übersetzt von Janna Ruth
This Translation is published by arrangement with Tim Curran
Title: TERROR CELL. All rights reserved.
Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.
Deutsche Erstausgabe
Originaltitel: TERROR CELL
Copyright Gesamtausgabe © 2019 LUZIFER-Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert
Übersetzung: Janna Ruth
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2019) lektoriert.
ISBN E-Book: 978-3-95835-415-9
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
An einem grauen, verregneten Aprilabend erhielt der Sheriff von Florence County, Wisconsin, einen Anruf von seiner Einsatzkoordinatorin, dass etwas äußerst Merkwürdiges vor sich ging. Der Sheriff, dessen Name Deuard LaBay war, der aber von allen nur »Dew« genannt wurde, fragte nach Einzelheiten, woraufhin man ihm mitteilte, dass ein Notruf zu seinem Büro weitergeleitet wurde. Der Anrufer war männlich und kam direkt zur Sache. »Ich habe die Mine und jeden in ihr in meiner Gewalt. Sie gehören nun mir und ich werde sie einen nach dem anderen essen.«
Der Anruf konnte zu den Superior Mining Büros zurückverfolgt werden, welche westlich von Mineral City ein Tagewerk betrieben. Dew bat seine Einsatzkoordinatorin, die Mine zurückzurufen, aber das hatte sie bereits versucht und aus irgendeinem Grund war sie nicht durchgekommen.
»In Ordnung«, sagte Dew zu ihr. »Ruf die Grenzpolizei und sag ihnen Bescheid, was los ist. Dann ruf Woody und Jerry dazu. Sag ihnen, wir gehen da hoch. Ich bin in zehn Minuten vor Ort.«
Dreißig Minuten später, nachdem er seine Stellvertreter Jerry Hauser und Woody Stromm auf dem Parkplatz vor dem Gemeindehaus getroffen hatte, waren sie auf dem Weg nach Mineral City. Hier oben konnte man den Geruch von Kiefern einatmen und das Gewicht der Hügel spüren, die einen umgaben. Es war ein wildes Land, dicht bewaldet und durchzogen von engen Schluchten und tief liegenden Mulden. Ein dichter, feuchter Eisnebel brach im Licht der Scheinwerfer des Bezirks-SUV und verwandelte Baumstümpfe und Totholz in drohende unheimliche Gestalten. Die Schneeschmelze hatte auf der Straße zu einer Vielzahl rutschiger Schlammpfützen geführt, sodass Dew es langsam anging. Er behielt seine Augen auf der Straße, wo sie hingehörten. Es regnete leicht.
»Was, glaubst du, ist da oben los?«, fragte Jerry.
»Ich weiß genauso viel wie du, Jer, nämlich nichts. Also lass uns keine haltlosen Vermutungen anstellen.«
Woody grunzte. »Wahrscheinlich nur ein Streich. Ihr werdet es schon sehen.«
Sie waren beide nervös, geradezu aus dem Häuschen, aber Dew konnte es ihnen nicht verübeln. Wer konnte schon solch einen Notruf entgegennehmen und dabei kein komisches Gefühl bekommen?
Dennoch war er gezwungen, auf der Fahrt nach oben gelassen zu bleiben. Es war schon schlimm und seltsam genug, ohne dass er seinen Männern die Risse in seiner Rüstung offenbaren musste. Also hörte er dem gelegentlichen Geschwätz über den Funk zu und dachte daran, dass er fast dabei gewesen war, ins Bett zu gehen, als der Anruf ihn erreicht hatte. Er hoffte sehr, dass es sich bei dem Ganzen um einen Streich oder Fehlalarm handelte, lieber etwas Bekanntes als etwas Unbekanntes. Denn, wenn dem nicht so war, war es schwer einzuschätzen, in was sie da gerade hineinfuhren.
Die Straße wand sich noch einige Male, bevor sich die Minenanlage aus dem Eisnebel schälte. Dew konnte nicht viel davon sehen. Nur die Büros, die Kantine und den Trockenraum, in dem die Minenarbeiter ihre Straßenkleidung aus- und ihre Arbeitskleidung anzogen. Etwa dreißig Fahrzeuge standen unter den Laternen auf dem Parkplatz. Eine Notbesetzung, mehr nicht. Als er vor dem Eingang des Hauptgebäudes anhielt, konnte Dew die weitläufigen Hütten und Nebengebäude sehen, die in den Hügeln hinter ihnen standen. Die alten Schachtanlagen und Fördertürme erhoben sich in die Dunkelheit. Sie wirkten im Nebel geisterhaft wie Skelette. All diese Gebäude waren aufgegeben worden und waren nichts weiter als Erinnerungen an jene Tage, in denen die Menschen tief in die Erde vorgedrungen waren, um die Flöze zu bearbeiten. Heutzutage war Superior ein Tagebau.
Woody griff nach dem Mikrofon. »Zentrale? Hier ist Nummer fünf. Wir sind an der Mine. Verlassen jetzt das Fahrzeug. Bitte haltet euch bereit.«
Durch den Funk hörte man nichts als Rauschen, hoch und tief.
»Mist«, sagte Jerry. »War ja klar.«
»Versuch es noch mal«, wies Dew ihn an.
Woody klopfte gegen das Mikrofon. »Zentrale? Zentrale? Hier ist Nummer fünf. Hört ihr uns?«
Nichts. Sie hörten nur dieses fürchterliche Rauschen. Ein zischendes Geräusch, wie Wind, der durch die Hohlräume und unterirdischen Katakomben pfeift. Wenn man zu lange zuhörte, hörte es sich fast wie Atmen an.
Dew schnappte sich das Mikrofon und erhielt dasselbe Resultat. Aus irgendeinem Grund war der Funk ausgefallen. Eine Art Störung, das war alles. »Wahrscheinlich das Erz in den Bergen«, sagte er.
»Bestimmt«, antwortete Woody.
Er probierte es mit dem Modem des Touchscreen-Laptops, der unterhalb des Motorola Astro-Spectra-Funkgeräts angebracht war, aber er bekam nicht einmal Empfang.
Jerry versuchte es sogar mit seinem Nokia. »Was auch immer es ist, es betrifft auch mein Handy.«
Sie traten hinaus in die feuchte Nacht. Das Gelände war übersät von Schlaglöchern, in denen brackiges Wasser und Schlamm standen, sowie langsam schmelzenden Schneehaufen. Die Natriumlampen, die den Nebel durchleuchteten, ließen seltsame Schatten um sie herum entstehen. Dew probierte es noch einmal mit seinem Motorola Taschenfunkgerät, aber erreichte nur wieder ein Rauschen.
Seufzend sagte er: »Na gut. Lasst uns mal nachsehen, was es mit dem Ganzen auf sich hat.«
Das Erste, was sie herausfanden, war natürlich, dass die Büros alle abgeschlossen waren. Es war immerhin Freitagnacht. Wahrscheinlich würden sie nicht vor Montag aufmachen. In einigen anderen Gebäuden entlang des Parkplatzes brannte jedoch noch Licht.
Sie gingen zum Trockenraum, der mit drei oder vier anderen grauen und stillen Gebäuden verbunden war. Sobald sie ihn betraten, wusste Dew, dass er leer war. Der Klang ihrer Schuhe auf dem Holzboden echote im leeren Raum und wurde hohl zurückgeworfen. Mit seinen Reihen aus limettengrünen Spinden und Bänken und sündigen Kalendern an den Wänden erinnerte ihn der Trockenraum an eine Schulumkleide. Die meisten Spinde waren beschriftet und abgeschlossen. In den wenigen offenen Spinden hingen und lagen Mäntel, metallene Brotdosen, Hüte und Straßenschuhe. Im hinteren Teil des Raumes befand sich eine Tür, über der auf einem Schild »DUSCHEN« stand.
»Wie viele arbeiten hier des Nachts?«, fragte Jerry und trat nach etwas Schlamm auf dem Boden.
»Ich weiß, dass sie hier Schichten von sieben bis sieben haben«, antwortete Dew.
Woody probierte noch einmal sein Taschenfunkgerät, aber es gab keine Veränderung. »Versuch noch mal dein Handy«, sagte er.
Jerry schüttelte den Kopf. »Habe ich gerade. Immer noch nichts.«
Dew stand da und dachte nach. Er lauschte in die Stille hinein, die er geistig mit der eines Grabes verglich. Die Sache gefiel ihm ganz und gar nicht. Da steckte mehr dahinter als Desertation, irgendetwas anderes. Etwas Bedrohliches und Unheimliches, auf das er nicht ganz den Finger legen konnte.
»Kommt schon«, sagte er.
Er führte sie hinaus und mochte es gar nicht, wie ihre Schritte in der Stille widerhallten. Er probierte ein paar Türen und fand sie alle bis auf eine verschlossen vor. Die eine, die sich öffnen ließ, führte in eine Besenkammer. Er fand einen weiteren Flur, genauso pistolengrau wie die anderen, und seine Stellvertreter folgten ihm auch dort entlang. Sie hielten sich so dicht hinter ihm, dass er dachte, wenn er mit einem Mal anhalten würde, würden sie direkt in ihn hineinlaufen. Es erinnerte ihn an Moe, Larry und Curly.
Eine weitere Tür.
Diese führte zu einem Tunnel, und Dew ging hinunter, da er sich dachte, dass er schon irgendwohin führen würde, was er auch tat: in die Kantine. All diese Gebäude waren wie ein Spinnennetz miteinander durch Tunnel und Laufstege verbunden. Er betrat die ziemlich große Kantine voller Tische und Bänke mit abgenutzten Resopaloberflächen. An der Wand standen Getränke- und Süßigkeitenautomaten.
Auch die Kantine war leer, so wie er es vermutet hatte.
Acht oder neun Brotdosen und Picknickkörbe standen offen herum. Belegte Brote und Kaffeetassen lagen bereit. Der Kaffee war sogar noch warm. Die Brote waren angebissen. Eine Schale mit Suppe dampfte noch. Ein Cribbage-Brett war aufgestellt worden und einige Blätter abgetragener Karten lagen daneben.
»Was zum Teufel bedeutet das?«, hörte sich Dew selbst sagen, als er dem vagen Schrecken in seinem Kopf Luft machte.
Jerry sagte: »Als ob sie alle mitten in der Pause aufgestanden und nicht zurückgekommen sind.«
»Es gab bestimmt einen Grund«, sagte Woody. »Vielleicht ist etwas passiert. Vielleicht unten in den Minen.«
Jerry sah ihn entgeistert an.
»Könnte doch sein«, sagte Woody.
Aber Jerry hatte keinen Nerv dafür. Er hatte Angst und keine Bedenken, es zuzugeben. »Mir gefällt das alles nicht, Dew«, sagte er. »Ich habe das Gefühl, dieser ganze Ort ist verlassen.«
»Das ist doch verrückt. So ein großer Ort wie dieser.«
Jerry schüttelte den Kopf. »Der ganze verdammte Ort … es ist wie die Mary Celeste oder so etwas.«
»Die was?«, fragte Dew ihn.
»Ein Geisterschiff«, sagte Woody und schüttelte den Kopf.
Dew verdrehte die Augen. »Es reicht«, sagte er.
»Sie haben die Mary Celeste im Atlantik treibend gefunden«, sagte Jerry und sprach gleich mehrere Oktaven tiefer, ohne es zu merken. »An Deck hatten sie das Abendbrot angerichtet. Es sah aus, als wäre die gesamte Crew einfach aufgestanden und hätte das Schiff mitten beim Essen verlassen. Aber keiner war zurückgekehrt. Das Schiff war verlassen. Stattdessen trieb es für Monate tot und leer herum.«
»Das ist doch Bockmist«, sagte Woody. »Das haben sie doch schon vor Jahren aufgeklärt.«
»Nicht in dem Buch, das ich gelesen habe.«
»Ich wusste nicht einmal, dass du lesen kannst.«
»Okay, ihr zwei. Es reicht mit den Geistergeschichten. Das hier ist real«, sagte Dew. »Ich weiß nicht, was zur Hölle hier vorgeht, aber wir müssen es herausfinden oder jemanden dazu holen, der es kann.«
Er ging zwischen den Tischen entlang und betrachtete das bereitgestellte Essen, das Kartenspiel und das Cribbage-Brett mit seinen Zählsteinen. Er sah eine Zeitung mit einem halbgelösten Kreuzworträtsel. Ein Bleistift lag daneben. Wie Jerry gesagt hatte, wirkte es, als wären die Männer mitten in ihrer Pause aufgestanden und einfach nicht mehr zurückgekommen. Er fand ein Handy und hob es auf im vollen Bewusstsein, dass, wenn das hier eine Art Tatort war, er gerade Beweise verunreinigte, aber er konnte nicht anders. Auf dem Bildschirm waren einige Nachrichten abgebildet:
20:15:27 Shell: du musst mit ihr reden, ich meine es ernst
20:15:32 Rip: dieses Wochenende
20:15:35 Shell: ich meine es ernst, auf mich wird sie nicht hören
20:15:42 Rip: ich mache es
20:15:43 Shell: ich habe es satt, der einzige Elternteil in dieser Beziehung zu sein
20:15:47 Rip: ich sagte, ich rede mit ihr, okay
20:15:51 Shell: du sagst viele Dinge
20:16:03 Shell: bist du noch da?
20:16:12 Shell: hallo?
20:16:32 Rip: muss los, irgendwas passiert hier
20:16:39 Shell: was?
20:16:47 Shell: bist du da?
20:17:11 Shell: lebst du noch?
20:18:36 Shell: Rip???
20:21:03 Shell: vergiss es
Irgendetwas war definitiv um 20:16 Uhr passiert … aber was? Das war vor zweieinhalb Stunden gewesen, was bedeutete, dass es kurz vor dem ursprünglichen Notruf geschehen war. Aber wenn das stimmte, wieso war dann der Kaffee noch warm? Warum dampfte die Suppe noch, als wäre sie erst vor zehn Minuten stehengelassen worden? Es ergab keinen Sinn. Dew legte das Telefon wieder hin. Diese Spekulationen führten zu nichts. Sie verstärkten nur die Paranoia, die zu diesem Zeitpunkt schon fast grenzenlos war.
»Irgendwas auf dem Handy?«, fragte Woody.
»Nein, nichts«, log er. »Nur ein paar Nachrichten um Viertel nach neun, das ist alles.«
»Gott, wir werden die ganze Nacht hier beschäftigt sein. Das weiß ich genau«, sagte Jerry.
»Wartet auf dich ein heißes Date?«, fragte Dew.
Er zuckte mit den Schultern. »Na ja, eigentlich sollte ich Marianna zum Frühstück treffen. Sie fliegt morgen nach Florida, um ihre Schwester zu besuchen.«
»Ich schätze, das wirst du nicht schaffen.«
Jerry murmelte etwas Unverständliches und Dew versuchte, nicht zu grinsen. Es waren bestimmt nicht die Eier am Morgen, an die Jerry bei einem Mädchen dachte, das wie Marianna aussah.
Sie durchsuchten die Kantine und fanden nichts von Interesse. Es war genau, wie Jerry es gesagt hatte, wie ein Geisterschiff, stellte Dew fest. Nichts war angefasst worden, es gab keine Anzeichen von Gewalt … und dennoch waren alle verschwunden. Es ergab keinen Sinn.
Vielleicht ergibt es mehr Sinn, als du dir eingestehen willst, dachte er dann. Er verstand es nicht und während er darüber nachdachte, sagte ihm eine Stimme reiner Polizistenvernunft, dass er voreilige Schlüsse zog und aufpassen musste. Etwas war passiert, ja, aber das hieß nicht, dass es etwas Seltsames war, was sich nicht erklären ließ. Es gab genügend Möglichkeiten. Alles, was er tun musste, war über sie nachzudenken.
Das Problem war, er konnte es nicht.
Nichts kam ihm in den Sinn, aber er war kein Mann, der das akzeptierte. Die Dinge hatten immer einen Grund, besonders, wenn es sich um ein Verbrechen handelte. Wenn das hier tatsächlich ein Tatort war, doch dessen war er sich noch nicht sicher, dann musste es nicht nur einen Grund, sondern auch ein Motiv dafür geben. Düster und pervertiert vielleicht, aber vorhanden, wenn man nur genau danach schaute.
»Dieser Ort macht mir Angst«, gab Jerry offen zu. »Ich bin nicht zu stolz, das zu sagen.«
Woody stöhnte. »Niemand würde dir das je vorwerfen.«
»Ich frage mich, was hier passiert ist? All diese Leute, einfach weg. Da kommt man auf Gedanken. Schlimme Gedanken.« Jerry ließ das in der Luft hängen und als niemand darauf einging, packte er es mit beiden Händen an. »Ich weiß nicht, warum, aber ich bekomme dasselbe Gefühl wie in der Nacht, als wir zu Dwight Roses Haus hochgegangen sind.«
»Genug davon«, warnte Dew ihn.
Die ganze Dwight Rose-Angelegenheit war noch immer ein empfindliches Thema, über das niemand gern sprach. Vor fünf Jahren stellte sich heraus, dass Florence County ein Monster besaß. Die Art Monster, die sich des Nachts herumtrieb und jugendliche Mädchen im Mondlicht verschwinden ließ. Die Erste war Theresa Cestaro gewesen, vierzehn Jahre alt. Sie hatte ihren Hund, einen Shih Tzu namens Muggel, Gassi geführt. Muggel kam nach Hause, aber Theresa hatte es nie geschafft. Drei Monate später verschwand Brittany Richt, dreizehn Jahre alt, als sie von einer Freundin nach Hause lief. Das letzte vermisste Mädchen war Toni Lynn Wannamaker gewesen, fünfzehn Jahre alt. Weniger als zwei Wochen nach dem Verschwinden des Richt-Mädchens, hatte Toni Lynns Freund sie an der Straßenecke abgesetzt. Er hatte gesagt, dass er ihr nachgeschaut hatte, wie sie nach Hause lief und dabei den Weg hinten herum nahm, wie sie es immer getan hatte. Das war das letzte Mal gewesen, dass irgendjemand sie gesehen hatte.
Oh, es war eine hässliche Angelegenheit gewesen.
Die Art Angelegenheit, die weit über das hinaus ging, wofür die Polizeistation von Florence County ausgerüstet war. Detektive der Grenzpolizei kamen mit forensischen Teams dazu und kurz darauf war auch das FBI involviert. Die Wochen vergingen und dann Monate ohne einen Durchbruch. Die Leute waren wütend. Sie waren frustriert. Sie hatten Angst, nach Einbruch der Dunkelheit hinauszugehen. Dann, wie es oft bei solchen Dingen zuging, entwirrte sich der Fall mit einem Mal. Missy Curlew, die Besitzerin von Bell’s True Value Hardware in Florence, berichtete von einem unangenehmen Geruch aus der Wohnung über ihr, die sie an Dwight Rose vermietet hatte. Sie hatte zu viel Angst, ihren Hauptschlüssel zu benutzen und hineinzugehen. Wie der Zufall – oder das Pech – es wollte, hatte Dew den Anruf bekommen und war mit Jerry und Woody hineingegangen. Sie alle kannten Dwight. Jeder kannte ihn. Er war ein Postbote, ein Pfadfinder-Truppführer und der Softballtrainer der Mädchen. Woody war mit ihm Fischen gewesen. Dew hatte ihn zu Grillabenden im Garten eingeladen. Er war sehr beliebt und respektiert. Die Art Mann, die einem ihr letztes Hemd geben würden, wie man so sagte. Aber es gab einen anderen Dwight Rose, den niemand kannte, und in dieser Nacht trafen sie ihn. Im Wohnzimmer hatte Dwight mit schwarzem Wachsstift alle Einzelheiten über die von ihm ermordeten Mädchen an die Wand geschrieben: ihre Namen, Alter, Haarfarben, Augenfarben und wo er sie begraben hatte.
Ihn hatten sie zusammen mit der Rasierklinge in der Duschkabine gefunden, mit der er sich die Handgelenke aufgeschlitzt hatte. Dort hatte er viele Tage gelegen, sodass der Gestank natürlich grauenhaft gewesen war, genau wie die Fliegen. Nach all dieser Zeit hatte Dew das Bild immer noch abscheulich frisch vor Augen; die aufgedunsene, angelaufene, von Fliegen bedeckte Leiche. Eine Spinne hatte ihr Netz von Dwights gequälter Todesfratze hinauf bis zum Duschkopf gesponnen, sodass es wie ein Schleier wirkte. Dutzende von ausgesaugten Fliegen hatten darin gehangen.
Danach wurde der Fall schnell abgeschlossen. Die Überreste der Mädchen wurden geborgen. Die Forensik ergab, dass sie erdrosselt worden waren. Dwight hatte mit jeder von ihnen mehrfach nach dem Tod Sex gehabt. Warum er es getan hatte oder mit welchen dunklen Geheimnissen er gerungen hatte, hatte niemand je erfahren. Der einzige Hinweis auf seinen Geisteszustand war mit Wachsstift an die Schlafzimmerwand gekritzelt worden: SIE HABEN MICH DAZU GEBRACHT.
Selbst jetzt, Jahre später, war es ein heikles Thema, weil Dwight Rose viele Freunde in der Gegend gehabt hatte und die Leute nicht gern über die Jungs in seinem Pfadfindertrupp oder die Mädchen in seinem Softballteam nachdachten und wie jeder von ihnen sein nächstes Opfer hätte sein können.
Die ganze schmutzige Angelegenheit hatte für Dew eine besonders dunkle Bedeutung gehabt, da er deswegen seine Kompetenz als Polizist angezweifelt hatte – etwas, das er nie zuvor getan hatte – und es hatte auf eigene Art und Weise zum Tod seiner Frau geführt.
Aber damit befassen wir uns nicht, dachte er. Ich habe im Moment genug zu tun.
»Lasst uns spazieren gehen«, sagte er.
Er führte seine Stellvertreter durch den Tunnel und durch die Flure zurück, bis sie wieder den Trockenraum erreichten. Dann hinaus in den ursprünglichen Flur, in dem sie angefangen hatten. Er folgte ihm bis zum Ende und ging unter einem Bogen hindurch, der zu einem kleinen Vorraum mit einer hölzernen Rampe führte, die an einer Tür endete.
»Was ist das denn für ein Scheiß?«, fragte Jerry.
Dew sah es ebenfalls. Über der gesamten Rampe war eine feuchte und gelatineartige Masse verteilt, die sich wie die Mutter aller Nachtschnecken bis nach oben zur Tür erstreckt hatte. Was auch immer es war, es wirkte klebrig. Außerdem trocknete es schnell und Dew hatte das Gefühl, dass es davon vor kurzem noch viel mehr gegeben hatte.
»Riecht komisch, oder?«, fragte Jerry. Sein Ledergürtel knarrte, während er sich darüber bückte und daran roch.
Er hatte recht. Man konnte einen feuchten, schimmligen Geruch wahrnehmen. Wie nasse Wäsche, die man in den Schrank geschmissen hatte, wo sie vor sich hin moderte. Der Geruch war stark, fast beißend. Dew stellte fest, dass er ihn schon die ganze Zeit gerochen hatte. Nicht so schlimm wie hier, aber hin und wieder ein bisschen. Wie ein Abbild davon. Als ob hier etwas Widerwärtiges verstorben war und seinen Gestank hinterlassen hatte.
»Ekelhaft«, sagte er.
Woody sah zu ihm auf. »Es riecht irgendwie … gut«, sagte er.
Sie sahen ihn beide an.
»Es ist verdorben«, sagte Jerry. »Das nennst du gut?«
Woody schüttelte den Kopf. »Es riecht nicht schlecht. Irgendwie angenehm. Ein bisschen süß wie Vanille.«
»Du hast einen Knall«, sagte Jerry ihm.
Es war merkwürdig, äußerst merkwürdig, doch Dew sagte nichts dazu. Aber er vergaß es auch nicht.
»Nun tretet nicht hinein, was auch immer es ist«, sagte er seinen Stellvertretern in dem Bedürfnis, etwas sagen zu müssen. »Jemand hat hier wahrscheinlich eine Art Öl ausgekippt. Ich habe kein Interesse daran, dass ihr zwei hier ausrutscht und euch den Knöchel anknackst.«
Er sagte ihnen das, weil es vollkommen Sinn ergab. Insgeheim aber dachte er etwas anderes. Er dachte, dass dieses Zeug irgendwie unnatürlich war und es vielleicht keine gute Idee war, damit in Berührung zu kommen. Besonders nicht mit Zeug, das so roch.
Du kannst es riechen … es stinkt. Wie kann Woody nur denken, dass es gut riecht?
Er wusste es nicht, aber es gefiel ihm nicht.
Während sie hinaufgingen, blieben sie am Rand der Rampe. Hinter der Tür fanden sie ein kleines Büro. Es musste das Büro des Schichtleiters sein. Vorn waren große Fensterscheiben angebracht, von denen man hinunter auf einen riesigen Parkplatz mit Reihen großer Kipplaster und Lader hinabblicken konnte. Es waren riesige Maschinen und Dew dachte sich, dass die Räder größer als er selbst waren. Der Parkplatz war gut ausgeleuchtet und sah dennoch ein wenig unheimlich aus, wie es solche Orte oft taten.
Niemand befand sich dort unten.
Nur die Maschinen und Flutlichter, die auf den nassen Asphalt mit seinen Pfützen und Schlamm strahlten. Nicht eine verdammte Sache.
Im Büro gab es noch eine zweite Tür an der gegenüberliegenden Wand, die Woody austestete. Sie war verschlossen. Komisch … im ersten Moment, als er den Knauf ergriffen hatte, ließ er sich ganz einfach drehen. Und dann bewegte er sich gar nicht mehr. Das war schon merkwürdig, aber er entschied sich, es nicht zu erwähnen.
»Irgendwer muss hier sein«, sagte er.
Jerry befeuchtete seine Lippen. »Was, wenn hier keiner ist?«
»Es muss.«
»Okay, was, wenn wir durch diese ganze gottverdammte Anlage gehen – wofür wir so ziemlich die ganze Nacht brauchen werden – und niemanden finden? Was dann?«
Woody lächelte schmal. »Dann heißt das, dass hier niemand ist.«
»Ha, ha!«
»Okay«, sagte Dew. »Ihr Damen spart euch jetzt mal eure Spekulationen, bis wir etwas zum Spekulieren haben.«
Während Woody aus dem Fenster hinausschaute und die Größe der Kipplaster unten bewunderte, stand Jerry mit den Händen in den Hosentaschen da, als ob er Angst hatte, irgendetwas zu berühren. Dew sah sich kurz um. Nichts Interessantes. Papiere auf dem Schreibtisch, Ordner, ein PC. Eine Kaffeetasse. Ein Aktenschrank in der Ecke. Ein Mantel über der Rückenlehne eines Stuhls. An der gegenüberliegenden Wand, ein aufgeblasenes Luftbild der Empire-Grube, wo heutzutage der gesamte Abbau erfolgte. Berme für Berme für Berme tiefer in die Erde.
Als er sich von dem Foto abwandte, hatte Jerry die Kaffeetasse in der Hand. Er starrte hinein, als suche er darin nach Hinweisen.
»Normal oder koffeinfrei?«, fragte Woody ihn.
»Ist immer noch warm«, sagte er.
»Heißt, derjenige, dem auch immer sie gehört, muss gerade erst gegangen sein«, sagte Woody, pragmatisch wie immer.
»Oder etwas«, sagte Jerry.
»Fang nicht wieder mit dieser Mary-Celeste-Scheiße an.«
Jerry zuckte mit den Schultern. »Muss ich nicht. Du denkst ja selbst dran.«
»Verdammt«, sagte Woody.
Dew mochte das alles immer weniger. Er war sich nicht sicher, ob all diese Leute verschwunden waren, aber er wurde das Gefühl nicht los, dass dem so war. Der Superior-Mining-Komplex war ein riesiger Friedhof und sie konnten die ganze Nacht lang suchen und würden niemals jemanden finden.
»Es ist seltsam, und du weiß, dass es seltsam ist«, sagte Jerry.
»Okay. Jetzt aber genug …«
»Hey!«, rief Woody und starrte aus dem Fenster.
Sie drehten sich beide zu ihm.
Er zeigte auf das Fenster. »Ich habe etwas da unten gesehen. Etwas hat sich bewegt.«
»Etwas oder jemand?«, fragte Jerry.
Woody schüttelte nur den Kopf, als wäre er sich selbst nicht so sicher. »Ich habe … ich habe eine Bewegung gesehen. Eine Gestalt oder etwas ist hinter den Laster gehuscht. Ich habe es gesehen.«
»Na ja, war es ein Mann oder eine Maus?«, fragte Dew und sah selbst hinunter. Wie sehr er sich auch anstrengte, er entdeckte absolut nichts.
Woody schluckte. »Es … ich weiß es nicht. Ein Schatten. Er bewegte sich.«
Jerry und er warfen sich einen Blick zu und Dew konnte beinahe ihr Unbehagen spüren. Ihre Augen waren glasig vor Angst.
»Ihr zwei bleibt hier«, sagte er. »Ich schaue mir das an.«
»Dew … lass uns zusammenbleiben«, sagte Jerry.
»Bleibt einfach hier! Ihr beide. Das ist ein verdammter Befehl. Verstanden?«
Sie nickten.
Ihre Gesichter waren verzerrt und blass, als sie zusahen, wie er aus der Tür ging, und hörten, wie seine Stiefel die Rampe hinuntertrampelten.
Es dauerte einige Minuten, bis Dew eine Tür fand, die zum Parkhaus führte. Bis es endlich soweit war, war er schweißüberströmt. Weniger von der Anstrengung als viel mehr von dem unerklärlichen Gefühl, dass ihm jemand folgte, ihn beobachtete. Er konnte die Blicke auf sich spüren, beobachtend, abwartend, nachdenklich, aber stets im Verborgenen. Zwei- oder dreimal während seiner verrückten Flucht durch Korridore, die alle in Sackgassen endeten, hätte er schwören können, hinter sich Schritte gehört zu haben.
Aber als er sich umgedreht hatte … nichts.
Er erreichte die Tür, ging hindurch und befand sich auf einer Stufe, von der aus er über den gesamten Parkplatz und all die riesigen Gerätschaften blicken konnte, die hier unten geparkt war. Er ging eine eiserne Treppe hinunter und sah sich um. Über sich konnte er die Glasfront des Büros und die Gesichter von Jerry und Woody sehen, die ihn sehr aufmerksam beobachteten. Er winkte nach oben. Sie winkten zurück. Er wusste, dass sie ängstlich wie ein paar Kinder waren, die gerade eine gute Geistergeschichte gehört hatten.
Die Sache war, Dew fing an, sich genauso zu fühlen.
Das war das Problem am Polizistendasein. Unabhängig von den Umständen, unabhängig davon, wie furchtbar etwas war oder wie sehr es einen zu Tode erschreckte und einem die Eier abfaulen ließ, man musste es untersuchen. Das war sein Job. Man musste herausfinden, woher etwas kam, und sich ihm stellen. Das brachte das Tragen dieses Abzeichens mit sich.