sieht tatsächlich nach Blut aus.«
Natalie schaute sich aufmerksam um. »Wo mag der Besitzer des Fahrrades nach dem Sturz hin sein?«
»Oder die Besitzerin«, korrigierte Kleekamp sie. »Und warum ist er oder sie hier gestürzt?« Er stöhnte, als er sich wieder erhob. »Obwohl«, bekannte er, »dafür kann es ja viele Gründe geben.«
»Zum Beispiel?«, wollte Natalie von ihm wissen.
»Besoffen, zu zweit auf dem Rad, am Handy rumgespielt und was es da noch so an Möglichkeiten gibt.«
»Aber warum lässt er oder sie das Fahrrad dann hier liegen? Unverschlossen.« Natalie blickte sich zum Mountainbike um. »Das scheint ja nicht ganz billig gewesen zu sein.«
»Alternative eins? Besoffen?« Kleekamp zuckte die Achseln.
»Nein, selbst in dem Zustand hätte er das Fahrrad doch sicher mitgenommen«, war sich seine Kollegin sicher. »Wenn das Blut nicht wäre … Ich glaube, es war etwas anderes.« Natalie runzelte die Stirn. »Ich werde mal Thomas anfunken, was der davon hält.«
»Tu, was du nicht lassen kannst«, schnaufte Kleekamp und schlurfte zum Streifenwagen. Ihm war plötzlich ein bisschen schwindelig. Seine Pumpe machte sich mal wieder bemerkbar. Er wusste, dass er zu dick war und zu wenig Sport trieb, das brauchte ihm kein Arzt zu erzählen. Und obwohl ihm klar war, dass er daran etwas ändern müsste, lebte er jeden Tag aufs Neue nach dem Grundsatz: Morgen fang ich an, morgen hör ich auf!

***

»Dann wollen wir mal anfangen, Klinken zu putzen«, ordnete Thomas Golzig an. Als Dienstgruppenleiter hatte er die Leitung des Einsatzes übernommen. Zuvor hatte er sich den Sachverhalt von Natalie schildern lassen und selbst noch einmal mit dem Zeugen gesprochen. Obwohl es kaum Hinweise auf den Verbleib des Fahrers oder der Fahrerin gab, war er zu der Überzeugung gekommen, dass man hier nicht einfach nur abwarten sollte. Möglicherweise hatte sich die Person ja eine Kopfverletzung zugezogen und ihr Fahrrad deshalb zurückgelassen. Wer wusste schon, wo sie jetzt gerade war? Eine Nachfrage bei den Krankenhäusern hatte nichts ergeben. Es war eine erstaunlich ruhige Nacht in den Notaufnahmen gewesen.
Vielleicht lag die Person aber auch verletzt zu Hause und war nicht mehr in der Lage, sich selbst zu helfen. An eine andere Möglichkeit wollte Golzig gar nicht denken, musste es dennoch tun. Seit dem Fund der Leiche von Melanie Olbrich hatte er ein schlechtes Gefühl im Magen. Wer wusste schon, was hinter diesem Fall hier steckte. Die Vergangenheit hatte gezeigt, dass die eher ländliche Hochstiftregion keineswegs frei von Verbrechen und Verbrechern war. Daher war es dringend erforderlich, jeder Spur nachzugehen.
Dass Natalie eine Blutspur gefunden hatte, war mittlerweile festgestellt worden. Um das nachzuweisen hatte man wie immer lediglich die Tatsache ausnutzen müssen, dass ein Enzym im Blut Sauerstoff enthält. Und der hatte reagiert, als ein Kriminaltechniker den Fleck mit Wasserstoffperoxid besprüht hatte.
Es war zwar ein sogenannter Mantrailer angefordert worden, ein Spürhund, der speziell für die Suche nach Personen ausgebildet war, aber es konnte noch dauern, bis er eintraf. Golzig hatte alle verfügbaren Kräfte zusammengezogen und ließ die Gegend rund um den Rothebachweg absuchen.
Ein Team war zu Fuß losmarschiert und befragte die Nachbarn. Wieder einmal erwiesen sich Smartphones mit ihren Kameras dabei als wertvolles Hilfsmittel. Das Fahrrad war von den Kollegen fotografiert worden und konnte Anwohner und Passanten nun direkt gezeigt werden.
Aber die Ermittlungen blieben so lange erfolglos, bis Udo Seiler und Marietta Krause an ein Haus am Österreicher Weg kamen. Dessen Besitzer war gerade damit beschäftigt, seinen Gartenzaun zu streichen. Er hockte auf einer leeren Bierkiste und musste erst nach seiner Brille suchen, um sich das Foto des Fahrrades ansehen zu können.
»Das kenne ich, das gehört Antonia.« Er runzelte seine Stirn. »Warten Sie mal, aber wie heißt die denn noch mal weiter?« Er legte den Pinsel zur Seite und stand auf. »Ich kenne sie, weil ich wegen meinem Rücken vor zwei Jahren mal in dem Fitnessstudio war, wo sie arbeitet.« Demonstrativ richtete er sich sehr gerade auf. »Sie wohnt hier in der Nähe. Ich habe öfter mit ihr gesprochen, wenn sie mit ihrem Fahrrad vorbeikam. Dabei habe ich es mir mal genauer angesehen, weil mein Sohn auch so eines haben möchte.«
»Könnten Sie versuchen sich an ihren Nachnamen zu erinnern?«, bat ihn Seiler.
Der Mann kratzte sich am Kinn. »Nein, tut mir leid. Im Fitnessstudio haben wir uns alle immer nur mit Vornamen angeredet, und wenn wir uns mal auf der Straße getroffen haben, war das genauso.« Entschuldigend zuckte er mit den Achseln. »Warum suchen Sie denn nach ihr? Hat sie was verbrochen?«
»Nein, nein, wir haben ihr Fahrrad gefunden und machen uns Sorgen. Schade, dass sie uns nicht weiterhelfen können.« Marietta Krause stieß enttäuscht die Luft aus. »Wie heißt denn das Fitnessstudio, in dem sie arbeitet?« Das würden sie jetzt aufsuchen müssen.
Der Mann legte den Pinsel quer über den Farbtopf. »Das ist das Best Body ... Übrigens kenne ich zwar ihren Nachnamen nicht, aber ich kann Ihnen sagen, wo sie wohnt.« Er deutete den Österreicher Weg entlang. »Die Nächste links und dann ist es das große Haus auf der linken Seite. Sie wohnt unten rechts in der Erdgeschosswohnung. Habe sie mal beim Fensterputzen gesehen, als ich spazieren gegangen bin.«
Udo Seiler notierte sich die Personalien des Mannes, bevor sie sich bedankten und auf den Weg machten.
Da sie ihre Erkenntnisse über Funk an Thomas Golzig weitergegeben hatten, trafen sie fast gleichzeitig mit ihm an der Wohnanschrift ein.
»A. Freund, das könnte sie sein. A wie Antonia«, vermutete Marietta und deutete dabei auf das entsprechende Klingelschild in der unteren Reihe. Als Golzig nickte, drückte sie darauf. Gespannt hofften die drei auf eine Reaktion aus der Wohnung. Es kam jedoch keine.
Stattdessen öffnete eine Nachbarin die Haustür und fuhr erschrocken zurück, als sie drei Uniformierte davorstehen sah. »Oh Gott, ist was passiert?«
»Alles in Ordnung, gnädige Frau«, versuchte Udo Seiler, sie zu beruhigen, und hielt seinen Kollegen die Tür auf. »Wir müssen nur mit jemandem sprechen.«
Die Frau seufzte erleichtert auf. »Man denkt immer an das Schlimmste, wenn man Polizei sieht. Zu wem wollen Sie denn?«
»Wir suchen eine Frau die mit Vornamen Antonia heißt und ein Mountainbike fährt. Sie soll hier wohnen«, klärte Marietta sie auf.
Die Frau trat einen Schritt heraus und blickte sich um. »Ich vermute mal, sie ist nicht zu Hause, ihr Fahrrad ist nicht da.« Sie deutete auf den leeren Fahrradständer und drehte sich wieder zu ihnen um. »Wenn Sie Frau Freund meinen, die wohnt da.« Sie zeigte tatsächlich auf die rechte Erdgeschosswohnung.
»Sieh dir das mal an«, sagte und ließ sich auf ein Knie nieder. »Ist das Blut?«
»Vielleicht liegt sie bewusstlos in der Wohnung?«

Auf den ersten Blick machte sie einen sehr aufgeräumten und ordentlichen Eindruck. Die hellen Steinfliesen des Flures waren sauber, man sah keine weiteren Blutflecke. Golzigs Mitstreiter überprüften Bad und Schlafzimmer, während er die Küche inspizierte. Auch hier blitzte alles. Blieb nur noch das Wohnzimmer. In Golzigs Fantasie erschien ein Bild, auf dem Antonia Freund sich schwer verletzt bis auf die Wohnzimmercouch geschleppt hatte. Er atmete einmal durch, dann drückte er die Wohnzimmertür auf und spähte hinein.
Die Polizeibeamten sahen sich ratlos an.
»Ach Gottchen, was ist denn hier passiert?« Dabei presste sie erschrocken die Hand vor den Mund.



»Nein, alles in Ordnung. In gewisser Weise sind wir ja froh, dass es sich nicht um Blut handelt. Das steigert unsere Hoffnung, dass es Frau Freund gutgeht.« Thomas Golzig bemühte sich, die ältere Dame zu beruhigen. Er selbst jedoch hatte ein äußerst ungutes Gefühl.