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Silo ist das Pseudonym von Mario Luis Rodríguez Cobos. Er wurde am 6. Januar 1938 in Mendoza, Argentinien, geboren, wo er bis zu seinem Tode 2010 lebte. Seine Werke umfassen ein breites Spektrum, das von Philosophie über Psychologie, Soziologie, Mythologie bis hin zur Fiktion und Spiritualität reicht. Er ist u.a. Verfasser der Werke Der Innere Blick (1972), Die Innere Landschaft (1981) und Die Menschliche Landschaft (1988), die später in der Trilogie Die Erde menschlich machen (1989) veröffentlicht wurden. Später verfasste er Geleitete Erfahrungen (1988), Beiträge zum Denken (1988), Universelle Ursprungsmythen (1990), Der Tag des geflügelten Löwen (1991), Briefe an meine Freunde (1993), Silo spricht (Vorträge 1969 – 1995), Wörterbuch des Neuen Humanismus (1996), Silos Botschaft (2002 und 2007) sowie Notizen zur Psychologie I – IV (1975 – 2006). Seine Schriften erschienen als Gesammelte Werke I und II erstmals 2002 in Mexiko. Er gilt als Gründer der international als Neuer Humanismus (oder auch Universalistischer Humanismus) bekannten Denkströmung sowie als Wegbereiter einer neuen Spiritualität, welche die auf Gewaltfreiheit basierende, gleichzeitige persönliche Entwicklung und gesellschaftliche Veränderung hin zu einer „universellen menschlichen Nation“ fördert.

Der Tag des
geflügelten Löwen

Silo

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

El día del león alado

im Verlag Editorial Planeta, Buenos Aires,

Argentinien, 1991

Copyright der spanischen Originalausgabe © 1991 Silo

Übersetzt aus dem Spanischen von

Daniel Horowitz

in Zusammenarbeit mit Gustavo Joaquin,

Heike Steinbach und Ivetta Csongradi

Edition Pangea

Zürich – Berlin – Wien

Januar 2019

www.editionpangea.ch

Copyright deutsche Ausgabe: © 2018 Pangea, Zürich

Gestaltung: Mariana Garcia Morteo

e-Book: mbassador GmbH, Basel

Printed in Hungary

ISBN 978-3-907127-04-9

eISBN 978-3-907127-05-6

Inhaltsverzeichnis

Kommentar

Kurzgeschichten

Durchgangsheim

Die große Stille

Tippe die Antwort ein!

Der Scheiterhaufen

In den Augen Salz, an den Füßen Eis

Erzählungen

Kaunda

Pamphlet im Tangoschritt

Der Fall Poe

Fiktionen

Software und Hardware

Die Jägerin

Der Tag des geflügelten Löwen

Kommentar

Die vorliegende Reihe von Kurzgeschichten und Erzählungen zeigt uns eine neue Facette dieses immer wieder überraschenden Autors. Als wir uns gerade mit seinen philosophischen Essays, seinen gelehrten Exegesen und seiner poetischen Prosa vertraut gemacht hatten, kommt er plötzlich daher und legt ein Werk vor, welches der Science-Fiction und mitunter auch der ironischen Erzählung nahe steht. Dieses literarische Kaleidoskop ist meines Erachtens von einer Fülle und Tiefe, die von den Autoren des phantastischen Genres selten erreicht wurde. In der Tat handelt es sich um Phantasien, die uns nicht in Traumwelten entführen, sondern subtil zu den wichtigen Dingen des Lebens hinführen.

J. Valinsky

Kurzgeschichten

Durchgangsheim

Barek al-Muftala war aus der Gegend verschwunden. Seit dem frühen Morgen war ich zwischen den Importgeschäften hin- und hergegangen, die in den Marktbuden arbeiteten, aber niemand konnte mir einen Hinweis über seinen Verbleib geben. Ein alter Obsthändler sagte mir jedoch, dass er Barek drei Tage zuvor beim Verlassen der gelben Zone der Stadt gesehen und verworrene Gerüchte über ihn gehört hatte. Auf dem Zettel, den er mir in die Hand drückte, zeigte er auf einen Ort in Malinkadassi. Ich ging also in Richtung Hauptplatz und musste mich dabei Joghurt- und Bronzeverkäufern sowie anderen Händlern erwehren. Danach erholte ich mich bei einem Shá in einer Bar, wobei ich Wasserpfeife und Kaffee zurückwies. Schließlich machte ich mich auf den Weg zum Busterminal und bestieg dort ein Taxi. Nach langer Fahrt hielt der Wagen vor der einstöckigen Villa, an der ein Schild aus Bronze prangte: „DURCHGANGSHEIM“.

An der Tür erhielt ich die gesuchte Information. „Er ist drinnen“, sagte man mir. Ich bahnte mir einen Weg durch die trauernde Menge und schaffte es bis in ein riesiges Zimmer. Ein großer Menschenkreis umringte den offenen Sarg, der mit dem auf einen hölzernen Arm gestützten Deckel fast einem Konzertflügel ähnlich sah. Neben dem Sarg rezitierte ein Dicker mit lauter Stimme Gebete. Von Zeit zu Zeit antwortete die Menge mit kurzen Stoßgebeten. Der Kerl fuhr mit seiner rechten Hand in regelmäßigen Abständen in den Sarg, als ob er ein Kleidungsstück oder möglicherweise das Leichentuch des Verstorbenen zurechtrücken würde. Mit diesem Bild vor Augen näherte ich mich, bis ich nahe am Zentrum der Szenerie war. Da begriff ich, dass der Zelebrant den vermeintlich Toten zu beruhigen versuchte, während dieser darum kämpfte, seinen Kopf zu heben. Mit verbundenem Kopf lag da Barek al-Muftala direkt vor meiner Nase und jammerte schwach. Anscheinend hatte er einen schweren Unfall erlitten und lag im Sterben.

Nun überschlugen sich die Ereignisse. Ein Bursche kam mit einem Gefäß an, welches er dem Dicken reichte. Dieser öffnete gelassen das Glasgefäß, öffnete Bareks Mund und goss den Inhalt hinein. Dann schob er mit der einen Hand, in einer keineswegs brüsken sondern vielmehr sanften und weichen Bewegung die Kinnlade nach oben und hielt mit der anderen Hand die Nase des Sterbenden zu. Während er eine Gruppe von Familienangehörigen anschaute, bewegte der Zelebrant den Kopf Bareks an der Nase von rechts nach links. Nach einer gewissen Zeit stellte er sich auf einen Stuhl, den man ihm gereicht hatte, und beugte sich von dort in unsicherem Gleichgewicht tief in den Sarg hinab. Dort überprüfte er Barek genau, bis er sich dazu entschloss, wieder vom Stuhl hinabzusteigen. Zufrieden mit der gut vollbrachten Arbeit entfernte er sich mit der Haltung und dem Ernst, die solchen Umständen angemessen sind. Das war das Zeichen, welches den Damm der Emotionen brechen ließ, die durch den Tod eines geliebten Freundes hervorgerufen wurden. Während alle zu weinen anfingen, nahm ich eine feierliche Haltung ein, beobachtete aber verstohlen die feuchten, grünen Augen der Tochter Bareks. Sie hatte als die einzige Hinterbliebene der Euthanasie ihres Vaters zugestimmt, und unter den vielen möglichen Formen des Hinscheidens hatte sie die Erlesenste gewählt.

Die große Stille

Am Mittag ließen sich die Weinleser im Schatten der dichtesten Spaliere nieder. Nach dem Essen versuchten sie ein Mittagsschläfchen zu machen. Mehr als 40 Grad Celsius ließ die Vögel verstummen und die Pferde in ihren Gehegen schläfrig werden. Selbst die Transportlastwagen und die Traktoren zum Ziehen der Karren und Anhänger warteten geschützt in ihren Schuppen. Lediglich eine leichte Brise bewegte einige Weinblätter und man konnte das Plätschern des Wassers in den Bewässerungskanälen kaum hören. Es war ein trockener und gleißend heißer Nachmittag, wie ihn nur diejenigen kennen, die unter den gewaltigen blauen Himmeln der Halbwüsten leben. Durch die Hitze dem Ersticken nahe hätte man geschworen, das Knistern der auf die verbrannte Erde treffenden Sonnenstrahlen hören zu können. Ich sah jedoch, wie dieses extravagante Subjekt trotz der Hitze eine Reihe Weinstöcke durchquerte und auf einen breiten Weg gelangte und wie sein treuer Hund ihm im Abstand von wenigen Metern folgte; wie er seine Hosen hinunterließ und sein entblößtes Gesäß den Sonnenstrahlen aussetzte; wie er sich hockend eines dunklen Gelees entledigte, das sich beim Hinuntertropfen mit dem Staub vermischte; wie es sich rasch verfestigte und wie der Hund seine Schnauze öffnete und mit der Präzision einer Baggerschaufel ein festes und einwandfreies Stück schnappte.

Möglicherweise war ich wegen der Temperaturen der Ohnmacht nahe oder mir fehlte zumindest eine ausreichende Durchblutung im Hirn, da ich die Sonne für einen Augenblick als durchsichtige Blase sah. Dann glänzte das Gesäß und die Körper des Hundes und seines Herrchens verharrten regungslos in ihren absurden Stellungen. Es gab weder ein Windhauch noch das leiseste Geräusch des Bewässerungsgrabens, noch Herzschlag, noch Hitze, noch Empfindung… Die Große Stille brach mitten in den Vorwand des Unzusammenhängenden herein.

Dann verlieh der träge Fluss des Daseins den Ameisen und der verstohlenen Eidechse erneut Leben. Ein entferntes Wiehern erinnerte mich daran, dass ich wieder in die Welt der Ereignisse zurückgekehrt war. Ich nahm also den Weinlese-Eimer auf und eingehüllt in eine sich in konzentrischen Kreisen ausdehnende Glückseligkeit begann ich, mit der Weinleseschere eine Traube nach der anderen zu schneiden.

Tippe die Antwort ein!

Wie es der Computer schaffte, auf eigene Faust Gedichte zu schreiben, ließ mir lange Zeit keine Ruhe. Es war nämlich so, dass er immer gerade dann in Aktion trat, wenn ich abwesend war. Aber heute habe ich es geschafft, seine Spuren ganz genau zu verfolgen. Und jetzt ist Schluss, mein Lieber; jetzt ist Schluss, du blöder TZ-28300!

Gerade war noch alles in Ordnung. Ich trank Kaffee und war mit meinen Geräten beschäftigt. Wolf schlief wie immer auf einem Teppich in der Ecke. Während ich im Versuchszimmer mit den Instrumenten und Substanzen arbeitete, ließ ich mir vom Chemie-Fachprogramm helfen, das ich auf dem TZ-28300 installiert hatte. Ich war an dem Punkt, an dem mich der Computer fragte: „Schmilzt es leicht?“ und ich tippte „nein“. Daraufhin entwarf das Programm Schlussfolgerungen und gab Empfehlungen, die es auf das Endlosformular drucken ließ, sodass ich sie nachträglich überprüfen konnte.

„Wahrscheinlich ist es eine Ionenbindung. Löst sie sich auf?“

„Ja.“

„Bestimme den PH-Wert und stelle dann fest, ob es eine Säure, eine Lauge oder eine neutrale Substanz ist. TIPPE DIE ANTWORT EIN!“

„Sie ist neutral.“

„Es handelt sich um ein neutrales Salz. Stelle mit Hilfe der Flammprobe fest, welches Metall es enthält. Hast Du eine Antwort?“

„Ja.“

„Mach nun mit der Bestimmung der Radikalen weiter. Wenn man Bariumchlorid hinzufügt und es eine weiße Ausfällung zeigt, ist das Radikal ein Sulfat. Wenn man Silbernitrat hinzufügt und es dabei weiß wird, handelt es sich um Chlorid. Wenn beim Erhitzen Kohlendioxid ausgeschieden wird, ist es Karbonat. Kombiniere nun das Metall mit dem Radikal, um den Namen der Verbindung festzustellen. TIPPE DIE ANTWORT EIN!“

Um mit den Versuchen weiterzumachen, ging ich auf der Suche nach ein paar Porzellangefäßen in den anderen Raum, als ich, wie schon bei früheren Gelegenheiten, das Surren hörte, welches den Ausdruck eines Textes ankündigte, und ich rannte zurück. Der Drucker verschlang auf der einen Seite leeres Papier und spuckte es beschrieben auf der anderen aus. Vor meinen Augen bildete sich dort eine Zeichenfolge, die aber unmöglich vom Programm erzeugt worden sein konnte, mit dem ich arbeitete. Der TZ-28300 war dabei, chemische Daten mit unterschiedlichsten persönlichen Informationen, die ich gespeichert hatte, und mit Auszügen der Enzyklopädie, die sich auf seiner Festplatte befand, zusammenzusetzen. Jedoch war diese Zusammenhanglosigkeit nichts Besonderes. Zwei oder drei Speicherbereiche, die sich aufgrund eines unangebrachten „Merge“-Befehls mischten, verursachten solche Phänomene. Das Problem dabei war, dass dieser Befehl von mir eingegeben worden sein musste, was aber nicht der Fall war, und schon gar nicht in meiner Abwesenheit. Darüber hinaus wäre es für zusammengeführte Daten nötig gewesen, durch ein mit künstlicher Intelligenz ausgestattetes Textverarbeitungsprogramm zu laufen, sodass mein Chemie-Programm jedes Mal die Fragen und Befehle ausdrucken konnte. Da bildeten sich zu viele Fehler, die alle in einer bestimmten Richtung zusammenliefen! Ich ließ Meter um Meter gedrucktes Papier he­rauskommen, bis sich einige verständliche Fünfzeiler zeigten:

Jede Blume ist immer phanerogam.

Du hingegen, Marie Isabel,

(Telefon 942-1318 – Ahornstraße 2317)

bist manchmal absurd und nobel,

unruhig, verdeckt und kryptogam!

In der Flammprobe werde ich

dein grünes Kupfer sehn,

dein rosarotes Lithium

dein karmesinrotes Strontium

Jähzornig und unbeugsam monogam!

Weder jedes Metall wird unreduzierbar,

noch die Schuld zum brennbaren Sauerstoff.

ICH SCHULDE:

der Drogerie feines Eisenpulver

und dem Lebensmittelladen Hundefutter.

Ich sprang zum Drucker und schaltete ihn aus: Also: „Lebensmittelladen, Hundefutter?“, was? Die Maschine gab mir mit ihren freien Assoziationen also diesen Hinweis. Deshalb denke ich wiederum: „Jetzt ist Schluss, mein Lieber! Das war‘s, du blöder TZ-28300!“ Ich würde Schritt für Schritt Maßnahmen treffen und ohne dabei Fehler zu machen.

Ich fahre als Erstes das System herunter und warte ein paar Sekunden. Ich fahre es wieder hoch. Ein „Klick“ ist zu hören. Die Festplatte beginnt sich zu drehen, während sie mir mit ihren Leuchtdioden zuzwinkert. Ich starte das Chemie-Fachprogramm. Alles antwortet und alles ist in Ordnung. Ich stehe auf und gehe mit lauten Schritten ins Nebenzimmer, wobei ich die Türe aber einen spaltbreit offen lasse. Ich gehe ein bisschen umher, schleiche dann aber leise zur Tür zurück. Ich stelle mich so hinter die Türspalte, dass ich einen großen Teil des Versuchszimmers beobachten kann.

Mein Verdacht bestätigt sich! Ich sehe, wie sich eine vorsichtige Figur auf den Computer zubewegt. Mit einem Sprung ist sie an der Tastatur. Während ich mit Getöse reinkomme, rennt Wolf jaulend in die Ecke zurück, wo er sich hinlegt und tot stellt.

Hockend verwarne ich den Täter.

„Also du bist das Phantom der Oper, das glaubst du also? Mit deiner Schnauze in den Tasten rummachen? Du wirst nun sehen, was du davon hast!“

Wolf erwacht wieder zum Leben. Er setzt sich auf seinen Hinterteil, hebt seine Brust und stützt dabei den Rest des Körpers auf seine beiden Pfoten eines Schäferhund-Welpen ab. Er beobachtet mich regungslos mit gespitzten Ohren und aufgerichteter Schnauze. Während ich weiter schimpfe, beginnt er, mich mit menschlichem Blick anzusehen. Entwaffnet gebe ich auf und streichle seine Schnauze. Da höre ich einen „Klick“ hinter mir. Die Festplatte hat angefangen zu arbeiten. Was ist denn das? Die Leucht­dioden blinken und das Summen des Druckers erfüllt das Zimmer. Ich stehe auf und bin mit zwei großen Schritten beim Computer, aber der Drucker frisst kein Papier mehr. Die Dioden leuchten, bleiben aber ruhig. Ich beobachte Wolf, der unbeweglich in seiner Ecke sitzt und seinen menschlichen Blick auf mich geheftet hat. Ich habe die merkwürdige Empfindung, dass sich zwischen dem TZ-28300, Wolf und mir eine Warteschleife gebildet hat. Also fasse ich einen Entschluss, reiße das bedruckte Papier heraus, halte es mir vor Augen und lese darauf:

Willst Du etwa Deinem Hund Futter geben? Oder willst du ihn lieber in Säure, oder in einer Lauge oder in einer neutralen Substanz auflösen?

TIPPE DIE ANTWORT EIN!

Der Scheiterhaufen

Auf das Brückengeländer gestützt beobachtete ich die Menschengruppe, die sich am Flussufer versammelt hatte und konnte deutlich erkennen, was sie machte. Ich sah, dass niemand ausreichend trockene Äste oder Holzscheite fand, um das sauber und ordentlich entzündete Feuer zu vergrößern. Nach mehreren vergeblichen Versuchen belebten einige Männer mit Lappen und alten Ausgaben des Nepal Telegraph die Flammen. Das Feuer wurde größer und dann entschlossen sie sich, eine Art Pritsche in das Bestattungsfeuer zu stellen. Das Feuer loderte empor, vielleicht wegen der Hanffasern der an den Seitenlatten befestigten Beutel oder wegen des Stoffs, in welchem der Verstorbene eingehüllt war. Allerdings währte das nicht lange. Die Männer fügten noch feuchte Zweige und Blätter hinzu, wodurch die Stätte in Rauch eingehüllt wurde und die Gruppe sich hustend zerstreute. Als der Wind drehte, näherten sich zwei Männer dem hellflackernden Feuer und schoben den Verstorbenen bis zum Wasser. Es war eine mit einem Anflug von Zorn und Ungeduld vollbrachte Handlung, was im Gegensatz zu den gewohnten Kremationen stand, bei denen am Schluss die Asche eingesammelt wird, um sie später auf dem Fluss zu verstreuen.