Cover

Vorwort

 

 

Liebe Leserinnen und Leser,

liebe Freunde der Phantastik!

 

Wenn Sie diese Ausgabe von GEGEN UNENDLICH in Händen halten, liegt ein ereignisreicher Sommer hinter uns. In der Buchhandlung Böttger fand der erste »Phantastische August« in Bonn statt. Zu der mehrteiligen Lesereihe waren namhafte Vertreter der phantastischen Literatur geladen, darunter so unterschiedliche Autoren wie Uwe Durst, Michael Siefener, Thomas Franke und Hubert Katzmarz (vertreten durch seine Witwe Ellen Norten, die aus seinen Texten las). Auch die Herausgeber stellten an einem Abend GEGEN UNENDLICH dem zahlreich erschienenen Publikum vor. Anlass war der erste gedruckte Sammelband mit einem Querschnitt aus den ersten zehn eBook-Ausgaben.

Heute haben wir für Sie erneut ein Sortiment abwechslungsreicher Geschichten zusammengestellt, die verschiedene Spielarten des Genres bedienen. Worauf dürfen Sie sich diesmal freuen?

In der dystopischen Geschichte »Baumschulung« lädt Hubert Katzmarz zu einer Frischluftparty der anderen Art ein, während Silke Jahn-Awe mit »Miss Louisa und Mr. Kawombel«, in deren Mittelpunkt eine dolmetschende Babbelschnecke steht, auf souveräne Art vorführt, wie humorvolles Fabulieren aussehen kann.

Ein Augenzwinkern erwartet den Leser auch in Joachim Packs Story »Generation virtuell«, in der sich ein genervter Onkel mit seinem technikaffinen Neffen auseinandersetzt, bis hin zum verblüffenden Ende.

Einen Kontrapunkt dazu bildet Michael J. Awes eindringlich erzählte Geschichte »Buster Keaton lächelt nicht«, in der der Protagonist unverhofft eine zweite Chance erhält, sein Leben zu leben.

Ein Schlaglicht auf eine Begegnung zwischen Mensch und Alien, bei der einer der Unterhändler über den Tisch gezogen werden soll, setzt Armin Möhle in »Ein perfekter Deal«.

Mit seiner irritierenden Geschichte »Leute eurer Art« dringt Uwe W. Appelbe – ein Autor, den wir auf unserer Lesung im Rahmen des »Phantastischen August« kennengelernt haben – tief ein in die Verflechtungen von trivialen Verfehlungen und bodenlosem Grauen – und der Kontrast zwischen beiden steigert die Wirkung noch!

Viel ist in den letzten Monaten über Herbert W. Franke geschrieben worden. Zum 90. Geburtstag am 14. Mai 2017 gratulierte die deutsche Phantastikszene einem ihrer bekanntesten und dienstältesten Vertreter. Da ist es uns eine Freude, Ihnen in dieser Ausgabe eine Erzählung von ihm zu präsentieren, die schon vor Jahrzehnten Fluch und Segen medizinischen Fortschritts und dessen Folgen für menschliche Schicksale auslotete. Wir danken dem Autor für die freundliche Erlaubnis, »Ein Kyborg namens Joe« neuzuveröffentlichen.

Derzeit erscheint im Verlag p.machinery die Werkausgabe Herbert W. Frankes, die von dem allseits bekannten Grafiker Thomas Franke kongenial gestaltet wird. Er schildert – nicht ohne selbstironisches Pathos und mit abgespreiztem kleinen Finger – die hochfliegenden und letztlich enttäuschten Hoffnungen, die er noch zu DDR-Zeiten mit dem Auftrag verband, Vignetten für die Erstveröffentlichtung von Herbert W. Frankes Roman »Zone Null« gestalten zu dürfen. Die Zeitenläufte fügten es, dass diese verpasste Chance heute nachgeholt werden konnte.

 

Falls Sie Gefallen an GEGEN UNENDLICH gefunden haben, aber die Papierform bevorzugen, werfen Sie doch zukünftig einen Blick auf unsere Buchausgaben, die ab der Ausgabe 11 erscheinen werden, und zwar ebenfalls im Verlag p.machinery. Eine Anthologie mit dem Querschnitt aus den ersten zehn Ausgaben von GEGEN UNENDLICH können Sie dort jetzt schon im Programm finden.

Lassen Sie sich gut unterhalten!

 

Die Herausgeber

Awe / Fieberg / Pack

Bonn, im Oktober 2017

Hubert Katzmarz

Baumschulung

 

 

Auf der Frischluftparty wurde er mir als Mann mit dem grünen Daumen vorgestellt. »So sagte man früher«, erklärte die Gastgeberin, und schon hatte sie mich weitergereicht durch die Runde der Geburtstagsgäste. Bei einer allein stehenden jungen Dame erkundigte ich mich nach dem Namen.

»Eva«, sagte sie.

»Aha, Eva.« Mein Charme drängte zu ihr und stand mir dabei im Wege. »Wie Adam, nicht wahr.« Sie lachte trotzdem, und der Abend schien gerettet zu sein.

Die Bemerkung vom grünen Daumen wollte mir nicht aus dem Sinn. Ich hatte sie schon mal gehört – vielleicht bei meiner Mutter, wenn sie sich an frühere Zeiten erinnerte.

Eva tat alles, um meine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Sie erzählte von sich in einem fort, nicht ohne auffällig oft meinen Arm zu berühren. Später tanzten wir. Der Mann mit dem grünen Daumen suchte Evas Nähe und ließ sich nicht abschütteln. Ich ärgerte mich darüber, so daß ich die Gelegenheit nicht nutzte, ihn nach seinem seltsamen Titel zu fragen. Als der Höhepunkt des Abend kam, hatte sich Eva eindeutig für mich entschieden. Sie wimmelte den Mann mit dem grünen Daumen ab und hakte sich bei mir ein.

Musik und Gespräche waren verstummt. Die Gastgeberin händigte uns Anzüge und Flaschen aus. Wir nahmen die Sachen, ein jeder mit sich selbst beschäftigt. Dann wurde die Balkontür geöffnet, und wir traten hinaus.

Es gab keine Sterne am Himmel, nur ein allgegenwärtiges schwaches Leuchten, das man mehr ahnen als sehen kann, das einen niederduckt, auf kleine Risse im Anzug lauert, um hineinzukriechen und uns die Lungen zu verätzen. Ich tat einen langen Atemzug aus der Sauerstoffflasche, das Gesicht Evas konnte ich hinter ihrer Maske nicht erkennen. Ich konnte nicht erkennen, was sie dachte, was sie fühlte. Mein Blick glitt hinüber zum nächsten Wohnturm, wo unzählige Lichter durch das schlierige Schwarz blinkten. Ob dort auch Leute eine Frischluftparty feiern, auf dem Balkon stehen und über den Abgrund zu uns her starren? Unten die Erde im Schein der Wohntürme: sandig, rissig, kahl. Ich wußte aus dem Fernsehen, daß hinter dem nächsten Wohnturm wieder Erde kommt: sandig, rissig, kahl, und wieder ein Wohnturm und wieder Erde – bis zum Meer, das eine träge schwappende Emulsion ist. Eva trat dicht zu mir, faßte meine Hand; ich konnte ihre Wärme durch das dichte Gummi nicht spüren.

Plötzlich beugte sich der Mann mit dem grünen Daumen über die Balkonbrüstung, riß die Maske vom Gesicht und schrie: »Ich kotze auf dich, du verfluchter, toter Stern, hörst du, ich kotze auf dich!« Sein Schrei ging in Röcheln und Würgen unter. Dann kotzte er tatsächlich hinab auf die Erde.

Schnell hatten ihn einige Männer gepackt, schleppten ihn zurück in die Wohnung und brachten ihn ins Schlafzimmer. Unsere Gastgeberin verschloß die Balkontür. Sie stellte die Klimaanlage auf Hochleistung, das saugte die Frischluft rasch ab. »Ich bin Arzt, laßt mich zu ihm«, sagte ich, als ich das Schlafzimmer betrat.

Der Mann mit dem grünen Daumen lag jetzt still da, aber sein Atem ging schwer und rasselnd. Sein Gesicht war blaß; morgen schon würde es krebsrot sein und mit Pusteln übersät, eine schmerzhafte, doch harmlose Angelegenheit. Für ernsthafte Schäden hatte er sich nicht lange genug der Frischluft ausgesetzt. »In den nächsten drei Wochen sollten Sie das Rauchen bleiben lassen«, riet ich ihm. Er nickte. Ich ging zurück zum Wohnzimmer, er brauchte eine Weile Ruhe.

Bei der Party wollte keine rechte Stimmung mehr aufkommen. Man hatte die Sauerstoffflaschen und Gummianzüge weggeräumt, wie um alles zu beseitigen, das an den Vorfall erinnerte. Dennoch hatten die Gespräche ihren flotten Fluß verloren, fanden immer wieder zurück zu dem Mann mit dem grünen Daumen und seinem törichten Verhalten auf dem Balkon.

Ich erkundigte mich bei Eva, ob sie ihn kenne. Gehört habe sie zwar von ihm, aber begegnet sei sie ihm hier zum ersten Mal.

Die Gastgeberin setzte sich zu uns. »So ein dummer Mensch! Dabei hätte die Party wirklich nett werden können: die Weite und Stille draußen auf dem Balkon, das prickelnde Erlebnis von Gefahr … Allein was die Sauerstoffflaschen gekostet haben!«

»Wieso grüner Daumen?« fragte ich.

Die Gastgeberin sah mich erstaunt an. »Ach das. Kennen Sie den Spruch nicht? Früher sagte man zu jemandem, der gut mit Pflanzen umgehen konnte, so daß alles prächtig gedieh und blühte, er habe einen grünen Daumen.«

»Aber es gibt kaum noch Pflanzen.«

»Tja.« Die Gastgeberin seufzte. »Er ist eben einer der letzten Vertreter einer aussterbenden Zunft. Er ist Biologe.«

»Biologe?« sagte Eva. »Die arbeiten doch daran, die Erde zu rekultivieren. Ich habe davon gelesen.«

»Er leitet ein größeres Projekt«, bestätigte die Gastgeberin. »Doch neulich haben sie ihm die Gelder gekürzt, weil das alles nur Augenwischerei ist. Als wenn es noch etwas zu rekultivieren gäbe! Der Chemie gehört die Zukunft, nicht der Biologie. Schon jetzt leben wir zu über achtzig Prozent von synthetischen Proteinen, Vitaminen und so weiter, und ich muß sagen, wir leben gut dabei: billig, nahrhaft und sauber. Ein wirklicher Segen, den uns die Raumfahrttechnik da beschert. Die paar kümmerlichen Gemüsepflanzen, die man in den Gewächshäusern klont … Nur aus Nostalgie sage ich, ohne praktischen Wert.«

Ein älterer Herr prostete von der Bar aus in unsere Richtung. »Entschuldigen Sie bitte, daß ich Ihrem Gespräch schon eine Weile lausche. Ich bin ein früherer Mitarbeiter unseres Selbstmordkandidaten. Ein in gewisser Hinsicht wirklich genialer Mann. Er ist von seiner Arbeit besessen, will den Menschen die Blumen zurückbringen, die Erde wieder grün machen. Und wenn Sie mich fragen: Er ist einer der wenigen, die das schaffen könnten.«

»Wie will er das denn machen?« erkundigte sich die Gastgeberin spitz. »Man hat ihm die Gelder gekürzt. Bald wird man sie ihm ganz sperren.«

Doch der Herr ließ sich nicht beirren. »Vor Jahren schon hat er den Code des Lebens entschlüsselt, sozusagen die Arbeit von Watson und Crick zum Abschluß gebracht und in den Rahmen der Evolutionstheorie gestellt. Er war Mitbegründer einer damals jungen Wissenschaft, der biologischen Informatik, die mit Hilfe von Computern unter anderem evolutionäre Prozesse beschreibt und simuliert. Eine faszinierende Theorie, die uns das Wissen an die Hand gibt, zu planen und einzugreifen in die Evolution. Damit sollten sich nicht nur fremde Planeten terraformen lassen, sondern die zugrunde gerichtete gute alte Erde ebenfalls. Was fehlt, ist die Vielfalt von Organismen, die sich nachbauen und verändern ließen. Der Schritt vom unbelebten Molekül zum biologischen Organismus ist nämlich ein Geheimnis nach wie vor.«

»Warum haben Sie bei ihm aufgehört?« fragte Eva.

Der Herr zuckte die Schultern. »Wissen Sie, wie das ist, mit einem Besessenen zusammenzuarbeiten?«

»Er redet kaum über etwas anderes als seine Forschung«, sagte die Gastgeberin. »Und seitdem man die Ruine einer Art genetischen Bank für Agrarbetriebe gefunden hat, ist mit ihm überhaupt nichts mehr anzufangen. Ich wundere mich nur, daß er gekommen ist. Aber jetzt muß ich mich wieder den anderen Gästen widmen, die Stimmung treibt dem Nullpunkt zu.«

Ich ging hinüber ins Schlafzimmer, wo der Mann mit dem grünen Daumen sich bereits etwas erholt hatte. Er saß auf der Bettkante und starrte mich schweigend an.

»Ist es wegen der Genbank?« Ich setzte mich neben ihn.

Er schaute kurz auf. »Wegen der Genbank? Was soll wegen der Genbank sein?«

»Ihr Suizidversuch.«

»Ach, lassen Sie mich in Ruhe. Sie haben ja keine Ahnung.«

Eva war mir gefolgt. »Es muß schön für Sie sein, endlich Arbeitsmaterial in Überfülle zu besitzen. Vielleicht ist es die letzte Chance für die Erde.«

Der Mann mit dem grünen Daumen lächelte. »Wenn es so wäre … Ein kleiner Gruß Gottes an die Menschen, die seine Schöpfung mit ihren Füßen zertrampeln.«

»Sie könnten neues Leben erschaffen«, sagte Eva. »Die Genbank ist der Schlüssel dazu.«

»Der Schlüssel …« Er lachte jetzt, er lachte aus vollem Halse, und ich merkte seinem Lachen den irren Sarkasmus an.

Ich versuchte ihn aufzumuntern: »Man hat uns berichtet von Ihrem Projekt der Rekultivierung. Irgendwie lassen sich neue Gelder beschaffen, und dann können Sie Ihre Arbeit zu Ende führen.«

Sein Lachen hörte auf, und er blickte mich verständnislos an. »Die Arbeit zu Ende führen? Aber guter Mann, dies ist doch nicht das Problem! Doch nicht meine Arbeit.«

»Was dann?«

Er stand auf und machte sich am Computerterminal zu schaffen. »Ich werde Ihnen das Ergebnis meiner Arbeit zeigen …« Es dauerte nicht lange, bis die eine Schlafzimmerwand weiß aufleuchtete. Zeichen hüpften über den Wandmonitor. »Dies ist die mathematische Darstellung allen Lebens«, sagte er, »wenn man so will, der Atem Gottes, den er der Erde einhauchte, oder etwas prosaischer: die Sprache der Evolution. Jede Ziffer kennzeichnet ein Quentchen Geschichte, eine neue Erfahrung, die in die Welt trat, ein neues Ordnungsprinzip, das sich der Entropie entgegenstemmt. Diese Ansammlung von Information hier repräsentiert zum Beispiel das genetische Muster einer unserer Gewächshauspflanzen. Wir sind nicht mehr in der Lage, viele Pflanzen zu beschreiben, da sie Klone von Klonen von Klonen und so weiter sind und wegen ihrer zunehmenden genetischen Verarmung auch immer mehr an Vielfalt verlieren. Nur geringe Störungen schon können zum Aussterben einer ganzen Klonfamilie führen, und damit zum Aussterben der genetischen Information. Mutation und Auslese, die Motoren der Evolution, laufen zu langsam, um den Prozeß aufhalten zu können. Was wir brauchten, wäre ein neuer, vielfältiger Genpool, den wir durch geschickte Kombination noch weiter ausdifferenzieren müßten.«

»Aber nun haben Sie die Genbank!« rief Eva.

»Die Genbank …« Der Mann mit dem grünen Daumen hob hilflos die Hände. »Schauen Sie auf dem Monitor, dort sehen Sie, was passiert, wenn all die verschiedenen Pflanzen einer Genbank austreiben, Blüten bilden, die befruchtet werden, wenn neue Pflanzen heranwachsen …«

Die Zeichen hüpften wieder über den Monitor, verdichteten sich, lösten sich voneinander, wirbelten durcheinander, um sich abermals zu verdichten, bis sie gleichmäßig den Monitor füllten.

»Das wäre die Evolution, wie man sie mit Hilfe der Vielfalt einer Genbank neu in Gang setzen könnte«, erklärte der Mann mit dem grünen Daumen, wobei er einige Tasten bediente. Der Computer errechnete eine neue Graphik und zeigte – einen Wald, einen riesigen, erdumspannenden Wald.

Eva hatte meine Hand gefaßt und drückte sie fest und warm. »Warum fangen Sie nicht gleich an mit der Rekultivierung?« fragte sie begeistert. »Fast jeder sehnt sich danach, die Wohntürme ohne Atemmaske und Schutzanzug zu verlassen.«