ISBN: 978-3-99074-059-0
1. Auflage 2019, Marchtrenk, Österreich
© 2019 Verlag Federfrei
Umschlagabbildung: © kosobu, Fotolia
Lektorat: S. Bähr
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Personen und Handlungen sind wie in jedem meiner Kriminalromane frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen daher reiner Zufall und keineswegs beabsichtigt.
Auch der Ort Klein Schiessling ist auf keiner Landkarte zu finden. Er entstammt ebenso wie die Personen und deren Handlungen meiner Fantasie.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
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Nachdem die Gemeindevertretung von Klein Schiessling, allen voran der Dorfboss, Bürgermeister Alfons Pummerl, und so, wie er heißt, sieht er auch aus, das alte 10er-Haus nach dem denkwürdigen Ableben des Künstlers Damian Studd, Studd mit zwei d am Schluss, in ihren Besitz genommen hat, steht es bereits wieder längere Zeit leer.
Das Schicksal meinte es mit diesem mehrere hundert Jahre alten, ehrwürdigen Gebäude nicht besonders gut.
Ehemals Pfarrschule war es danach viele Jahre lang Bauernhaus mit Saustall und diversen Stallungen für Hühner und Gänse. Später stand es für lange Zeit leer, wobei es manchmal als Scheune für Heu und Stroh benutzt wurde. Dazwischen hatte sich für ein paar Jahre eine Wiener Familie eingenistet, welche das Gebäude auch nur als Lagerschuppen für überflüssige Möbelage verwendete.
Nachdem der Mietvertrag abgelaufen war, döste das Haus wieder viele Jahre unbeachtet vor sich hin und war damit sozusagen dem Verfall preisgegeben. Und dann wollte doch tatsächlich der Bürgermeister von Klein Schiessling gegen den Willen seiner Gemeinderäte darin ein Bordell etablieren. Ein Bordell!!! Einerseits, um seine Dorfbewohner nach der folgenschweren Steinbruchgeschichte wieder zu versöhnen, und andererseits den Männern ihr schweres Los als Ehekrüppel, Winzer und Bauer ein bisserl zu erleichtern. Und was gibt es da Schöneres, als sich im Bett an ein fesches Dirndl zu kuscheln? So die grandiose Idee von Dorfboss Alfons Pummerl.
Nachdem dieser Wunsch jedoch von den weiblichen Dorfbewohnern aufs Rigoroseste torpediert wurde, musste er ihn vorerst einmal ad acta legen und abwarten, bis wieder Ruhe eingekehrt war, um sich jetzt neuerlich ernsthaft damit auseinanderzusetzen.
»Also, was soll ma mit der Bruchbude anfangen?«
Alfons Pummerl und fast alle seine Gemeinderäte sitzen am Stammtisch des Klein Schiesslinger Dorfwirtshauses bei Herrn und Frau Krügerl, und vor jedem thront ein Glas Grüner Veltliner. Ausgenommen Gemeinderat Hugo Zechbauer, weil der daheim bei seiner Frau Waltraud und seinem Sohn Max am Spätstückstisch sitzt. Spätstück deshalb, weil es für ein Frühstück halt schon ein bisserl spät ist.
Pummerl wartet auf eine Antwort, diese bleibt jedoch aus. Er ist noch immer um keinen Zentimeter gewachsen, weder in die Länge noch in die Breite, seine tief liegenden Äuglein blicken allwissend in die Welt, und seine Toilettenfehler springen jedem ins Gesicht. Darum schert sich jedoch keiner mehr, daran hat man sich im Laufe seiner langjährigen, verantwortungsvollen Amtszeit gewöhnt. Ein bekleckertes Hemd gehört nun einmal zum Alltag des Dorfbosses von Klein Schiessling. Das Gegenteil würde jedem sofort ins Auge springen und irritieren!
Seit dem letzten Treffen hat sich demnach nichts, aber auch schon gar nichts verändert.
»Also«, wiederholt er seine Frage. »Was mach ma jetzt mit dem alten 10er-Haus?« Erwartungsvoll mustert er seine Gemeinderäte der Reihe nach, hebt dabei sein Glas, lässt den Grünen Veltliner leicht kreisen, nimmt dann einen kräftigen Schluck, stellt das Glas wieder zurück auf den Tisch und wischt sich mit dem Ärmel über den Mund. »Ich hab euren Vorschlag mit dem Bordell noch immer in guter Erinnerung«, feixt er aus hinterlistigen Augen seine Leute an, obwohl er ganz genau weiß, dass diese Idee eigentlich von ihm stammt. Die Gemeindevertretung sprach sich damals vehement dagegen aus, was ihn jedoch nicht daran hindert, ihnen jenes heute in die Schuhe zu schieben.
»Seid’s ihr noch immer dafür, egal, was eure Weiber dazu sagen?«, setzt er hoffnungsvoll nach. »Dann lass ich mich halt in Gotts Namen breitschlagen, und wir können gleich mit der Planung für ein solches Etablissement beginnen.«
Er schaut seinen Gemeinderäten Michael Rieslinger, Heinrich Silvaner, Huaberl Burgunder und den zuletzt in die Gemeindevertretung aufgenommenen Walter Zweigelt in deren vom Wein geröteten Gesichter. Der frischgebackene Gemeinderat Walter Zweigelt stammt aus dem Nachbarort, ist fünfundsechzig Jahre alt, groß, sehr schlank, schon eher dürr und war vor seiner Pensionierung Installateur. Er fühlt sich bei dem Gedanken an ein Freudenhaus überhaupt nicht wohl in seiner Haut. Schon damals, als er aus einiger Entfernung die heftigen Debatten der Gemeindevertreter verfolgte, hatte er große Bedenken gegen so eine Einrichtung in Klein Schiessling. Schließlich gehört solch ein Etablissement, wenn auch unter Umständen wichtig, nicht aufs Land, sondern bestenfalls in eine Großstadt, wo die Besucher anonym bleiben. Was auf dem Land nicht möglich ist, kennt doch hier jeder jeden. Seit ungefähr einem Monat gehört Walter Zweigelt der Gemeindevertretung von Klein Schiessling an. Außerdem, seine liebe Frau Gemahlin, klein zart und äußerst energisch, hätte bestimmt sehr viel dagegen einzuwenden. Deshalb lässt er auch sofort seinen überaus berechtigten Einwand auf alle rund um den Wirtshaustisch Versammelten los.
»Was sollen denn unsere Frauen dazu sagen, Bürgermeister, wenn wir schon wieder mit dieser Idee daherkommen? Erinnere dich doch an die Misere, als ihr das letzte Mal den Vorschlag gemacht habt’s. Ich war ja damals noch nicht bei euch im Gemeinderat, hab aber alles mitgekriegt. Da haben euch doch eure Weiber ganz schön zur Schnecke gemacht!«
Der Rest der Gemeindevertreter ist der gleichen Meinung und nickt zustimmend. Selbst der Wirt Josef Maria Krügerl murrt leise vor sich hin, während er hinter der Theke steht, Gläser poliert und die Debatte am Stammtisch interessiert verfolgt. Er erinnert sich mit Schaudern an das heillose Chaos, das damals durch den Streik der Klein Schiesslinger Frauen entstanden ist. Alle Dorfbewohnerinnen haben nicht nur den Haushalt ignoriert, sondern auch so einige andere angenehme nächtliche Vergnügungen verweigert.
»Erinnert’s euch doch, wie unsere Weiber verrücktgespielt haben. Nix hat mehr funktioniert daheim. Nicht einmal meine Alte hat mehr für unser Wirtshaus kocht«, brummt er deshalb mürrisch über die Theke hinweg.
Bürgermeister Alfons Pummerl greift neuerlich zu seinem Glas, begutachtet fachmännisch die Farbe des jungen Weines, steckt seinen knolligen Riechkolben hinein, schließt genussvoll die Augen und nimmt einen Schluck. Danach stellt er das Glas bedächtig zurück auf den Wirtshaustisch, hält es aber weiterhin fest in der Hand.
»Und was soll ma eurer Meinung nach sonst mit dem alten 10er-Haus machen?«, fragt er jetzt schon ziemlich missmutig, weil er die harte Mauer spürt, welche sich zwischen ihm und seinen Leuten aufgebaut hat.
Ärgerlich dreht er das Glas von links nach rechts und wieder zurück und funkelt sie grantig an.
Eine Weile herrscht Stille in der Gaststube, nur das Geschepper der Töpfe dringt aus der Küche, in der Frau Krügerl dabei ist, für den Mittagstisch zu kochen.
»Warum macht’s denn kein Kulturhaus draus?«, fragt der Wirt Josef Maria Krügerl, nachdem er die Stammtischrunde eine Weile still beobachtet hat. So was hat er sich schon immer gewünscht. Er könnte davon gut profitieren, wenn er die Bewirtung bei den laufenden Veranstaltungen übernimmt.
»Was soll ma denn mit einem Kulturhaus, hm?«, fragt Pummerl sichtlich verärgert.
Er spielt noch immer mit seinem Glas, schwenkt den Grünen Veltliner sanft hin und her und beobachtet, wie das Getränk im Glas Schlieren zieht. Sein Kopf hängt über dem Wirtshaustisch, und er brütet vor sich hin.
Ein Freudenhaus wäre ihm viel lieber als ein Kulturhaus. Was soll er denn mit einem Kulturhaus anfangen? Und was gibt’s im Ort schon für Kultur?, fragt er sich. Kultur! Allein schon dieses Wort erschüttert sein Innerstes gewaltig. Hingegen könnte er sich ein Bordell überaus angenehm und obendrein gewinnbringend für den Ort vorstellen. Seit er keine Ehefrau mehr hat, würde so eine Einrichtung ihm auch persönlich überaus guttun. Noch dazu, da er bei den Weibern in letzter Zeit weniger Glück hat. Die finden schön langsam keinen Gefallen mehr an ihm, was ihn aufrichtig wundert. Hat er doch seiner Überzeugung nach nichts von seiner Jugendlichkeit eingebüßt. Auf jeden Fall würde so ein Etablissement die richtige Abwechslung bieten. Nicht nur für ihn!
»Also, ich find ein Kulturhaus gescheit«, stimmt nun Gemeinderat Michael Rieslinger lautstark zu und reißt damit den Dorfboss abrupt aus seinen Tagträumen.
»Wir haben doch eine gute Blasmusikkapelle, wir könnten öfters einen Dirndlball mit Weinverkostung veranstalten oder uns ganz einfach nur zum Gedankenaustausch in angenehmer Atmosphäre treffen. Hochrangige Kultur halt!«
Der jüngste Gemeinderat, damit ist jung an Jahren gemeint, Hubert Burgunder, von allen nur Huaberl genannt, bewegt seinen Kopf mit dem neuesten Kurzhaarschnitt leicht hin und her. Seine seitlichen Haare sind abrasiert, dafür thront am Oberkopf so eine Art Vogelnest.
»Also mir persönlich tät eine hochrangige Kultur in unserem schönen Ort auch sehr gut gefallen. Da muss ich dem Kollegen Rieslinger und auch dem Josef Maria schon zustimmen. Allein, wenn ich an die Blasmusikkapelle denke. Vor allem die Trompeten! Kultur pur, kann ich da nur sagen.«
Nachdem die Gläser mehrmals nachgefüllt wurden und die Stimmung der Stammtischrunde steigt, gibt Dorfboss Alfons Pummerl sich gezwungenermaßen zunächst einmal geschlagen. Um seine Gemeinderäte zum jetzigen Zeitpunkt umstimmen zu können, braucht er plausiblere Argumente, die ihm jedoch im Moment partout nicht einfallen wollen. Er muss sich wohl oder übel im Augenblick dem Wunsch der Mehrheit beugen. So schwer ihm dies auch fällt. Aber aufgeschoben ist ja noch lange nicht aufgehoben!
»Na, schaun ma halt amal.«
Mühevoll steht er von seinem Sessel auf, zieht die Hose straff nach oben, rückt seinen in die Jahre gekommenen wertvollsten Besitz zurecht und marschiert zur Tür hinaus, wahrscheinlich aufs Klo.
»Was hat denn der Alfons allerweil mit seinem Freudenhaus?« Gemeinderat Walter Zweigelt schüttelt den Kopf und schaut seine Kumpel fragend an. »Unsere knackigen Dirndln und auch die Blasmusik sind doch so was Schönes! Und die Kultur ist in Klein Schiessling in der letzten Zeit ohnehin ein bisserl zu kurz gekommen.«
»Na, na! Das stimmt so nicht! Immerhin hatten wir voriges Jahr zwei Ausstellungen im Ort«, mischt die Wirtin sich jetzt ein, die, mit einem Kochtopf bewaffnet, kurz aus der Küche schaut.
»Ja schon, aber davon wurde eine, wie wir alle wissen, abrupt beendet«, gibt Gemeinderat Michael Rieslinger zu bedenken.
»Dafür kann doch unsereins nix!« Huaberl Burgunder fährt sich mit den Fingern durch sein Vogelnest. »Immerhin gibt es gegen Kultur nix einzuwenden. Man muss auch einmal was für die Bildung der Leute tun. Ich glaub sogar, dass es die Pflicht und die Aufgabe eines Gemeinderates ist, die Bildung der Bevölkerung zu fördern. Was will er denn noch, der Alfons?«
»Richtig«, stimmt Heinrich Silvaner zu, der sich bisher nicht an dem Gespräch beteiligt hat, weil der Ausdruck Kultur ihn etwas überfordert und er nicht genau weiß, was er damit anfangen soll. Nachdem Frau Krügerl jedoch die Ausstellungen erwähnt hat, nimmt er an, dass Kultur etwas damit zu tun hat. »Kultur ist für einen Ort wie unseren sehr wichtig!«, fügt er deshalb belehrend hinzu und grinst wissentlich um sich.
»Prost!«
Die Debatte zieht sich hin, bis der Dorfboss mit entspanntem Gesicht an den Stammtisch zurückkehrt.
»Also, habt’s schon was Gescheites gefunden für das alte Häusl?«
Er lässt sich auf den bereits ausgekühlten Sessel plumpsen, und sein Blick wandert langsam über die erhitzten Gesichter seiner Mannen.
»Ja!«
Gemeinderat Michael Rieslinger setzt sich kerzengerade auf, streckt seinen Rücken durch und streicht sich über sein glatt rasiertes Kinn.
»Wir sind alle für ein hochrangiges Kulturhaus und gegen dein Freudenhaus, Bürgermeister!«
Zustimmendes Getrommel auf den Wirtshaustisch begleitet diese Worte und dringt wie aus weiter Ferne in Pummerls Ohren. Er schlürft sein Glas leer, deutet dem Wirten nachzuschenken, hebt dabei den Kopf und verdreht missmutig seine Augen. Er kann und will es nicht verstehen, dass seine Gemeinderäte ihn gerade in diesem einen Punkt so im Stich lassen. Sonst bringt er sie doch auch immer auf seine Seite! Warum ausgerechnet diesmal nicht? Unverständlich!
»Na ja, dann macht’s halt einmal Vorschläge für so ein Kulturhaus«, brummt er resigniert und widmet sich seinem neuerlich gefüllten Glas. Das Wort Kulturhaus betont er dabei ziemlich abfällig. Und auf einen praktischen Vorschlag seitens seiner Gemeinderäte braucht er auch nicht lange zu warten.
»Da ja das alte 10er-Haus so halbwegs brauchbar ist«, übernimmt Michael Rieslinger es, die Idee zu begründen, »immerhin ist das Dach dicht, und viel Klumpert gibt’s auch nicht zum Ausräumen, könnten wir vielleicht im Oktober, gleich nach der Weinlese halt, unsere Blasmusikkapelle aufspielen lassen, und dazu könnten ein paar Dirndln aus unserem Ort tanzen. So eine Art Volkstanz halt. Auch ein richtig großes Stelzenessen könnt ich mir vorstellen, mit Preisschnapsen und allem Drum und Dran. Oder wir machen das Ganze erst im November und könnten dann schon unseren jungen Wein ausschenken. Auch die ganzen Sportfeste und Feuerwehrfeste mit Maibaumverlosung lassen sich in so einem Kulturhaus großartig veranstalten. Das ist doch was, Bürgermeister! Meinst nicht?«
Stille am Stammtisch.
»Na, Alfons! Was sagst dazu?«, schiebt er eine Weile später hinterher, weil Pummerl keine Reaktion zeigt und stur ins Weinglas stiert.
Nach dieser Frage spült Michael Rieslinger seinen Mund mit Wein durch, lehnt sich gemütlich im Sessel zurück und schaut befriedigt in die Runde. Und was er sieht, gefällt ihm. Alle, außer dem Bürgermeister natürlich, machen zufriedene Gesichter.
Pummerl stiert zur Abwechslung zum Fenster hinaus, beobachtet intensiv die menschenleere Dorfstraße und äußert sich zunächst mit keinem Mucks.
Na, da kann man auch nix machen, denken seine Gemeinderäte. Allen Leuten recht getan ist eine Kunst, die niemand kann!
Immerhin leben wir in einer Demokratie, und da kann es schon hin und wieder vorkommen, dass die Mehrheit sich gegen den Gottobersten durchsetzt. Viel zu selten zwar, aber manchmal doch. Zum Glück!
Und während die Gemeindevertreter von Klein Schiessling seit gestern intensiv über Kultur und was darunter zu verstehen ist, nachgrübeln, marschiert unsere Dorftratschen Annerl Passer durch den Ort, um da und dort ein paar Neuigkeiten aufzuschnappen, welche sie danach ganz schnell, natürlich bis zur Unkenntlichkeit ausgeschmückt, wieder verbreitet. Da ja seit den letzten Morden schon einige Zeit vergangen ist, zeigen sich bei ihr die ersten Entzugserscheinungen. Jetzt ist sie gerade von so einer Runde zurückgekommen, steht in ihrer Eingangstür und redet auf Berta Pitzer und mich heftig ein.
»Habt’s schon g’hört, das alte 10er-Haus gehört jetzt unserer Blasmusik!«
Verwundert starren wir sie an, und Bertas Augenbrauen schieben sich dabei fast bis zum Haaransatz hinauf.
»Wieso gehört das 10er-Haus jetzt der Blasmusik, Annerl?«, frage ich ungläubig, weil ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, dass die Klein Schiesslinger Blasmusikkapelle ein eigenes Haus zum Tröten braucht, noch dazu eines, das nicht einmal gescheit bewohnbar ist. Wer weiß denn, ob die Fenster dicht und die Installationen in Ordnung sind? Auch Berta Pitzer streicht sich ihre mittellangen und mittelbraunen dauergewellten Haare aus der Stirn, ihre hochgezogenen Augenbrauen sinken dabei zwar ein wenig tiefer, aber sie gibt sich noch immer äußerst skeptisch.
»Wo hast denn diese Neuigkeit her?«, fragt sie deshalb, doch Annerl schüttelt nur den Kopf und betrachtet interessiert ihre schwarzen Treter. Nach einer Weile meint sie: »Ihr könnt’s des ruhig glauben. Ich hab’s von der Wirtin g’hört, von der Krügerl. Die Stammtischrunde hat gestern lautstark im Wirtshaus darüber quatscht. Und heute sitzen schon wieder alle beinand und beraten weiter.«
Wir schauen sie zweifelnd an, daraufhin scheucht sie uns mit einer energischen Handbewegung wie Hühner zu ihrer Haustüre hinein. Unsere Dorftratschen ist zwar schon weit über siebzig Jahre alt, doch bis heute hat sie kein bisschen an Vitalität verloren, welche sie auch schon in ihrer Berufszeit als Briefträgerin besessen hat.
Ohne zu fragen, mischt sie drei Gspritzte und stellt sie vor uns auf ihren glatt polierten Esstisch, in dessen Mitte eine Vase mit herrlich duftendem lila Flieder steht. Alles blitzt vor Sauberkeit. Wohin man schaut, überall ist picobello aufgeräumt, nichts liegt herum, und von ihrem Fußboden könnte man essen.
»Prost!«
Dieser energischen Aufforderung von Annerl kommen wir folgsam nach und verkosten zunächst einmal ihren Gspritzten, der wunderbar schmeckt. Danach lässt sie uns an ihrem gesamten Wissen teilhaben.
»Der Pummerl hat im Wirtshaus lautstark verkündet, dass er nix gegen ein Freudenhaus hätt, was er schon seinerzeit im alten 10er-Haus einrichten wollt, noch bevor dieser Maler einzogen ist. Aber die anderen, hauptsächlich der Rieslinger Michel, ham ihm des ausg’redt. Die Krügerl hat dann noch g’hört, dass die Gemeinderäte ein Kulturhaus vorg’schlagen haben, was dem Pummerl aber überhaupt nicht g’schmeckt hat.«
»Ja, hat sie der noch alle, der Pummerl? Hat er schon vergessen, was damals im ganzen Ort los war, wie er ein Puff einrichten wollt?«, empört Berta Pitzer sich, und ich kann ihr nur zustimmen.
»Und die Krügerl hat ganz sicher gehört, dass die Gemeinderäte alle dagegen waren?«, fragt sie nach. »Na, Gott sei Dank! Stellt’s euch vor, dem Pummerl wär das diesmal durchgangen.«
Ich kann mich gar nicht genug wundern.
»Und jetzt soll ein Kulturhaus eingerichtet werden?«
»Ja«, bestätigt Annerl uns. »Ein richtiges Kulturhaus für unsere Blasmusik. Mit Volkstanzen, Dirndlball und Preisschnapsen und Stelzenessen und … und so allerhand halt.«
Aha!
»Aber«, wende ich ungläubig ein, »unter Kultur versteht man doch ein bisserl was anderes. Zum Beispiel Ausstellungen, Autorenlesungen, Theateraufführungen oder Ähnliches.«
»Davon hat die Krügerl aber nix g’sagt«, gibt Annerl kleinlaut zu. »Sie hat nur Blasmusik und Dirndlball g’hört.«
»Der Gspritzte ist gut, Annerl«, lenke ich vom Thema ab, weil mir momentan zur Klein Schiesslinger Kultur nichts einfallen will. »Hast den Wein vom Günter?«
»Nein, der ist vom Michel. Das ist ein Rieslinger-Wein.«
»Schmeckt aber trotzdem gut«, stimmt Berta großzügig zu.
»Na dann halt! Auf die Kultur in unserem neuen Kulturhaus!«
Annerl nickt mir zu und grinst Berta von der Seite an.
»Also«, meint sie, »seid’s doch froh. Besser ein Kulturhaus als ein Puff. Und wer weiß, was der Pummerl sonst noch alles für narrische Ideen hat.«
Wo sie recht hat, hat sie recht, unsere Dorftratschen. Und so freuen wir uns halt über ein Klein Schiesslinger Kulturhaus mit Blasmusik und Dirndlball! Soll ja auch ganz schön sein!
Resigniert stehe ich auf, nachdem ich meinen Gspritzten ausgetrunken habe, der wirklich gut geschmeckt hat, und verabschiede mich von den beiden.
Na, servas, denke ich, während ich die Kellergasse hinauffahre und das Auto in meine Einfahrt lenke.
Blasmusik und Dirndlball!
Kultur pur!
Toll!
Aber, es gibt Schlimmeres!
Doch erstens kommt es anders und zweitens als man denkt!
Ein paar Tage später vernehme ich einen Mordslärm, als ich in den Ort hinunterkomme, um die Liesel, unsere Pfarrersköchin, zu besuchen.
Vor dem alten 10er-Haus ist das halbe Dorf versammelt, und es wurlt wie in einem Ameisenhaufen. Beim Näherkommen kann ich einige Wortfetzen wie »Feuerwehr«, »Wasser«, »Überschwemmung« aufschnappen. Ich schaue mich um und sehe unsere Dorftratschen inmitten des Menschenauflaufes stehen und wild mit ihren dünnen Armen herumfuchteln.
»Annerl, was ist denn los? Was habt’s denn alle?«, rufe ich ihr zu. Sie kann mich allerdings bei dem Lärm nicht hören. Nur Hedwig Uhudler, die etwas abseits der aufgeregt schnatternden Menschenmenge steht, dreht sich zu mir um.
»Stell dir vor, Sandra, da drin sprudelt Wasser. Sprudelt von ganz allein aus dem Erdboden raus. Mitten in dem kleinen Garterl hinter der Autoeinfahrt. Und es stinkt grauslich. Der Günter hat gemeint, dass es nach Schwefel riecht! Ich glaub ja eher, dass es einfach nur ganz normal stinkt.«
Ungläubig starre ich Hedwig an.
»Wasser? Ja, und wo kommt das Wasser her, das stinkende?«
Meine Frage bleibt unbeantwortet, weil es im Augenblick niemand weiß. Die Freiwillige Feuerwehr von Klein Schiessling rückt an, ich kann das Folgetonhorn vernehmen, und alle Köpfe drehen sich in Richtung Sirene.
»Na endlich«, atmet Hedwig Uhudler neben mir erleichtert auf. »Jetzt wird bald wieder Ordnung!«
Unsere jungen Burschen von der Freiwilligen Feuerwehr springen aus dem Auto und drängen sich energisch durch die Menschenmenge, die ihnen nach kurzem Widerstand den Weg frei gibt. Eine gute Weile hört man nur Zurufe und Gepolter. Annerl Passer hat sich noch näher an den Hauseingang herangedrängt, um das, was sie von drinnen hören kann, für alle Umstehenden lautstark zu kommentieren.
»Die suchen den Hauptwasserhahn!«, schreit sie. Und nach einer Weile: »Jetzt ham’s ihn g’funden!«
Das penetrant stinkende Wasser hat sich jedoch von dem Absperren des Hauptwasserhahnes nicht beeindrucken lassen. Ganz im Gegenteil! Es überflutet den Gehsteig und läuft, dem physikalischen Gesetz folgend, weiter zur Hauptstraße hinunter. Verstört und neugierig blicken wir dem Wasserlauf hinterher.
»Ich glaub, jetzt stinkt es schon weniger«, raunt Hedwig mir zu. Ich schnuppere ein paarmal und nicke.
»Ja, jetzt riecht es eigentlich überhaupt nimmer. Und das Wasser schaut auch klarer aus als vorhin.«
Eine Weile verfolge ich den Wasserlauf und die Aktivitäten unserer Freiwilligen Feuerwehr, dann verabschiede ich mich. Ich muss mit unserer Pfarrersköchin einige Kochrezepte durchbesprechen, die sie mir letzthin mitgegeben hat.
Nachdem ich die breiten Stufen zum Pfarrhaus hinauf und gleich rechts bei der kleinen Holztür hinein bin, finde ich Liesel in der Küche vor dem Herd stehend vor. Aufgeregt erzähle ich ihr von dem Trubel rund ums alte 10er-Haus und vom Einsatz unserer Feuerwehr. Die Liesel ist davon jedoch nicht allzu sehr beeindruckt.
Sie dreht sich langsam zu mir um und meint salbungsvoll: »Ja, unser Herr Pfarrer hat ständig darum gebetet, dass die Gemeinde zur Vernunft kommt und was Gescheites aus dem alten Haus macht. Und jetzt hat unser Herrgott endlich ein Einsehen gehabt und schickt uns ein Zeichen.« Dabei rührt sie mit einem Holzkochlöffel kräftig in einem Suppentopf herum.
»Und was für ein Zeichen soll das sein, Liesel, wenn aus dem kleinen Garterl plötzlich Wasser sprudelt?«
Allwissend hebt sie ihr Kinn, unterbricht das Rühren und schaut mich mitleidig von oben herab an.
»Vielleicht handelt es sich bei dem Wasser ja um eine Heilquelle?« Ihre Augenlider zucken leicht, und sie nimmt das Umrühren im Suppentopf wieder auf, welches sie kurz unterbrochen hat.
»Du meinst?« Meine Verwunderung ist grenzenlos. »Eine Heilquelle?« Das muss ich erst einmal verdauen. Ich starre auf ihren Rücken, während sie stoisch in ihrem Eintopf rührt und belehrend weiterspricht. »Ja! Gottes Wege sind unergründlich. Und er weist seinen verlorenen Schafen immer den richtigen Weg und hält über uns stets seine schützende Hand!« Eine Weile mustere ich sie, dann meine ich ketzerisch: »Na, dann hat er wohl bei den letzten Mordfällen in Klein Schiessling geschlafen, oder?«
Darauf bekomme ich keine Antwort. Liesel verzieht nur ihre Mundwinkel nach unten, rümpft die Nase und rührt stoisch weiter in ihrem Suppentopf. Und da ich merke, dass im Augenblick mit ihr nicht gut Kirschen essen ist, vergesse ich meine Rezepte, verabschiede mich und verlasse das Pfarrhaus samt seiner allwissenden Köchin. Unser Herr Pfarrer, denke ich bei mir, hätte keine besser zu ihm passende Köchin finden können. Manchmal gewinnt man sogar den Eindruck, die Liesel ist der zweite Pfarrer im Dorf.
Der Menschenhaufen vor dem alten 10er-Haus ist in der Zwischenzeit um keinen Kopf geschrumpft. Unsere Feuerwehrler sind gerade dabei, einen dicken Schlauch in das Garterl zu schleppen, was mit Gepolter und unter lauten Zurufen vor sich geht.
»Wollen die das Wasser ableiten?«, frage ich Hans Sachenberger, den Oberjägermeister von Klein Schiessling, der wegen Überfüllung des Gehsteiges neben mir auf der Straße steht.
»Ja, ich glaub, die pumpen das Wasser in den Tankwagen, der da grad kommt.«
Ich schaue auf. Ein Traktor mit Tankanhänger nähert sich mit lautem Geratter und Geknatter dem Schauplatz. Er hält gegenüber dem alten 10er-Haus an, der Motor läuft weiter und wirbelt seine stinkenden Abgase in die Menge. Gemeinderat Hubert Burgunder, also der Huaberl mit seiner en voguen Vogelnestfrisur, springt, kurz nachdem das Vehikel zum Stillstand gekommen ist, aus dem Führerhaus und rennt auf die jungen Männer unserer Feuerwehr zu. Nach einem lautstarken, von heftigen Armbewegungen begleiteten Gebrüll wird der dicke Feuerwehrschlauch mit dem Tankanhänger verbunden.
Da mir das Treiben zu laut, zu stinkend und zu hektisch geworden ist, verlasse ich den Schauplatz. Schließlich habe ich in meinem Garten genug Arbeit und kann nicht den ganzen Tag da herumstehen und zusehen, wie ein Schlauch an einen Tankwagen gekoppelt wird. Ich muss den verblühten Flieder abschneiden und die Rhododendren mit Regenwasser versorgen. Also, genug Arbeit! Unsere Dorftratschen wird mir sicherlich alle Einzelheiten bis ins kleinste Detail schildern. Am Nachmittag muss ich sowieso wieder in den Ort hinunter, um beim Günter ein paar Flascherln Wein einzukaufen, bevor er mit seiner Hedwig nach Salzburg abdampft. In letzter Zeit sind die beiden ohnehin länger in Salzburg bei ihren Kindern als hier in Klein Schiessling.