Kapitel 12
»Es könnte auch Unfallflucht gewesen sein. Ist ihnen ein Fahrzeug aufgefallen?« Natalie hatte das Fahrrad aus den Büschen gezogen und auf dem Gehweg des Rothebachweges auf den Ständer gestellt.
»Nein, ich habe keine Ahnung«, sagte Frank Dorscheid, Frührentner und Besitzer eines Rauhaardackels und Finder des Mountainbikes. »Pauli und ich haben unsere morgendliche Runde gedreht, als wir es im Gebüsch gefunden haben.«
»Nur mal fürs Protokoll …«, grinste Kleekamp, der gelangweilt mit beiden Händen in den Hosentaschen am Streifenwagen lehnte, »… wer war es denn nun? Sie oder Ihr Dackel?«
Natalie war in die Hocke gegangen, um das Fahrrad genauer in Augenschein zu
nehmen. Sie blickte zu ihrem Kollegen hinüber und verdrehte genervt die Augen. Warum konnte Jürgen einen Zeugen nicht einfach mal ganz normal behandeln?
»Ja, also, das war so«, Dorscheid war sichtlich aufgeregt, »ich habe ihn ohne Leine laufen lassen, und als er auf Rufen nicht wiederkam, hab
ich ihn gesucht.« Der Rentner räusperte sich verlegen. »Normalerweise lasse ich ihn ja nie frei, ist ja nicht erlaubt, aber heute Morgen
war er so wild, da dachte ich … wo doch niemand in der Nähe ist.«
»Aha, und weiter?« Kleekamp zuckte nur lächelnd mit den Achseln, als er Natalies erneuten bösen Blick bemerkte.
»Ja, also … plötzlich sehe ich Pauli neben dem Fahrrad. Genau genommen hat er es gefunden.
Nicht wahr, Pauli?« Der Hundebesitzer beugte sich zu seinem Dackel hinunter und streichelte ihn.
»Gut, dass wir das geklärt haben.« Kleekamp stieß sich vom Streifenwagen ab und schlenderte zu seiner Kollegin hinüber. »Und? Ist es Blut?«
»Könnte gut sein.« Natalie stand auf und deutete auf Dorscheid. »Notierst du bitte seine Personalien? Ich möchte mich noch etwas umsehen.«
Widerwillig holte Kleekamp sein zerfleddertes Notizbuch aus der Hemdtasche und
wandte sich dem Rentner zu. »Na, Meister, dann sagen Sie mir mal Ihren Namen.«
Während Dorscheid diktierte und Kleekamp schrieb, war Natalie den Rothebachweg
einige Meter bis zu der Stelle gegangen, wo der Fußweg vom Sportplatz einmündete. Hier fielen ihr auf dem Straßenbelag ein paar frische Kratzer auf. Als sie sich ihnen näherte, bemerkte sie einen dunklen Fleck. Ob das Blut war? »Jürgen? Kommst du mal bitte!«
Kleekamp ließ den Rentner stehen und begab sich zu seiner Kollegin. Nachdenklich betrachtete
er die Stelle, die Natalie gefunden hatte. Von hier führte eine Wischspur zur Seite. Es sah aus, als hätte man etwas über die feuchte Stelle gezogen. Ächzend kniete er sich hin und strich mit den Fingern über den eingetrockneten Fleck.
»Sieht tatsächlich nach Blut aus.«
Natalie schaute sich aufmerksam um. »Wo mag der Besitzer des Fahrrades nach dem Sturz hin sein?«
»Oder die Besitzerin«, korrigierte Kleekamp sie. »Und warum ist er oder sie hier gestürzt?« Er stöhnte, als er sich wieder erhob. »Obwohl«, bekannte er, »dafür kann es ja viele Gründe geben.«
»Zum Beispiel?«, wollte Natalie von ihm wissen.
»Besoffen, zu zweit auf dem Rad, am Handy rumgespielt und was es da noch so an Möglichkeiten gibt.«
»Aber warum lässt er oder sie das Fahrrad dann hier liegen? Unverschlossen.« Natalie blickte sich zum Mountainbike um. »Das scheint ja nicht ganz billig gewesen zu sein.«
»Alternative eins? Besoffen?« Kleekamp zuckte die Achseln.
»Nein, selbst in dem Zustand hätte er das Fahrrad doch sicher mitgenommen«, war sich seine Kollegin sicher. »Wenn das Blut nicht wäre … Ich glaube, es war etwas anderes.« Natalie runzelte die Stirn. »Ich werde mal Thomas anfunken, was der davon hält.«
»Tu, was du nicht lassen kannst«, schnaufte Kleekamp und schlurfte zum Streifenwagen. Ihm war plötzlich ein bisschen schwindelig. Seine Pumpe machte sich mal wieder bemerkbar.
Er wusste, dass er zu dick war und zu wenig Sport trieb, das brauchte ihm kein
Arzt zu erzählen. Und obwohl ihm klar war, dass er daran etwas ändern müsste, lebte er jeden Tag aufs Neue nach dem Grundsatz: Morgen fang ich an,
morgen hör ich auf!
***
»Dann wollen wir mal anfangen, Klinken zu putzen«, ordnete Thomas Golzig an. Als Dienstgruppenleiter hatte er die Leitung des
Einsatzes übernommen. Zuvor hatte er sich den Sachverhalt von Natalie schildern lassen und
selbst noch einmal mit dem Zeugen gesprochen. Obwohl es kaum Hinweise auf den
Verbleib des Fahrers oder der Fahrerin gab, war er zu der Überzeugung gekommen, dass man hier nicht einfach nur abwarten sollte. Möglicherweise hatte sich die Person ja eine Kopfverletzung zugezogen und ihr
Fahrrad deshalb zurückgelassen. Wer wusste schon, wo sie jetzt gerade war? Eine Nachfrage bei den
Krankenhäusern hatte nichts ergeben. Es war eine erstaunlich ruhige Nacht in den
Notaufnahmen gewesen.
Vielleicht lag die Person aber auch verletzt zu Hause und war nicht mehr in der
Lage, sich selbst zu helfen. An eine andere Möglichkeit wollte Golzig gar nicht denken, musste es dennoch tun. Seit dem Fund
der Leiche von Melanie Olbrich hatte er ein schlechtes Gefühl im Magen. Wer wusste schon, was hinter diesem Fall hier steckte. Die
Vergangenheit hatte gezeigt, dass die eher ländliche Hochstiftregion keineswegs frei von Verbrechen und Verbrechern war.
Daher war es dringend erforderlich, jeder Spur nachzugehen.
Dass Natalie eine Blutspur gefunden hatte, war mittlerweile festgestellt worden.
Um das nachzuweisen hatte man wie immer lediglich die Tatsache ausnutzen müssen, dass ein Enzym im Blut Sauerstoff enthält. Und der hatte reagiert, als ein Kriminaltechniker den Fleck mit
Wasserstoffperoxid besprüht hatte.
Es war zwar ein sogenannter Mantrailer angefordert worden, ein Spürhund, der speziell für die Suche nach Personen ausgebildet war, aber es konnte noch dauern, bis er
eintraf. Golzig hatte alle verfügbaren Kräfte zusammengezogen und ließ die Gegend rund um den Rothebachweg absuchen.
Ein Team war zu Fuß losmarschiert und befragte die Nachbarn. Wieder einmal erwiesen sich
Smartphones mit ihren Kameras dabei als wertvolles Hilfsmittel. Das Fahrrad war
von den Kollegen fotografiert worden und konnte Anwohner und Passanten nun
direkt gezeigt werden.
Aber die Ermittlungen blieben so lange erfolglos, bis Udo Seiler und Marietta
Krause an ein Haus am Österreicher Weg kamen. Dessen Besitzer war gerade damit beschäftigt, seinen Gartenzaun zu streichen. Er hockte auf einer leeren Bierkiste und
musste erst nach seiner Brille suchen, um sich das Foto des Fahrrades ansehen
zu können.
»Das kenne ich, das gehört Antonia.« Er runzelte seine Stirn. »Warten Sie mal, aber wie heißt die denn noch mal weiter?« Er legte den Pinsel zur Seite und stand auf. »Ich kenne sie, weil ich wegen meinem Rücken vor zwei Jahren mal in dem Fitnessstudio war, wo sie arbeitet.« Demonstrativ richtete er sich sehr gerade auf. »Sie wohnt hier in der Nähe. Ich habe öfter mit ihr gesprochen, wenn sie mit ihrem Fahrrad vorbeikam. Dabei habe ich es
mir mal genauer angesehen, weil mein Sohn auch so eines haben möchte.«
»Könnten Sie versuchen sich an ihren Nachnamen zu erinnern?«, bat ihn Seiler.
Der Mann kratzte sich am Kinn. »Nein, tut mir leid. Im Fitnessstudio haben wir uns alle immer nur mit Vornamen
angeredet, und wenn wir uns mal auf der Straße getroffen haben, war das genauso.« Entschuldigend zuckte er mit den Achseln. »Warum suchen Sie denn nach ihr? Hat sie was verbrochen?«
»Nein, nein, wir haben ihr Fahrrad gefunden und machen uns Sorgen. Schade, dass
sie uns nicht weiterhelfen können.« Marietta Krause stieß enttäuscht die Luft aus. »Wie heißt denn das Fitnessstudio, in dem sie arbeitet?« Das würden sie jetzt aufsuchen müssen.
Der Mann legte den Pinsel quer über den Farbtopf. »Das ist das Best Body ... Übrigens kenne ich zwar ihren Nachnamen nicht, aber ich kann Ihnen sagen, wo sie
wohnt.« Er deutete den Österreicher Weg entlang. »Die Nächste links und dann ist es das große Haus auf der linken Seite. Sie wohnt unten rechts in der Erdgeschosswohnung.
Habe sie mal beim Fensterputzen gesehen, als ich spazieren gegangen bin.«
Udo Seiler notierte sich die Personalien des Mannes, bevor sie sich bedankten
und auf den Weg machten.
Da sie ihre Erkenntnisse über Funk an Thomas Golzig weitergegeben hatten, trafen sie fast gleichzeitig mit
ihm an der Wohnanschrift ein.
»A. Freund, das könnte sie sein. A wie Antonia«, vermutete Marietta und deutete dabei auf das entsprechende Klingelschild in
der unteren Reihe. Als Golzig nickte, drückte sie darauf. Gespannt hofften die drei auf eine Reaktion aus der Wohnung. Es kam jedoch
keine.
Stattdessen öffnete eine Nachbarin die Haustür und fuhr erschrocken zurück, als sie drei Uniformierte davorstehen sah. »Oh Gott, ist was passiert?«
»Alles in Ordnung, gnädige Frau«, versuchte Udo Seiler, sie zu beruhigen, und hielt seinen Kollegen die Tür auf. »Wir müssen nur mit jemandem sprechen.«
Die Frau seufzte erleichtert auf. »Man denkt immer an das Schlimmste, wenn man Polizei sieht. Zu wem wollen Sie
denn?«
»Wir suchen eine Frau die mit Vornamen Antonia heißt und ein Mountainbike fährt. Sie soll hier wohnen«, klärte Marietta sie auf.
Die Frau trat einen Schritt heraus und blickte sich um. »Ich vermute mal, sie ist nicht zu Hause, ihr Fahrrad ist nicht da.« Sie deutete auf den leeren Fahrradständer und drehte sich wieder zu ihnen um. »Wenn Sie Frau Freund meinen, die wohnt da.« Sie zeigte tatsächlich auf die rechte Erdgeschosswohnung.
»Sieh dir das mal an«, sagte und ließ sich auf ein Knie nieder. »Ist das Blut?«
»Vielleicht liegt sie bewusstlos in der Wohnung?«
Auf den ersten Blick machte sie einen sehr aufgeräumten und ordentlichen Eindruck. Die hellen Steinfliesen des Flures waren
sauber, man sah keine weiteren Blutflecke. Golzigs Mitstreiter überprüften Bad und Schlafzimmer, während er die Küche inspizierte. Auch hier blitzte alles. Blieb nur noch das Wohnzimmer. In
Golzigs Fantasie erschien ein Bild, auf dem Antonia Freund sich schwer verletzt
bis auf die Wohnzimmercouch geschleppt hatte. Er atmete einmal durch, dann drückte er die Wohnzimmertür auf und spähte hinein.
Die Polizeibeamten sahen sich ratlos an.
»Ach Gottchen, was ist denn hier passiert?« Dabei presste sie erschrocken die Hand vor den Mund.
»Nein, alles in Ordnung. In gewisser Weise sind wir ja froh, dass es sich nicht
um Blut handelt. Das steigert unsere Hoffnung, dass es Frau Freund gutgeht.« Thomas Golzig bemühte sich, die ältere Dame zu beruhigen. Er selbst jedoch hatte ein äußerst ungutes Gefühl.