Darcie Chan
Sehnsucht
nach Mill River
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol
Marion von Schröder
Neuausgabe bei Refinery
Refinery ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
März 2019 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013
© 2012 by Darcie Chan
Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Mill River Recluse
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Autorenfoto: © privat
ISBN 978-3-96048-228-4
E-Book-Konvertierung: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
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Wir können einem Kind,
das sich vor der Dunkelheit fürchtet, leicht vergeben;
die wahre Tragödie des Lebens ist, wenn
Menschen sich vor dem Licht fürchten.
Platon
Mary McAllister schaute aus dem Erkerfenster ihres Schlafzimmers und wusste, dass diese Nacht ihre letzte sein würde.
Aus dem Ort drang diffuses Licht durch die Februardunkelheit herauf. Dicke Schneeflocken trieben am Fenster vorbei. Nur der Mill River, dem der kleine Ort in Vermont seinen Namen verdankte, war noch nicht mit Schnee bedeckt. Schwarz und eisfrei schlängelte er sich am Rande des schlafenden Ortes entlang.
Mit der linken Hand streichelte Mary den großen Siamkater, der neben ihr auf dem verstellbaren Krankenbett lag. Mit der Rechten strich sie sich ein paar feine weiße Haarsträhnen hinter das Ohr. Marys Augen, das eine klar und blau, das andere grau und trüb, waren auf den Schneesturm vor dem Fenster gerichtet.
Sie überlegte, was man wohl über sie denken würde, wenn man entdeckte, was sie getan hatte.
Das Schlafzimmer war dunkel, doch die wenigen Lichter im Ort reichten aus, um die Umrisse ihres Gesichts auf der Fensterscheibe zu erkennen. Mary betrachtete das Spiegelbild mit ihrem guten Auge, mit dem sie noch sehen konnte. Eine bleiche Totenmaske starrte ihr aus der Dunkelheit entgegen.
Sie döste ein, wurde jedoch alle paar Minuten von den entsetzlichen Schmerzen im Unterleib geweckt. Schließlich griff sie mit zitternder Hand nach den Tabletten und dem Wasserglas neben ihrem Bett.
Mary schüttete jeweils ein paar Tabletten auf ihre Hand und spülte sie mit Wasser hinunter, bis sie sie alle geschluckt hatte. Sie würde diese Welt in friedvoller Einsamkeit verlassen, bevor die Schmerzen zu stark wurden und ihre Geisteskräfte so geschwächt waren, dass sie nicht mehr selbstbestimmt aus dem Leben scheiden konnte.
Sie dachte an Michael. Der Priester war gegangen, wie er versprochen hatte, aber sie fragte sich, ob er dort unten im Pfarrhaus immer noch wach war. Er würde sie morgen finden. Das würde nicht leicht für ihn sein, doch er war auf das Unvermeidliche vorbereitet. Sie beide waren es.
Trotzdem fürchtete sie sich vor dem, was der Tod bringen mochte.
Würde sie ihren Ehemann wiedersehen? Im schwach erleuchteten Schlafzimmer blieb Marys Blick an der kleinen Statue hängen, die auf der Kommode stand. Ein Pferd, kunstvoll aus schwarzem Marmor gemeißelt. Sie dachte an Patrick, an ihre erste Begegnung auf der Farm ihres Vaters und an die entsetzliche Zeit, die folgte.
Mary schauderte bei dem Gedanken und beschwor stattdessen Erinnerungen an ihren Vater herauf. Sie sah ihn vor sich, wie er auf dem Reitplatz stand, den Hut aus der Stirn geschoben, und den jungen Pferden sanft Manieren beibrachte. Sein dröhnendes Lachen klang ihr noch immer in den Ohren.
Obwohl sie seit mehr als sechzig Jahren Witwe war, hatte sie sogar jetzt noch Angst vor Patrick. Sie sehnte sich jedoch danach, ihren Vater wiederzusehen. Vielleicht war es bald so weit.
Mary tätschelte Shams seidigen Kopf, und der Kater rollte maunzend im Schlaf die Pfoten ein. Michael hatte versprochen, ein gutes Zuhause für Sham zu finden. Sie zweifelte nicht daran, dass es ihm gelingen würde, und das tröstete sie. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie ihrem treuen Kater ein zärtliches Lebewohl zuflüsterte. Lautlos wünschte sie ihm das glücklichste aller Leben, wie viele ihm auch bleiben mochten, und wartete darauf, vom endgültigen, schweren Schlaf eingehüllt zu werden.
In Mill River waren auch noch andere wach. Die Polizisten Kyle Hansen und Leroy Underwood fuhren seit über einer Stunde Streife. Der alte Jeep Cherokee des Polizeireviers kämpfte sich auf den Landstraßen durch den frisch gefallenen Schnee. Sie hatten nach liegengebliebenen Autofahrern Ausschau gehalten, aber die Straßen waren wie ausgestorben. Die meisten Menschen waren vernünftig genug, bei dem Wetter zu Hause zu bleiben. Trotz des Schneefalls war der Abend, wie die meisten Abende in Mill River, ereignislos verlaufen.
Leroy langweilte sich. Unruhig rutschte er auf dem Beifahrersitz herum und spähte aus dem Fenster. Sein Haar war sandbraun und glatt – und etwas zu lang für einen Mann in Uniform, wie Kyle fand. Leroys Mund stand immer ein wenig offen, was ihm einen erstaunten Ausdruck verlieh, und er hatte trotz seiner kräftigen Schultern eine gebeugte Körperhaltung. Zum Teufel, dachte Kyle, sollte jemand das Pech haben, Leroy aus dem Fenster des Jeeps glotzen zu sehen, könnte er ihn glatt für einen Orang-Utan halten.
Leroy wandte sich vom Fenster ab und hielt eine fast leere Schachtel mit Schokoladendonuts hoch.
»Was dagegen, wenn ich den Letzten esse?«
»Nee«, erwiderte Kyle. »Die sind sowieso nicht mehr frisch.«
Das interessierte Leroy nicht. »Meinst du, wir sollten noch mal durch die Stadt fahren?«, fragte er mit vollem Mund.
Kyle warf Leroy einen Blick zu und zuckte mit den Schultern.
Leroy stopfte sich das letzte Stück Donut in den Mund und mühte sich, die Thermosflasche zu öffnen. Während sie den Hügel hinunter zum Ort fuhren, versuchte Leroy, den restlichen Kaffee in den Becher zu gießen, doch das meiste schwappte auf seinen Schoß.
»Ach, Scheiße. Pass doch besser auf bei den Schlaglöchern, ja?«, maulte er.
Kyle verdrehte die Augen. Was Leroy an Intelligenz fehlte, machte er durch einen gesunden Appetit wett.
Ihr Weg führte sie an der Auffahrt zur McAllister-Villa vorbei. Durch das Schneegestöber konnte Kyle gerade noch das schwache Schimmern des weißen Marmorhauses auf der Kuppe des Hügels ausmachen.
»Hast du sie je gesehen?«, fragte Leroy, der Kyles Blick gefolgt war.
»Wen?«
»Die Witwe McAllister.« Leroy flüsterte fast, als ginge es um einen bösen Geist.
»Nein.«
»Ich schon«, sagte Leroy. »Ein Mal. Als ich noch in der Highschool war, vor der Bäckerei. Sie war völlig verschrumpelt und krumm, hatte eine Klappe über dem Auge, wie ein Pirat.«
Kyle schaute starr geradeaus und konzentrierte sich auf das Fahren durch den Schneesturm.
»Manche im Ort sind überzeugt, dass sie eine Hexe ist, hab ich gehört«, fuhr Leroy fort. »Mich gruselt’s, wenn ich daran denke, dass sie da oben sitzt und uns alle beobachtet.« Leroy warf Kyle ein provozierendes Grinsen zu. »Vielleicht sollte jemand dafür sorgen, dass sie über die Planke geht.«
Kyle biss die Zähne zusammen und unterdrückte den Impuls, ihm zu antworten. Leroy wollte ihn reizen, das war ihm klar, doch diese Genugtuung würde er ihm nicht verschaffen.
Leroys Grobheiten hinzunehmen fiel ihm leichter, wenn er an die schwere Jugend des jungen Polizisten dachte. Laut dem Polizeichef, der fast jeden im Ort kannte, war Leroy das Produkt eines abwesenden Vaters und einer alkoholkranken Mutter. Er hatte eine ältere Schwester, die in Rutland lebte. Diese Schwester war anscheinend die Ausnahme der Underwood-Familie, da sie einen Collegeabschluss hatte und als Buchhalterin bei der Stadtverwaltung arbeitete.
Leroy lief so mit. Er hatte die Highschool beinahe abgebrochen, dann aber doch irgendwie seinen Abschluss geschafft und sich durch die Ausbildung an der Polizeiakademie gemogelt. Sein Ego war riesig, und Kyle hatte es bisher noch nicht erlebt, dass der junge Mann auch nur zu irgendwem nett gewesen wäre. Wieso man Leroy eingestellt hatte, war Kyle ein Rätsel. Vielleicht hatte der Ort dringend einen weiteren Polizisten gebraucht, doch nach Kyles Einschätzung war Leroy kaum für diese Arbeit geeignet.
Der alte Jeep pflügte sich durch den Schnee, hinein in den Ort. Kleine, ältere Häuser und Wohnwagen säumten die Straßen an diesem Ende von Mill River. Die meisten Fenster waren dunkel. Ein Wohnwagen jedoch war hell erleuchtet. Im Gegensatz zu den meisten anderen war er glänzend und neu. Aus dem Schnee im Vorgarten ragten verschiedene Keramikfiguren – zwei Rehe, mehrere Kaninchen, einige Zwerge – sowie ein großes Vogelbad.
»Schätze, Crazy Daisy ist immer noch wach«, meinte Leroy. »Wahrscheinlich braut sie gerade wieder irgendetwas Geheimnisvolles.«
In dem Moment öffnete sich die Tür des Wohnwagens, und eine pummelige Frau hüpfte hinaus in den Vorgarten. Kyle bremste den Jeep ab. Daisy drehte sich im Kreis, das Gesicht erhoben, die Zunge herausgestreckt.
Leroy krümmte sich vor Lachen. »Jetzt guck dir diese fette Kuh an!«, brüllte er, ohne auf Kyles missbilligendes Stirnrunzeln zu achten. »Wenn die so weitermacht, stolpert sie noch über eins von den Kaninchen und beißt sich die Zunge ab!«
»Halt die Klappe, Leroy«, sagte Kyle, obwohl ihm genau derselbe Gedanke durch den Kopf geschossen war. Er kurbelte das Seitenfenster herunter.
»Hallo, Miss Delaine, es ist schon spät, fast ein Uhr nachts, und Sie sollten bei diesem Schneesturm nicht draußen sein«, rief er ihr zu.
Erhitzt und atemlos blieb Daisy stehen und schaute die beiden Polizisten an. Ein dunkles, portweinfarbenes Muttermal zog sich vom Kinn bis auf die Wange, graue Locken fielen ihr über die Augen. Sie schwankte unsicher und schob sich das Haar aus dem Gesicht. »Sie sollten mal den Schnee probieren! Er schmeckt herrlich. Ich habe den ganzen Abend an einem Schneezauber gearbeitet«, rief sie. »Schnee ist ideal für mein Gebrautes. Aber ich bin schrecklich in Eile. Ich braue heute Nacht noch etwas Neues!« Lächelnd hob sie eine Handvoll Schnee auf, warf ihn in die Luft, dann winkte sie den beiden Polizisten zu und verschwand wieder in ihrem Wohnwagen.
Kyle saß schweigend da und schüttelte den Kopf, aber Leroy brüllte vor Lachen. Als er Kyles tadelnden Blick bemerkte, versuchte er vergeblich, sich zusammenzureißen.
»Ach, nun komm schon, Kyle. Du weißt doch, dass die spinnt. Wem schadet es schon, wenn man sich über sie lustig macht?«
»Sie kann nichts dafür, Leroy, und du solltest besser mal lernen, den Mund zu halten«, fuhr Kyle ihn an und schaute zur Tür des Wohnwagens, um sich zu vergewissern, dass Daisy drinnen blieb.
»Oooh, was sind wir empfindlich heute«, maulte Leroy. »Was soll’s«, er kicherte wieder, »die Show allein war es wert, dass sie das Feuer damals überlebt hat. Als ich hörte, ihr Wohnwagen sei abgebrannt, dachte ich, wir wären die alte Schachtel endlich los.«
Kyle schwieg, weil jede Antwort sinnlos gewesen wäre. Er war acht Jahre älter als Leroy, doch manchmal kam der Altersunterschied ihm vor wie achtzig Jahre. Während seiner Zeit bei der Bostoner Polizei waren ihm etliche junge Beamte wie Leroy begegnet. Sie alle waren arrogant, unreif und dumm gewesen und hatten die Macht genossen, die ihnen Uniform und Waffe verliehen. Die meisten dieser Burschen fielen ihrem Größenwahn zum Opfer, sie kamen um oder landeten selbst hinter Gittern.
In Mill River gab es vier Polizeibeamte – Kyle, Leroy, Ron Wykowski und Joe Fitzgerald, den Polizeichef. Allerdings hätten, da nie etwas passierte, drei gute Polizisten vollauf genügt. Da Leroy also kaum Gelegenheit haben würde, seine Laufbahn zu gefährden, konnte er sich seines Arbeitsplatzes ziemlich sicher sein.
Sie fuhren weiter entlang der Hauptstraße, durch das malerische Einkaufsviertel, vorbei an dem weißen Gebäude des Rathauses. Hinter einer Kurve tauchte die katholische Kirche St. John auf. Im Pfarrhaus brannte noch Licht.
»Der Betbruder ist noch auf«, quäkte Leroy. Dies war jedoch nicht ungewöhnlich, da bei Father O’Brien oft bis spät in die Nacht das Licht brannte.
Zwei Häuser weiter noch ein hell erleuchtetes Fenster.
»Unsere hübsche Lehrerin auch«, sagte Leroy in verändertem Ton. »Vielleicht sollten wir bei ihr vorbeischauen und ihr eine Gutenachtgeschichte vorlesen.« Er zog die Augenbrauen hoch und fuhr sich langsam mit der Zunge über die Oberlippe.
Die »hübsche Lehrerin« war Claudia Simon. Sie unterrichtete die vierte Klasse in der Grundschule von Mill River.
»Du kannst lesen? Das ist mir ja ganz neu.«
Leroy verzog das Gesicht, blieb aber stumm, bis Kyle vor dem Polizeirevier hielt. Als sie ausstiegen, schaute Leroy die Hauptstraße hinunter in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
»Verdammt. Bei so viel Schnee sehen selbst die schäbigen Wohnwagen gut aus.«
Kyle sagte nichts. Er sehnte sich nur nach einer heißen Dusche und einem warmen Bett. Die Nacht war lang gewesen.
Claudia Simon las tatsächlich eine Art Gutenachtgeschichte. Ihre Schüler hatten einen kurzen Aufsatz zum Thema »Was ich werden will, wenn ich groß bin« geschrieben. Von den vierundzwanzig Viertklässlern wollten elf Präsident der Vereinigten Staaten werden, was Claudia darauf zurückführte, dass sie vor ein paar Wochen die Amtseinführung des Präsidenten gesehen hatten. Sechs wollten Filmstar oder Sängerin werden, vier Arzt oder Krankenschwester, einer Polizist, einer Feuerwehrmann. Und eine wollte Beraterin werden.
Rowen war die Tochter des Polizeibeamten Kyle Hansen. Claudia hatte vom Rektor der Schule erfahren, dass Kyle verwitwet war. Das kleine Mädchen hatte geschrieben, sie wolle Beraterin werden, wie ihre Mutter es gewesen sei, weil »ich gerne Leuten zuhöre und ihnen helfen möchte, ihre Probleme zu lösen«. So einfach. Von einer Viertklässlerin. Aber Rowen ist auch ein besonderes Kind, dachte Claudia. Sie hätte alles Mögliche als Berufswunsch angeben können, es wäre keine Überraschung gewesen.
Claudia stand auf und streckte sich. Es war schon nach eins. Doch heute war Samstag – nein, inzwischen Sonntagmorgen –, und wenn sie beim Benoten der Aufsätze die Zeit vergessen hatte, konnte sie immerhin ausschlafen. Im Jogginganzug und auf Socken tappte sie durch den Flur zum Badezimmer und putzte sich die Zähne. Dabei betrachtete sie sich in dem langen Spiegel an der Badezimmertür. Noch vor ein paar Monaten hätte sie nicht in diesen Spiegel gepasst.
Alleinstehend, übergewichtig und fast dreißig, hatte Claudia vor anderthalb Jahren beschlossen, sich in Form zu bringen. Diesen Entschluss hatte sie schon oft gefasst. Sie war ihr Leben lang übergewichtig gewesen, oder zumindest so lange sie sich erinnern konnte. Sie hatte nie einen Freund gehabt, keinen Abschlussballpartner, oder auch nur irgendeinen Mann, der ein romantisches Interesse an ihr gezeigt hätte. Wahrscheinlich hätten die meisten Menschen sich damit abgefunden, ein Leben lang allein Kuchen zu essen. Doch Claudia warf den Kuchen, die Chips, die Eiscreme und die Pizzas weg. Sie kaufte sich ein Laufband und Reeboks. Dann rannte sie sich in den anderthalb Jahren nach ihrem dreißigsten Geburtstag im wahrsten Sinne des Wortes den Arsch ab.
Jetzt, zweiundvierzig Kilo leichter, betrachtete Claudia anerkennend ihr Spiegelbild und machte sich bettfertig. Sie hatte sich in Größe 40 komplett neu eingekleidet. Sie war Lehrerin in einem neuen Ort, in dem niemand von ihrer früheren Fettleibigkeit wusste. Sie fühlte sich lebendig. Allein, aber bereit für ein Leben zu zweit. Sie würde ihre Schüchternheit überwinden. Sie würde nicht knallrot werden, wenn sie einen attraktiven Mann sah, würde nicht die Augen niederschlagen. Sie schämte sich ihrer selbst nicht mehr.
In dieser Nacht schlief Claudia lächelnd ein.
Mitternacht war längst vorüber, aber Jean Wykowski fand keine Ruhe. Ihr Mann Ron lag schnarchend neben ihr. Seine Schicht auf dem Revier begann um sieben, und er nahm ihr unruhiges Herumwälzen überhaupt nicht wahr. Rons Schnarchen störte sie sonst kaum, und es war auch jetzt nicht der Grund für ihre Schlaflosigkeit. Schließlich schlüpfte sie unter der Decke hervor und verließ auf Zehenspitzen das Schlafzimmer.
Auf dem Weg zur Küche blieb sie vor dem Zimmer ihrer Söhne stehen. Jimmy und Johnny, neun und elf Jahre alt, kamen nach ihrem Vater, was den Schlaf anging. Beide schliefen fest, atmeten langsam und gleichmäßig. Jimmy lag noch genauso da wie nach dem Zubettgehen – auf dem Rücken, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Johnny hatte sich jedoch so gedreht, dass seine Füße auf dem Kopfkissen lagen und sein Kopf über die Bettkante hinaushing. Wie er das schaffte, war Jean ein Rätsel, doch sie überredete ihn sanft, ohne dass er vollständig wach wurde, sich wieder richtig herum unter die Decke zu legen.
Jean schlich weiter in die dunkle Küche und zuckte jedes Mal zusammen, wenn ein Dielenbrett knarrte. Sie goss sich einen Becher Milch ein und stellte ihn in die Mikrowelle. Das Gerät summte, und sie lächelte bei dem Gedanken daran, wie die Jungs am Abend das Geschirr gespült hatten. Johnny hatte abgewaschen und Jimmy klargespült, wobei sie abwechselnd den herausziehbaren Sprühkopf als Mikrofon benutzt hatten, um ihre Lieblingssänger nachzuahmen.
Die Mikrowelle war etwas Besonderes, da Ron sie ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Natürlich war das kein romantisches Weihnachtsgeschenk, aber sie war praktisch und kam der ganzen Familie zugute. Jean hielt die Mikrowelle an, bevor das Klingeln ertönte, und nahm den Milchbecher heraus.
Sie konnte sich glücklich schätzen, so tolle Kinder zu haben. Die beiden waren kräftige kleine Burschen und voller Leben, im Gegensatz zu den schwerkranken Menschen, die sie täglich sah. Nach dreizehn Jahren Ehe war Ron immer noch ein liebevoller und treuer Ehemann. Er und die Jungen gaben ihr den Rückhalt, ihre emotional auslaugende Arbeit als ambulante Krankenpflegerin für Rutland County zu bewältigen.
Ihre Patienten waren Querschnittsgelähmte, Menschen, die sich nach Operationen oder schweren Unfällen erholten, und Todkranke. Sie sah sie kämpfen und leiden, Tag für Tag. Mit Jeans Hilfe und dank der Ärzte und Therapeuten besserte sich ihr Zustand, oder sie lernten wenigstens, wieder zu leben. Aber manchen gelang das auch nicht. In dieser Nacht war es das Gesicht von Mary McAllister, der Patientin, der sie momentan zugeteilt war, das ihr den Schlaf raubte.
Den größten Teil ihrer Schicht verbrachte sie bei der alten Dame. Mrs McAllister blieben nur noch Tage, vielleicht eine Woche. Heute hatte Jean es kaum fertiggebracht, sie anzusehen. Der Krebs hatte Mrs McAllister ausgezehrt und gelbhäutig gemacht, und die Schmerzmittel bewirkten, dass sie die meiste Zeit schlief. Jean hatte sie mit dem Schwamm gewaschen, das Nachthemd gewechselt und dafür gesorgt, dass sie möglichst bequem lag. Das war nicht viel, aber mehr konnte sie nicht tun. Und morgen, am Sonntag, hatte sie frei. Mit diesem Gedanken versuchte Jean sich zu trösten. Sie stellte den leeren Becher in die Spüle und ging durch den dunklen Flur zurück ins Schlafzimmer.
Im Pfarrhaus neben der Kirche war Father O’Brien damit beschäftigt, etwas zu verpacken. Keine Bücher oder Ordner, sondern Löffel. Father O’Brien war besessen von Löffeln. In seinen sechsundachtzig Lebensjahren hatte er es auf eine Sammlung von fast siebenhundert Löffeln gebracht. Keiner glich dem anderen. Zärtlich hob er jeden einzelnen aus einer ramponierten Pappkiste und betrachtete ihn, bevor er ihn in einen stabilen Versandkarton auf seinem Schreibtisch legte.
Er hatte die Löffel unter Missachtung seines Armutsgelübdes gesammelt, und deshalb fühlte er sich schuldig. Wenn er daran dachte, wie er an die Löffel gekommen war, schlug sein Gewissen noch heftiger. Trotzdem, so ein Löffel – Silber oder Edelstahl, elegant, verschnörkelt oder schlicht – besaß etwas, das ihn tröstete. Er brauchte sie. Es war ihm nie gelungen, sich von ihnen zu trennen.
Bis jetzt.
Aus der obersten Schreibtischschublade nahm er den letzten heraus und legte den glänzenden Silberteelöffel in den Versandkarton. Einen Augenblick lang betrachtete er ihn, wie er da auf den anderen lag, dann nahm er ihn wieder an sich. Nein, von diesem würde er sich nicht trennen. Auf der Rückseite befand sich eine Gravur: Meinem teuren Freund alles Liebe und Gute, MEHM
Die einzige Person, die von seiner Sammlung wusste und ihm mehr als sechzig Jahre lang in enger Freundschaft verbunden gewesen war, hatte ihm diesen Löffel geschenkt. Diesen einen zu behalten würde keine Sünde sein.
Vorsichtig ließ er sich auf dem Sessel am Schreibtisch nieder. Es war spät, und seine Arthritis machte ihm zu schaffen. Er legte den Löffel auf den Tisch und setzte seine Lesebrille auf. Vor ihm lagen ein kleines, in braunes Papier gewickeltes Päckchen und ein versiegelter Umschlag. Was sich in dem Päckchen befand, wusste er nicht. Der Umschlag dürfte einen Brief enthalten, geschrieben auf feinstem Büttenpapier. Zu gern hätte er ihn gelesen, doch das stand ihm nicht zu – noch nicht. Seufzend griff er danach und drückte ihn an die Brust.
Er schaute aus dem Fenster zu Marys Villa auf dem Hügel. Die Dunkelheit und der wirbelnde Schnee versperrten ihm die Sicht auf das große Marmorhaus, doch er wusste, dass es dort stand, hoch über Mill River, wie seit Jahrzehnten. Er kannte die Geschichte des Hauses, die Freuden und das Leid, vor allem das Leid, das darin geschehen war und noch immer geschah. Er wusste, dass Mary dort war, und er fragte sich, ob sie schlief, wie bei seinem Weggang, oder ob sie wach war und auf ihn hinunterschaute. Vielleicht war ihre Seele bereits entschwunden.
»Altes Mädchen, mögest du endlich Frieden finden«, flüsterte er und sah erneut durch den Schneesturm zur Villa auf dem Hügel.
Sie flogen.
An einem strahlenden Sonntagmorgen im Juni 1940 wurde die heitere Ruhe der Green Mountains in Vermont von dem sonoren Dröhnen eines Lincoln Zephyr Coupés gestört. Nach ein paar Minuten tauchte die schwarze, schnittige Lärmquelle auf. Dem leistungsstarken Motor des Wagens machte die kurvenreiche Landstraße keinerlei Mühe. Durch die offenen Wagenfenster fuhr der Wind in das blonde Haar von Vater und Sohn, Stephen und Patrick McAllister.
Der Friede im ländlichen Vermont stand in krassem Gegensatz zu anderen Teilen der Welt. Jenseits des Atlantiks strebten die Achsenmächte das gemeinsame Ziel an, die Weltherrschaft zu erlangen. Naziarmeen hatten Europa überrannt und Frankreich zur Unterwerfung gezwungen. Großbritannien evakuierte in fieberhafter Eile Soldaten aus den europäischen Ländern. Aber diese Ereignisse lagen einen Ozean weit entfernt und, für den Augenblick, von den Gedanken der Männer im Lincoln-Coupé sogar noch weiter.
Vater und Sohn entstammten in der zweiten und dritten Generation einer Familie, die sich siebzig Jahre zuvor in Vermont angesiedelt hatte. Die großen Mineralvorkommen dieses Staates, vor allem der außergewöhnlich weiße Marmor, hatten einen stetigen Einwandererstrom in die Steinbrüche der Green Mountains gelockt. Auf der Suche nach Arbeit und neuen Möglichkeiten waren Italiener, Schweden, Finnen, Schotten, Iren und andere den neugebauten Bahnstrecken nordwärts nach West Rutland gefolgt. Begierig nahmen sie die schwere und gefährliche Arbeit auf sich, Marmor zu brechen.
Einer dieser Einwanderer war Patricks Urgroßvater gewesen, ein junger Ire namens Kieran McAllister. Er hatte den Atlantik in den überfüllten Zwischendecks eines Cunard-Dampfschiffs überquert und die Arbeit im Steinbruch zwei Jahre lang ohne ernsthafte Verletzungen überstanden. Durch seine Anständigkeit, seinen gesunden Menschenverstand und mit ein wenig Glück hatte er sich die Hochachtung des Steinbruchbesitzers erworben und war zum Vorarbeiter befördert worden. Dank der Lohnerhöhung war es ihm möglich, mit einer Gruppe anderer Männer einen weiteren Steinbruch zu erschließen. Bald schon gründete er ein Marmorwerk in Rutland, in dem die Steinbrüche den Marmor schneiden oder behauen ließen, bevor er an die Käufer geliefert wurde.
Das Marmorwerk hatte sich für die McAllisters bezahlt gemacht. Da es in der Hochzeit der Vermonter Marmorindustrie das Erste seiner Art gewesen war, machten die Geschäfte Kieran zu einem wohlhabenden Mann. Fünfzig Jahre lang, trotz des Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise, war die Nachfrage nach Marmor stabil geblieben und mit der Zeit sogar gestiegen. Jetzt erfreuten sich Kierans Nachkommen der Früchte dieses Wohlstands, wie an der Vorliebe seines Enkelsohns für neue Automobile zu erkennen war.
Stephen warf Patrick einen Blick zu und grinste. »Fährt sich wunderbar.« Er klopfte auf das Lenkrad. »V-12 unter der Haube, hydraulische Bremsen. Hält bestimmt ewig.«
Der neue Lincoln war nur das letzte in einer langen Reihe teurer Automobile, die Stephen erworben hatte. Momentan besaß er fünf. Hatte er von einem Modell genug, tauschte er es gegen ein neues ein, das ihm ins Auge gefallen war. Wenn Patrick samstags vom College nach Hause kam, wählten Stephen und er einen Wagen aus der aktuellen Sammlung und unternahmen Landpartien durch das südöstliche Rutland County. Nachdem Patrick nun das College abgeschlossen hatte, freute er sich noch mehr auf diese wöchentlichen Ausflüge.
»Vielleicht probiere ich auf dem Rückweg selber mal aus, wie er sich fährt«, deutete Patrick an.
»Was, du willst dein Examensgeschenk nicht nach Hause reiten?«
Stephen sah zu Patrick hinüber und war überwältigt vor Stolz. Sein Sohn, mit einem Harvard-Abschluss, intelligent, kultiviert, ein echter Gentleman. Eines Tages, wenn Stephen in den Ruhestand ging, würde Patrick die Leitung der McAllister Marmorwerke übernehmen. Bis dahin würden sie Seite an Seite arbeiten, um den weiteren Erfolg des Familienunternehmens sicherzustellen.
An diesem Morgen war ihre Fahrt mehr als eine Landpartie. Stephen und Patrick waren auf dem Weg zu einer Farm auf der anderen Seite des Ortes Mill River, um für Patrick als Teil seines Examensgeschenks ein Pferd auszusuchen. Mill River lag etwa acht Meilen südöstlich von Rutland, wo Kieran das Marmorwerk gegründet hatte. Während Rutland dank der Marmorindustrie und der Eisenbahn ein betriebsames Handelszentrum geworden war, gewährte Mill River einen verschlafenen, malerischen Rückblick auf die Anfangstage Neuenglands.
Schließlich führte die gewundene Straße aus den grünen Hügeln hinaus und wurde gerade, und Stephen lenkte den Lincoln durch die Hauptstraße des Ortes. Sie kamen an einer Anzahl kleiner Häuser, einem Eisenwarenladen, einer Post, einem Schönheitssalon und dem Rathaus vorbei. Am Ortsende stand auf der rechten Seite eine Steinkirche. Die Landstraße machte eine scharfe Biegung und führte auf einer überdachten Brücke über den Fluss, dem der Ort seinen Namen verdankte.
Stephen konnte nicht verstehen, warum sein Sohn Pferde so anziehend fand. Er wusste, dass Patrick während seines ersten Semesters in Harvard mit dem Reiten begonnen hatte und dass viele Kommilitonen seines Sohnes, von denen einige aus den angesehensten Familien Neuenglands stammten, begeisterte Reiter waren. Für Stephen waren Pferde schmutzig, unberechenbar und machten mehr Ärger, als sie wert waren. Kein Pferd konnte sich mit einem der Automobile aus seiner persönlichen Sammlung messen.
Doch er hatte seinem Sohn noch nie einen Wunsch abgeschlagen und gedachte auch nicht, ihm das zu verweigern, was er sich anscheinend am sehnlichsten wünschte. Als Patrick nach seinem Studienabschluss nach Hause kam, hielt Stephen auf einer Überlandfahrt eine Überraschung für ihn bereit. Nicht weit von Rutland hatte er mehrere Hektar Weideland gekauft. Die Bauarbeiter waren gerade dabei, letzte Hand an einen Stall auf dem Gelände zu legen. Nun fehlten nur noch ein paar Pferde. Natürlich würde Patrick sie auswählen. Er hatte seinem Vater gesagt, er wolle als Erstes einen Morgan sowie einen Vollblüter. Heute würden sie den Morgan aussuchen.
»Schau, da ist es.« Stephen deutete auf ein kleines Schild am Straßenrand mit der Aufschrift Samuel E. Hayes. Morgans. Der Pfeil auf dem Schild zeigte nach rechts, und Stephen lenkte den Wagen auf einen schmalen Feldweg. Nach etwa einer Meile verbreiterte sich der Weg zu einer von Zuckerahorn umgebenen Lichtung. Ein alter Pick-up parkte neben einer riesigen, verwitterten, rot gestrichenen Scheune. Hinter der Scheune erstreckte sich von Holzgattern umgebenes Weideland. Ein Fußweg führte den Hügel hinauf zu einem kleinen Farmhaus.
Stephen und Patrick stiegen stirnrunzelnd aus. »Was für ein Dreckloch«, murmelte Patrick, während sie sich auf der heruntergekommenen Farm umschauten. Einige Pferde grasten am anderen Ende der Weide, und aus der Scheune ertönte ein kurzes Wiehern, aber von den menschlichen Bewohnern der Farm war weit und breit nichts zu sehen.
»Tja, wir wären jedenfalls hier. Als ich gestern anrief, sagte Hayes, es sei in Ordnung, wenn wir heute Morgen vorbeikämen. Warte hier. Ich gehe hoch zum Haus.« Stephen setzte seinen Hut auf, strich die Anzugjacke glatt und ging den Fußweg hinauf. In seinem dreiteiligen Anzug und den Budapestern wirkte er ziemlich deplatziert auf dem Fußweg zu etwas, das kaum mehr als ein Schuppen war.
Patrick ging zum Zaun hinüber und verschränkte die Arme auf der oberen Latte. Das Gatter war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Die Scheunentür stand offen, und drinnen erblickte er lange Boxenreihen. Er schaute zu seinem Vater, der langsam den Weg hinaufschritt, und wurde ungeduldig. Patrick brannte darauf zu sehen, ob es in so einem schäbigen Gebäude überhaupt irgendein anständiges Pferd gab, und es war ein Leichtes, über den Zaun zu klettern.
Zögernd betrat er die Scheune. In der Luft hing der vertraute Geruch von Pferdedung und Heu. Drinnen war es dunkel, vor allem nach dem strahlenden Sonnenschein draußen. Trotzdem konnte Patrick die Dachsparren und den mit Ballen gefüllten Heuboden erkennen. Über seinem Kopf knarrte es hin und wieder, und Patrick wurde nervös bei dem Gedanken, das alte Dach könnte einstürzen. Eine Mistgabel und eine Schubkarre lehnten an aufgestapelten Strohballen am Ende der Scheune. Die Holzwände und Balken waren roh und unbearbeitet. Die alte Scheune entsprach kaum den sauber gestrichenen Ställen in Harvard, doch immerhin war der Geruch derselbe, und das beruhigte ihn.
Zwei strahlend blaue Augen beobachteten ihn durch einen schmalen Spalt zwischen den Strohballen.
Direkt zu seiner Linken befand sich eine Sattelkammer. Die drei Sättel darin waren gut geölt, jedoch abgenutzt. Zaumzeug und Halfter hingen an Haken an der Wand, und mehrere Bürsten und Striegel lagen auf einem Bord.
Gegenüber der Sattelkammer stapelten sich Futtersäcke und Heuballen. Auf einem geöffneten Hafersack stand ein großes Schraubglas mit Zuckerwürfeln. Patrick schraubte es auf und schüttete sich ein paar Würfel in die Hand.
Die Boxen auf der Vorderseite der Scheune waren leer, aber weiter hinten entdeckte er mehrere Pferde. Während er durch den Gang schritt, vernahm er ein leises Wiehern. Ein Pferd in einer Box zu seiner Linken streckte den Kopf über die Boxentür, stellte die Ohren auf und schnaubte. Das Pferd war jung, ungefähr drei Jahre alt, schätzte Patrick, aber seine Statur wies bereits auf einen guten Stammbaum hin. Er trat näher. Das Pferd warf die Mähne zurück und nahm die Zuckerwürfel begierig an. Ein Rotbrauner mit schönen, geraden Beinen und tiefem Halsansatz. Das glänzende rote Fell ging an den Beinen allmählich in Schwarz über und bildete einen starken Kontrast zu der dichten schwarzen Mähne und dem Schweif. Das Pferd stupste Patricks Hand an, und als es keinen Zucker mehr fand, schnaubte es erneut und trat mit dem Vorderhuf gegen die Boxentür. »Du bist mir ja ein Munterer«, sagte Patrick und rieb ihm die Stirn. Unwillkürlich musste er lächeln. Die alte Scheune wurde jedenfalls dem Wert dieses Insassen nicht gerecht.
Hinter den Strohballen am Ende des Ganges war plötzlich ein dumpfes Geräusch zu hören, und die Mistgabel fiel zu Boden.
»Hallo?«, fragte Patrick erschrocken. »Ist da jemand?«
Stille.
»Patrick!«, rief eine Stimme von draußen. Er drehte sich um und sah seinen Vater mit einem Mann im Eingang stehen.
»Junge, das ist Sam Hayes«, sagte Stephen, als Patrick zu ihnen trat.
Der stämmige Pferdezüchter trug einen dreckigen Overall und hatte seinen breitkrempigen Hut aus der Stirn geschoben. Sein Haar zeigte nur wenige graue Strähnen, doch die tiefen Furchen in seinem Gesicht ließen Patrick vermuten, dass er älter als diese Scheune war.
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr Hayes.« Patrick streckte ihm die Hand hin. »Ich hörte, Ihre Morgans seien die besten in der ganzen Gegend.«
»Ganz meinerseits.« Mr Hayes ergriff Patricks Hand und freute sich offensichtlich über das Kompliment. »Ich zieh nicht mehr so viele auf wie früher, nur noch ein paar pro Jahr. Qualität vor Quantität, sozusagen. Außerdem hat die Nachfrage in den letzten Jahren nachgelassen. Die Leute waren ziemlich schlimm dran.« Er hielt inne und musterte Patricks elegante Aufmachung mit hoffnungsvollem Blick. »Ihr Pop hier sagte mir, Sie wären der Pferdeliebhaber in der Familie. Tja, mit einem Morgan können Sie nichts falsch machen. Aber wem sag ich das. Sind die robustesten Pferde, die Sie kriegen können. Intelligent außerdem. Und vom Temperament her zuverlässig und verständig. Die Stammbäume meiner Morgans gehen alle auf Justin Morgan zurück, den Stammvater der Rasse. Ich reite sie selber zu, bring ihnen Manieren bei, und ich verkauf sie erst, wenn sie vier sind. Glaub nicht, dass ein Pferd voll ausgewachsen ist, bevor es vier wird, darum behalt ich sie bis dahin, um sicherzugehen, dass sie einen ordentlichen Start kriegen.«
»Sie sagten, Sie hätten mehrere Pferde zum Verkauf?«, fragte Stephen.
»Jep, vier insgesamt, zwei Hengstfohlen und zwei Stutfohlen.«
»Ich hätte lieber ein Hengstfohlen«, sagte Patrick.
»Sie sind alle hier drinnen in der Scheune. Ich bringe sie einzeln raus, damit Sie sehen, wie sie gebaut sind, und auf ihnen reiten können, wenn Sie wollen. Hinter der Scheune ist ein kleiner Reitplatz.« Mr Hayes ging in die Sattelkammer und kam mit einem der alten Sättel und einer Satteldecke zurück. »Wenn Sie das hier mitnehmen könnten, bring ich den Ersten für Sie raus.« Er gab Patrick das Sattelzeug.
Stephen und Patrick machten kehrt und gingen um die Scheune herum zu einem Reitplatz neben der Weide. Stephen gab sich damit zufrieden, seinem Sohn die Auswahl zu überlassen. Etwas unbeholfen lehnte er sich an den Zaun. Mr Hayes kam aus der rückwärtigen Tür der Scheune und führte einen Fuchs hinter sich her. Patrick legte den Sattel über das Gatter und musterte das Pferd. Ein wunderschönes Tier, vom Körperbau ähnlich wie der Rotbraune, den er in der Scheune gesehen hatte. Dieses war lohfarben, mit einer leuchtend weißen Blesse auf Stirn und Nasenrücken.
Das Pferd trug Zaumzeug mit einer Longe. Mr Hayes trat in die Mitte des Reitplatzes und schüttelte die Longe leicht. Der Fuchs trabte im Kreis. Die Bewegungen waren fließend und geschmeidig. Ein Schnalzen von Mr Hayes brachte das Pferd dazu, in einen leichten Galopp zu fallen, den Kopf hochgeworfen und mit schlagendem Schweif. Nach ein paar Minuten brachte Mr Hayes das Pferd zum Stehen, und Patrick ging zu ihm hinüber.
Mr Hayes hielt den Kopf des Hengstfohlens fest, so dass Patrick den Körperbau prüfen konnte. Patrick fuhr mit den Händen über Hals, Körper und Beine und hob jeden einzelnen Huf hoch. Das Tier war offensichtlich daran gewöhnt, angefasst zu werden. Nachdem es geduldig gewartet hatte, bis Mr Hayes seinen Kopf losließ und es wieder auf vier Beinen stehen konnte, wandte es seine Aufmerksamkeit dem Gras auf der Koppel zu.
»Wollen Sie ihn satteln?«, fragte Mr Hayes, an Patrick gewandt.
»Könnte ich erst den anderen sehen?« Patrick dachte an den Rotbraunen, den er im Schuppen entdeckt hatte.
»Klar doch.« Mr Hayes führte den Fuchs vom Reitplatz. Nachdem er die Zügelenden um den Zaun geschlungen hatte, ging er in die Scheune und kehrte mit dem zweiten Vierjährigen zurück. Es war jedoch nicht der Rotbraune, sondern ein dunkelbraunes Pferd. Wieder sah Patrick zu, wie Mr Hayes das Pferd auf dem Reitplatz im Kreis traben und galoppieren ließ. Auch dieses Hengstfohlen hatte einen makellosen Körperbau, und es schien so gut ausgebildet zu sein wie das erste. Nachdem Patrick es abgelehnt hatte, den Fuchs zu reiten, fühlte er sich verpflichtet, dieses Pferd zu satteln. Er ritt mehrere Runden um die Koppel. Das Fohlen ritt sich weich und gehorchte jedem Kommando, ohne zu zögern. Trotzdem fehlte ihm und dem Fuchs etwas.
Patrick stieg ab und übergab die Zügel an Mr Hayes.
»Beide sind prachtvolle Tiere«, sagte Patrick zu ihm und hielt inne. »Allerdings ist mir vorhin im Schuppen noch ein anderes aufgefallen, ein Rotbrauner. Ist der zu verkaufen?«
»Das ist ein Dreijähriger, na ja, fast dreieinhalb. Ein richtiger kleiner Teufel. Hab ihn heute Morgen in der Box behalten, weil ich nachmittags mit ihm arbeiten will. Ich gewöhne ihn gerade erst an den Sattel und merke jetzt schon, dass man mit dem alle Hände voll zu tun haben wird. Nicht bösartig, beileibe nicht, aber eindeutig temperamentvoll. Den kann ich erst verkaufen, wenn er vier ist. Genau wie die anderen. Aber ich hole ihn, damit Sie ihn sich ansehen können.«
»Das würde ich wirklich gerne.« Patrick schaute zu seinem Vater, um eine zweite Meinung einzuholen, aber Stephen hatte das Gespräch gar nicht mitbekommen. Er streichelte vorsichtig die Nase des Fuchses außerhalb der Koppel.
»Mary, könntest du den Rotbraunen rausbringen?«, rief Mr Hayes in Richtung der Scheune und machte sich daran, das braune Hengstfohlen abzusatteln. »Mary ist meine Tochter«, erklärte er. »Sie ist ziemlich schüchtern, hat wenig mit dem Verkauf zu tun, hilft mir aber ansonsten viel bei den Pferden. Mit einigen kann sie sogar besser umgehen als ich, und der Rotbraune ist bei ihr wirklich brav.«
Seit sie auf die Farm gekommen waren, hatte Patrick außer Mr Hayes niemanden gesehen oder gehört. Dann fiel ihm das Geräusch in der Scheune wieder ein. Anscheinend war er nicht allein gewesen.
Ein lautes Wiehern erklang, und der Rotbraune stand im Scheunentor. Er war groß für einen Morgan und verdeckte Mary, die auf der anderen Seite des Pferdes ging, beinahe vollständig. Mit fester Hand am Halfter führte sie das Hengstfohlen auf die Koppel.
In der Morgensonne sah der Rotbraune noch atemberaubender aus als im Dämmerlicht der Scheune, was er auch zu wissen schien. Wiederholt warf er den Kopf seitwärts und scheute, als wollte er seine mahagonifarbene Schönheit zur Schau stellen. Mary kam mit ihm durch das Gatter auf Patrick zu. Wenn Patrick genauer hingeschaut hätte, wäre ihm das Blitzen in den tiefbraunen Augen des Hengstfohlens nicht entgangen, dieses gewisse Etwas, das ihm bei den anderen beiden Fohlen gefehlt hatte. Aber trotz seiner Pferdekenntnis bemerkte er das Blitzen überhaupt nicht.
Er konnte den Blick nicht von Mary losreißen.
Sie führte den Hengst auf den Reitplatz und blieb fast reglos neben ihm stehen, die Führleine des Halfters immer noch fest im Griff. Patrick hörte, wie Mr Hayes von dem Rotbraunen erzählte, doch seine Stimme war wenig mehr als ein monotones Summen, gelegentlich unterbrochen von ein paar verständlichen Worten.
»… und er hat einen der edelsten Köpfe, die ich je bei einem Morgan gesehen habe, tiefliegende Augen, einen schön geschwungenen Hals …«
Patrick nickte und richtete den Blick auf den Hengst, doch seine grünen Augen wurden wieder zu Mary hingezogen. Sie hatte dunkelbraunes, fast schwarzes Haar. Das meiste war im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden, aber ein paar Strähnchen wehten um ihre Schläfen. Ihre Wangenknochen waren hoch und zart unter der hellen Haut, die ein Hauch von Röte färbte. Sie blickte zu ihm auf, und ihre blauen Augen waren von den längsten Wimpern umrahmt, die er je gesehen hatte. Diese Wimpern konnte er ausführlich betrachten, da Mary sofort, als sich ihre Blicke trafen, den Kopf senkte und sich dem Hengst zuwandte. Ihr zurückhaltendes Wesen machte es leicht, sie zu übersehen, doch wenn man sie einmal bemerkt hatte, war sie bezaubernd.
»… gerade Beine, und Sie werden bemerkt haben, dass er genauso gut gebaut ist wie die Vierjährigen, und er könnte sogar größer werden, mit einem Stockmaß von über eins fünfzig, wenn er ausgewachsen ist …«
Mary trug eine graue Baumwollbluse und alte Arbeitshosen, zusammengehalten von einem braunen Ledergürtel. Die Hosenbeine steckten in abgenutzten Reitstiefeln, die ihr bis ans Knie reichten. Patrick nahm diese Aufmachung kaum zur Kenntnis. Ihn interessierte viel mehr, was sich unter der Kleidung befand. Im Blusenausschnitt war nur die Halsgrube zu erkennen, der Ansatz ihrer Brüste, und die schmale Taille war unter dem Gürtel verborgen. Sie war kaum über eins fünfzig groß, wirkte aber durch ihren schlanken Körperbau noch kleiner. Von edelster Zucht, dachte er.
Abgesehen von ihrer Schönheit fühlte sich Patrick jedoch noch von etwas anderem angezogen: Marys Verletzlichkeit. Ihre Sanftmut wäre jedem ins Auge gefallen, doch für einen Mann der Gesellschaft, der jeden schon nach dreißig Sekunden einzuschätzen wusste und für den die Ausübung von Macht über andere Zerstreuung bedeutete, stellte sie eine Einladung dar. Patrick war ein Habicht, der soeben einen Spatzen entdeckt hatte.
»Er ist gerade erst angeritten, und er braucht noch mehrere Monate Ausbildung, bis er für einen Gentleman wie Sie geeignet ist«, schloss Mr Hayes. »Und wie gesagt, ich verkaufe sie sowieso erst, wenn sie vier sind. Aber er ist ein gutes Pferd, ohne Frage.«
Patrick zwang sich, dem Pferdezüchter wieder zuzuhören. »Ich will ehrlich sein, Mr Hayes. Die Hengstfohlen sind außergewöhnlich, aber dieser Rotbraune übertrifft sie alle. Ich brauche gar nicht zu sehen, wie Sie mit ihm arbeiten, um zu wissen, dass er derjenige ist, den ich haben will. Vorausgesetzt, er besteht die Überprüfung durch unseren Tierarzt. Wir können sicherlich zu einer Einigung kommen. Ende des Sommers wird er fast vier sein. Kann ich Ihnen eine Anzahlung leisten und ihn dann übernehmen?«
Mr Hayes drückte seinen Hut fester auf den Kopf und strich über seinen graumelierten Bart. »Das hab ich noch nie gemacht«, sagte er. »Mary, könntest du die anderen auf die Weide bringen?« Mary schlüpfte hinüber zum Fuchs und dem Dunkelbraunen und führte sie zum Gatter im Weidezaun. Patrick sah ihr nach. Er stellte sie sich an seinem Arm vor, in einem eleganten Kleid, im Geiste sah er sie beide bei einem gesellschaftlichen Ereignis, sah seine Eltern beifällig lächeln, sah den Ausdruck auf den Gesichtern der anderen Gäste, vor allem der Männer. Er hatte von allem immer nur das Beste bekommen. Sie würde perfekt zu ihm passen – eine strahlende, aber fügsame Partnerin in seiner Welt des Wohlstands und des Ansehens. Er biss die Zähne zusammen, plötzlich überwältigt von Verzweiflung bei dem Gedanken, sie nicht mehr wiederzusehen. Bis ihm eine Idee kam.
»Ich bezahle Ihnen das Doppelte vom dem, was Sie normalerweise für Ihre Fohlen bekommen«, platzte er heraus, was zur Folge hatte, dass sich der Ausdruck des Farmers vollkommen veränderte. »Dafür würde ich gerne an den Wochenenden herkommen, um Ihnen bei der Ausbildung zu helfen. Auf diese Weise können Sie versichert sein, dass er einen guten Start bekommt, wie Sie es genannt haben. Ich habe im College reiten gelernt, aber ich habe noch nie dabei geholfen, ein Pferd auszubilden. Nach den Manieren der Vierjährigen zu urteilen, müssen Sie darin ziemlich gut sein.« Patrick lächelte, bemühte sich, einen freundlichen und hoffnungsvollen Eindruck zu machen und nicht lüstern auf Marys sich entfernendes Hinterteil zu starren.
»Tja«, sagte Mr Hayes schließlich. »Das ist ein bisschen früher, als ich sie normalerweise gehen lasse, aber ich sehe keinen Grund, warum ich ein solches Angebot ausschlagen sollte. Ich nehme an, wenn Sie dann auch ein bisschen mit ihm arbeiten, könnte er sich an Sie gewöhnen, und ich könnte sicher sein, dass mit ihm alles gutgeht …«
»Also sind wir uns einig?«, fragte Patrick.
»Ich erwarte Sie dann samstagmorgens, so gegen zehn«, sagte Mr Hayes, als sie einschlugen.
Patricks Vater kam zu ihnen herüber. Er schaute erst zu Patrick, dann zu dem neben ihm grasenden Fohlen. »Das ist er? Nette Farbe. Wann sollen wir den Laster für ihn schicken?«
»Ach, um den ersten September oder so«, erwiderte Mr Hayes lächelnd.
»Wie bitte?«
»Er ist der Beste von allen, Pop, aber er ist noch nicht ganz zugeritten«, erklärte Patrick. »Daher behält Mr Hayes ihn über den Sommer, arbeitet mit ihm, und wir bekommen ihn in ein paar Monaten. Und ich werde an den Wochenenden bei der Ausbildung helfen.«
»Oh.« Stephens Mundwinkel sanken herab, die Lippen öffneten sich leicht, und seine Brauen zogen sich zusammen. »Dann fallen unsere Samstags-Spritztouren wohl aus.« Er klang quengelig und eingeschnappt. »Aber du warst doch ganz wild darauf, ein Pferd zu bekommen, Patrick. Und du willst wirklich den ganzen Sommer warten? Die anderen beiden sehen doch auch prächtig aus.«
»Natürlich. Doch ein paar Monate auf das richtige Pferd zu warten ist nicht zu lang. Außerdem hat der etwas Besonderes an sich. Ich muss ihn haben.« Und ich werde mir mehr als den Rotbraunen von dieser Farm holen, dachte er.
»Wie du meinst, Junge«, erwiderte Stephen mit gezwungenem Lächeln und zog Scheckbuch und Stift heraus.
Stephen gab Mr Hayes eine Anzahlung auf den Rotbraunen und ging dann mit Patrick zum Lincoln zurück. Vater und Sohn waren schweigsam, als sie von der Farm zur Hauptstraße fuhren.
»Ich muss schon sagen, ich ziehe gute Pferdestärken immer noch einem guten Pferd vor«, stellte Stephen schließlich fest. »Wenn du meinst, der Rotbraune sei ein echter Fund, dann verlasse ich mich auf dein Urteil. Muss wohl so sein, wenn du bereit bist, bis zum Ende des Sommers darauf zu warten, du Pferdenarr. Nun ja«, fügte er hinzu und trat mit zufriedenem Grinsen auf das Gaspedal, »jedem das Seine.«
»Ein echter Fund«, bestätigte Patrick, doch er meinte nicht den Rotbraunen.