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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Vorwort der Autorin
Frühsommer 2018
Frühjahr 1965
Frühsommer 2018
Frühjahr 1965
Frühsommer 2018
Frühjahr 1965
Frühsommer 2018
Frühjahr 1965
Sommer 2018
Frühjahr 1965
Sommer 2018
Herbst 2018
Epilog
Sommer 2019
Danksagung
Quellenangaben
Quellenangaben
Vorwort:
• Infografik „Fakten zum
Welt-Suizidpräventionstag 2012“, Freunde fürs Leben,
https://www.frnd.de/infografik-suizid-in-deutschland/, zuletzt abgerufen am
14.11.2018.
Songtext:
• Not Like The Other Girls
M&T: Aki Hakala,
Eero Heinonen, Lauri Yloenen, Pauli Rantasalmi
© Boneless Skeletor
Oy / Grotto Entertainment Oy
Mit freundlicher
Genehmigung von Sony/ATV Music Publishing (Germany) GmbH.
• Sagen und Legenden der Eifel, hrsg.
Hans-Peter-Pracht, 4. Auflage 1990, J. P. Bachem Verlag, Köln. Mit freundlicher
Genehmigung des J. P. Bachem Verlages.
• Maria, Songtext aus Westside Story,
Stephen Sondheim, 1957.
• America, Songtext aus Westside Story,
Stephen Sondheim, 1957.
• Liebeskummer lohnt sich nicht, Songtext
von Christian Bruhn und Georg Buschor, 1964.
Der Verlag dankt der
deutschen Depressionsliga, der Nummer gegen Kummer e.V., dem Verein Freunde
fürs Leben, der Initiative Tabu Suizid e.V. sowie dem WEIL Verein für die
freundliche Unterstützung und Abdruckgenehmigung.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.verlagshaus-el-gato.de
1. Auflage März 2019
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk darf - auch teilweise - nur mit
Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Umschlaggestaltung: Hannelore Nistor
Verwendung: Bildern von iStockphoto
Satz: Verlagshaus el Gato
Lektorat: Alexandra Fauth, Sebastian Heise
Druck: Printed in Europe
ISBN: 978-3-946049-37-1
eISBN: 978-3-946049-38-8
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.ddb.de.
Vorwort
Wenn bei
einem uns nahestehenden Menschen Depressionen mit begleitenden Suizidgedanken
auftreten, kann uns das selbst zutiefst hilflos und ohnmächtig machen. Aus
Angst davor, etwas falsch zu machen oder etwas zu sagen, was den anderen nur
noch mehr runterzieht, ziehen wir uns vielleicht von ihm zurück und verstärken
so ungewollt dessen Leidensdruck. Auch meist gut gemeinte Durchhalteparolen
scheinen nicht immer hilfreich, vor allem, wenn sie unser Verständnis für den
anderen und dessen Not nicht widerspiegeln. Dass eine Depression den
gesellschaftlichen Ehrenkodex des „schneller, höher, weiter“ verletzt und daher
Betroffene schnell als Loser stigmatisiert werden, die ihr Leben nicht auf die
Reihe kriegen, macht das darüber sprechen noch viel schwerer.
Heidi Möhker
gebührt der Dank, sich dieses komplexen und wichtigen Themas in der Geschichte
von Emma und Tim angenommen zu haben. Ich wünsche ihr und ihrem Buch, dass sich
gerade Jugendliche neu für ihre Freunde und Bekannte sensibilisieren lassen,
ihnen mit Verständnis und Geduld und liebevoller Unterstützung zu begegnen.
Dazu kann auch einmal der eindringliche Rat gehören, sich fachliche Hilfe bei
einem Therapeuten zu suchen oder zum Selbstschutz für eine Zeit in eine Klinik
zu gehen. Wenn sowohl Leser wie auch Betroffene in Zukunft einander achtsam
wahrnehmen und vorurteilsfrei wertschätzen, wäre das wohl ganz im Sinne der Autorin.
Und eine echte Hilfe für
Menschen in depressiven Krisen, vor denen ohnehin niemand wirklich gefeit ist.
Christoph Ahrweiler
Psychotherapeut
Vorwort der Autorin
Mehr und mehr verbreitet sich die Erkenntnis, dass
Depression und daraus resultierender Suizid(-versuch) nicht aus der Welt
verschwinden, indem sie verschwiegen werden. Im Gegenteil, sie stellen zurzeit
die zweithäufigste Todesursache bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen dar
(Quelle: https://www.frnd.de/infografik-suizid-in-deutschland/). Aufklärung ist
notwendig, um achtsam mit den Menschen im eigenen Umfeld umzugehen. Mögliche
Symptome müssen aufgezeigt und bekannt gemacht werden, um notfalls Hilfe holen
zu können.
Im Roman sind die Gefühle von Emma und Tim sehr stark. Es
freut die Autorin, wenn der Leser oder die Leserin die Gefühle nachempfindet.
Das ist normal und das ist gewünscht. Sollten bei dir diese Gefühle
überhandnehmen, denke bitte immer daran, dass es Emma ist, die an den
Ansprüchen ihrer Familie verzweifelt. Es ist Tim, der sich schuldig fühlt und
einsam ist. Sollte die Grenze zwischen den Charakteren des Buches und den
eigenen Gefühlen verwischen oder wegfallen, solltest du das mit einem guten
Freund besprechen. Und rede mit deinen Eltern, einer lieben Verwandten, einem
vertrauenswürdigen Lehrer. Solltest du solche Gefühlsveränderungen bei einer
Freundin oder einem Freund bemerken, wirke bitte auf den Betroffenen ein, dass
er diese Dinge ebenfalls beachtet und unterstütze ihn nach deinen Möglichkeiten
– dabei zählt es nicht als „petzen“, wenn du für die Hilfe Unterstützung bei
einem Erwachsenen suchst.
Vielleicht meinst du im Moment, dass da niemand ist, der
dir zuhören wird. Nicht deine Familie, nicht deine Freunde und auch sonst
niemand.
DAS IST NICHT WAHR.
Dieses Gefühl ist nur ein Symptom für eine Krankheit. Es
zeigt dir, dass du professionelle Hilfe suchen solltest. Einen Arzt und eine
Therapeutin. Denn du könntest erkrankt sein. Nicht an Grippe und nicht an den
Windpocken, sondern an einer Depression. Die gute Nachricht: Depression ist
heilbar. Tatsächlich kannst du auch mit diesem Gefühl zu deiner Hausärztin
gehen. Sie weiß, bei welcher Fachärztin in deiner Nähe du am besten aufgehoben
bist.
Falls du nicht zu
deinem Hausarzt gehen möchtest, wende dich an eine dieser Organisationen:
• Deutsche Depressionsliga:
www.depressionsliga.de/
• Nummer gegen Kummer:
• Em@ilberatung unter www.nummergegenkummer.de
• WEIL- Weiter im Leben:
• Telefonseelsorge 142
• Rat auf Draht 147
• Online-Beratung unter www.weil-graz.org
• Freunde fürs Leben: www.frnd.de. Dort
findest du auch eine Liste weiterer telefonischer Beratungsangebote.
• Initiative Tabu Suizid e.V.:
tabusuizid.de
Auf diesen Seiten findest du für den Notfall auch erste
Tipps zur Selbsthilfe, um aus der ersten Krise herauszukommen. Aber such dir
anschließend Hilfe von außen. Das ist wichtig!
Heidi Möhker
She‘s
fading away
Away
from this world.
Drifting
like a feather
She‘s
not like the other girls.
She
lives in the clouds
And
talks to the birds.
Hopeless
little one
She‘s
not like the other girls, I know.
The
Rasmus, Not Like The Other Girls
Not
Like The Other Girls
M&T: Aki Hakala,
Eero Heinonen, Lauri Yloenen, Pauli Rantasalmi
© Boneless Skeletor
Oy / Grotto Entertainment Oy
Mit freundlicher
Genehmigung von Sony/ATV Music Publishing (Germany) GmbH.
Frühsommer 2018
Es war ein ganz normaler Mittwoch. Tim saß im Linienbus auf
der hintersten Bank und starrte aus dem Fenster. Wusste der Teufel, warum Mama
sich ausgerechnet heute an ihren Sohn erinnert hatte. Das tat sie eh nur, wenn
sie jemanden für Marie brauchte. Wenn sie selbst mal wieder keine Zeit für ihr
Wunschkind hatte. Dabei hatte er schon vor sechs Jahren gesagt, dass es ihre
Sache war, wenn sie ein zweites Kind bekommen wollte. Er war zehn Jahre als
Einzelkind klargekommen. Das hatte er vor sechs Jahren nicht ändern wollen, und
das war bis heute so geblieben.
Trotzdem sah er sich jetzt, wo der Bus quer durch die Stadt
musste, noch einmal die aufgelaufenen Whatsapp-Nachrichten an. Inzwischen hatte
sogar Papa geschrieben! Die ersten Nachrichten von Mama hatte sich Tim schon
vor dem Spiel angehört. Sie waren noch als Text gekommen. Sie hatte es immer
dringender gemacht, dass Tim sie anrufen sollte. Er hatte nicht geantwortet.
Natürlich hatte er nicht geantwortet. Er wollte das Spiel sehen. Tim hatte Sebi
versprochen, sein Bestes zu geben, damit der Torwart ihres stärksten Rivalen um
den Pokal keinen Ball hielt. Selbst Mamas letzte Whatsapp, eine
Sprachnachricht, hatte er einfach weggedrückt. Weil er gewusst hatte, dass er
mal wieder als letzter Ersatzspieler herhalten sollte. Dass Mama seinen Wunsch,
dieses Spiel zu sehen, mental seiner Mannschaft beizustehen, niedriger
einstufen würde, als die plötzliche Notwendigkeit eines billigen Babysitters
für seine Schwester. Nur weil Mama ihre Termine nicht ordentlich planen konnte.
Jetzt hörte er die Nachricht ab und bereute es sofort.
„Prima, Tim. Da wäre ein einziges Mal deine Hilfe wirklich
nötig gewesen. Meinst du, es ist ein Spaß, wenn Maries Tagesmutter sich auf dem
Weg zu ihr das Bein bricht? Auf dich braucht man gar nicht zählen! Besten Dank
auch. Ich werde jetzt loshetzen und Marie abholen!“
Das Siegerlächeln auf Tims Gesicht, das sich dort nach dem
Ausgang der beiden parallel verlaufenden Finalspiele breitgemacht hatte, löste
sich auf. Verschlossen starrte er auf das Handy. Er überlegte, die Nachricht zu
löschen. Er musste sich kein schlechtes Gewissen einreden lassen. Doch dann zog
er den Daumen, der gerade noch über dem Löschbutton schwebte, zurück. Nein,
diese Nachricht würde er Mama vorspielen und ihr ein paar passende Worte dazu
sagen. Es war nicht sein Problem, wenn die Eltern ihre Termine nicht mit denen
von Marie abstimmen konnten. Sie waren die Eltern und sie sollten für solche
Fälle halt auch einen Plan B parat haben. Tim war nur der Bruder und das nicht
freiwillig.
Die nächste Nachricht war neu. Sie kam von Papa. Tim strich
sich die Haare aus der Stirn.
„Hallo Tim, ich bin es, Papa. Marie ist bei mir. Ruf mich
bitte an.“
Tim spürte, wie es hinter seiner Stirn zu klopfen begann.
Mama hätte Papa gleich anrufen sollen. Was hatte Tim mit Marie zu schaffen? Sie
waren die Eltern! Sollten die sich um ihr Kind kümmern. Sie konnten froh sein,
dass Tim alt genug war und nicht auch noch einen Babysitter brauchte. Mit zwei
Kleinkindern ständen sie ganz schön blöd da und würden gar nichts mehr auf die
Reihe kriegen.
Die nächste Nachricht von Papa lief ab: „Tim, bitte. Ruf mich an.“
Tim schnaubte. Papa sollte nicht meinen, dass er ihm Marie
abnahm. Sollte er sich doch mal einen Mittwochnachmittag um sein Kind kümmern,
anstatt um die blöden Viecher anderer Leute.
Jetzt erst sah Tim, dass er auch einen verpassten Anruf
bekommen hatte. Von Papas Handy. Er biss sich auf die Unterlippe, starrte auf
das aufleuchtende Display und konnte sich nicht erinnern, jemals seine Mailbox
abgehört zu haben.
Papas Stimme klang sonderbar, aber das konnte auch an der
elektronischen Verzerrung liegen. Noch nie hatte Papa ihm auf die Mailbox
gesprochen. Eigentlich hatte er ihn noch nie angerufen. Tim strich sich die
Haare hinter die Ohren, als er die Kopfhörer einsteckte, und starrte blicklos
aus dem Busfenster.
„Hallo Tim, hier ist noch mal Papa. Ich
weiß, dass du heute deinen Fußballfreunden beim Siegen zusehen wolltest. Das
hier ist wirklich wichtig. Ruf bitte an. Ich hab dich lieb.“
Tim merkte erst, dass er die Luft angehalten hatte, als er
wieder zu atmen begann. Kurzfristig war der Zorn auf Mama in Angst
umgeschlagen. Angst, die aufkommt, wenn Noch-nie-da-Gewesenes eintritt. Ein
eigenartiges Gefühl kam hinzu, weil Papa sich an das Spiel erinnerte. Als würde
er verstehen, was es für Tim bedeutete. Er schnaubte laut. Als ob! Auch das war
nichts als ein neuer Trick, damit er sich meldete. Damit er Papa Marie abnahm.
Tim schloss kurz die Augen, versuchte das dunkle Gefühl in seinem Inneren
zuzuordnen. Als würde es nicht reichen, dass das, was er da in dem Stadion
getan hatte, nicht ganz korrekt gewesen war. Aber ein Sieg seiner Mannschaft
allein hätte nicht für den Pokalsieg gereicht. Deswegen hatten Sebi und Tim
beschlossen, dass ihr stärkster Konkurrent gleichzeitig sein letztes Spiel verlieren
musste. Nur darum war Tim nicht beim Spiel seiner Mannschaft gewesen. Auch wenn
klar war, dass er diesmal nicht einmal für die Ersatzbank eingeplant war, hätte
er unter anderen Umständen die Mannschaft angefeuert. Der knappe Tabellenstand
hatte ihn aber ins andere Stadion getrieben, in dem die anderen beiden
Mannschaften zeitgleich spielten. Tim hatte den gegnerischen Torwart zweimal im
entscheidenden Moment geblendet. Tim holte den Taschenspiegel aus seiner
Hosentasche. Das rosa Plastikteil aus Maries Schminkkoffer. Er ließ es fallen
und stieß es mit dem Fuß unter die Sitzreihe vor sich. Er lehnte den Kopf gegen
die Fensterscheibe. Der Kopfhörer drückte schmerzhaft ins Ohr. Tim nahm ihn ab,
schaltete sein Handy auf lautlos und versenkte es in seiner Tasche. Sein Bus
hielt gleich an der Bushaltestelle am Vereinsheim. Der Mannschaftsbus war schon
länger da. Spieler, Ersatzspieler, Trainer und alle, die zum Verein gehörten,
standen in großen Gruppen zusammen. Immer wieder brach Gesang los: „Wir haben den
Pokal!“ oder „We are the champions!“ Tim mischte sich unter den Pulk. Sebi trat
zu ihm und klopfte ihm auf die Schulter. „Gut gemacht, alter Ganove!“ Tim
versuchte zu grinsen. Er fühlte sich erbärmlich. Es wurde nicht besser.
„Was für eine Lusche von Torwart. Erst die entscheidenden
Bälle reinlassen und dann behaupten, ihn hätte die Sonne geblendet.“ Worte, die
irgendjemand in den Raum warf.
Tim griff nach einem Bier und wandte sich ab. Suchte
Ablenkung.
*
„Toll habt ihr das hinbekommen.“ Vivian legte ihren Kopf
auf Tims Schulter. Ihr T-Shirt war so tief ausgeschnitten, dass er den
schwarzen BH darunter sehen konnte.
„Hm“, machte Tim nur. Hier im Vereinsheim hatte er sein
T-Shirt mit seinem Trikotoberteil getauscht. Es machte ihn zu dem, was er war:
ein Teil der Mannschaft.
„In welcher Position hast du denn gespielt?“ Vivian ließ
ihre Finger an Tims Arm hinaufwandern. Es fühlte sich an, als würde dort eine
Fliege entlanglaufen. Tim musste sich zurückhalten, sie nicht zu verscheuchen.
„Ich bin Stürmer“, sagte er, was keine Lüge war. Er war Stürmer, auch wenn er
noch nie bei einem Spiel der U17 auf dem Platz gewesen war.
„Hast du auch ein Tor geschossen?“ Vivian ließ ihre andere
Hand über seinen Rücken wandern. Das war unangenehm; umso leichter fiel es Tim,
bei der Wahrheit zu bleiben. „Nein“, sagte er und rückte ein wenig zur Seite.
Er griff nach seiner Flasche. Angestrengt starrte er vor sich hin. Sebi meinte,
das mit den Mädchen sei klasse. Was daran so klasse sein sollte, konnte er aber
auch nicht erklären. Es lenkte Tim nicht mal ab, dabei brauchte er gerade
nichts mehr als Ablenkung. Hinten in der Ecke war sein Freund jedenfalls sehr
in die Anatomie eines Mädchens vertieft.
Vivian kam Tim hinterher. Sie hob ihm ihr Gesicht entgegen.
Da waren Brackets auf ihren Zähnen, aber daran lag es nicht, dass er auswich.
Auch nicht an den kurzen, rot gefärbten Haaren oder der starken Schminke um
ihre Augen. Er wusste nicht, woran es lag. Entschlossen murmelte er etwas von
„pinkeln“ und wand sich aus ihren Tentakeln.
Im Stehen schien der Alkohol, den er getrunken hatte, seine
Wirkung zu vervielfachen. Er kniff kurz die Augen zusammen, um den leichten
Schwindel niederzukämpfen. Das Handy blinkte ihm die Uhrzeit entgegen. Zeit zu
gehen.
*
Tim war klug genug, seinen Eltern nicht noch Zündstoff zu
geben. Dreiundzwanzig Uhr war das Äußerste, was sie unter der Woche gelten
ließen. Graubart, der getigerte Familienkater, sprang von der Gartenmauer und
strich Tim um die Beine, während er die Tür aufschloss. Er hob den Kater hoch
und kraulte ihm das Fell. „Na, wo hast du dich denn herumgetrieben?“ Graubart
schnurrte zur Antwort, doch sobald der erste Lichtstrahl durch die Türritze
fiel, sprang er zurück auf den Boden und huschte in Richtung seines
Futternapfes. Leise trat Tim hinter ihm in den Hausflur, um niemanden zu
wecken. Im Wohnzimmer brannte noch Licht. Er zog seine Turnschuhe aus und schob
sie vor das Schuhregal, dann steckte er den Kopf durch die Wohnzimmertür, um
noch schnell „Gute Nacht“ zu sagen. Aber dazu kam er nicht. Die Worte blieben
ihm auf der Zunge kleben.
Mit rot geweinten Augen, das Festnetztelefon in der Hand,
saß Papa auf dem Sofa. Neben ihm, den Kopf auf seinem Schoß und die Beine dicht
an den Bauch gewinkelt, lag Marie. Die langen hellen Haare fielen ihr strähnig
ins Gesicht, wirkten nass und verklebt.
„Tim ist gekommen“, sagte Papa ins Telefon. Seine Stimme
klang fremd und eigenartig. Ein Geräusch wie ein Schluchzen kam aus seiner
Kehle. Papa weinte doch nicht! Dort saß er aber mit tränenfeuchtem Gesicht.
Während er das Telefon zur Seite legte, sah Tim deutlich, wie Papas Hand
zitterte. Auch die, mit der er Marie fahrig die Haare aus dem Gesicht strich.
„Ach, Tim“, brachte Papa hervor, bevor er in Tränen
ausbrach und den Kopf in den Händen vergrub. Tim stand noch immer in der Tür.
Er starrte von Papa zu Marie. Seine Unterlippe zitterte. Er spürte Übelkeit
hochsteigen. Doch zu viel Bier, dachte er und schüttelte dabei den Kopf, als
wollte er sich selbst widersprechen.
„Sie ist …“, stammelte Papa. „Da war das Auto … Ich weiß
nicht.“
Zögernd machte Tim einen Schritt ins Zimmer. Er griff an
die Hosentasche, fühlte nach dem Handy. Mama, dachte Tim. „Mama?“, fragte er
laut. „Wo ist Mama? Was …?“
Marie regte sich unter Papa. Sie schob ihn von sich,
richtete sich auf und rieb sich die Augen. Dann sah sie Tim an. „Mama ist im
Himmel.“ Sie zeigte nach oben an die Decke. „Sie spielt jetzt mit den Engeln.
Dabei wollte ich ihr doch noch meine Schultüte zeigen.“
Frühjahr 1965
Emma glaubte nicht an Gespenster. Ihr waren nur die
Schatten unheimlich, die am Rande des Lichtkegels ihrer Taschenlampe im Keller
lauerten. Am meisten fürchtete sie sich davor, in die Augen einer Ratte zu
blicken. Der nahe Flusslauf und die Vorräte, die hier lagerten, waren für die
Viecher ein richtiges Paradies. Da half auch das ständige Auslegen von
Rattenködern nichts. Zu leicht konnten die Nager die Lehmwände des
Fachwerkhauses durchknabbern. Das junge Lehrmädchen ließ den Lichtkegel über
die Regale wandern. Anschließend nahm Emma den Griff der Lampe zwischen die
Zähne und schob mit den Händen die vorderen Kartons auseinander, um einen Blick
auf die hinteren zu werfen. Die Fastenzeit näherte sich dem Ende. Die Karwoche
begann. Frau Schmidtke wollte den Laden für das Osterfest schmücken. Hier in
der hintersten Ecke des Kellers lagerten die Dekorationen. Emma schauderte, als
sie hinter den Kisten ein verlassenes Rattennest entdeckte. Sie drückte den
Karton mit den ausgeblasenen, bunt angemalten Eiern und den Seidenblumen an
sich. Staub und Schimmel würden ihre weiße Schürze verschmutzen und den Zorn
der Chefin wecken. Aber der Karton war zu groß und sperrig, als dass sie ihn
anders hätte tragen können. Und zu bitten, dass Hannes, der Laufbursche des
Ladens, ihr tragen helfen durfte, würde für ebensolchen Ärger sorgen. Emma ließ
die Taschenlampe aus ihrem Mund vorsichtig auf den Karton gleiten. Sie
balancierte ihn aus und rückte mit dem Kinn die Lampe so, dass das Licht in die
richtige Richtung fiel. Es war mühselig, dies alles. Zumal sich schon wieder
Haarsträhnen aus ihrem Pferdeschwanz lösten und das Wenige, was sie an Sicht
hatte, noch schmälerten.
„Hallo, Kleine.“
Beinahe hätte Emma den Karton fallen gelassen. Die zarten
Eierschalen wären zerbrochen und Frau Schmidtke hätte sicher einen ihrer
Wutausbrüche bekommen. Emma griff fester zu und starrte in die Dunkelheit
hinter dem Lichtkegel, dorthin, wo sie die geisterhaften Schemen von Olaf
ausmachen konnte. Der achtzehnjährige Sohn von Schmidtkes Feinkostwaren kam mit
langsamen Schritten näher. Er legte seine Hände über Emmas, als wollte er ihr
den Karton abnehmen.
„Deine Mutter hat schon den Strauß ins Fenster gestellt.“
Emma ärgerte sich, dass ihre Stimme so leise war. Lauter sagte sie: „Ich soll
mich beeilen, hat sie gesagt.“
„Hast du die Ladenglocke nicht bimmeln gehört? Die
Müllersche tauscht wieder Klatsch gegen Waren.“ Er nahm ihr den Karton ab und
stellte ihn auf den Boden. Olaf kam mit seinem Gesicht noch näher zu ihr heran.
„Wer sollte mich jetzt abhalten, diese Zuckerpuppe einmal zu probieren?“ Olafs
Atem war das Einzige, was noch zwischen ihnen stand. Unten auf dem Boden
beleuchtete das Licht der Taschenlampe fahl den Ausweg, den Olaf Emma
versperrte. Sie machte einen Schritt nach hinten und stieß mit dem Rücken gegen
das Regal. Die Einweckgläser darin klirrten. Es klang wie Gelächter. Olaf
verkürzte den Abstand zu ihr erneut. Er hielt Emma gefangen. Sie wollte unter
seinen Armen durchschlüpfen, aber auch diesen Versuch vereitelte Olaf, indem er
ihrer Bewegung folgte.
„Wegzoll“, verlangte er und kam mit seinem Mund dem ihren
ganz nah.
Die Versuchung war groß. Emma war schon sechzehn und noch
ungeküsst. Alle ihre Freundinnen brüsteten sich bereits mit ihrem ersten Kuss,
den sie irgendwo hinter einer Hecke oder in einer dunklen Gasse einem Jungen
abgerungen hatten. Wie eine gute Praline aus dem Café von Hannes’ Eltern sollte
es schmecken. Köstlich sollte es sein. Neugierig hatten sie Emma gemacht. Zu
gerne würde auch sie nur ein einziges Mal küssen. Sie wusste auch, welchen Mund
sie gerne auf ihrem spüren würde. Emma presste die Lippen zusammen. Olaf kam in
ihrer Vorstellung jedenfalls nicht vor. Sie drehte den Kopf weg. Olafs Kuss
traf sie am Hals. Er löste seine Hand vom Regal, griff ihr ans Kinn und drehte
es zurück in seine Richtung. Die andere bewegte er ganz langsam ihr Bein hinauf
und schob den Rock und die Schürze nach oben.
Emma stieß mit dem Fuß gegen den Karton am Boden. Nur die
Eier nicht zerbrechen, dachte sie, und dann: Wen interessieren schon die
dämlichen Eier?
Im Modeladen von Fräulein Rodert wäre ihr so etwas nicht
passiert. Emma besah sich so gerne das Schaufenster. Die Ausstellungspuppen,
die wie Brigitte Bardot in Jeans und Ringelshirt gekleidet waren. Frivol,
nannte Mutter das. Aber Emma sah mehr. Sie sah, wie die Farben der Kleidung auf
die Dekoration abgestimmt waren. Wie Fräulein Rodert mit kleinen Accessoires
verstand, das Besondere der Stücke hervorzuheben. Am liebsten stand Emma vor
dem Fenster, wenn es dekoriert wurde. Mutter hatte gar nicht versucht zu
verstehen, warum Emma dort viel lieber in die Lehre gehen wollte. Mutter sah
nur extravagante Kleidung und Trine, die dort von Fräulein Rodert als
Verkäuferin ausgebildet wurde. Ein Lehrmädchen aus der Kreisstadt. Und von dem
hatte Mutter ihre feste Meinung. Für ein anständiges Mädchen war es jedenfalls
unmöglich, in Viola Roderts Laden eine Ausbildung zu machen. Überhaupt, was für
ein Gedanke, Verkäuferin zu lernen! In den Haushalt hatte Mutter Emma zur Lehre
geschickt. Zu Dr. Lüders und seiner Frau, die Frau Doktor genannt werden
musste, obwohl sie auch nur die Volksschule besucht hatte.
Emma wich Olafs Hand aus, so wie sie im Lüderschen Haushalt
gelernt hatte, der Hand des Doktors auszuweichen. Gar nicht schlecht war die
Lehrstelle dafür gewesen. Olaf war bei Weitem nicht geschickt genug für Emma.
Wie von selbst hob sie ihr Knie und traf, wo es schmerzte. Er war selbst
schuld, dass er so nah vor ihr stand. Sie hörte, wie er aufheulte, doch da
hatte sie sich schon nach dem Karton gebückt und war ins Lebensmittellager
hinübergerannt. Sie fühlte mehr, als dass sie es hörte, wie Olaf ihr nachstürzte.
Emma spürte, wie ein Ruck durch ihre Schürze ging, wie ihr das Band in den Leib
schnitt. Es schmerzte kurz, aber dann gab das vom vielen Waschen spröde
Material nach und riss. Emma stolperte, fing sich noch rechtzeitig, sodass die
kostbaren Eier nicht auf dem Steinboden des Lagerraums zerbarsten. Sie floh die
Treppe hinauf in den Laden.
Frau Schmidtke stand, heftig mit der Müllerschen
diskutierend, an der Kartoffelraufe. Mit ausholenden Gesten schrieben die
beiden Frauen die Gerüchte des Eifelstädtchens in die Luft. Emma gelang es
unbemerkt, den Osterschmuck abzustellen und im Personalraum zu verschwinden.
Der fünfzehnjährige Hannes, der mit dicken Backen kauend über seinem Pausenbrot
saß, starrte sie an. „Haste dich aber flott dreckig gemacht, Emmachen“, gab er
von sich. „Dass dich mal nicht die Chefin erwischt.“ Dabei schob er ihr ganz
aus Gewohnheit eine von den beiden Pralinen zu, die seine Mutter ihm immer aus
dem heimischen Café zum Pausenbrot einpackte.
Emma schüttelte stumm den Kopf, während sie sich die
Köstlichkeit aus Nugat und Pistazien in den Mund steckte. Besser als alle
Küsse, die Olaf ihr geben konnte, da war sich Emma sicher. Ihr Geld reichte
nicht aus, um sich so etwas Gutes kaufen zu können. Jemand anderen als Hannes,
der sie mit Pralinen bedachte, hatte sie nicht. An diesem Tag jedoch hatte sie
kaum die Muße, den süßen Kugeln die ihnen angemessene Aufmerksamkeit zu
schenken. Heftig riss sie die Schürze von sich. Sie gab nur noch einen besseren
Putzlumpen ab, also nahm sie eine neue aus dem Wäscheschrank. Von ihrem
Lehrgeld würde sie die abbezahlen müssen. Dabei hatte sie doch endlich mal
etwas für sich kaufen wollen. Aber im Moment war es wichtiger, sich den Staub
von Händen und Rock zu wischen und den Pferdeschwanz ordentlich zu binden,
bevor die Schmidtke Emma zu Gesicht bekam. Zusätzlich fuhr sie sich mit dem
kalten Wasser aus der Waschschüssel durchs Gesicht und versuchte, die Scham
abzuwaschen, die ihr auf den Wangen glühte.
Olaf trat hinter ihr in den Personalraum. „Verschwinde“,
raunzte er Hannes an.
„Nee, mach ich nicht“, quetschte der Angesprochene immer
noch kauend heraus. „Hab Pause.“ Noch einmal, wie um seinen Anspruch, an dem
Tisch sitzen zu dürfen, zu betonen, biss Hannes kräftig von seiner dicken
Stulle ab.
„Verschwinde!“, wiederholte Olaf lauter.
Emma wäre seiner Aufforderung gerne nachgekommen, aber Olaf
stand mitten im Türrahmen. Hannes jedoch dachte gar nicht daran, auf Olaf zu
hören. Er sah den Sohn seiner Chefin nicht einmal an. „Ich hab Pause“,
wiederholte er stur. „Die mach ich auch. Wenn du natürlich gleich selbst die
Lieferung mit dem Bollerwagen den Berg hoch ins Kurhotel bringen willst … Der
Schulte von der Druckerei hat mich grad erst gefragt, ob ich nicht bei ihm
Laufbursche sein will.“
Die Ladenglocke beendete abrupt die Pattsituation. Emma
musste zurück, da konnte selbst Olaf sich ihr nicht mehr in den Weg stellen. Er
rückte gerade so weit zur Seite, dass sie sich an ihm vorbeizwängen konnte. Mit
seinem Mund kam Olaf ihrem Ohr ganz nahe. „Ich krieg dich noch“, zischte er ihr
zu. Emma unterdrückte das Zittern, das in ihr aufstieg. Niemals sollte Olaf
glauben, sie hätte Angst vor ihm. Sie hatte keine Angst vor ihm. Es war Wut,
die sie beinahe zittern ließ. Wut über seine Unverschämtheiten und Wut über die
eigene Ohnmacht, weil sie sich gegen ihn nicht so wehren konnte, wie er es
verdiente. Schon bei Lüders hatten ihr die Eltern nicht geglaubt, dass der
Doktor ihr nachstellte. Sie hatte sechs Teller des guten Geschirrs zerbrechen
müssen, doch erst als ihr die Perserkatze aus dem Haus entwischte, war Frau
Lüders zu Emmas Eltern gegangen. Dieses unfähige Kind könne sie nicht länger
beschäftigen.
Noch einmal fuhr sich Emma durch die Haare und
vergewisserte sich, dass keine Strähne aus dem Zopfband gerutscht war. Endlich
strich sie die saubere Schürze glatt und sah der neuen Kundin entgegen. „Tante
Charlotte!“ Emma spürte ihre Wangen vor Freude glühen, als sie Opa Marls
jüngere Schwester sah. „Was darf ich dir geben? Wir haben frischen Salat
hereinbekommen. Dank der Gewächshäuser ist er immer früher zu haben.“
Emmas Großtante, die von der ganzen Stadt nur Tante
Charlotte genannt wurde, drückte Emmas Arm. „Kaffee“, sagte sie so energisch,
dass Emma lachen musste. „Du versuchst doch nicht noch immer, aus dem Kaffeesatz
zu lesen, Tante Charlotte“, spottete sie liebevoll. „Das wird nicht einmal
Pastor Weiler gefallen, wenn er davon erfahren sollte. Von unserem Kaplan will
ich gar nicht reden.“
„Schnickschnack“, wischte die Vierzigjährige die Bedenken
weg. „Wen sollte stören, was ich rein zu meinem Vergnügen mache?“ Sie nahm Emma
am Arm und ließ sich von ihr hinüber zu den Kaffeesorten führen. „Obwohl in
letzter Zeit manchmal beunruhigende Bilder zu sehen sind.“ Charlotte Marl
schüttelte ihre angegrauten Haare aus dem Gesicht und lachte schon wieder.
„Aber sicher verstehe ich da nur etwas falsch. Und drum, Kind. Gib mir noch von
den Printen.“
*
Emma hockte auf ihrem Bett. Es war der einzige Platz im
Fachwerkhäuschen, von dem sie sagen konnte, dass es ihr eigener war. Von unten
drang das Rattern der Nähmaschine herauf. Mutter verdiente mit
Änderungsarbeiten ein wenig Geld dazu. Emma strich gerne über die feinen Stoffe
der Kleider und stellte sich dabei vor, einmal so eines zu tragen. Schon als
Kind hatte sie es geliebt, zwischen den Stoffen und Schnittmustern zu sitzen
und zuzuhören, wie Mutter mit einer Kundin über Vor- und Nachteile von Kleidern
und Röcken redete. Vielleicht hatte das in ihr den Wunsch geweckt, Menschen
anzukleiden und Verkäuferin in einer Boutique oder gar einem dieser großen
Kaufhäuser zu werden. Nachdem Emma die Stellung bei Lüders verloren hatte, ließ
Mutter sich jedoch gerade noch dazu umstimmen, Emma eine Lehre in einem
Lebensmittelladen machen zu lassen. Emma schüttelte die dummen Gedanken ab und
wandte sich wieder den Münzen zu, die vor ihr auf der Bettdecke ausgebreitet
lagen. Frau Schmidtkes Vorfreude auf Ostern hatte ungewöhnliche Eigenschaften
an ihr zutage gebracht. Bei Emmas Anblick in der neuen Schürze ließ sie kein
Donnerwetter wegen mangelnder Achtsamkeit und der Kosten über das Mädchen
hereinbrechen. Stattdessen lächelte sie zustimmend und sagte in einem ruhigen
Augenblick sogar, dass Emma recht daran getan habe, sich ebenfalls für die
Ostereinkäufer herauszuputzen. Frau Schmidtke hatte sogar eigenhändig ein
gelbes Haarband aus dem Ständer genommen und es um Emmas Zopf gebunden. „Ein
kleines, vorgezogenes Ostergeschenk“, hatte sie gesagt, dabei sollte das Band
eigentlich fünfzig Pfennige kosten.
Emma stand auf und ging hinüber zur Kommode. Sie nahm ihr
Erspartes und zählte es noch einmal durch, bevor sie es wieder ordentlich
einsammelte und in dem kleinen Säckchen unter ihrer Wäsche versteckte. Es
musste einfach reichen. Gleich morgen in ihrer Mittagspause würde sie
hinübergehen und in dem kleinen Laden von Viola Rodert ihre erste Jeans
erstehen. Emma schmiss sich auf das Bett und trommelte mit den Beinen auf die
Bettdecke. Ihre erste eigene Jeans! Von ihrem eigenen Geld. Und das, wo sie
erst sechzehn war. Selbst den Cousin Franz, der schon in Köln studierte, hatte
sie noch nie in einer Nietenhose gesehen. Nur ganz hinten in Emmas Kopf
flüsterte eine böse Stimme. Emma machte die Musik ihres Plattenspielers etwas
lauter – in der Hoffnung, dass es Peggy March gelingen würde, das schlechte
Gewissen zu verdrängen. Doch die Stimme zischte nur noch lauter. „Ungehörig“,
nannte sie Emma. „Verschwenderisch! Wo die Mutter sich an der Nähmaschine den
Rücken krumm arbeitet und der Vater bei den Neubauten in jeder freien Stunde
schwarzarbeitet, damit das Geld langt.“ Emma hielt sich die Augen zu, um die
auf der Wand verlegten Strom- und Wasserleitungen nicht sehen zu müssen. Nicht
die morschen Fensterrahmen und den bröckelnden Putz, all die Reparaturen, für
die das Geld fehlte. Und sie wollte sich etwas kaufen, von dem sie nicht einmal
wusste, zu welcher Gelegenheit sie es anziehen sollte. „Böse Emma“, zischte es
in ihrem Kopf mit Mutters Stimme. Emma hatte dem nichts entgegenzusetzen als
hastig fortgewischte Tränen.
*
Emma drehte sich vor dem hohen Spiegel hin und her.
„Die Jeans steht dir ausgezeichnet“, lobte Trine, das
Lehrmädchen. Sie stand mit vor der Brust verschränkten Armen neben ihrer Kundin
und schaute Emma lächelnd zu. „Ist das deine erste?“
Emma konnte nur nicken. Trine trug selbst Jeans und ein enges
T-Shirt. Aber Trine galt in der Stadt auch als unmöglich, scheinbar ohne sich
etwas daraus zu machen. Emma wagte nicht, sich vorzustellen, was ihre Eltern
sagen würden, wenn sie in so einer Aufmachung nach Hause käme. Besonders Mutter
wäre entsetzt und würde behaupten, dass anständige junge Männer so gekleidete
Mädchen niemals ansehen würden. Sie wollte sich nicht einmal ausmalen, was sie
allein zu der Hose sagen würde. Mutter trug bis heute nur Röcke. Alles, was sie
Emma bisher gestattet hatte, waren weite Cord- oder Stoffhosen. Aber diese
Jeans …
„Am besten sitzt sie, wenn du dich mit ihr in die Badewanne
setzt“, erklärte Trine. Emma starrte sie entsetzt an. Sie dachte an die
samstäglichen Badezeremonien in der heimischen Küche. Wenn auf dem Herd das Wasser
erhitzt wurde und erst der Vater und dann nacheinander Mutter und die Kinder in
die Zinkwanne stiegen, die sonst im Keller hinter der Waschbütte stand.
Trine lächelte ihr zu. „Aber sie passt dir ja auch so.“
Emma betrachtete ihr Spiegelbild, schaute, wie sich der
feste Stoff hauteng an ihre Beine schmiegte. Sie war froh, dass auch die Stimme
in ihrem Kopf den Augenblick ehrte, indem sie wenigstens für den Moment Ruhe
gab.
„Guten Tag, Emma.“
Mit Schwung war Emma aus dem Laden getreten, die Schellen
über der Tür bimmelten noch aufgeregt. Die Papiertüte knisterte in ihrer Hand,
als wäre die Jeans in ihrem Inneren genauso aufgeregt. Schuldbewusst hielt Emma
beim Klang von Kaplan Schweikerts Stimme inne. Zu oft hatte sie ihr sonntags
schon bei den Predigten lauschen müssen. In der Messe, wenn Schweikert über
Sünde und Buße predigte. Wenn er über die Verführungen des Fleisches und Evas
Sündhaftigkeit so anschaulich referierte, dass nicht nur Emma die Schamesröte
ins Gesicht stieg. Sie drückte die Tüte an sich, als könnte Schweikert sie ihr
wegnehmen. Dabei hatte Emma die Hose bezahlt, mit dem, was übrig geblieben war
von ihrem Lehrgeld, nachdem sie Mutter und Vater ihren Anteil gegeben hatte.
Emma wusste, dass Pastor Weiler ihrem Kauf wohlwollend begegnet wäre. Aber der
gutmütige alte Priester war Seelsorger der Nachbargemeinde und nicht für die
Christenkinder in der Stadt zuständig.
„Guten Tag, Herr Kaplan.“ Emma wollte, dass ihre Stimme
fest klang und versuchte, den jungen Geistlichen offen anzublicken. Sie merkte
selbst, dass ihr beides nicht recht gelang. Später würde sie sich darüber
ärgern, jetzt wollte sie nichts anderes als weitergehen, zurück zu Feinkost
Schmidtke.
„Ich würde mich freuen, wenn du einen kleinen Moment Zeit
für mich hättest, Emma.“ Schweikert mühte sich ein Lächeln ab, sein Blick blieb
jedoch streng wie immer. Emma hatte ihn noch nie aufrichtig lächeln sehen.
Niemand hatte das. Sie schaute verlegen zum Laden hinüber. Frau Schmidtke trat
mit der Stange für die Markise aus der Tür, hängte die Kurbel ein und drehte
mit schnellen heftigen Bewegungen das Sonnendach heraus. Das Gestänge
quietschte rhythmisch.
Emma straffte auf ihrer Straßenseite die Schultern und
lächelte den Kaplan offener an. „Ich muss mich jetzt leider beeilen.“ Sie war
erleichtert, dass sie nicht lügen musste. „Frau Schmidtke macht den Laden
wieder auf. Ich muss rüber, sonst komme ich zu spät.“
„Du bist sehr pflichtbewusst, Emma.“ Kaplan Schweikert
klang nicht, als würde er sie loben. „Natürlich musst du jetzt Frau Schmidtke
helfen. Aber es ist ja Karwoche und du warst noch nicht zur Beichte. Warte
damit nicht zu lange, und wenn du kommst, nimm dir doch bitte ein bisschen Zeit
für ein Gespräch mit mir. Ich bin Seelsorger, Emma.“
Emma nickte, damit der Kaplan sie gehen ließ. Niemals würde
sie zu ihm in den Beichtstuhl gehen. Mit Oma hatte sie das schon verabredet.
Mit ihr und ihrer Großcousine Tilda zusammen würde sie in Omas Kirche bei
Pastor Weiler ihre Beichte ablegen. Der rundgesichtige Seelsorger entsprach
eher dem Bild des Beichtvaters, das Emma hatte. Weiler war verständnisvoll,
gerecht und hatte ein Einsehen für das, was andere Erwachsene oft als Rebellion
der Jugendlichen bezeichneten. Die Tüte schlug Emma gegen die Beine. Sie wusste
nicht, was an einer Hose rebellisch sein sollte. Das wussten nur Kaplan
Schweikert und Mutter.
Frühsommer 2018
Tim hatte geglaubt, nach Mamas Tod müsste die Welt
stillstehen. Jeder müsste wissen, dass er Schuld hatte an ihrem Tod, und mit
dem Finger auf ihn zeigen. Keines von beidem geschah. Jeder wollte Tim trösten,
doch niemand fand dafür die richtigen Worte. Sie schimpften auf den Autofahrer,
sprachen von Raserei; die Tatsache, dass Mama die Ampel missachtet hatte, wurde
geflissentlich ignoriert.
Papas Eltern, Oma Tilda und Opa Karl, reisten aus der Eifel
an, um mit ihm die Angelegenheiten mit dem Beerdigungsinstitut zu klären.
Todesanzeigen mussten verschickt werden. Mamas Chef, Tims Schule, der
Kindergarten mussten von irgendjemandem informiert werden … Die Frage nach dem
Sarg wurde enorm wichtig – und Trauerkleidung. Papa hatte zwar schwarze Hosen,
aber nur bunte Hemden. Marie hatte gar nichts Schwarzes. Und Tims schwarze
T-Shirts wollte Oma nicht gelten lassen, wegen der Texte darauf. Tim ließ Oma
gewähren – ließ sich wortlos von ihr durch die Stadt ziehen. Es war so egal,
was er anzog. Mama hatte es eilig gehabt. Keine schwarze Hose, kein schwarzes
Hemd würde etwas daran ändern.
Wieder zu Hause zog Tim eines der neuen schwarzen Hemden zu einer schwarzen
Hose an. Vor dem großen Spiegel im Elternschlafzimmer, dort, wo früher Mama
immer gestanden hatte, bevor die Erwachsenen auf eine Feier gingen, betrachtete
er sich. Im Rücken das große Bett, die Decke auf Mamas Seite ordentlich
gefaltet. Papas Seite leer. Er schlief seit dem Mittwoch im Gästezimmer.
Ohne jemandem Bescheid zu sagen, ging Tim aus dem Haus. Die
Straße hinunter an der Ecke gab es einen Friseursalon. Dort setzte er sich auf
einen Stuhl und sah im Spiegel zu, wie die Friseurin seine blonden Haare der
Kleidung anpasste.
*
So wortlos, wie er gegangen war, kam er zurück ins Haus,
setzte sich zu Oma und Opa, Papa und Marie an den Tisch und aß mit ihnen zu
Mittag. Keiner kommentierte die Haare. Papa wischte sich nur wieder über die
Augen.
Gleich nach dem Essen verschwand Marie. Tim war es, der sie
irgendwann suchen ging; das auch nur, um mit jemandem zu reden, der nicht von
Kränzen, Särgen und Grabsteinen sprach.
Marie hockte in ihrem Zimmer auf dem Boden. Die schwarze
Dose der Fingermalfarbe hatte sie vor sich hingestellt. Mit der einen Hand
hielt sie Graubart Leckerbissen hin. Mit der anderen trug sie die schwarze
Farbe dick auf sein ehemals graues Fell auf. Ihre eigenen blonden Haare hatte
sie bereits mit der schwarzen Schmiere bedeckt. Schwarze Streifen zogen sich
über ihre Wangen. Farbbrösel verschmierten das Laminat um sie herum.
Das war das erste Mal, dass Tim die Tränen kamen. Er zog seine kleine Schwester
an sich und presste sein Gesicht in ihre schmierig schwarzen Haare.
Es fiel ihm schwer, Maries Werk zu zerstören. Aber als der
Kater versuchte, die Farbpaste von seinem Fell zu lecken, verstand selbst
Marie, dass es sein musste. Tim hielt Graubart in der Badewanne fest, während
Marie mit lauwarmem Wasser aus dem Brausekopf die Farbe herausspülte. Die
Katzenkrallen hinterließen dicke blutige Striemen auf Tims Armen. Er schaute
zu, wie das Blut sich mit dem schwarzen Wasser vermischte, und wunderte sich,
wie gut sich das Brennen anfühlte.
Später half Tim Marie beim Haarewaschen. So etwas hatte er
noch nie getan. Schwarze Schlieren liefen über das weiße Porzellanbecken zum
Abfluss. Der Schaum verfärbte sich dunkel. Fünfmal musste Tim das Shampoo
ausspülen und neues auftragen, bevor der letzte Farbrest beseitigt war.
*
Während der Beerdigung hielt Tim Maries Hand ganz fest in
seiner. Der Sarg stand aufgebahrt vor dem Altar. Kränze waren um ihn herum
arrangiert – mit roten Rosen, orangefarbenen Gerbera, weißen Nelken und gelben
Gladiolen. Der Küster zupfte noch an den
schwarzen und weißen Schleifen herum, und drapierte sie so, dass man die
Schrift darauf gut lesen konnte:
Für Susanne in treuem Gedenken, Familie Sommer.
Meiner lieben Schwester in Erinnerung, deine Martina.
Unserer Mitarbeiterin Susanne Bertram zum Abschied,
das
Kollegium.
Oben auf dem Sarg war ein großes Herz mit Rosen in Mamas
Lieblingsfarben Gelb und Orange. Eine weiße Schleife mit schwarzen Buchstaben
war daran gebunden, darauf standen ihre Namen – Stefan, Tim und Marie. Nichts
konnte das ausdrücken, was sie fühlten.
Von hinten fuhr jemand mit der Hand erst durch Tims
schwarze und dann durch Maries blonde Haare.
„Opa Karl“, flüsterte Marie. Tim starrte nur noch eine Idee
düsterer auf den Sarg. Er musste das alles über sich ergehen lassen. Er hatte
kein Recht, sich gegen irgendetwas zur Wehr zu setzen. Seine Schuld war es,
dass Mama dort lag. Ganz allein seine Schuld! Er hätte nur auf ihre Whatsapp
reagieren müssen. Hätte er das Spiel Spiel sein lassen und Marie vom
Kindergarten abgeholt … Dann wäre Mama nicht bei Rot über die Kreuzung
gelaufen, ohne zu schauen, ob ein Auto kommt. Dann hätte der Fahrer sie nicht
mit der Motorhaube erwischt. Sie wäre nicht hochgeschleudert worden und auf den
Asphalt geprallt. Tim hätte nur auf Mamas Whatsapp reagieren müssen, und das
eine Mal Marie vom Kindergarten holen. Er griff in die Seitentasche seiner
schwarzen Hose, steckte die Ohrstöpsel in die Ohren und hörte zum hundertsten
Mal die Sprachnachricht an.
„Prima, Tim. Da wäre ein einziges Mal
deine Hilfe wirklich nötig gewesen. Meinst du, es ist ein Spaß, wenn Maries
Tagesmutter sich auf dem Weg zu ihr das Bein bricht? Auf dich braucht man gar
nicht zählen! Besten Dank auch. Ich werde jetzt loshetzen und Marie abholen!“
Er zog die Stöpsel wieder heraus und steckte alles zurück
in die Tasche. Neben sich hörte er Papa schnäuzen. Bis jetzt hatte er ihm Mamas
Nachricht nicht vorgespielt. Marie rutschte näher an ihn heran. Orgelmusik
setzte ein. Die Begräbnismesse begann. Tim wünschte sich weit fort.
*
Papa hatte mit Marie und Tim Oma Tilda und Opa Karl zum
Bahnhof gebracht. Anschließend hatte Marie den Tisch für das Abendessen
gedeckt. Tim hatte sich an den Herd gestellt und die restlichen Kartoffeln des
Mittagessens gebraten.
„Prima macht ihr das“, war Papas Kommentar. Dazu, dass sie
nur den kleinen Tisch in der Küche gedeckt hatten, sagte er nichts. Marie hatte
wie Mama Rosenblüten im Garten geschnitten und sie in einer flachen Schale auf
den Tisch gestellt. Dort machten sie jetzt der Wurst und dem Käse den Platz
streitig. Beim Einschenken schwappte Marie auch noch die Milch über, das machte
im Blumenwasser weiße Schlieren. Papa stand wortlos auf, nahm die Schale und
kippte ihren Inhalt in die Toilette. Marie senkte den Kopf tief über den Teller.
Sie ließ ihre sonst immer zappelnden Beine beinahe leblos über dem Boden
hängen. Tim fasste seine Gabel fester und piekste eine Kartoffel auf. Beinahe
war es eine Erlösung, als sich Papas Piepser meldete. Kommentarlos ging Papa
hinüber ins Arbeitszimmer zum Telefon. Von dort rief er immer in der Klinik an.
Aber seit Mamas Tod war es das erste Mal, dass er gerufen wurde. Seit Mamas Tod
war es das erste Mal, dass sie nur zu dritt am Tisch saßen. Keine Oma, kein Opa
mehr, die über die Lücke hinwegtäuschten.
Weder Tim noch Marie schauten von ihren Tellern auf, als
Papa wieder in die Küche kam. Es war anstrengend, sich auf sein Essen zu
konzentrieren. Papa war schon fort, das merkten sie beide. In Gedanken war er
bereits in der Klinik bei den Tieren, betrachtete Röntgenbilder und analysierte
Blutwerte.
„Marie muss um sieben ins Bett“, sagte er noch. „Morgen ist
Kindergarten. Ich weiß nicht, wie lange es dauert.“ Er machte eine Pause.
Beinahe hörte Tim ihn denken. „Ich weiß nicht, ob ich zum Frühstück zurück
bin“, setzte er dann hinzu. „Du musst Marie am Kindergarten vorbeibringen,
Tim.“
Einmal nur hätte Tim seine Schwester abholen müssen, ein
einziges Mal. Er wusste das. Er hätte sich nie wieder um sie zu kümmern
brauchen. Jetzt konnte er nie wieder Nein sagen. Trotzdem brachte er es nicht
über sich, zu nicken.
„Hast du gehört, Tim?“ Papas Stimme wurde drängender. „Nur
dieses eine Mal.“
Tim schmiss die Gabel auf den Teller und lachte los. Laut
und böse. Er sah seinen Vater an und hatte das Gefühl, ihn zum ersten Mal zu
sehen. Eingefallen war er, Falten waren um seine Augen, die dort früher nicht
gewesen waren. Seine Haare waren grau, fast weiß. Vielleicht meinte er das auch
nur, weil Papa früher nie schwarze Kleidung getragen hatte.
„Das glaubst du doch selbst nicht“, widersprach Tim. „Du
weißt genauso gut wie ich, dass das nun immer so sein wird!“
„Tim.“ Papa stand noch immer im Türrahmen, machte keinen
Schritt auf ihn zu. Fort war er schon, eigentlich. In der Klinik, bei einem
Pferd, einem Hund oder vielleicht einem Kamel aus dem Zoo.
„Ist okay“, sagte Tim. „Wirklich. Ich bring Marie in den
Kindergarten. Morgen, übermorgen und immer. Aber lüg uns nicht an! Lüg uns
einfach nicht an! Wem, glaubst du, kannst du was vormachen? Dir selbst?“
*
Sie waren allein im Haus. Marie und Tim. Selbst Graubart
hatte es vorgezogen, die Nacht auswärts zu verbringen. Immer länger wurden
seine Ausgänge, immer weiter der Radius, in dem er sich draußen bewegte. Fast
war es, als suchte er Mama, weil doch niemand einem Kater erklären konnte, wo
sie nun war. Marie war wieder aus dem Bett gekommen, als Tim noch im Wohnzimmer
saß und eigentlich diesen Film sehen wollte. Der war nun wirklich nichts für
Sechsjährige.
„Geh rauf“, sagte er zu ihr. „Morgen ist Kindergarten. Du
musst schlafen.“
Marie schüttelte den Kopf. Sonst machte sie nichts. Nur
mitten im Raum stehen und mit dem Kopf schütteln. Tim wedelte mit der Hand, als
wäre sie eine Fliege, die er so verscheuchen konnte. Konnte er aber nicht.
„Verpiss dich“, knurrte er deshalb. Da liefen Tränen über
ihr Gesicht.
„Scheiße!“ Mit der Faust schlug Tim auf die Sofalehne, dass
der Staub nur so aufwirbelte. Marie stand da in ihrem dünnen Nachthemd und
zitterte. „Was, wenn Mama von oben doch nicht auf uns aufpasst?“, flüsterte
sie. „Was, wenn wir doch allein sind?“
„Wir sind nicht allein!“ Tim sagte es viel zu laut. Während
der Film noch über den Bildschirm flimmerte, sprang er auf und drückte sie fest
an sich. „Wir sind nicht allein“, sagte er leiser. „Du und ich. Wie kannst du
sagen, wir wären allein?“
Er hatte keine andere Möglichkeit, als Marie mit in sein
Bett zu nehmen. Erst da unter seiner Decke hörte ihr Zittern auf. Endlich
schlief sie und ihr ruhiger Atem neben ihm brachte auch Tim zur Ruhe. Ihre
Wärme erinnerte ihn daran, dass er nicht wirklich allein war. Er wusste nicht,
ob ihm das lieber gewesen wäre.
Frühjahr 1965
Mutter und Lenchen hatten sich schon die guten Mäntel
übergezogen. Emma trödelte, dabei wusste sie, wie schnell Mutter ungeduldig
wurde. Nach der Beichte musste sie weiter am Kleid der Frau Bürgermeisterin
arbeiten. Zu Ostern sollte es fertig sein und bis dahin waren es nur noch vier
Tage.
Emma hatte gesagt, dass sie mit Oma zur Beichte wollte. Wie
gerne hätte sie ein Telefon im Haus gehabt, damit Oma selbst mit Mutter darüber
sprechen konnte. Aber das nächste Telefon gab es erst bei Sengsmeiers am Ende
der Straße. Das nutzten sie nur in wirklich wichtigen Angelegenheiten. In Angelegenheiten,
die Mutter für wichtig befand.
Emma strich noch einmal über den derben blauen Stoff ihrer
Jeans, bevor sie wehmütig die Schranktüren schloss. Niemandem hatte sie ihren
Schatz gezeigt, nicht einmal Lenchen, ihrer zehnjährigen Schwester, die mit ihr
die Kammer teilte. Sie strich den Wollstoff ihres Kleides glatt und zog den
Mantel darüber. Als einziges Zugeständnis an ihre Eitelkeit ließ sie die
braunen Schnürschuhe stehen und zog ihre guten blauen Pumps an. Schließlich
würden sie in die Kirche gehen.
*
Ihre Schritte hallten laut auf dem Kopfsteinpflaster.
Mutter warf Emma einen mahnenden Blick zu. Emma packte ihre Handtasche fester,
als könnte ihr das Halt geben. Mutter und Schwester hatte sie noch nicht
gesagt, dass Kaplan Schweikert sie im Anschluss an die Beichte sprechen wollte.
Hoffentlich kamen vor Ostern so viele Beichtkinder, dass der Kaplan keine Zeit
für ein Gespräch hatte. Könnte sie doch nur bei Oma zur Beichte, dann bräuchte
sie sich keine Gedanken machen. Aber Mutter zog Schweikerts Strenge vor. Pastor
Weiler war in ihren Augen viel zu nachgiebig.
Mutter stieg die Stufen zur Kirche hinauf. Die drei Marls
knieten sich in eine Bankreihe neben den Beichtstühlen. Mutter und Töchter
schlugen das Kreuzzeichen und senkten den Kopf zum Gebet. Emma war sich sicher,
dass ihre Mutter tatsächlich das „Gegrüßet seist du, Maria“ murmelte. Bei
Lenchen wusste sie es nicht genau.
*