Das Autorentrio vermittelt in seinem neuen praxisnahen Buch viele hilfreiche Tipps und Anregungen zum therapeutischen Umgang mit Sprache in der Therapie. Es möchte PsychotherapeutInnen in Praxen und Beratungsstellen dazu ermutigen, den eigenen kreativen Impulsen zu vertrauen. Zur Illustration werden unterschiedliche Beispiele aus der alltäglichen Praxis angeführt und dargestellt, wie mithilfe von Märchen und Geschichten auf „spielerische“ Weise Lösungen erreicht werden können.
Das Buch bietet eine Fülle von auf verschiedene Problemlagen abgestimmtem Lesestoff, der fachlich und unterhaltsam zugleich sich bildreich und deshalb gut lesbar von trockener Fachliteratur abhebt. Eine Fundgrube für alle, die über sich und das Leben nachdenken wollen.
Über die Autoren
Udo Baumann, Wolfgang Neumann und Ulrich Meier arbeiten als Supervisoren und Psychotherapeuten in einer psychologischen Praxis in Bielefeld und haben zusammen schon mehrere Fachbücher veröffentlicht (z. B.: „Mögen Sie Ihre Klienten und mögen Ihre Klienten Sie? – Synergieeffekte einer allgemeinen Psychotherapiesupervision“, 2007, und „Schwarz auf Weiß: Väter und Söhne in der Psychotherapie“, 2011).
Wolfgang Neumann
Ulrich Meier
Udo Baumann
Auch Klienten brauchen Märchen
Mutgeschichten aus dem
therapeutischen Nähkästchen
Tübingen
2019
Kontaktadresse:
Dipl.-Psych. Dr. Wolfgang Neumann
Dipl.-Psych. Dr. Ulrich Meier
Dipl.-Psych. Udo Baumann
Psychotherapeutische Praxisgemeinschaft am Franziskushospital
Kiskerstraße 19
33615 Bielefeld
E-Mail: wn@neumann-meier.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage 2017
2., erweiterte Auflage 2019
© 2017, 2019 dgvt-Verlag
Im Sudhaus
Hechinger Straße 203
72072 Tübingen
E-Mail: dgvt-verlag@dgvt.de
Internet: www.dgvt-verlag.de
Umschlagbild: Alexander Jakimenko & Marek Zmiejewski, Köln
Umschlaggestaltung: Winkler_Design, Wolfgang Winkler, Tübingen
Layout: VMR, Monika Rohde, Leipzig
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
Auch als Printausgabe erhältlich: ISBN 978-3-87159-824-1
ISBN eBook: 978-3-87159-442-7
Inhalt
Vorwort zur zweiten Auflage
Einführung
Märchengeschichten und ihre therapeutische Relevanz
Über das Sich-ändern-lernen
Die Fallbeispiele: Demonstrationen aus der Praxis
1.Natur hilft
2.Liebe geht durch den Magen
3.Die Suche nach der Wahrheit
4.Gaby im Glück
5.„Manchmal ist man auch heute noch so jung wie früher“
6.Kein Schicksal
7.Oh Schreck
8.Vom Klettermaxe
9.Heirat als Lösung
10.Abenteuer des Denkens
11.Hexenvertreibung
12.Vom Himmel gefallen
13.„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“
14.Sprache weg
15.Gäste, die zum Bleiben kamen
16.Der Löwe und der Wolf
17.„Was will die Schreibfeder?“
18.Das ADS-Märchen
19.Die Perlentaucherin
20.Vom Stolz
21.Im Rasen des Golfplatzes liegt vergraben das Beil
22.Tiefe der eigenen Lebensgeschichte
23.Das Wrack
24.Unterwegs
25.Zu Hause bei den Sternen
26.Wurzellos
27.Neues vom Igel
28.Winterzeit
29.Keine Lust
30.Pingpong
31.Ziellos
32.Vom Abschiednehmen
33.Zwischen zwei Stühlen
34.Was denken die Leute?
35.Aller Anfang ist schwer, auch der Anfang vom Sprechen
36.Es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt
37.Aus klein mach groß
38.Herzgesichter
39.Der innere Diktator
40.Alt und jung (ein Monolog)
41.Mein Kind wäre jetzt 18 Jahre alt!
42.Trage Schuld
43.Haus Nummer 10
44.Oh Wunder
45.Kopfschmerzen weg
46.Die Familie hat nur die Macht, die wir ihr geben
47.Die Täuschung
48.Das Schattenhaus
49.Die Geschichte vom subkutanen Notfall
50.Der Überflieger, der den Absturz übte
51.Der trübselige Spatz
52.Petri Heil
53.Das Märchen vom Abschiedsschmerz
54.Vom Tod
55.Piep
56.Katzenleben
57.Regelmäßig als Problem
58.Über Pflicht und Neigung
59.Der Schmetterschlag
60.Bärenstark
61.Der Schuldenberg
62.Alles nur Theater
63.Meilenweit
64.Schneewittchen und so weiter
65.Die tanzende Brücke
66.Ersatz trifft
67.F 40.1 verfliegt im Nu
68.Typisch Thomas oder: Der Idiot ist frei
69.Großer Mann
70.Der Gartenzwerg, der kein Gartenzwerg sein wollte
71.Die Geschichte vom Mann mit Hund
72.Aschenputtel
73.Jammerhilfe
74.Public Viewing
75.„Manchmal ist man doch heute so jung wie früher“
76.Das moderne Märchen von den zwei stummen Bäumen
77.„Arbeit ist des Bürgers Zier, Segen ist der Arbeit Lohn“
78.Der Schlangendompteur
79.Lage von hinten heißt einfach nur „egal“
80.Vom Lockvogel
81.Gemeinheit erzeugt Rachegelüste
82.„Und so ist das mit unseren Geheimnissen“
83.„Feedback“ geben, „Feedback“ nehmen
84.Stellungswechsel
85.Das Märchen vom zerrissenen Herzen
86.Die Geschichte von Hund Leo
87.Anderland
88.Fliegen lernen
89.Die Geschichte vom Baum, der einmal weg wollte
90.Das Märchen vom ernsten Mädchen mit dem silberhellen Lachen
91.Die Geschichte von der Wolke, die es sehr schwer hatte
92.Die Geschichte vom Kneifen
93.Die Geschichte von den Sachen, die man immer braucht
94.Die Geschichte von Wolf und Igel
95.Die Geschichte vom Nest und von der Höhle
96.Die Geschichte vom Jungen, der nie schuld sein wollte
97.Vom schönen Leben mit einem Handicap
98.Vom verrückten Huhn
99.Die Kraft der Gedanken
100.Gestern, heute, morgen
Literatur
Numerisches Register der Fallbeispiele unter Angabe des therapeutischen Themas der Intervention
Wenn wir Phantasie
durch Phantasie kurieren könnten,
so hätten wir ein Meisterstück gemacht.
Johann Wolfgang von Goethe*
Vorwort zur zweiten Auflage
Aufgrund der großen positiven Resonanz in der Fachpresse und bei öffentlichen Lesungen, hervorzuheben im Besonderen die Lesung bei der Leipziger Buchmesse, haben wir uns dazu entschlossen, die zweite Auflage inhaltlich zu erweitern. Aufgenommen wurden dabei insbesondere eigene Erfahrungen in der Anwendung des Buches in der Therapie, Erfahrungen von unseren Lesern und Kollegen und auch neue Märchen. Die Lust an der Arbeit damit hat unsere produktive Kreativität beflügelt und neue therapeutische Märchen hervorgebracht.
Einführung
„Der Kopf ist rund, damit das Denken seine Richtung ändern kann.“
Picarta, 1936
„Humor ist der Regenschirm des Weisen.“
Jüdisches Sprichwort
Die Idee zu diesem Buch entsprang unserem Verständnis von Psychotherapie als Medium der Entwicklung überraschender Lösungen und neuer Sichtweisen auf die Probleme unserer Klienten und der Nutzung der Kraft des geschriebenen Wortes.
Wir danken allen, die sich uns so weit anvertraut haben, dass wir aus ihren Problematiken und offenen Fragen Geschichten kreieren konnten, die als Beitrag zu Problemlösungen dienen konnten. Es sei ausdrücklich gesagt, dass Geschichten für Klienten zu schreiben immer im Zusammenhang mit anderen therapeutischen Methoden zu sehen ist und keine isolierte neue Methode darstellt. Wir sind darüber hinaus überzeugt, dass alle Therapeuten sich „Geschichten“ für Klienten ausdenken und auch zum Ausdruck bringen: Metaphern, Bilder, Redewendungen, Märchen usw., die zu Lösungen beitragen.
Das gilt selbstverständlich auch für unsere Klienten, die ihre Geschichten und Problemsichten mit in die Therapie bringen. Mit anderen Worten, jeder therapeutische Raum ist voller Geschichten und Märchen, deren Inhalte wir zur Erschaffung von Lösungsgeschichten nutzen können.
Wir möchten dem „Sprechen in Bildern“ eine besondere Würdigung zukommen lassen. Wir können Klienten als Modell dienen, weil der Umgang mit Sprache von Anbeginn unseres Lebens den meisten Menschen als Mittel der Orientierung dient und gedient hat. „Sprich dich mal so richtig aus, das wird dir gut tun!“, ist der Ratschlag, den wir übernehmen und verfeinern wollen. Die Therapeuten, die Autoren dieses Buches haben, jeder auf seine Art, ihre Geschichten erzählt und aufgeschrieben, zu Gehör gebracht und den Effekt erlebt. So können die Leser die Entstehung der Geschichten mitverfolgen und nachvollziehen.
Das Buch bietet insofern einen besonderen therapeutischen Zugang, indem es mehrere neue Aspekte therapeutischer Arbeit in den Vordergrund stellt:
In der Therapie ist es – ressourcenorientiert – wichtig, dass der Klient seine Besonderheit erkennt: seine kreative schöpferische Seite, seine Neugierde, seine verschütteten Talente.
Der Therapeut ist für die Nutzung seiner kreativen Seite ein Modell.
Der Klient ist Mittelpunkt der Bemühung und erlebt primär eine Personanstatt einer Problemorientierung.
Die Geschichten beinhalten Einfühlung, Humor und neue Sichtweisen und Problemlösungen. Sie enthalten somit empathische Aspekte, leisten Reframing, bieten paradoxe Lösungen, beinhalten Optionen zum symbolischen Modelllernen und, last but not least, können die Geschichten Mut machen. Die verwendeten Naturmetaphern schaffen eine Distanzierung zu bisher subjektiv bedrohlichen Sehnsuchtsinhalten und unterstützen Handlungsbereitschaft. Das Referenzsystem verändert sich, menschliche Themen werden als in der Natur allgemeingültig, z. B. im Sinne eines Archetypen, dargestellt und damit legitimiert und teilbar. Märchen geben den Klienten die Erlaubnis, ihre ganz persönlichen „Scheren im Kopf“ zur Seite zu legen und zum Beispiel zu Hammer oder Sichel zu greifen, das heißt, neue Sichtweisen auf ein persönliches Problem können generiert werden.
In den Fallbeispielen wird deutlich, dass sowohl störungsspezifische (z. B. Ängste, Depressionen, Schmerzen) als auch störungsunspezifische Wirkfaktoren greifen. Unspezifisch wirken dabei die Qualität der therapeutischen Beziehung im Sinne einer Würdigung der Problematik und einer Annahme der Person sowie Prozesse des Modelllernens, der Suggestion, der Induktion einer positiven Kontrollerwartung, das Verwenden von Metaphern als Projektionsfläche und als Lösungsangebot. Im Sinne des „pacing and leading“ wird der Text des Märchens der Problemsicht und der Sprache des Klienten angepasst und sukzessive lösungsorientiert weitergeführt. Dabei wird das Engagement des Therapeuten als eine Einfühlung erlebt und dem Klienten eine besondere Rolle des frei agierenden „Helden“ nahegebracht. So wird ein „kreativer Samen“ in die Erlebniswelt des Klienten transportiert. Durch diesen Ansatz würdigen wir die Wirkkraft der Sprache als eine Symbolisierung der Problemsicht und Lösungsperspektive. Störungsspezifische Wirkfaktoren werden in den Kommentaren zu den einzelnen Fällen erörtert. Bei der Anordnung der Fallbeispiele haben wir uns von der Vorstellung leiten lassen, durch Abwechslung Anstöße zur Neugierde und Freude des Lesers zu geben.
Märchengeschichten und
ihre therapeutische Relevanz
Der Titel des Buches lehnt sich an Bruno Bettelheims programmatische Veröffentlichung „Kinder brauchen Märchen“ an. Bettelheim arbeitet die Bedeutung von Märchen für die Entwicklung der Kinderseele heraus. Hier dagegen werden Märchen, Geschichten und Briefe direkt für Klienten geschrieben und mit der aktuellen Situation verknüpft, um bei der Lösung ihrer Probleme zu helfen, indem Phantasie und Kreativität der Klienten gegenüber festgefahrenen Lebenssituationen gefördert werden.
Anders als bei Lankton und Lankton (1991), die ebenfalls mit therapeutischen Geschichten arbeiten, sind unsere Geschichten nicht im Vorhinein fertig, sondern entwickeln sich erst im Laufe der Therapie und sind ganz und gar auf den jeweiligen Klienten zugeschnitten. Die therapeutischen Geschichten gehen auf der anderen Seite auch deutlich über den bloßen Gebrauch von Metaphern im Gesprächsverlauf hinaus, wofür im Folgenden genügend Beispiele gegeben werden.
Die Themen oder Ausgangsdaten entstehen in der Idee im Therapieprozess und werden dann im Sinne einer Nachbereitung der Therapiestunde von uns aufgeschrieben. Sie sind als Material verfügbar, um bei Gelegenheit in den Beratungsprozess zurückgebracht zu werden.
Was geschieht auf der Therapeutenseite, wenn eine solche Geschichte geschrieben wird? Wir treten auf eine besondere Weise mit dem Klienten in Kontakt. Auf der einen Seite ist er ganz nahe, weil er unsere Kreativität berührt, auf der anderen Seite kann man das Schreiben einer Geschichte als eine besondere Art der Nachbereitung einer Therapiestunde sehen.
Ist eine Geschichte fertig, dann habe ich einen guten Abstand zum Klienten gewonnen, habe die Lust daran, ihn mit der Geschichte zu erreichen und einen kreativen Input zu machen.
Zum Schreiben einer Geschichte trete ich einen Schritt zurück, distanziere mich also – werde freier – und nähere mich dem Klienten wieder über die kreative Schiene an. So wird er mir noch vertrauter, auf einem Terrain, auf dem ich mich auskenne und auf dem ich ihm sicher begegnen kann.
Wenn die Klienten die Geschichten hören, fühlen sie sich in besonderer Weise angesprochen, berührt und gemeint. Selbst wenn die Geschichten nicht sämtlich vom Gedanken des Happy Ends bestimmt sind, so haben sie doch in der Art ihrer Anlage einen positiven Tenor.
Die Klienten hören die Geschichten mit großem Interesse, sie sind plötzlich Mittelpunkt einer Story, hören ihre Konflikte aus einer anderen Sicht formuliert, finden ihre innere Bühne vor sich und können sich zurücklehnen, um sich agieren zu hören, zu sehen.
Es geht ihnen manchmal wie mit einem Buch, in dem man sich wiederfindet, das man nicht mehr aus der Hand legen möchte, das man bis zur letzten Seite fressen muss. Und die Geschichten sind ganz neu, sie selbst sind die Helden, so sitzen sie vor mir und haben rote Wangen oder sind ganz blass, weil sie etwas Schlimmes befürchten.
Als therapeutische Geschichten in diesem Sinne eignen sich Tiergeschichten, Parabeln, Satiren – aber auch Grotesken und Märchen.
Klienten suchen Lösungen und Märchen bieten „märchenhafte“ Lösungen an. Klienten brauchen Lösungen in vertrackten Lebenssituationen. Märchen regen die Phantasie an. Phantasie öffnet neue Türen und könnte Klienten ermuntern, diese zu öffnen und hindurchzuschreiten. Durch das Formulieren von ganz persönlichen Märchen könnten sich Klienten auch ganz besonders gemeint fühlen. Dieser Weg beinhaltet eine besondere Form der Zuwendung und des Verständnisses nach dem Motto: „Der Therapeut hat sich für mich in ganz besonderer Weise angestrengt.“
In einer Zeit, in der die psychologische Methodik die Verwendung technischer Geräte favorisiert, wie z. B. beim Biofeedback, oder standardisierte Therapiemanuale verwendet, erscheint die systematische Verwendung von für den jeweiligen Klienten eigens geschriebenen Geschichten, Metaphern, Sagen und Märchen zur Lösung vertrackter Problemlagen antiquiert und gleichzeitig zeitlos modern.
Im Jahr 1977 hat Bruno Bettelheim in seinem Buch „Kinder brauchen Märchen“ die Bedeutung des Märchens für die kindliche Entwicklung hervorgehoben. Hierin stellt er die These auf, dass alle Kinder mehr Gefallen an Volksmärchen als an jeder anderen Art von Kindergeschichten haben.
Bettelheim versucht den Zusammenhang zwischen Märchenwelt und kindlichem Denken und Erleben nachzuweisen. Für ihn spricht das Märchen Kinder in ihrer eigenen seelischen und emotionalen Existenz an. Das Ringen um den Sinn des Lebens ist nach Bettelheim ein elementarer menschlicher Wesenszug. Jedoch ist dem Menschen das Verständnis für sich selbst und die Welt nicht angeboren. Für Bettelheim bedeutet Erziehung, Kindern zu helfen, diesen Sinn des Lebens zu finden. Eine sinnhafte Literatur hilft Kindern dabei, Geist und Persönlichkeit zu entwickeln. Hierzu muss Literatur Bezug nehmen auf alle Persönlichkeitsaspekte. Dabei dürfen die kindlichen Nöte nicht verniedlicht, sondern müssen ernst genommen werden, um das Vertrauen des Kindes in sich selbst und seine Zukunft zu stärken. In diesem Zusammenhang sieht Bettelheim im Märchen eine Literatur, die Erkenntnisse des Lebens von innen her verständlich macht, weil sie innere Vorgänge zum Ausdruck bringt. Märchen lehren zwar wenig über die Verhältnisse des modernen Lebens, aber sie stellen die inneren Probleme des Menschen dar und bieten Lösungen für seine Schwierigkeiten an.
So werden im Märchen die inneren Spannungen des Kindes auf eine Art zum Ausdruck gebracht, dass es diese unbewusst versteht. Kinder finden im Märchen Anregungen, die ihnen helfen, Ordnung in ihrem Inneren und auch ganz allgemein in ihrem Leben zu schaffen.
Die psychologischen Probleme des Heranwachsenden sind vielfältig. Um diese Probleme zu lösen, muss das Kind verstehen, was sich in seinem Unbewussten abspielt. Dieses Verständnis und diese Fähigkeiten erringt es nicht durch rationales Erfassen seines Unbewussten, sondern nur, indem es mit ihm vertraut wird: indem es als Reaktion auf unbewusste Spannungen über entsprechende Elemente aus Geschichten nachgrübelt, sie neu zusammensetzt und darüber phantasiert.
In diesem Zusammenhang sieht Bettelheim im Märchen einen offenen und einen versteckten Sinn. Im Sinne Bettelheims vermitteln Märchen aus einer psychoanalytischen Perspektive wichtige Botschaften auf einer bewussten, vorbewussten und unbewussten Ebene. Sie ermöglichen die Entfaltung eines sich entwickelnden Ichs, in dem sie unbewusste Spannungen lösen. Das heißt, sie verleihen vorbewussten Es-Spannungen durch ihre Gestaltung und Darstellung Glaubwürdigkeit und zeigen Möglichkeiten auf, diese in Übereinstimmung mit den Erfordernissen des Über-Ichs zu lösen.
Hinzu kommt, dass Märchen auch die moralische Entwicklung der Kinder fördern. Bettelheim geht davon aus, dass den Kindern durch Märchen unterschwellig die Vorteile eines moralischen Verhaltens nahegebracht werden. Dies erreicht das Märchen nicht durch die Vermittlung abstrakter ethischer Vorstellungen, sondern dadurch, dass hier das Richtige greifbar vorgeführt wird und dadurch sinnvoll erscheint.
Nach Bettelheim spiegelt sich im Märchen das existenzielle Dilemma des Lebens wider. Indem Märchen die Phantasietätigkeit der Kinder anregen, eröffnen sie diesen auch neue Dimensionen ihres Erkenntnishorizonts. Da im Märchen nicht nur die positiven Seiten des Lebens gezeigt werden, sondern auch die Schattenseiten, allerdings ohne sich davon besiegen zu lassen, vermitteln sie eine entscheidende Botschaft. Nämlich die, dass der Kampf gegen die verschiedensten Schwierigkeiten im Leben unvermeidlich ist. In diesem Zusammenhang konfrontieren Märchen Kinder mit den grundlegenden menschlichen Nöten. Existenzielle Ängste, beispielsweise die Furcht als nutzlos zu gelten oder die Angst vor dem Tod, sowie das Bedürfnis, geliebt zu werden, werden im Märchen aufgegriffen. Die Bedrohung, die von Ängsten ausgeht, wird jedoch dadurch abgeschwächt, indem das Märchen zwischenmenschliche Beziehungen in den Mittelpunkt stellt, dank derer man die höchste Lebenssicherheit erlangen kann.
Dieses existenzielle Dilemma wird im Märchen vereinfacht und in seiner wesentlichen Gestalt dargestellt. Die polarisierende Darstellung erleichtert es dem Kind, Unterschiede zu erfassen. Im Weiteren beschreibt Bettelheim das Märchen als eine einzigartige Kunstform. Er geht davon aus, dass die erlebte Verzauberung, die Kinder beim Lesen oder Hören von Märchen erleben, seiner literarischen Qualität entspringt. Wäre dies nicht so, könnte das Märchen auch keine psychologische Wirkung auf das Kind haben. Zudem vermitteln Märchen, ebenso wie Mythen, Weisheiten vergangener Zeiten. Diese Weisheiten vermitteln Märchen auf eine ganz einfache und unaufdringliche Art. Dabei stellen sie keine Anforderungen an den Zuhörer.
Die Einbeziehung von starken Bildern, sogenannten Archetypen, in die Psychotherapie hat eine lange Tradition. Erwähnt sei hier ein Mitbegründer der Tiefenpsychologie, C. G. Jung, der, um es einmal verkürzt zu sagen, davon ausgeht, dass solche Archetypen in jedem Menschen verankert sind, die dann, wenn sie in Konflikt geraten, zu neurotischen Erkrankungen führen können.
Zwei kreative Therapieansätze kommen dem, was vorgestellt wird, meiner Ansicht nach am nächsten: Zum einen die Bibliotherapie (Hilarion Petzold, 1990), zum anderen die Hypnotherapie (Milton Erickson, siehe Gordon, 1986), wobei beide Ansätze davon ausgehen, dass kreatives Input als systematisches Therapiemittel positive Effekte erzielen kann. In der Bibliotherapie wird literarisches Material verwendet, in der Hypnotherapie arbeitet man vor allem mit metaphorischen Bildern, die Identifikationsmöglichkeiten für Klienten bieten.
Metaphern und Metapherreflexion werden von TherapeutInnen aller Richtungen bereits seit der Psychoanalyse in ihr Arbeiten miteinbezogen. Dies trägt zum Verständnis seelischer Störungen und pathologischer Muster der Klienten bei und kann helfen, alternative, heilende und Problem lösende Handlungsmuster und Lebensentwürfe zu entwickeln (Liebert, 2003). Wichtig in der Therapie sei, nicht nur zu verstehen, in welchen Metaphern ein Klient denkt, fühlt und lebt, sondern auch, wie solche Metaphern, sowohl in der Alltagswelt des Klienten als auch im therapeutischen Dialog, aufgebaut, stabilisiert oder verändert werden können (Liebert, 2003).
Michael B. Buchholz (2003) schreibt über die therapeutische Arbeit mit Metaphern, dass sich manche metaphorischen Selbstkonzeptionen eines Klienten als Hindernis für eine Problemlösung erweisen würden. In solchen Fällen sei die Reflexion des metaphorischen Selbstentwurfs Ziel therapeutischer Bemühungen.
Über das Sich-ändern-lernen
Manche Klienten wurden im Glauben erzogen, nur geliebt zu werden, wenn sie dauernd etwas leisten. Eine fixe Idee kann man jedoch nur verändern, indem man eine neue, stärkere Idee dagegensetzt.
Der griechischen Sage nach muss Sisyphos sich auf Geheiß der Götter sein Lebtag damit herumquälen, einen Stein auf einen Berg zu schaffen. Nun hat er eines Tages davon den Kanal so gerammelt voll, dass er einem neuen Gefühl Raum lässt, nämlich seiner Neugierde, sehen zu können, was er vom Gipfel des Berges alles erblicken könnte.
Er lässt den Stein also los, tritt einen Schritt zur Seite, schert sich nicht um das Getöse hinter sich, vor allem nicht darum, was die alten Götter mal wieder zu meckern haben, zum Beispiel über Pflichterfüllung und Arbeitsauffassung, sondern ersteigt leichten Fußes den Berggipfel und wird ergriffen von der Beschwingtheit eines Adlers und erblickt völlig neue Welten.
„Treten Sie doch bitte mit mir zusammen einmal einen Schritt zur Seite und schauen Sie auf das Elend von dort aus!“, empfiehlt der Psychotherapeut seinen Patienten und lädt sie ein, ihrem Leben eine neue Perspektive zu geben.
Die Verwendung von Büchern als Heilmittel ist keine Erfindung der modernen Psychologie. Die Erkenntnis, dass Bücher und Texte Heilwirkung haben und eine echte Lebenshilfe sein können, ist schon sehr alt. Das wohl älteste Selbsthilfe-Buch der Welt ist die Bibel, in der Menschen Trost und Hilfe suchen. (Dr. Doris Wolf, Diplompsychologin, Psychotherapeutin)
Auch in der Bibliotherapie werden Bücher und Geschichten zu therapeutischen Zwecken eingesetzt. Der Wortteil „biblio“ bezieht sich hierbei nicht auf die Bibel, wie man zunächst vermuten könnte, sondern auf das griechische Wort „biblios“ (Buch). Die Bibliotherapie gehört zur Gruppe der Kreativtherapien. Der Klient kann sich dabei mit den Figuren in den Geschichten identifizieren oder sich auch von ihnen abgrenzen. Außerdem kann er am Modell lernen, er erfährt, wie andere Menschen mit eventuell ähnlichen Problemen umgehen, und kann sich dieses Wissen nun in seinem eigenen Leben zunutze machen. Die Identifikation mit Figuren aus Geschichten ermöglicht oftmals einen leichteren Zugang zur eigenen Erlebniswelt. Aus diesen Erläuterungen wird ersichtlich, dass die Basis der Bibliotherapie die Überzeugung bildet, dass die Sprache Heilkräfte besitzt. Ziele der Bibliotherapie sind unter anderem, dass der Klient seine eigenen Probleme besser akzeptiert, Ursachen versteht, psychologische Strategien erlernt und sich selbst bei der Bewältigung negativer Gefühle helfen kann. Diese Ziele können erreicht werden durch eine kognitive Erweiterung und durch eine vertiefte Selbsterkenntnis des Klienten. Über das Medium Literatur in Form von Geschichten sollen hier also neue Denkanstöße gegeben werden.
Dietrich von Engelhardt (1987) sagte zur Bibliotherapie:
Bibliotherapie heißt Heilung und Beistand durch das Buch. Literarische Texte können die Therapie unterstützen, können zu einem Instrument der Psychotherapie werden. Können präventiv und rehabilitativ wirken und allgemein eine Hilfe sein, mit Leiden, Krankheit und Tod, mit Lebensproblemen umzugehen. Auch das eigene Schreiben kann in dieser Hinsicht hilfreich wirksam werden. Bibliotherapie gehört zur bereits etablierten Musik- und Maltherapie; wie diese Ansätze entspricht sie dem Menschen als Natur- und Geistwesen und erinnert die Medizin an ihren Doppelcharakter einer naturwissenschaftlichen und anthropologischen Disziplin, wie an ihre zweifache Aufgabe, nicht nur für die Krankheit, sondern ebenfalls für die Gesundheit zuständig zu sein.
Die Bibliotherapie ist abzugrenzen von der Poesietherapie. In beiden Therapieformen dient die Sprache als Projektionsfläche für den Patienten. In der Poesietherapie schreibt der Klient dabei selbst Briefe oder Geschichten, wohingegen in der Bibliotherapie bereits vorhandene Texte bzw. von anderen verfasste Literatur verwendet werden (s.a. Neumann, Meier & Baumann, 2011).
Nach Petzold und Orth (1985) werden vier grundlegende Annahmen der Biblio- und Poesietherapie unterschieden:
1.Der Mensch ist seinem Wesen nach schöpferisch.
2.Sein Leben vollzieht sich aus dem Dialog heraus.
3.Gestalteter sprachlicher Ausdruck ist eine Grundeigenschaft des menschlichen Wesens und Teil seiner Entwicklung.
4.Das emotionale Leben des Menschen ist zentral für seine Gesundheit.
„Wer zu lesen versteht, besitzt den Schlüssel zu großen Taten, zu unerträumten Möglichkeiten.“ (Aldous Huxley, 2013)
Die von uns aufgestellten Erzählstrukturen sind keine zweitrangigen Erzählungen über Daten, sondern in erster Linie Erzählungen, die festlegen, was als Daten gewertet werden muss. Neue Erzählungen erzeugen neues Vokabular, neue Syntax und neue Bedeutung für unsere ethnographischen Berichte; sie legen fest, was die Daten dieser Berichte aussagen (White, 1986).
Das Erzählen von Geschichten und Metaphern ermöglicht es, sich von der direkten, oft vielleicht schwierigen ernsten Situation ein wenig zu entfernen und wie aus der Distanz heraus eine Sichtweise für die eigene Situation und die Familiensituation zu gewinnen. Geschichten und Metaphern ermöglichen es den Klientenfamilien, eine neue Sichtweise einzunehmen oder einmal über ganz andere Lösungen nachzudenken.
Die Fallbeispiele:
Demonstrationen aus der Praxis
1.Natur hilft
Frau T. kommt aus der Ukraine. Sie berichtet von ihrer schweren Kindheit. Sie sei viel geschlagen worden. Sie arbeite in Bielefeld in einer Kantine, wo sie sich zwar wohlfühle, aber auch viel „untergebuttert“ werde. Sie könne sich nicht wehren, ziehe sich dann zurück und leide unter depressiven Symptomen. Ihr Mann, der sie früher auch schlecht behandelt habe, stehe jetzt voll hinter ihr, sie sagt, sie dürfe sogar „Mini“ tragen, obwohl ihre Beziehung keine leidenschaftliche sei. Da sei sie wie ihre Mutter, die sei auch sehr kalt gewesen. Was ihr helfe, sei, dass sie ein Stück Grabeland gepachtet habe, dort verbringe sie jede freie Minute. Ich schreibe für sie eine Geschichte, die ihr Mut machen soll.
Der graue Himmel über der grauen Industriestadt im Osten war allein schon eine Belastung für ein Menschenkind, das von Beginn seines Lebens an Farben liebte. Eines Tages ging das Kind, nennen wir es Ewa, die Straße entlang, um von der Schule nach Hause zu kommen. Ewa ließ sich viel Zeit, zu Hause fühlte sie sich oft nicht so willkommen, es gab irgendetwas mit Kartoffeln zu essen, und Vater und Mutter waren nicht immer freundlich mit ihr. Ewas Mutter war nicht so herzlich zu ihr, sie war manchmal sogar abweisend und ihr war wichtig, dass Ewa ihre Aufgaben in der Schule und auch zu Hause gehorsam erledigte. Ewa wollte gerne viel lernen, denn nur dann – das war ihr mit ihren elf Jahren schon klar –, nur dann würde sie eine Chance haben, sich irgendwann zu befreien. Ihren Vater nannte Ewa einen Despoten. Sie durfte keinen eigenen Willen haben, und auch zu ihrem drei Jahre älteren Bruder war die Beziehung nicht liebevoll, obwohl die beiden Kinder doch zusammen aufwuchsen. Ewa war viel alleine. Der graue Himmel ist auch in mir, dachte sie manchmal und fühlte sich sehr bedrückt. Als sie so die Straße nach Hause ging und den Kopf geneigt hielt, hörte sie auf einem Mal einen Vogel, der oben auf einem Gartenzaun saß und ein Frühlingslied zwitscherte. Weit entfernt antwortete ein anderer Vogel, vielleicht ein Männchen, denn der Vogel, den Ewa sehen konnte war auch grau. Sie setzte sich auf einen Bordstein und lauschte den beiden Vögeln. Sie wünschte sich die Sprache der Vögel zu verstehen, denn sie klang lustig und witzig, nicht wie die Sprache, die zu Hause gesprochen wurde und die ihr manchmal hart und abweisend erschien. In der Schule sprach man auch, aber dort wurde die Sprache beurteilt, ob man richtig sprach oder falsch, ob die Grammatik stimmte oder nicht. Ewa schloss ihre Augen. Ja, es gab schon Situationen, in denen sie ihre Sprache schön fand, in der Kathedrale, wenn gesungen wurde, auf Festen, wenn man lustig miteinander schwätzte, wenn sie mit ihrer Freundin klatschte und sie kicherten. Sie beobachtete die beiden Vögel, die jetzt zusammen auf einem Ast saßen. Sie schienen sich sehr zu mögen, denn ihre Schnäbel berührten sich, als ob sie sich küssen würden. Wann habe ich zum letzten Mal einen Kuss bekommen?, dachte sie. Vielleicht zu Ostern oder zu ihrem Namenstag, auf die Wange, flüchtig, wie ein Sonnenstrahl, der ganz kurz zwischen zwei dunklen Wolken hindurchblinzelte. Einmal hatte sie einen Film gesehen, in dem sich zwei Menschen küssten. Das sah komisch aus und sie hatte sich geschämt. Wie sich das wohl anfühlte, wenn man sich küsst? Ob man das darf? Was sagt Gott dazu? Bei den Vögeln hat er offensichtlich nichts dagegen. Oder doch? Denn nun fing es plötzlich an zu graupeln, Aprilwetter, nicht der Liebesmonat Mai. Ewa nahm ihre Schultasche und lief nach Hause. Ich habe Mama und Papa noch nie sich küssen gesehen. Ob sie es heimlich tun? Ewa lief zur Haustür und dann die Stufen hoch. Wie vertraut alles war und wie wenig liebevoll. Keine Pflanzen! Obwohl, so ganz stimmte das nicht, denn Ewa hatte einen kleinen Platz im Hof gefunden, wo sie mitten im grauen Beton einen Topf hingestellt hatte. Den hatte sie mit Erde gefüllt und ein paar Samen darauf gestreut. Die Samen hatte sie von Tante Maria bekommen, die eine Datscha besaß, draußen vor den Toren der grauen Stadt. Einmal werde ich sie besuchen, dachte Ewa, dann werde ich auf dem Rasen spielen, Kaninchen füttern und Blumen pflücken und daraus einen Kranz flechten. Einmal, wenn ich groß bin und viel gelernt habe, dann werde ich einen Park haben, mit Pferden und Tomaten, mit einem Meer von Blumen und vielen Gesprächen und Lachen und Musik. Ja, eines Tages! Und dann ging sie langsam die vielen Stufen nach oben bis zur Wohnungstür. Ihre Mutter stand in der Küche und bereitete das Mittagessen vor und Ewa ging zu ihr und gab ihr einen Kuss. Ihre Mama lächelte und Ewa freute sich.
Die Geschichte spiegelt der Patientin ihre Gefühlswelt wider, die durch einen Mangel an Vitalität, Freude und Liebe geprägt ist sowie durch eine große Sehnsucht danach. Sich des Lebens freuen und lieben wie die Vögel wird für sie ein Leitbild, was ihr die Akzeptanz und Wertschätzung eigener vitaler Impulse ermöglicht und ihr Mut gibt, diese mit anderen zu teilen und somit aus einem alten, rigiden, durch Gefühlsferne gekennzeichneten Familienverhaltensmuster auszubrechen. Die Verwendung suggestiver Formulierungen wie der „Lebenssamen“, der gesät wird und später zu großer natürlicher Fülle gedeihen wird, fördert die Hoffnung auf Veränderung, die aber auch Geduld erfordert.
2.Liebe geht durch den Magen
Herr Z. ist 62 Jahre alt. Er leide unter einem „Reizmagen“, komme aber vor allem auf Wunsch seiner behinderten Frau in die Therapie, weil er sich nicht genügend um sie kümmere. Er sagt, das stimme, aber er vergesse das Kümmern immer wieder. Dann gäbe es Streit, bei dem er manchmal laut werde. Es stellt sich heraus, dass er sich um seine Ursprungsfamilie auch nicht kümmert, ja nicht einmal die einfachsten Daten mehr erinnert und sich ganz von ihr zurückgezogen hat.
Ganz ohne Erinnerung zu sein, wünschen sich manchmal Menschen, die Schlimmes erlebt haben. Dann nehmen sie sich einen Radiergummi und fangen an, Personen, Ereignisse und Fakten aus ihrem Leben auszumerzen, bis eine blitzblanke Lebensfläche zurückbleibt. So ein Kunstwerk bedarf täglicher Pflege, damit sich nicht irgendwo kleine Erinnerungsfetzen festsetzen und man immer wieder darauf herumscheuern muss, aber um des inneren Friedens willen pflegt man oft den Vorgarten, indem man auf den Knien Unkraut vernichtet. Kraut von Unkraut zu unterscheiden, keine leichte Sache, aber das geübte Auge erwischt jedes zarte ungeliebte Pflänzchen.
Ich schreibe die obige Betrachtung für ihn und behaupte, seine Magenschmerzen hätten mit seiner Ignoranz zu tun – Liebe geht durch den Magen –, und gebe ihm den Auftrag, ein Genogramm seiner Familie zu erstellen, wogegen er sich zunächst wehrt, dann aber zustimmt.
In diesem Fall hat die Betrachtung, die für den Patienten geschrieben wurde, insbesondere durch die Verwendung einer ordentlichen Portion Ironie, ein stark provokatives Element, auf das er sich jedoch einlassen konnte. Ein solches Vorgehen erfordert eine große Behutsamkeit und gleicht einer Gratwanderung: Auf der einen Seite gilt es, die destruktiven Konsequenzen rigider Verdrängungsstrategien und überzogener Abgrenzungsbedürfnisse aufzuzeigen, auf der anderen Seite eben diese Verhaltensweisen zu würdigen, die es ermöglichen, sich vor schmerzhaften Erinnerungen zu schützen und eigene (Belastungs-)Grenzen gegenüber den Forderungen der Umwelt aufrechtzuerhalten. Im Laufe der Therapie hat der Patient durch den Prozess des Verstehens, der Konfrontation und Auseinandersetzung mit schmerzhaften Erfahrungen sowie deren Verarbeitung an Freiheitsgraden gewonnen, sich von allzu rigiden, unbewussten, dysfunktionalen Strategien zu lösen, aber auch ein für ihn gesundes Maß an Verdrängung und Abgrenzung aufrechtzuerhalten.
3.Die Suche nach der Wahrheit