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Für Megan, Kelly M. und Rebecca:
Die Frauen, die mir das Fenster geöffnet haben.
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Wibke Kuhn
Die Erlebnisse und Ereignisse, die ich beschreibe, sind alle geschehen. Ich habe sie wahrheitsgetreu wiedergegeben, so, wie ich mich an sie erinnere. An manchen Stellen habe ich Namen, Identität und andere besondere Kennzeichen der Personen, die eine Rolle in meinem Leben gespielt haben, zum Schutz ihrer Privatsphäre abgeändert. Die Unterhaltungen, die ich wiedergebe, stammen aus meiner klaren Erinnerung, obwohl sie natürlich nicht als wörtliche Transkriptionen aufzufassen sind. In allen Fällen habe ich sie auf eine Art wiedererzählt, die das Gefühl und die Bedeutung des Gesagten hervorrufen sollen, wobei ich mich immer an den wahren Kern der Gespräche gehalten habe.
ISBN 978-3-492-99352-4
© Kelly Sundberg 2018
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Goodbye, Sweet Girl«, HarperCollins, New York 2018
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: Shutterstock.com
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First thing we should do
If we ever meet again
Is make a cage of our bodies where we can place
Whatever still shines
In einer Stadt auf einem Hügel, in einem Staat voll abgesägter Berge, in dem sich matschige Straßen an verdreckten Flüssen entlangschlängelten, metallische Ablagerungen im Wasser glänzten wie stählerne Regenbogen und das gedämpfte Sonnenlicht durch schattige Bäume fiel, lebte einmal ein Archivar. Sein Job war das Erinnern.
Mein Job war das Vergessen.
Auf seinem Handy hatte mein Mann Caleb, der Archivar, eine Sammlung von Selbstporträts. Jedes sah gleich aus, nur seine Kleidung, seine Gesichtsbehaarung oder der Hintergrund wechselten. Auf einem Bild stand er im karierten Hemd vor unserem Bücherregal, seine unnachgiebigen Augen blickten fest in die Kamera, und sein langer, aber säuberlich gestutzter Bart verdeckte seine finstere Miene. Auf einem anderen Bild saß er auf dem Sofa vor dem Wohnzimmerfenster. Er trug ein blaues Kapuzenshirt, und sein Gesicht war glatt rasiert, aber der Blick war der gleiche. Unnachgiebig. Undurchdringlich.
Abends kuschelten wir uns auf dem Sofa aneinander, ich legte ihm den Kopf auf die Schulter, und wir zogen uns eine Decke über die Beine. Er scrollte Dutzende von diesen Fotos
durch. »Wozu machst du die alle?«, fragte ich ihn.
»Ich stelle mir vor, das wird mein Autorenfoto«, sagte er. »Da möchte ich ernst aussehen.«
Ich fand sein Verhalten seltsam, aber er hatte oft solche unerklärlichen Anwandlungen. Ich lachte, griff mir das Telefon und scrollte die Bilder alle durch. »Sehen eher aus wie Verbrecherfotos«, meinte ich und warf ihm das Handy wieder auf den Schoß.
Später erzählte er mir die Wahrheit. Er machte die Fotos als Dokumentation. Er machte sie, um sein Elend zu dokumentieren. Und seine Schande.
In Morgantown, der College-Stadt in West Virginia, in der wir lebten, gab es ein zwölfstöckiges Studentenwohnheim namens »Summit Hall«: ein steriler Kasten aus Metall und Fenstern. In diesem Kasten lebten achtzehn- bis zweiundzwanzigjährige Kids. In aufeinandergestapelten Zimmern nahmen sie Drogen, verloren ihre Jungfräulichkeit, lernten für ihre Prüfungen, weinten aus Heimweh nach ihren Müttern, schliefen an den langen Tagen und feierten die kurzen Nächte durch. Es war ein beherrschtes Chaos aus Hochstimmung, Experimentierfreudigkeit, Freude und Verlust.
Unter all diesen Zimmern, im ersten Stock, lag ein Apartment – ein schöner Käfig – mit polierten Parkettböden, Chromhängelampen und Ledermöbeln. Das Apartment war für eine Familie gedacht, die »auf dem Gelände wohnenden Fakultätsbetreuer«, oder, wie ich uns gerne nannte, »Studi-Mom und Dad«. In diesem Apartment wohnte ich seit vier Monaten mit Caleb, der seit acht Jahren mein Mann war, und unserem siebenjährigen Sohn, Reed. In diesem Apartment schliefen mein Mann und ich miteinander, ganz leise, damit uns die Mädchen im Stockwerk über uns nicht hörten. Hier brachte ich unseren kleinen Sohn ins Bett, deckte ihn gut zu und sagte: »Ich liebe dich, mein kleiner Räuber.« Er murmelte »Ich lieb dich auch« und schloss die Augen vor der dunklen Nacht.
Ich machte seine Zimmertür zu und ging ins Nebenzimmer zu Caleb. Dann lehnte ich mich an seinen Brustkorb und sagte: »Ich liebe dich auch.« Er schaute auf mich herunter, lächelte und küsste mich.
Unser Sohn war sehr stolz darauf, in einem Studentenwohnheim zu leben. Keiner von seinen Freunden durfte in ein Gebäude voller College-Studenten marschieren, die allesamt einen Narren an ihm gefressen hatten. Jeder, der unseren Sohn kennenlernte – ein goldiger, intelligenter und lustiger Junge mit Superhelden-Fixierung –, verliebte sich in ihn, und die College-Studenten waren keine Ausnahme. Auf seiner Geburtstagsfeier wurde er mit Geschenken überschüttet: Pokémon-Karten von den achtzehnjährigen Jungs, die selbst noch auf Pokémon standen, und Brettspiele von den Mädchen, die alle zu uns kommen und mit ihm spielen wollten.
Wenn er in der Schule ein Bild von seinem Zuhause malen sollte, malte er ein Bild vom Studentenwohnheim, obwohl wir den Großteil seiner Kindheit in einem kleinen Haus am anderen Ende der Stadt verbracht hatten. Er malte ein großes Rechteck, das er mit lauter quadratischen Fenstern ausfüllte. Vor dem Gebäude standen Reed, Caleb, unsere zwei Hunde und ich. Ganz unten auf das Blatt schrieb er: »Willkommen in Summit Hall!« Auf dem Bild lächeln wir alle, sogar die Hunde.
Am Tag von Reeds Geburtstagsparty heftete ich ein blaues Band an sein Kostüm, auf dem »GEBURTSTAGSKIND!« stand. Ich dekorierte die Wohnung mit Luftschlangen, Konfetti und einer zirkusartigen Popcorn-Maschine. Ich stellte rot-weiß-gestreifte Popcorn-Behälter daneben, die genauso aussahen wie die, die man im Kino bekommt, backte ein Dutzend Cupcakes, füllte Schalen mit allen möglichen Süßigkeiten und verteilte Hinweise im Studentenwohnheim für eine riesige Schnitzeljagd durchs ganze Gebäude.
Am Morgen kam ich irgendwie nicht richtig in Schwung, obwohl ich diese ganzen Erledigungen noch auf der Liste hatte. Irgendwie ahnte ich, dass es ein schlechter Tag werden würde. Ich zog mich langsam an und hätte am liebsten gar nicht die Sicherheit meines Schlafzimmers verlassen, aber ich konnte ja nicht dort bleiben. Am Vorabend hatten wir die Wohnung geputzt, nur das große Bad musste ich noch machen. Ich goss mir eine Tasse Kaffee ein, dann ging ich ins Bad und begann rasch die Ablagen abzuschrubben. Caleb stellte sich in die Tür. Schaute mich an. Ich schaute ihn nicht an. Schrubbte einfach weiter.
»Kannst du mir wohl die Toilettenbürste aus dem anderen Bad holen?«, fragte ich, ohne aufzublicken.
Er ging, kam mit der Toilettenbürste zurück, kniete sich neben die Toilette und fing an zu schrubben, wobei er die Bürste in wütenden Bewegungen vor und zurück bewegte.
»Du brauchst das nicht zu machen«, sagte ich. »Lass sie einfach da, ich mach das dann schon.«
Er nahm die Bürste und knallte sie an die Wand, das Wasser aus der Toilette spritzte über den ganzen Boden. Ich zuckte zusammen. Die Hunde, die uns normalerweise von Zimmer zu Zimmer folgten, schlichen hinaus und ins Kinderzimmer. Caleb wandte sich zu mir und schrie: »Ich wusste, dass du das machen würdest! Diese Wohnung ist doch sauber genug. Für dich ist es einfach nie genug!«
Ich legte den Schwamm aus der Hand und rannte hinaus. Ich wusste, was jetzt kam. Meine Therapeutin hatte mir geraten, »die Situation zu verlassen«, wenn er sich so verhielt. Ich nahm meine Schlüssel und mein Handy, aber er kam mir nachgerannt, riss mir das Telefon aus der Hand und schmetterte es an die Wand, sodass es zerbrach. Es war eines von vielen Handys, die er zerbrochen hat. Die Schlüssel hatte ich immer noch in der Hand. Ich schaute zur Tür. Er sah es. Wenn ich es zur Tür hinaus schaffte, konnte ich rennen. Das Wohnheim war über die Ferien geschlossen, aber drei von den Aushilfskräften, die auch im Haus wohnten, waren bis Mittag am Empfang. Vor ihnen würde er mich niemals schlagen.
Wieder schaute ich zur Tür und versuchte, um ihn herumzugehen. Caleb kam mir zuvor, vertrat mir den Weg und breitete die Arme aus. Dann tat ich es. Ich duckte mich unter seinem Arm durch, riss die Tür auf und rannte so schnell ich konnte, hinaus in die Sicherheit.
Allerdings folgte er mir. Er folgte mir, obwohl die Assistenten da waren. Sie standen am Empfang und lächelten, als sie mich sahen, aber dann erstarrten ihre Gesichter. Ich rannte vorbei, und Caleb jagte mich. »Komm zurück!«, schrie er. »Komm zurück, du blöde Schlampe!«
Ich rief den Aushilfen zu: »Ruft die Polizei!«, und dann dachte ich, »Oh Gott, hab ich das gerade wirklich gesagt? Hab ich das wirklich gesagt?«
Sie starrten mich an. »Im Ernst?«, fragte ein junger Mann und streckte zögernd die Hand nach dem Telefon aus. Er konnte nicht recht einschätzen, ob das Ganze ein schlechter Witz war, aber ich hatte keine Zeit mehr, ihm zu antworten, denn ich rannte bereits auf die Eingangshalle zu. Caleb verfolgte mich auf Strümpfen. Wir schafften es bis zur Straße, aber dort blieben wir stehen. Uns wurde beiden bewusst, dass wir jetzt ein Publikum hatten.
Ich sah, dass Caleb mir nun nichts mehr tun würde. Er ließ die Schultern hängen und schaute sich um.
»Jetzt ist es aus und vorbei«, sagte er.
Ich geriet in Panik. »Ich bring das wieder in Ordnung«, sagte ich. »Ich bring das wieder in Ordnung.«
Wir gingen zurück ins Haus, diesmal in den Keller, durch eine andere Tür. Ich weinte: »Ich bring das in Ordnung« und lief die Treppe hoch.
Ich ging zitternd zu den Aushilfen hoch, um mit ihnen zu reden, und begann zu schluchzen.
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Er nimmt Medikamente gegen seine Stimmungsschwankungen, und er verträgt sie nicht so gut. Nebenwirkungen.« Das stimmte sogar. »Bitte sagt es niemandem. Ich weiß, ich hab nicht das Recht, euch um so etwas zu bitten, aber bitte erzählt es niemandem.«
Eine von den jungen Frauen nahm mich zärtlich in den Arm. »Natürlich nicht«, sagte sie.
Der junge Mann schaute zu unserem Apartment. »Ist Reed da drin?«, fragte er.
»Ja«, sagte ich.
»Soll ich hochgehen und mich zu ihm setzen?«, fragte er.
»Ja, bitte«, sagte ich.
Ich schloss ihm die Wohnung auf und ging dann wieder hinunter, um Caleb zu suchen. Er stand bei den Getränkeautomaten. Er sah so winzig aus, so verletzlich. Ich konnte nicht glauben, was ich ihm angetan hatte. Ich hatte sein Leben ruiniert. Jetzt würde er garantiert seinen Job verlieren.
»Ich hab es in Ordnung gebracht«, sagte ich. Dann nahm ich ihn in den Arm. Er begann zu weinen und legte mir den Kopf auf die Schulter. Der Stoff meines T-Shirts war innerhalb von Sekunden durchnässt. Er hatte sich mir gegenüber noch nie so verletzlich gezeigt. Ich hielt ihn fest im Arm.
»Es ist okay«, sagte ich. »Ich hab es wieder in Ordnung gebracht. Komm, wir gehen wieder hoch.«
Ich brachte ihn nach oben, dann ging ich zu Reed ins Zimmer. Der Assistent saß bei ihm auf dem Bett, sie spielten Lego. Reed schien nichts gemerkt zu haben.
»Alles gut«, sagte ich. »Danke.«
Der Assistent stand neben mir – noch kein Mann, aber auch kein Junge mehr. Er schaute zu Caleb hinüber, der im Nebenzimmer stand.
»Brauchen Sie irgendwas?«, fragte er.
Ja, hätte ich am liebsten gesagt. Bitte mach, dass er aufhört. Bitte sag ihm, dass er aufhören soll, mir wehzutun. Bitte beschütz mich. Ich hab solche Angst. Ich hab so schreckliche Angst.
Aber das sagte ich nicht.
»Mir geht’s gut«, sagte ich.
Im Hinausgehen warf er Caleb noch einen Blick zu, doch der schaute ihn nicht an.
Als der Assistent weg war, brach ich weinend zusammen. Ich spürte, dass Caleb immer noch stinksauer war. Wir erwarteten Gäste, und ich wusste, dass ich mich fertig machen musste, ein paar Eiswürfel auf meine roten, geschwollenen Augen legen und meine Augenringe mit Concealer abdecken. Mein feuchtes T-Shirt wechseln, Lächeln üben. Mein sieben Jahre altes Geburtstagskind war schon ganz aufgeregt.
Reed spielte ruhig auf seinem Bett. Das tat er immer bei diesen Wutausbrüchen. Er blieb so lange in seinem Zimmer, wie es nötig war. Ich ging auf den Flur, und Reed folgte mir. Er stellte sich vor mich, und ich schaute zu ihm herab. Zögernd streckte er die Arme aus, legte mir die Hände auf den Bauch und schaute mir auf eine so forschende Art in die Augen, wie er es noch nie zuvor getan hatte. Er wurde groß, und sein Blick verriet mir, dass er Bescheid wusste. Er wusste, was hier vor sich ging.
»Mom?« Er hielt mich immer noch sanft fest und nahm die Augen nicht von mir.
»Alles gut, mein Schätzchen«, sagte ich und beugte mich zu ihm herab, um ihm das dicke Haar auf der Stirn glatt zu streichen. »Mir geht’s gut.«
»Ich mag es nicht, wenn die Hunde zu mir ins Bett kommen, weil sie so dolle Angst haben«, sagte er.
Er hatte eine so starke Ähnlichkeit mit mir als Kind: dasselbe rotblonde Haar und die großen blauen Augen. Ich erinnerte mich an mich selbst als kleines Mädchen in Idaho, ein sensibles kleines Mädchen, das die Traurigkeit der Erwachsenen in seiner Umgebung wahrnahm, sich aber nie vorgestellt hätte, dass seine eigene Zukunft so herzzerreißend aussehen würde. In diesem Moment wusste ich es.
Ich wusste, dass wir gehen mussten.
Als ich klein war, hatte mein Bruder Glen nächtliche Albträume und schlafwandelte, außerdem litt er an chronischer Migräne. Meine Mutter konzentrierte sich nächtelang nur auf sein Mondgesicht. Um die Augen hatte sie Fältchen vor lauter Sorge, sie tupfte ihm den Kopf mit kalten Tüchern ab, führte ihn zurück ins Bett, hielt ihm die zitternden Schultern.
Ich hatte auch Albträume, aber sie verliefen still. Ich wachte mitten in der Nacht auf, und die Geister, meine Angst vor allem, was ich nicht unter Kontrolle hatte, legten sich bleischwer auf meine Brust. Ich atmete schwer und zitterte, aber ich konnte nicht schreien. Ich konnte sie direkt über mir spüren. Ich konnte sie in den Ecken schweben sehen. Sie gingen niemals weg, nicht mal, wenn ich aufwachte.
Einmal schoss Glen schreiend den Flur hinunter, und ich schaute von meiner Tür aus zu, wie meine Mutter seine Hand nahm und ihn zurück in sein Zimmer führte. Sie konnte ihn nicht aufwecken, wenn er in diesem Zustand war. Er schaute mich an – seine Augen waren weit aufgerissen, das Weiß war rot geädert –, aber er war wie im Tiefschlaf und konnte mich nicht sehen. Ich war unsichtbar für beide.
Eines kalten Wintermorgens wachte ich früh auf und schaute aus dem Fenster über meinem Bett hinaus in die Dunkelheit. Das Eis auf dem Fenster bekam Risse und splitterte, als ich meine Hände auf die gefrorene Schicht legte. Meine Fingerspitzen hinterließen dampfende Abdrücke in winzigen Punkten. Ich beugte mich vor und machte einen schattenhaften Geist auf meine Fensterscheibe, indem ich die Wangen gegen das Glas drückte und die Luft durch meine Lippen blies. Der Geist starrte mich an, als ich mir die Decke fest um die Schultern zog. Ich wollte nicht aufstehen, bevor das Haus warm war, also kuschelte ich mich unter die Bettdecke und wartete, bis mein Vater in unserem Holzofen eingeschürt hatte.
Jeden Morgen lauschte ich nach dem Geräusch des Radios und des prasselnden Feuers. Die Schule blieb nur geschlossen, wenn die Temperatur unter minus 20 Grad fiel, und das passierte manchmal mehrere Tage hintereinander. Wenn der DJ »Leo der Löwe«, ein Mormone mittleren Alters mit einer dröhnenden Stimme, wieder mal kältefrei verkündete, lächelte ich in mich hinein, bevor ich aus dem Bett hüpfte, um draußen zu spielen. Das Wetter konnte mich nie zurückhalten. Ich hatte vor nichts Angst, nur vor Geistern.
Mein Nachbar Danny mochte die Kälte nicht, und heute war ein kalter Tag. Seine Tante, bei der er wohnte, arbeitete in der Schulkantine, und seine Familie hatte keinen Holzofen. Sie konnten ihr Haus nie so richtig heizen. Meine Familie war nicht reich, so gerade eben Mittelschicht, aber meine Mutter war geprüfte Krankenschwester, und mein Vater arbeitete für den US Forest Service, also hatten wir im Vergleich zu Dannys Familie doch ziemlich viel.
Eine Weile konnte Danny nicht mehr rüberkommen, weil er versucht hatte, meinen »Intimbereich« zu berühren, wie meine Eltern es nannten. Ein paar Monate zuvor waren Danny und ich auf der Seite des Gartens gewesen, wo meine Eltern ihren Gemüsegarten hatten. Wir versteckten uns hinter einer Reihe Tomatenpflanzen, als er mich bat, ihm meinen »Intimbereich« zu zeigen. Ich wollte nicht, aber er sagte, dass Erwachsene das die ganze Zeit machten. Die älteren Nachbarsjungen kicherten in Dannys Garten und deuteten zu uns hinüber. Ich hatte das Gefühl, dass ich reingelegt wurde, aber ich war zu jung, um das Ganze zu durchschauen, und da ich sonst auch vor keiner Herausforderung kniff, hob ich langsam meinen Rock hoch, und er ließ seine Hose herunter.
In seinem eigenen »Intimbereich« hing etwas – rosa und weich. Ich konnte den Blick nicht abwenden. Da schob er die Hüften vor und meinte, wir sollten sie aneinander reiben. Ich trat rasch einen Schritt zurück, denn das wollte ich nun wirklich nicht machen. Genau in dem Moment kam meine Mutter um die Ecke geschossen und gestikulierte aufgeregt, als wären ihre Hände Schmetterlinge. Sie riss meinen Rocksaum wieder herunter und sagte zu Danny: »Geh nach Hause und komm nie wieder hierher!« Dann zerrte sie mich schleunigst ins Haus und hielt mir eine Predigt, dass ich den Jungen niemals meinen Intimbereich zeigen dürfte – unter gar keinen Umständen. Ich nickte nur und schaute ins Leere.
Es war nicht das erste Mal, dass ich Ärger bekam. Ich war ein schwieriges Kind. Mein Bruder, der sechs Jahre älter war, war der Goldige, der Aufrichtige. Ich habe meine Mutter Glen nie so anschreien hören, wie sie mich anschrie. In mir loderte so eine Wut, ich wollte ständig Dinge, die ich nicht haben konnte – später ins Bett gehen, mehr Freunde haben, eine andere Familie. Einmal jagte ich meinen Bruder mit einem hoch erhobenen Schlittschuh. Er schloss sich ins Badezimmer ein, und ich rammte die Kufe in die Holztür und zog sie nach unten, was einen tiefen Kratzer im Holz hinterließ. Später schämte ich mich dafür, aber das verheimlichte ich. Ich wollte nicht, dass jemand meinte, es täte mir leid.
»Das ist eben das Temperament der Rothaarigen«, sagten alle über mich. Das hörte meine Mutter gar nicht gern, denn sie hatte auch rote Haare. »Die Leute machen die Rothaarigen so«, sagte sie, »weil sie sie von vornherein so behandeln.« Vielleicht hatte sie recht, denn sie war genau wie ich. Sie kniff nie vor einer Auseinandersetzung.
An dem Tag, bevor er meinen Intimbereich sehen wollte, jagte Danny mich mit einem Messer ums Haus. Er hatte meine Puppe in den Matsch geworfen, also hatte ich ihn geschubst. Mädchen hin oder her, ich war bereit zum Kampf, aber er zog ein Messer aus der Tasche und erklärte, damit würde er mich schneiden. Ich sah in seinem Blick, dass er es ernst meinte. Ich rannte, so schnell ich konnte, und umrundete dreimal das Haus, während ich nach Glen schrie. Mein Bruder saß mit seinen Freunden auf der Veranda, und sie ignorierten mich, wie immer. Ich war ziemlich schnell, normalerweise schneller als die Jungen, aber ich wurde langsam müde, und Danny holte auf. Ich wusste, dass er mit dem Messer nach mir stechen würde. Dass er keinen Spaß machte. In seinen Augen lag Grausamkeit, und die war nicht wie die Wut, die in meiner Brust brannte, aber normalerweise damit endete, dass ich heulend ins Kinderzimmer geschickt wurde. Dannys Raserei war größer.
Schließlich schritt Glen doch ein, packte Danny beim T-Shirt und befahl ihm, mich in Ruhe zu lassen. Dann stieß mein Bruder mich kräftig gegen die Schulter und nannte mich eine Memme. »Der hätte dir doch sowieso nichts getan«, sagte er.
Ich stand da mit schmerzender Schulter, während der kleine Knoten in meinem Magen sich brennend seinen Weg bis in meine Kehle bahnte. Das Brennen war irgendwas zwischen Wut und Traurigkeit. Glen verstand das nicht. Er würde immer größer sein als ich. Er würde immer stärker sein. Ich mochte das zäheste kleine Mädchen der Welt sein, aber ich war trotzdem bloß ein Mädchen.
Ich wusste, dass meine Mutter mir nicht glauben würde, deswegen erzählte ich ihr nicht, dass Danny versucht hatte, mich mit einem Messer zu stechen und dass Glen eine ganze Weile zugeschaut hatte, bevor er eingriff und mir half. Ich hatte Angst vor Danny und seinem Messer, aber nicht genug, um das Risiko einzugehen, der Lüge bezichtigt zu werden. Im Davonlaufen war ich damals schon ganz gut, aber um Hilfe zu bitten, fiel mir schwer.
Trotzdem wusste ich, dass ich nett sein musste zu Danny, weil sein Vater im Sterben lag. Seine Mutter hatte die Familie verlassen. Danny lebte mit seinem Vater im Haus nebenan, aber als sein Vater zu krank wurde, zog Danny zu seiner Tante, die in der gleichen Straße wohnte. Dort lebte er dann mit seinem Bruder Wade, seiner Schwester Bambi, seiner Tante und seinem Großvater, der Alzheimer hatte. Sein Bruder und er taten praktisch nichts anderes, als bei uns im Hof Basketball zu spielen und das Elchfleisch-Jerky meines Vaters aufzuessen.
Einmal im Winter kamen wir von der Kirche nach Hause und entdeckten, dass Danny eine Pizza aus unserer Gefriertruhe in der Garage gestohlen hatte und sie über einem Feuer im Hof aufzubacken versuchte. Doch sein Feuer wollte nicht so richtig brennen, und alles, was er zustande brachte, war eine Pfütze aus geschmolzenem Schnee. Die Pizza war halb gefroren, halb durchgeweicht, und ich dachte mir, dass das so ziemlich das Dämlichste war, was ich jemals gesehen hatte. Außerdem dachte ich, meine Eltern würden stocksauer werden, aber sie wurden nicht böse. Sie nahmen Danny mit ins Haus und machten ihm ein Schinkenbrot. Meine Eltern machten sich Sorgen um ihn, was ich nie so richtig verstand. Sie sahen in ihm nur das verletzliche Kind. Das Kind mit dem Messer sahen sie nicht.
Meine Mutter rief Dannys Tante an, die seinen Bruder Wade rüberschickte, damit er ihn abholte. Wade war groß und hatte strähniges rotes Haar, jede Menge Sommersprossen und starke Arme, und er jagte mir Angst ein. Sein Hund Mimi folgte ihm überallhin, wie ein kleiner weißer Mopp, der ihm ständig um die Füße wuselte. Durch Mimi wirkte Wade weniger furchteinflößend, weil er sie so lieb hatte.
An jenem Tag zog ich meinen hellblauen Schneeanzug an und bettelte meine Mutter an, mich zum Schlittenfahren gehen zu lassen. Sie sagte Ja, aber bis zum Mittagessen sollte ich zurück sein. Draußen war es so kalt, dass meine Nase innen kratzte und kitzelte. Glen schlief noch. Der konnte den ganzen Tag verschlafen.
Ich holte meinen Schlitten aus der Garage und zog ihn vors Haus. Der Schnee sah so glatt und weich und weiß aus, ich konnte einfach nicht widerstehen. Ich streckte Arme und Beine aus, schaute in den klaren blauen Himmel und drehte die Handflächen nach oben. Dann ließ ich mich rückwärts plumpsen, erst langsam, dann schneller. Als ich landete, war der Schnee erstaunlich hart. Es war zu kalt, er war zu gefrorenen Eisscherben kristallisiert. Trotzdem warf ich meine Arme und Beine hin und her und malte damit einen Schneeengel ins Eis.
Ich wollte ein Engel sein, aber ich hielt mich nicht für eine Heilige. In der Sonntagsschule hatte ich von Besessenheit gehört. Besessenheit kam dadurch zustande, dass man seinen Körper nicht ganz dem Heiligen Geist überließ. Es gab eine Bibelstelle, die lautete: »Wenn der unreine Geist von einem Menschen ausgefahren ist, so durchstreift er dürre Stätten, sucht Ruhe und findet sie nicht. Dann spricht er: Ich will wieder zurückkehren in mein Haus, aus dem ich fortgegangen bin.«[1]
Mein Körper war kein sicheres Haus. Ich hatte immerzu so hässliche Gedanken. Ich war eifersüchtig auf meinen Bruder, und ich wusste, dass Eifersucht eine Sünde ist. Manchmal stellte ich mir vor, man hätte mich versehentlich zur Adoption freigegeben, und meine Ursprungsfamilie würde mich fieberhaft suchen. Und wenn sie mich dann fanden, wären sie so dankbar und voller Liebe, dass ich für sie der besonderste Mensch der Welt sein würde, und sie würden nie etwas von meiner Boshaftigkeit und meinen Lügen erfahren – wie ich meine Mutter anschrie oder meinem Bruder die Schuld für irgendwelche Dinge in die Schuhe schob. Ich wusste, dass es Sünde war, Mutter und Vater nicht zu ehren, und das hielt ich tatsächlich für meine schlimmste Sünde.
Nachts machte ich mir Sorgen, ich könnte dem Teufel eine Tür zu meinem Körper offen gelassen haben. Bevor ich einschlief, betete ich zu Gott, er möge mich beschützen, vor den Geistern, vor meinen Albträumen, vor der Besessenheit. Wenn ich mit dem vertrauten Bleigewicht auf der Brust aufwachte, betete ich wieder: Gott, beschütze mich. Mach, dass das weggeht.
Es stimmt, ich war kein Engel. Als ich da lag und in den kalten Himmel blickte, sah ich eine schlanke Wolke, die sich in Streifen darüber hinzog. Diese Wolke war nicht puffig genug, als dass sie das Himmelreich hätte sein können, dachte ich. Durch so eine Wolke würde Gott ja glatt hindurchplumpsen.
Ein Schatten erschien in meinem Blickfeld. Danny. Er streckte die Hand aus und half mir hoch, aber als ich mich nach meinem Schlitten bückte, fing er an, mit seinen Turnschuhen wie wild auf meinen Engel einzustampfen, bis er nur noch ein Durcheinander aus Schuhabdrücken war. »Hey!«, schrie ich und wollte ihn schon in den Schnee schubsen, doch ich hielt inne, als ich sein tränenüberströmtes Gesicht sah.
»Du musst mir helfen«, sagte er und schnappte nach Luft. »Ich hab Mimi rausgelassen, und sie ist nicht zurückgekommen. Jetzt ist Wade richtig sauer auf mich. Ich hab überall gesucht, aber ich kann sie nicht finden, und Wade hat gesagt, er macht mich fertig. Du musst mir helfen, sie zu finden.«
Ich schaute auf und wischte mir mit dem Ärmel über die Nase, die langsam anfing zu laufen. »Ich wollte eigentlich Schlittenfahren gehen.«
Seine Augen füllten sich wieder mit Tränen.
»Na gut«, sagte ich.
Ich klopfte mir den Schnee von den Beinen. Danny zog an meinem Arm, und wir liefen die Straße entlang.
»Lass uns bei meinem Vater nachschauen«, sagte er. »Vielleicht ist Mimi da hingelaufen.«
Wir kamen an den Garten seines Vaters und bahnten uns einen Weg durch die zugeschneiten Flockenblumen. Als Danny den Türknauf drehte, zögerte ich. Ich hatte noch nie einen sterbenden Menschen gesehen.
Danny machte die Tür auf, und das Licht von draußen fiel in ein staubiges Wohnzimmer.
»Hier musst du ganz leise sein«, sagte er.
Wir traten ein. Der Boden war mit Linoleum ausgelegt, auch im Wohnzimmer, in dem außer einem grünen Kunstledersofa keine Möbel standen. An den Fenstern gab es keine Vorhänge, aber es war trotzdem dunkel im Zimmer, weil die Fenster so schmutzig waren. Vom Flur kam ein tiefes, seltsames Geräusch – ein mechanisches Atmen, ein pulsierendes Ein und Aus – und Danny schlich auf dieses Geräusch zu. Ich folgte ihm mit angehaltenem Atem, und er stieß eine Tür auf.
Im Zimmer stand ein Stuhl, der aussah wie ein Friseursessel, und darin lag Dannys Vater ausgestreckt. Neben seinem Kopf schwebte ein blasenähnliches Plastikding. Die Blase war an eine Maschine angeschlossen, die die Atemgeräusche erzeugte, und die Blase pulsierte in ihrem Rhythmus mit. Das Plastik dehnte sich und wogte, als würde es gleich platzen, dann zog es sich mit einem saugenden Geräusch wieder zusammen.
Dannys Vater lag so, dass er zum Fenster schaute, aber er konnte uns nicht sehen. Wir schoben uns langsam an ihn heran, und ich stieß auf einen Schlag den Atem aus.
Er rauchte eine Zigarette, aber durch ein Tracheostoma. Als er mich schnaufen hörte, schaute er zu uns und zog die Zigarette aus seinem Hals. Er ignorierte mich und drückte den Finger auf das Loch. Seine Stimme klang, als hätte er Helium aus einem Ballon eingeatmet.
»Was machst du hier?«, fragte er Danny.
»Mimi ist weggelaufen, wir können sie nirgends finden. Da dachte ich, dass sie vielleicht hier ist«, erklärte Danny. Er trippelte wieder von einem Fuß auf den anderen, als müsste er dringend auf die Toilette. Ich trat ein paar Schritte zurück und tat, als wäre ich unsichtbar.
Dannys Vater sah nicht wütend aus, nur müde. »Sie ist nicht hier«, sagte er. »Ich hab sie nicht gesehen. Ist sie denn nicht bei Wade, drüben bei eurer Tante?«
Danny schaute verschämt auf seine Füße. »Ich hab sie rausgelassen«, sagte er, »und hab vergessen, sie wieder reinzulassen. Wade sucht sie gerade im Wald.«
Das Gesicht seines Vaters wurde noch blasser, und er legte schnell wieder seinen Finger auf das Loch auf seinem Hals. »Du weißt doch, wie sehr Wade diesen Hund liebt«, sagte er.
Danny wurde erst weiß, dann rosa, dann wieder weiß. Er trippelte auf der Stelle, nahm die Hände aus den Hosentaschen, schob sie aber schnell wieder rein, sodass man das Kunstfaserfutter seines dünnen Anoraks rascheln hörte. Er schaute seinen Vater an.
Der wandte das Gesicht ab. »Geh nach Hause und hilf deiner Tante mit Großvater«, sagte er. »Wade wird Mimi schon finden.«
»Okay«, sagte Danny und wandte sich zum Gehen. Er umarmte seinen Vater nicht und sagte auch nicht »Ich hab dich lieb.« Ich wusste, dass Danny ihn nicht oft sah, und wenig später starb sein Vater auch.
Im Frühjahr fand mein Vater Mimi. Sie war im Schnee auf einem Feld gleich hinter unserem Haus erfroren und unter dem Schnee begraben gewesen, bis es taute. Mein Vater nahm ihren kleinen weißen Körper und trug sie ins Haus. Als Wade kam, legte mein Vater ihm Mimi in den Arm wie ein Baby. In dem Moment sah Wade gar nicht mehr so hartgesotten aus.
Danny stand hinter ihm und weinte. Er war immer noch der Junge mit dem Messer, aber er war auch ein Junge, der litt, und ich merkte, wie mein Herz weich wurde bei seinem Anblick. Ich wollte ihm seine Wut und seine Trauer nehmen und Liebe an ihre Stelle setzen. Ich wollte ihm die Umarmungen schenken, die er nie bekommen hatte. Ich wollte wie meine Eltern sein, die nur seine Unschuld sahen. Und vielleicht wollte ich vor allem seine Vergebung dafür, dass ich ihn nicht retten konnte.
An dem Abend, als ich Caleb kennenlernte, war ich sechsundzwanzig und kein kleines Mädchen mehr – aber die Erinnerung an Danny saß mir immer noch in den Knochen: die Scham, als er sich vor mir entblößte, das grauenvolle Wissen, dass er mir mit dieser Messerklinge so gefährlich nah gekommen war. Trotzdem wollte ich seine Gewalttätigkeit vergessen und ihn durch meine Furcht hindurch lieben. Ich wollte, dass mein Mitleid ausreichte, um ihm weiteren Schmerz zu ersparen. Ich war eine Frau voller Wünsche, die jemanden auf eine Art lieben wollte, die uns beide heilen würde.
An diesem Abend saß ich allein an einem Tisch im Neurolux in Boise, wo ich aufs College ging. Ich versank in diesem glänzenden roten Plastik, in dem man sich leicht verlieren konnte. Meine Freundin Kelly M. tanzte mit einem Mann. Eine Neonkrone blinkte auf der Bühne über ihnen, ich sah das gelbe Glühen verschwommen durch den Nebel. Die Dunkelheit, die schwitzenden Körper, das glatte Kunstleder unter meinen Schenkeln – ich wollte, dass etwas geschah.
Gierig starrte ich den Mann an. Er war nicht hübsch, aber er hatte etwas. Er trug ein Baseball-Cap und ein Holzfällerhemd, ganz anders als die anderen Männer in dieser hippen Bar. Er sah eher aus wie die Männer aus meiner Heimatstadt, Männer, die Bäume fällen und festmeterweise Feuerholz hacken konnten, und danach hingen die Sägespäne in dicken Schichten in der Luft, zusammen mit dem süßen Geruch von frischem Holz.
Kelly M. tanzte ihn hüftschwingend an. Sie war schon immer viel selbstbewusster gewesen als ich. Sie streckte die Hände aus und hakte die Finger in seine Gürtelschlaufen. Dann zog sie ihm auf einmal schwungvoll die Hose herunter und tanzte davon. Er ließ sich gar nicht beeindrucken und tanzte alleine weiter in seinen Boxershorts, die Hose um die Knöchel.
Ich musste lachen, und Kelly M. kam zu mir herübergetanzt und glitt neben mich auf die Bank.
»Wer ist das?«, fragte ich.
»Das ist Caleb«, sagte sie. »Der könnte dir gefallen. Er schreibt Romane und wohnt in einer kleinen Hütte im Wald, die er selbst gebaut hat. Genau dein Typ.«
Sie winkte Caleb herüber und stellte ihn mir vor.
Wir blieben, bis die Bar zumachte, und dann begleitete er mich nach Hause. Ich bat ihn noch mit zu mir herein. Auf dem Sofa saß ich ganz nah bei ihm. Er nahm den Hut ab. Er war erst vierundzwanzig, aber schon ganz kahl. Verlegen fuhr er sich mit der Hand über die glatte Kopfhaut. Es war ihm sichtlich peinlich. Ich streckte die Hand aus und ließ sie sanft über seinen Kopf gleiten und lächelte ihn an, um ihm zu zeigen, dass mir das nichts ausmachte. Er beugte sich vor und küsste mich schnell, als könnte ich es mir sonst noch einmal anders überlegen.
Ich überlegte es mir nicht anders.
Später, als Caleb und ich in seiner Hütte in Idaho City schliefen, einer ehemaligen Goldsuchersiedlung in der Nähe von Boise, hatten wir so wenig Platz zum Schlafen, dass wir nur hintereinander in Löffelchenposition liegen konnten. Sein Bett war eine schmale Holzpritsche über dem Holzofen, und von der Hitze des Ofens wurden unsere Körper so heiß, dass wir uns nicht mehr berühren konnten. Wir wünschten uns jedoch nichts mehr, als uns zu berühren, also schliefen wir stattdessen auf dem Sofa. Er strich meine dicken Haare glatt, bevor er seinen Kopf auf meine Wange legte. Dann schlang er mir die Arme um die Schultern. So tief und fest hatte ich noch nie geschlafen.
»Du passt perfekt«, sagte er. »Es ist, als wäre dein Körper für mich gemacht.«
Wir gingen erst seit zwei Monaten miteinander aus, und unsere Beziehung war noch im Bereich des Ungewissen. Manchmal verschwand Caleb tagelang, ohne mich anzurufen. Ich wusste, dass er keinen Telefonanschluss in seiner Hütte hatte, aber ich wusste auch, dass er dreimal die Woche nach Boise kam, wo er Creative Writing studierte.
Wenn er in Boise war, sah ich sein Auto auf der Straße parken, immer unter demselben Baum. Aber ich sagte ihm nicht, dass ich wusste, dass er in der Stadt war. Ich wollte nicht zu übereifrig rüberkommen. Manchmal rief er mich spätnachts an, wenn er von einer Kneipentour mit seinen Freunden nach Hause kam. Dann wollte er, dass ich zu ihm kam, oder er wollte zu mir kommen. Manchmal fuhr ich zu ihm. Manchmal lud ich ihn zu mir ein. Manchmal ließ ich das Telefon auch einfach klingeln.
Aber wenn wir dann zusammen waren, war er einfach so lieb. Er hielt mich fest im Arm. Er machte mir die Autotür auf. Er nannte mich Schatz. Und sein schleppender West-Virginia-Akzent gab ihm so etwas Gentlemanhaftes. Wenn seine Mutter anrief, sagte er vorm Auflegen immer, dass er sie lieb hatte. So etwas kannte ich überhaupt nicht aus meiner Familie. Liebe war etwas, das wir ganz tief in unserem Innersten komprimierten. Jetzt wollte ich Caleb in diese Dunkelheit in meinem Inneren lassen.
Ich lag in seiner gemütlichen Hütte auf dem Sofa. Vor dem Fenster hingen Eiszapfen, die im Mondlicht fast fluoreszierend aussahen. Caleb spielte Gitarre und sang dazu »Pale Blue Eyes« von Velvet Underground für mich. Meine Augen waren hellblau, seine auch. Mir fielen die Augen zu, und ich glitt in diese blaue Wärme. Ich schlief immer noch nicht besonders gut, weil ich weiterhin die nächtlichen Angstträume meiner Kindheit hatte – ich wachte oft auf und wurde von realen oder eingebildeten Geistern gequält, die über der Grenzlinie zwischen meinem Schlaf und dem Wachzustand schwebten. Doch in Calebs Hütte schlief ich tief und fest.
In der Nacht wachte ich auf, weil ich pinkeln musste, aber Caleb hatte keine Toilette im Haus, also schob ich seine Hand von meiner Schulter, schlüpfte in meine Stiefel und ging hinaus. Da ich keine Lust hatte, den Hügel zum Toilettenhäuschen hochzugehen, hockte ich mich einfach in den Schnee. Der Mond verwandelte den Schnee rundherum in ein Glitzermeer, während im Haus mein zärtlicher Liebhaber schlummerte. Ich spürte einen Stich in der Brust vor lauter Glück. Diese Wärme. Ich hob mein Gesicht zum Mond und schloss die Augen. Das blaue Mondlicht drang sogar durch meine Augenlider. Diesen Moment darf ich niemals vergessen, dachte ich. Wenn es dunkel wird, werde ich hierher zurückkehren. Ich werde in dieses Licht zurückkehren.
Ich ging wieder in die Hütte und kuschelte mich in die Lücke, die Calebs Körper für mich freiließ. Ich weiß nicht mehr, wovon ich in jener Nacht geträumt habe. Nicht von Danny. Nicht von meinen Eltern. Nichts Trauriges. Vielleicht träumte ich überhaupt nichts.
Kurz bevor ich Caleb kennenlernte, ließ ich mir von einer schönen Brünetten namens Shannon die Tarotkarten legen. Shannon gab auch Reiki-Massagen, und als ich mit fünfundzwanzig über eine schmerzhafte Trennung hinwegkommen wollte, hatte sie mir eine solche Massage gegeben. Damals hatte ich aufgehört, an den Gott meiner Kindheit zu glauben, aber ich suchte immer noch nach Antworten außerhalb meiner selbst. In vielerlei Hinsicht war ich eine Skeptikerin, aber Reiki und Tarot sprachen das kleine Mädchen in mir an, das immer noch an Gott, Geister, Engel und den Teufel glaubte. Bei der Massage hielt Shannon ihre Hände über meinen Bauch, und ihre Finger zitterten. Sie ließ mich eine Visualisierungsübung machen und bat mich, mir vorzustellen, dass ich in einem Turm saß, und an alles zu denken, was mir Schmerzen machte. Sie bat mich, die schmerzlichen Erinnerungen als Steine zu visualisieren, die ich aus dem Turm warf, sodass sie auf dem Boden landen und von der Erde geschluckt würden, wo später Blumen aufblühen würden. In meiner Vorstellung warf ich eine Menge Steine da runter. Da war viel Schmerz – aber auch Platz für viele Blumen.
Shannon sagte, ich solle mir vorstellen, wie ich mich umdrehte und ins Zentrum des Turms schaute, wo ein kleines Mädchen saß. Sie sagte: »Dieses kleine Mädchen bist du als Kind. Geh zu ihr. Nimm sie in den Arm. Behandle diese Kinderversion deiner selbst mit der Freundlichkeit, die du jedem Kind entgegenbringen würdest. Nimm sie in den Arm, wie eine liebende Mutter sie in den Arm nehmen würde, und dann stell dir vor, wie die Mauern des Turms einstürzen.«
Es schien zu funktionieren. Als ich mir vorstellte, wie ich mein kindliches Ich umarmte, dachte ich an meine Mutter. Meine Schultern zuckten vor Schmerz. Meine Mutter war eine Waise gewesen, ihr Vater starb, als sie sieben war, ihre Mutter, als sie elf war. Einen Teil von sich hat meine Mutter mir immer vorenthalten. Als wäre das Kind einer Waise selbst eine Waise.
Ein Jahr nach meiner Reiki-Massage legte mir Shannon also die Tarotkarten. Ich war damals immer noch Single, war aber mit mehreren Männern zusammen gewesen, mit denen es nicht geklappt hatte. Shannon und ich saßen im Schneidersitz auf dem Teppich in meiner Wohnung, während sie ihre Karten zu einer Landkarte meiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auslegte. Und jedes Mal, wenn ich selbst eine Karte für mich ziehen sollte, zog ich die Königin der Schwerter.
Die Königin der Schwerter streckt die Hand nach jemandem aus, hält aber ein Schwert vor sich. Zum Schutz oder als Waffe? Ihr Gesicht ist reuevoll und unglücklich.
Shannon riet mir, vorsichtig zu sein. »Jeder Mensch, mit dem du schläfst, hinterlässt einen kleinen Abdruck auf dir«, warnte sie. »Ein kleines Stückchen seiner Seele. Pass auf, dass du dir keine schwarze Seele holst dabei. Pass auf, dass es nicht zu dunkel in dir wird.«
Sie bat mich, mir Seile vorzustellen, die mich an die Leute banden, die mir wehgetan hatten, und diese Seile dann durchzuschneiden. Ich sollte es richtig mimisch darstellen. Also formte ich meine Finger zu einer Schere. Und schnipp. Es war ganz einfach.
Als ich abends im Bett lag, begann ich, Seile durchzuschneiden. Meine Finger arbeiteten wie wild, aber die verletzenden Liebhaber nahmen kein Ende.
Da war zum Beispiel der Biologiestudent, dessen Forschungsschwerpunkt Wölfe waren. Er hatte weißblondes Haar und einen skandinavischen Nachnamen. Sein Haus war warm, weil sein Holzofen im kalten Winter in Idaho unablässig brannte. Er hatte einen weichen Bart, den er in meinen Nacken schmiegte, und dazu machte er Grrrr. Das kitzelte, und ich musste kichern. Ich dachte, ich könnte ihn lieben, aber er hatte eine andere Freundin – die, die wirklich wichtig war – in Moscow, Idaho.
Dann war da Greg, der Soziologe, der erste Mann, der mir sagte, dass er mich liebte. Als ich ihm von einem Mann erzählte, der mich einmal gegen meinen Willen festgehalten hatte, als ich neunzehn war, fragte Greg, ob ich Nippelklemmen oder andere S/M-Gadgets benutzen wollte. Als würde ich mir so gerne wehtun lassen.
Da war der Grundschullehrer, der vor dem Sex gerne Gras rauchte. Wir lagen ganze Nachmittage im Bett, hörten Prince und streichelten einander. Die Beziehung löste sich auf ganz organische Weise auf. Es ging nur um Sex, und ich wollte mehr, aber nicht mit ihm.
Dann der Fischereibiologe, der einzige Mann, mit dem ich ausging, der eine feste Anstellung hatte, sogar eine staatliche, und er war sehr nett. Nachts schmiegte ich mich an seinen Rücken und nutzte seine Stabilität wie eine Decke.