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CARSTEN SCHMIDT

Ausgekafkat

Roman

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DRAVA VERLAG • ZALOŽBA DRAVA GMBH

9020 Klagenfurt/Celovec

www.drava.at

© 2018 bei Drava Verlag GmbH,

Klagenfurt/Celovec

Lektorat: Josef G. Pichler

ISBN 978-3-85435-895-4

eISBN 978-3-85435-912-8

Inhalt

Kapitel 1 Zwölf Schritte bis zum Fahrstuhl

Berlin, 1. September 2010, 10:30 Uhr

9. September 2010

Kapitel 2 Eine gute Tat pro Tag

2 Wochen zuvor, Schildow

1. September 2010, Berlin

2. September 2010

Kapitel 3 Die Kleinen hängt man

Freitag, 3. September 2010

Montag, 6. September 2010, 10 Uhr, Moabit

Dienstag, 7. September 2010, 9 Uhr, Direktion 6 VB II

Berlin-Schöneweide, An der Wuhlheide

Kapitel 4 Hünfeld Halbbitter

20. September 2010, JVA Hünfeld

Ende September, Berlin-Zehlendorf

30. September 2010, Berlin

8 Jahre zuvor, Berlin-Neukölln, 22. Juni 2002

Ostseebad Graal-Müritz, Oktober 2010

Freitag, 1. Oktober 2010, 7:30 Uhr

Fünf Wochen zuvor – Montag, 26. August 2010, Xiva, Usbekistan

Freitag, 1. Oktober 2010, 11 Uhr, Autobahn A 4

Kapitel 5 Zaunpfähle

Hünfeld, 1. Oktober 2010, 12 Uhr

1986, Zehdenick

Berlin, 2. Oktober 2010

Sonnabend, 2. Oktober 2010

Kapitel 6 Xiva und Monte Christo

Hünfeld, 2. Oktober

Ostseebad Graal-Müritz, Oktober 2010

Hünfeld, Montag, 4. Oktober 2010, 7 Uhr

Kapitel 7 Das übergelaufene Fass

Hünfeld

Vier Jahre zuvor, Juni 2006, Hessen

Hünfeld

Berlin, 23 Uhr

Berlin-Pankow, 20 Uhr

Hünfeld, 5. Oktober 2010, 9 Uhr

Mitternacht

Berlin, Mitte Oktober, 22 Uhr

Kapitel 8 Das Vorübergehen der Stäbe

Zehdenick, Kulturscheune, Mitternacht

Istanbul-Tarabya

Hünfeld, Mitte Oktober 2010, 3 Uhr

9 Uhr

Istanbul

Hünfeld

13 Uhr

Ostsee, Ende 2010

Hünfeld, 14 Uhr

17. Dezember 2010, Provinz Badakhshan

Kapitel 9 Ausgekafkat

Internet, November 2010

Berlin, Mitte November 2010

Mecklenburg, Dezember 1993, 2 Uhr nachts,

Hünfeld, 20. November 2010, 20 Uhr

Hünfeld, 30. November 2010, 15 Uhr

Hünfeld, Mitte Dezember 2010

Kapitel 10 Das Geheimnis der Spiegelneuronen

Hünfeld, 14. Dezember 2010, 23 Uhr

Berlin Pankow, später Abend

Hünfeld, 15. Dezember 2010

17. Dezember 2010, Provinz Badakhshan

Ostseebad Graal-Müritz, Weihnachten 2010

Hünfeld, 20. Dezember 2010

Kapitel 11 Der langsame Schall

Hünfeld, 2. Januar 2011

Kokcha-Tal, nahe Faizabad, Februar 2011

Hünfeld, Februar 2011

Kapitel 12 Woran erkennt man Rettung?

Hünfeld, Anfang März 2011, Abend

Berlin-Erkner, Mitternacht

Hünfeld, Abend

Kundus

Hünfeld, ein Tag später, 6:00 Uhr

Ostseebad Graal-Müritz, Frühling 2011

Hünfeld, 10. März 2011

München-Hauptbahnhof, 20. April 2011

Hünfeld, Anfang April

Kapitel 13 Freischwimmer

Inter City Express

Hünfeld, April

Hünfeld, Abend

Tillyschanze, Postleitzahl 00000

Hünfeld, 2 Uhr nachts

Fulda

Dank

Anmerkungen

Kapitel 1

Zwölf Schritte bis zum Fahrstuhl

Man fällt nicht über seine Fehler.
Man fällt immer über seine Feinde,
die die Fehler ausnutzen.*

Berlin, 1. September 2010, 10:30 Uhr

So klein sah er aus, wenn man auf ihn herabsah. Da am Boden liegend. Gar nicht groß. Der dicke beige Teppich sog gierig Kaffee und Blut auf. So schief der gerade Kopf, verdreht die steifen Beine und still sein lautes Wesen. Schnell fiel er zu Boden; es war alles so einfach.

Herrlich still, dachte Tabea Thuleweit. Die Palmenblätter am halboffenen Fenster raschelten, als die sich öffnende Tür Durchzug verursachte. Die Lamellen der Jalousie flappten und machten ein Geräusch, das Tabea zu kennen glaubte, aber sie konnte sich nicht erinnern, woher.

Er rührte sich nicht. Zwei hereinstürmende Sekretärinnen warfen sich auf den Teppich und betasteten ihn. Ihre Augen waren aufgerissen. Tabea sah niemand an. Sie steckte die Waffe in den Rucksack, blinzelte mit schrägem Kopf aus dem Fenster des Büros, über den Schreibtisch hinweg, auf dem ein schneeweißer Laptop neuester Sorte stand und noch ein wenig von der Erschütterung wackelte. Links und rechts an den gelb tapezierten Wänden standen bis zur Decke dunkle, edle Kirschregale, deren Böden sich bogen vor gebundenem Papier. Er hatte einen extra Schrank für seine eigenen Werke und die, in denen er zitiert wurde.

Zwölf Schritte bis zum Fahrstuhl. Hinunter, hinaus. Auf den Stufen des Uni-Einganges wie in Trance vorbei an allen. Ganz ruhig hinüber in den kleinen Park. Beinahe streifte sie die alte, verblüffte Freundin Rike, die mit Dreadlocks, im grünen Pulli und Biolatschen dastand. Tabea plumpste in einen bequemen Sessel im Café zwei Straßen weiter. Sie atmete langsam, ihre Arme schlenkerten neben den Lehnen. Keine Finger wurden angeknabbert, keine Haare gedreht, keine Lippen innen zerbissen, kein Fussel von der Hose gefegt oder Reißverschluss justiert. Nichts. Sie las eine Stunde lang verträumt in politischen Dossiers der Wochenzeitungen, schüttelte den Kopf über tendenziöse Artikel, schmunzelte nickend zu einer Glosse, trank grünen Tee, schaute auf den schönen Zopf einer Kellnerin, ärgerte sich ein bisschen über den plötzlichen Regen und schwuppste dann beinahe lässig unter den Tropfen hindurch in die gelb-rote Straßenbahn, herüber zur langen Fahrt nach Hohenschönhausen.

Milch, Fisch, Schwarzbrot und Orangensaft besorgte sie an der Ecke neben dem Biertreff, wo es nach Abwaschwasser roch. Zurück in der Falkenberger Chaussee, stellte sie die Einkäufe auf den kleinen, wackligen, weißen Tisch ihrer Einraumwohnung im 16. Stock und suchte nach Frischhaltefolie. Sie goss Pflanzen am verwitterten Fenster, sammelte alte Blätter aus dem Terrakottatopf. An der Wand klebte ein Bild von David, der eine Schleuder hoch über dem Kopf hielt. Tabea nahm langsam einen grünen Stift von der zerborstenen Tischplatte und zog ohne das sanfteste Lächeln einen Haken quer über die Zeichnung, während sie sich ein ganz bisschen zunickte, wie man es im Spiegel manchmal tut, oder wenn man bei einer Rede einen bekannten Namen hört. Dabei atmete sie ganz tief ein und wieder aus. Links hing ein Foto der allerersten Seeräuber-Jenny. Der Vater hatte es ihr geschenkt. Tabea strich bei vielen Gelegenheiten beinahe zärtlich darüber, aber sie wusste nicht, wer die Schauspielerin war. Darauf stand geschrieben: Am Anfang war das A. Dein Papa.

Kühlschrank auf, Radio an, Kühlschrank wieder zu, Radio aus. Lange aus dem Fenster sehen. Zwei Stunden, zwei Tassen Tee und drei Stullen später trabte Tabea die verschmutzten Treppen hinab und ging zum Meer der Briefkästen. Sie hatte sich lockere Sachen angezogen, um den Rest des Tages im Internet und auf der Couch zuzubringen. An der Ecke wollte sie etwas zu knabbern holen. Dennoch war da tief im Innern eine Zerfahrenheit, ja Unruhe; eine Gewissheit, dass dieser Tag anders war als jeder der letzten tausend. Wie Kinder, die kurz nach der Zeugnisausgabe nichts mit sich anzufangen wissen und herumrennen wie Falschgeld, halbherzig den Eltern im Hause helfend, noch zu zaghaft und frisch ihrer Ferien beschenkt, um schon brüllend zum Freibad zu radeln. Tabea konnte das Gefühl noch nicht deuten, aber sie kam sich vor wie jemand, der unverhofft früher Feierabend hat, der an diesem Tag viel geschafft hat, etwas selbst geschafft hat.

Nachbarn kamen und gingen durch die Außentüren. Sie öffnete ihren Briefkasten. Farbenfrohe, dünne Werbe-Blättchen purzelten auf feuchte, braune, seit Jahren zerbrochene Fliesen. Ihr Block war einer der letzten unsanierten. Wieder nichts. Ihr Atem blieb ruhig. Friedrich wird bald wieder schreiben. Ein handgeschriebener Zettel war im Fach:

Hi Tabea, bitte gib uns den Anteil für das WLAN. Wir lassen es Dich gern mitbenutzen, aber seit Juni hast Du nichts dazugezahlt. LG Bobo.

Tabea bückte sich nach den Werbe-Blättchen und stützte eine Hand an die mit ewig neuen vulgären Sprüchen beschmierte Mauer. Vier hell behaarte Männerfinger drückten neben einem ACAB-Schriftzug ganz sachte ihr Handgelenk an die Wand, so dass sie nur wenig erschreckt zurückblickte. Eine kleine, gedrungene Frau in Lederjacke stand in ihrem Rücken, ein größerer Mann seitlich neben ihr. An seinem Gürtel klimperte Metall. Er füllte seine Jacke gemütlich aus.

Die Frau fragte mit schnellem Atem: »Frau Tabea Thuleweit?«

»Ja.«

Sie blickte zum Begleiter und sagte leise schnaubend: »Das war ja einfach«, mit leichtem Kopfschütteln, während sie eine messingglänzende Marke zeigte. Ihr Wesen wirkte weich; an ihren Augenpartien sah man die Dienstjahre. Ihr Blick hielt lange, bevor sie zögernd weitersprach.

»Ich bin Hauptmeisterin Linde von der Kriminalpolizei. Das ist mein Kollege Felder. Ich habe bei mir einen Haftbefehl der Staatsanwaltschaft. Sie sind dringend tatverdächtig. Ich muss Sie bitten, mitzukommen.« Sie zeigte Richtung Haustür.

»Ach, ähm … muss ich was mitnehmen?«

»Nein. Nur, falls noch was in der Wohnung ist, Herd an oder Ähnliches? Haben Sie Kinder?«

Tabea stand starr. »Nein.«

»Den Ausweis, bitte.«

Tabea ertastete ihr Portemonnaie in der Jogginghose und nickte langsam, die Knie von Frau Linde betrachtend. »Und den Hausschlüssel.«

Draußen stand ein Polizeiwagen am Bürgersteig. Tabea stieg in ein zweites, ziviles Auto, in dem ein sehr junger Fahrer wartete und aus dem offenen Fahrerfenster schaute. Er drückte hastig auf dem Seitenspiegel seine Zigarette aus und ließ einen angebissenen Schokoriegel ins Seitenfach gleiten. Er schaltete das Radio aus und meinte erstaunt: »Mensch, das war’n keine zwei Minuten!« Linde nickte und sprach ins Funkgerät: »Robbe 34 … Fahndung … Falkenberger Chaussee … Zielperson in Gewahrsam … zwei Kollegen von Gruppe vier gehen in die Wohnung … wie? Jaaa … VB 2 fährt mit Verdächtiger ins Revier, Verständigung mit Direktion 7, Abschnitt 74, Ende.«

9. September 2010

Ein Zettel hing im 3. Stock der Brecht-Uni, unterschrieben vom stellv. Dekan, stellv. Prorektor und stellv. Rektor:

Werte Kollegen, Werte Studierende des Fachbereichs Germanistik,

die Lehrveranstaltungen von Prof. Dr. Magnus Rainer Gothial wurden für das Wintersemester 2010/2011 aufgrund besonderer Umstände abgesagt. Prof. Gothial wird zudem keiner Prüfungstätigkeit nachkommen. Einzelanfragen bitten wir an die Institutsleitung zu stellen.

Folgende Lehrveranstaltungen werden in Vertretung angeboten:

»Romantik im güldenen Gewande« – Überblicksvorlesung Literaturwiss. – Raum 16, Mo. 10:30

»Von Ludwigshafen ins belgische Mons – Reisebeschreibungen des 18. Jahrhunderts« – Hauptseminar – Raum 13a, Di. 17:00

»Sicher zum Bachelor« – Wissenschaftliches Arbeiten. Für Studierende ab dem 5. Semester – Übung – Hörsaal B4, Fr. 8:15

1. September 2010, 15:30 Uhr, Hauptwache Abschnitt 61

Ein großer, weißer Raum; Regina Linde saß auf einem gepolsterten Stuhl, Felder lehnte an der Wand, ein weiterer Mann in Zivil stand am Tisch. Es gab grüne Schränke, hölzerne Pinnwände und nebenan helle Aktenregale. Die Vernehmenden waren Tabea gegenüber postiert, zwischen ihnen ein Tisch voll Papier, darunter Aussagebögen, Protokolle und Tabeas Ausweis. Der unbekannte Mann fragte:

»Frau Thuleweit, alle Einzelheiten bezüglich der Festnahmegründe und Rechte wurden Ihnen in verständlicher Form mitgeteilt?«

»Ja.«

»So … gut. Zunächst im Rahmen der Befragung … Angaben zur Person. Zur wahrheitsgemäßen Beantwortung dieser Fragen sind Sie verpflichtet. Sie heißen Tabea Baiba Thuleweit, geboren 4. Oktober ’75 in Zehdenick, Brandenburg, ledig; 35 Jahre, zurzeit ohne Beschäftigung. Wohnhaft und gemeldet in der Falkenberger Chaussee 87, Berlin-Hohenschönhausen. Sind die Angaben korrekt?«

»Sind korrekt, ja.«

Felder und Linde nahmen sich zurück. Die männliche Stimme klang tonlos, im Singsang einer Info-Dame, die »Frau Müller an Kasse vier« bittet. Der Mann fuhr fort:

»Jetzt die Angaben zur Sache. Zur Beantwortung dieser Fragen sind Sie nicht verpflichtet. Sie sind in polizeilichem Gewahrsam laut § 178 StPO. Wir haben Tatverdacht gegen Sie erhoben und haben ein paar Fragen. Dazu haben Sie das Recht, jederzeit die Aussage zu verweigern. Nun habe ich verstanden, dass Sie im Moment auf einen Anwalt verzichten?«

Tabeas Handabdrücke auf dem Tisch verschwanden zusehends. Sie nickte ohne Augenkontakt.

Die Hauptmeisterin Linde hob jetzt ihre Stimme: »Alsooo, Sie haben zugestimmt, auszusagen. Geben Sie dazu Ihre Unterschrift … hier. Außerdem können Sie eine Person Ihres Vertrauens anrufen. Möchten Sie …?«

»Nein.«

»Gut, wir sehen, wie weit wir kommen. Wir nehmen die Unterhaltung auf, um die spätere Niederschrift Ihrer Aussage zu sichern.«

Tabea versuchte zuzuhören, unterzeichnete irgendwelche Blätter und schwieg, dachte aber: Ihr Faulpelze habt bloß keine Lust, Protokoll mitzuschreiben. Sie fühlte sich unwohl und kalt mit den fremden Menschen, aber nicht ängstlich. Ihre Finger, mit denen sie spielte, waren noch schwarz vom Fingerabdrucknehmen. Linde sprach weiter.

»Außerdem muss bei Verbrechen gewisser Schwere ein Pflichtverteidiger hinzugezogen werden. Der wird später beigeordnet. Näheres entscheidet der Haftrichter. Also, erst mal lassen Sie uns Klarheit in den heutigen Tag bringen. Wo waren Sie heute Morgen vor 10 Uhr?«

»Zu Hause, und dann ein wenig in der Stadt rumgetigert.« Tabea sprach mit gepresster Stimme, aber sie versuchte, sich so weit wie möglich zurückzulehnen, die Arme verschränkt, und sah zwischen den Beamten hindurch in den hellen Raum.

»Und wo waren Sie zwischen 10 und 11 Uhr?«

»In der Uni.«

»In der Brecht-Universität?«

»Genau.«

»Wie lange waren Sie ungefähr dort?«

»Vielleicht eine Stunde, so gegen 11 war ich wieder woanders.«

»Was haben Sie da gemacht? Sie studieren seit zehn Jahren nicht mehr. Und in dieser Uni waren Sie nie eingeschrieben, oder?«

»Hab mich kurz mit jemandem unterhalten, ist ja ein öffentliches Gebäude.«

Felder atmete tief. Er überließ seiner Kollegin die Fragerei und dachte bei sich: Menno, eier doch nicht so rum, Mädel. Er ordnete seine Blätter.

»Mit wem hatten Sie eine Unterhaltung, Frau Thuleweit?«, fragte Linde weiter.

»Mit einem Professor. Ich ahne, dass Sie das schon wissen. Ich bin wohl nich hier, weil ich manchmal schwarzfahre.«

»Eins nach dem anderen. Waren Sie allein mit dem Professor?«

»Ja, ich war allein.«

»Wie lange ungefähr?«

»Kaum eine viertel Stunde.«

»Wie verlief das Gespräch?«

Tabea lachte etwas gequält: »Mittelmäßig. Es flachte zum Ende hin etwas ab.«

»Aha. Wie heißt der Professor?«

»Gothial.«

»Haben Sie noch andere Professoren besucht in letzter Zeit?«

»Nein, hab ich nicht.«

»Wo waren Sie denn danach?«

»Mit den Öffentlichen nach Hause, allein.«

»Aha. Schauen Sie. Der Gesundheitszustand vom Herrn Gothial war nach dem Gespräch mit Ihnen, also kurz nach 11, nicht der gleiche wie vorher. Wie können Sie uns das erklären?«

»Keine Ahnung, ihm wurde schlecht.« Lindes Hand patschte auf die Tischfläche, sie schüttelte den Kopf und biss sich auf die Lippen.

»Haben Sie mit Gewalt auf den Herrn eingewirkt?«

Tabea blinzelte. »Da bin ich nicht sicher. Ist schon so lange her.«

Eine Minute lang war Schweigen im Raum. Frau Linde schrieb etwas. Dann hob sie ernst den Blick zu Tabea und fuhr fort: »Vielleicht sollten wir alle mal durchatmen, da kommt das Gedächtnis oft wieder. Wir müssen wissen, was dort geschehen ist, und zwar aus Ihrem Mund.«

»Ich hab ihm die Meinung gesagt, Frau … Hauptmeister.« Tabea drückte die Zähne aufeinander und zischte. »Ich war ein paar Minuten bei ihm und hab mich mit ihm … ausgesprochen. Jetzt kennt er meine Ansichten. Manche Menschen vertragen das eben schlecht.«

Ihr Gegenüber hielt den Blick. Ihre Kollegen rollten ein wenig mit den Augen, nickten ihr aber zu. Felder setzte sich neben sie. »Aha. Das geht mir mit Humor so, wissen Sie. Es gibt Momente, da vertrag’ ich Humor schlecht, da ist es irgendwie … unangebracht.« Die Beamtin schaute sich im Raum um und hob ein wenig zu wichtig ihre Hände. »Wir teilen Ihre Art von Humor nicht so ganz, und ich kann auch nicht das Spaßige darin erkennen, dass Sie hier sitzen mit Ihren 35 Jahren wie ein bockiges Kind. Wir besprechen eine schwere Straftat, für die wir Sie tatverdächtig halten. Frage: Was denken Sie, wie es Herrn Gothial im Moment geht?«

Tabea sah zum ersten Mal länger zur Beamtin. Ihr gebeugter Rücken richtete sich etwas auf, das nervöse Gesicht wurde ernster, dann fiel der Blick auf die Kollegen, aus deren Gesichtern sie jedoch nichts lesen konnte. Sie sah auf die Tischplatte, den grünen Linoleum-Fußboden. Felders Handrücken strich über die Außenseite von Lindes Oberschenkel.

Eine Falte bildete sich auf Tabeas Stirn, ganz kurz biss sie sich auf den Daumen, worauf sich ihr Gesicht verschob. Ihr Mund öffnete sich, langsam.

»Ist er tot?«, fragte sie zum Fußboden.

»Ich lese es Ihnen vor. Herrn Gothials Genick ist beim Fall auf eine offene Schublade angebrochen, mehrere Halswirbel sind betroffen, zentrale Nervenstränge wurden verletzt, Platzwunde an der Schläfe. Er wurde 10 Uhr 50 ins Krankenhaus gebracht, gegen 12 operiert. Es ist noch unklar, was an Schäden bleibt. Er ist gelähmt und schwebt in Lebensgefahr.« Sie schob ihre Papiere und Stifte beiseite und nahm ihrem Kollegen einen schneeweißen, aufgeklappten Laptop neuester Sorte ab.

»Sie schweigen. Das ist nicht besonders gut in Ihrer Lage. Ich sehe ein, es ist hier keine grüne Langeweile wie im Ferienlager. Aber da müssen wir durch, ob Ihnen das Spaß macht oder nicht.«

Tabea zog hastig die Schultern hoch und betrachtete ihre Fingerknöchel: »Sie wissen wohl schon alles.«

»Mhh, Sie denken, Ihre Aussage ist nicht so wichtig ist, aber wir fragen Sie trotzdem. Auch für den Fall, dass wir … mal ganz danebenliegen. Wir kommen aber nicht oft in die Lage, dass wir eine Tat so schnell erkennen. Der Herr Gothial hat zu der Tat nichts sagen können, aber sein Laptop hat uns geholfen. Er nimmt seine Vorträge auf, um sich auszuprobieren. Das sogenannte Gespräch, was Sie hatten, ist hier drauf.«

Tabea wischte mit den Händen ihre Hosenbeine glatt, ihre Füße zitterten. Die Sohlen der alten Hausschuhe tippten leise gegen die Stuhlbeine. Sie fragte: »Kann ich gehen?«

Felder griff an seinen Gürtel Richtung Pfefferspray und Handschellen. Seine Nachbarin sagte: »Wie meinen Sie das? Ihnen ist doch klar, dass Sie hierbleiben müssen?«

»Ich meine in ein anderes Zimmer. Ich will … das nicht sehen. Ich meine, ich war dabei, mir brauchen Sie’s nicht zeigen, ich weiß, wie ich aussehe …«

Kollege Felder stellte sich seitlich an den Tisch und schaute Tabea fragend an: »Ich helfe Ihnen mal, Ihre Lage korrekt zu sehen. Wir hocken hier nicht im Hinterzimmer vom Supermarkt und diskutieren, ob ein Mars-Riegel unabsichtlich in die Tasche gekommen ist. Wir reden von schwerer Körperverletzung. Wir haben zu dritt das Video angesehen. Sie sind Verdächtige und sitzen in einem Revier. Und die Zeit, wo Sie Ihren Tag gestaltet haben, ist, so wie ich es sehe, erst mal vorbei. Sehr leicht kann man für so eine Tat drei, vier Jahre bekommen. Kommt das bei Ihnen überhaupt an? Lassen Sie uns beten, dass der Mann es übersteht im Krankenhaus, sonst wird es richtig finster um Sie, Fräulein. Verstehen Sie das?«

Tabea war steif und konnte weder nicken noch ihn ansehen. Linde nahm einen kleinen Zettel vom Tisch.

»Also. Ich werde Ihnen sagen, was wir auf dem Video gesehen haben. Wir möchten Ihnen aber Gelegenheit geben, ohne das Video Aussagen zu machen, damit wir die Szene besser verstehen …«

Tabea schüttelte den Kopf.

»Aha … wollen Sie nicht … na gut. Also: Sie kommen wütend ins Büro vom Herrn Gothial, streiten sich eine Weile, und schlagen den Herrn mit etwas nieder. Was war das für eine Waffe, Frau Thuleweit?«

Die Befragte drehte unwillig den Kopf zur Seite.

»Also, bisher stellen Sie sich etwas hartnäckig an, aber Sie haben schon ausgesagt, wo Sie wann waren, und solche Dinge helfen Ihrer Situation vor dem Richter mehr, als hier an den Fingern zu knabbern und zu schweigen. Also, Frage: Womit haben Sie ihn geschlagen?«

»Mit seinem Buch.« Linde nickte und notierte: Indirektes Tatgeständnis 15:52 Uhr.

»Aha. Mit seinem Buch. Wo ist das Buch jetzt?«

Sie stülpte die Taschen ihrer Jogginghose sichtbar nach außen. »Nich hier, bei mir zu Hause natürlich.«

»Wieso natürlich?«

»Es ist meins.«

Der dritte Kollege blubberte nun seine Laune halblaut in den Raum hinaus, ohne jemanden anzusehen: »Boah. Deutsch studiert und quasselt in Rätseln, meine Güte.«

Linde rieb sich die Augen, aber dann schaute sie Tabea ein wenig sanfter an: »Wollen Sie etwas trinken, ein Wasser?«

»Ja, danke.«

Linde stand auf und ging mit den Kollegen hinaus; die Tür blieb offen und der blubbernde Kollege schaute vom Flur kopfschüttelnd zu Tabea. Sein dunkler Anzug glänzte im künstlichen, kalten Flur-Licht. Er zog das Jackett aus und hängte es an einen messingfarbenen Haken neben der Kaffeemaschine. Seine hohe, schlanke Gestalt wirkte im blauen Hemd noch schmaler. Er kam als Erster zurück, stützte beide Hände auf den Tisch und flüsterte beinahe:

»Bemühen Sie sich, klare Aussagen zu machen. Viel besser wird es sonst bei der Lage nicht! Wir haben auch noch mehr zu tun.«

Tabea dachte: Alter, beruhig’ dich mal.

Draußen flüsterte Linde zu Felder, gedankenverloren: »Die Augen, Konrad. Ihre Augen. Und das gleiche Datum …«

»Was?«

»Nichts … sie kann uns hören.«

Alle kamen zurück, der Dritte hatte sich einen Stuhl mitgebracht. Tabea dachte, dass er eine Art Anwalt sein könnte. Sie hatten ihn vorgestellt und gefragt, ob Tabea mit seiner Anwesenheit einverstanden sei. Er hatte sie oft angesehen und einiges notiert. Felder, der einen grünen, abgetragenen Pullover trug, trank ein wenig Kaffee und ergriff nun das Wort, während Frau Linde ihre Schläfen in runden Kreisen drückte.

»Schritt für Schritt. Haben wir das richtig aufgenommen? Die Waffe war ein Buch?«

»Ja.«

»Wem gehört das Buch?«

»Mir, ich habe es irgendwann gekauft.«

»Wieso sagten Sie gerade, es ist ›seins‹?«

»Gothial ist der Autor. Ich habe ihm seinen eigenen Mist um die Ohren gehauen.« Tabea griff sich fest ans linke Handgelenk, kaute innen auf ihrer Wange herum und blickte auf den Foto-Kalender an der Wand mit Landschaftsbildern aus der Prignitz. Komisch, so gemütliche Möbel hier, dachte sie. Viel kälter und unfreundlicher hätte sie es sich vorgestellt. Und die Beamten waren auch klüger und irgendwie menschlicher, als sie gedacht hatte. Nur erschreckend gelangweilt waren sie. Halboffene Augen, zwar ständigen Augenkontakt, aber endlos gelangweilt.

Felder fragte: »Interessante Formulierung, Mist um die Ohren hauen. Okay, weiter.« Mit Seitenblick zur Kollegin sagte er: »Wichtig wäre noch: Ähm … wie gut kennen Sie Herrn Gothial? Seit wann?«

Tabea hob die Augen »Nein, es … das war das erste Mal.« Die Kollegen schauten sich an.

»Und … hatte der Herr zu Ihnen vorher persönlichen Kontakt?«

»Nö. Ich wusste, wo er sein Büro hat, aber er kennt mich nicht.«

»Und … haben Sie jemandem gesagt oder geschrieben, dass Sie ihn heute treffen wollen?«

»Ich habe es keinem gesagt.«

Felder und Linde flüsterten einander zu. Felder sah zu Tabea, dann fuhr er fort:

»Eine Sache haben wir noch nicht angesprochen. Warum?«

»Was?«

»Warum haben Sie ihn mit dem Buch geschlagen? Sie sind eine gebildete Frau – wenn Ihnen ein Buch nicht gefällt, wieso schlagen Sie dann den Autor? Ich muss viel Unsinn lesen, Lügen, falsche Aussagen, da kann ich nicht immer um mich schlagen. Wir haben bei Ihnen keinen Alkohol festgestellt und die Schnelltests sprechen nicht für Drogen. Helfen Sie uns, das zu verstehen, Frau Thuleweit. Warum er?«

»Ich hatte meine Gründe.«

Felder blaffte: »Na, Fräulein, mal raus mit der Sprache!«

Tabea Thuleweit hob ihre Handflächen.

Der Dritte saß links neben Linde, näher an Tabea. Er sah kurz zu Felder, der mit dem Finger in seiner Nase nach einer Folgestrategie suchte. »Bitte, Bethke.« Der übernahm mit leiser, unaufgeregter Stimme:

»Gut, da kommen wir erst mal nicht weiter. Sie haben Sprache studiert, und also können wir klares Deutsch mit Ihnen reden. Sehen Sie, das Video sagt uns nicht alles. Wir verstehen nicht, worüber Sie streiten. Der Herr hat Ihnen aber nichts getan. Und wenn Sie ihn … nicht kannten, sehen wir nicht, dass er Sie irgendwie vorher … provoziert hat. Oder?«

Tabea schaute leer auf den Tisch.

»Gut, dann nicht. Wir gehen momentan davon aus, dass Ihre Tat ausreicht, um Untersuchungshaft anzuordnen. Morgen werden Sie einem Haftrichter vorgeführt, dann werden wir sehen. In dieser Phase des Verfahrens wird ein Strafverteidiger hinzugezogen – der wird wohl morgen bestellt. Haben Sie mich so weit verstanden?«

Tabea nickte und schaute Bethke direkt an. Er hatte blonde Haare, aber sehr dunkle, braune Augen. Seine Art zu sprechen gefiel Tabea auf Anhieb.

»Gut, nicht dass Sie sagen, wir hätten nicht alles genau erklärt. Also, weiter im Text. Die Kollegen ermitteln wegen Körperverletzung, je nach Sachlage auch gefährlicher KV. Sie bleiben für eine Weile Gast der Behörden. Ich bin Vermittler zwischen Polizei, Ihnen und dem Gericht. Es wird ein Verfahren gegen Sie geben. Und jetzt brauchen wir das Video nicht aus Amüsement. Wir müssen es ansehen, bis wir mehr verstehen. Und es ist uns egal, ob Ihre Eitelkeit leidet, wenn Sie da nicht geschminkt sind.«

Linde blickte Bethke schräg an. Bethke fuhr fort.

»Also schauen wir uns das Ganze an. Erklären Sie uns danach, worum es ging.«

Tabea nickte, Bethke schrieb. Felder putzte Kuchenkrümel von seinem Ärmel und verließ das Verhörzimmer. Seine Hosentasche summte. Er trat durch den grellen Flur und nahm ab.

»Ja? Inge. Na, wann kommst du an? Soll ich dich abholen? Ja … hier ist alles gut. Wir haben die hochgenommen, ein, zwei Hinweise. Wird morgen sicher U-Haft angeleiert, wenn sie nicht zehntausend Taler Kaution hat. Sie ist etwas … heruntergekommen. Der Alte fordert schnelle Hauptverhandlungen, aber das ist ja nicht immer … sie? Na, die ist ein störrischer Esel und hat keinen Bock mehr – also, bin nachher da. – Was? – Nee, die verfolgen wir nicht weiter. Ja … war alles umsonst am Wochenende, schöner Scheiß, alles nur für die Presse, Fotos der Beute. Kriegen wir keine Rückendeckung bei OK*. Die müssten wir über Jahre observieren, da kriegen wir nie Leute für. So ’ne ewige Studentin hier, die können wir packen. Genau … weißt Bescheid. … bis nachher.«

Während Felder draußen telefonierte, stellten die Kollegen den Laptop hin und starteten das Video.

Gothial sitzt groß, breitschultrig und mit gemütlicher Figur am Schreibtisch. Er spricht halblaut, ein wenig näselnd wegen eines Bonbons, die Hände vor der Tastatur, neben ihm Kaffee und rotbrauner Cognac. Papier raschelt, seine schneidige, galante, wellend intonierende Stimme hebt sich:

»… ganz im Gegensatz zu Heine, der seine Lyrik für vollkommen andere Zwecke einsetzte. Nun weiter. Bei Lessing ist es mehr die Tat des Einzelnen im Alltag, die eine Rolle spielt, weshalb er sagte, dass im sittlichen Handeln das Wesen der Religion liege. Beim Nathan haben wir das klar gesehen. Wie gehe ich mit den Mitmenschen um, das ist das Entscheidende. Dieser aufklärerische Gedanke, den er auch durch seine Berliner Freundschaft mit Moses Mendelssohn bestärkte – ja?«

Tabea kommt langsam herein, ihr Atem geht tief. Sie trägt zerlumpte dunkle Jeans, schmutzige Stoffschuhe, ein kariertes rötliches Hemd. Ihr halblanges dunkelblondes Haar liegt auf ihren weichen, wohl geformten Schultern. Die braunen Augen sind müde, sie schnieft durch die etwas zu große Nase. In der linken Hand hält sie einen grünen alten Rucksack, in der anderen ein dickes Buch. Gothial dreht sich auf dem Stuhl um. Tabea kommt näher, sie drückt den Rücken durch, sie ist vielleicht 1,70.

»Guten Tag.«

»Hallo. Verzeihung, ich habe keine Sprechstunde, Sie müssen sich einen Termin …«

»Geht ganz schnell. Ich wollte Ihnen meine Meinung zu Ihrem Buch sagen.«

»Zu meinem Buch? Sind Sie Studentin bei mir? Ich kenne Ihr Gesicht nicht.«

»Sie sollten auf Ihrem hohen Ross, auf Ihrem Thron, einmal nachdenken. Erstens …«

»He, Moment mal. Können Sie mir eine E-Mail schreiben? Ich hab zu tun. Ach, na, das Buch hab ich vor Jahren geschrieben, warum ist das heute wichtig?«

»Zuhören, Herr Professor. Ich hab lange genug gewartet, lange. Jetzt red ich. Sie glauben, Sie sind ein toller, großer Forscher, die jungen Hüpfer himmeln Sie an, und Sie blabbern den ganzen Tag und schreiben und … und bekommen einen Lehrstuhl dank solchem 800-Seiten-Mist, den sich keine Studentin erlauben kann.«

Gothial schaut amüsiert, bleibt aber doch recht gelangweilt sitzen. Tabea spricht hastig weiter:

»Erstens: Seite 23 … Zitat von Berger, angeblich auf Seite 412. Bergers Buch hat aber nur 200 Seiten, also wo soll es stehen, wo? Davon gibt’s einiges hier. Falsche Zitate, ganz große Klasse. Note Fünf, sag ich mal. Zweitens: absolute Aussagen, darin sind Sie super. Jeder Student muss beweisen, argumentieren, analysieren, und Sie behaupten immer! Es ist einfach so. Sie sagen nich, wo Sie Fakten herhaben, oder wie Sie zu einer Aussage kommen. Ihre Argumentationsketten sind kürzer als Telomere an Chromosomen, es sind überhaupt keine.«

Gothials Augenbrauen gehen hoch.

»Und Sie machen immer so weiter, weil’s sich sonst keiner traut. Aber ich traue mich jetzt. Sie schreiben einfach, Kafka war sicher nie in dem oder dem Café, einfach so. Wie zum Teufel soll sich ein Student so eine bescheuerte Argumentation erlauben? Was glauben Sie, wer Sie sind?«

»Herrjeh, das kommt vor. Ich weiß nicht, was Sie wollen von mir. Geht es Ihnen noch ganz gut?«

»Ich, ich red jetzt. Drittens: Superlative. Sie schreiben, das ist das beste Gedicht, so hat man es zu interpretieren, das hier ist die schönste Kurzgeschichte, der wichtigste Roman, der schlechteste Essay, was bilden Sie sich ein? Sie entscheiden, begründen gar nichts, und Tausende sollen folgen?«

»Ach Gott, na eins muss ja das schlechteste sein. Jeder schreibt halt nach den sprachlichen Mitteln, was er …«

»Ja, quatschen Sie. Wer sind Sie denn schon? Faseln über hunderte Seiten … wie bei einer Casting-Show. So abfällig über wenig gelungene oder unerträgliche Essays … sogar von Nobelpreisträgern, Daumen hoch, Daumen runter, als wären Sie ein verdammter Shakespeare! Sie sitzen so sicher, aber Sie haben es nicht verdient! Hierarchie ist toll! Immer nach unten treten. Alle sind unten, Sekretärinnen, die dummen Studenten, und alle kriechen hoch zu Ihnen!«

Gothial steht auf: »Sach ma, was war denn in deinem Kakao heute, Mädel? … Ich muss Sie bitten zu gehen.«

»Ja, nur keine Kritik. Professoren sind unantastbar. Sie haben den Stuhl, diesen Thron nicht verdient! Alle schauen zu Ihnen auf, aber Sie kochen auch nur mit Wasser. Das Ego tragen Sie schon drei Räume weiter, immer dicke Hose. Verteilen Absagen und lassen durchfallen und schmeißen raus und machen Witze über alle, aber keine Kritik!«

»Lassen Sie mich in Ruhe mit Ihrer Paranoia. Himmelarsch. Wenn die schlecht sind und dauernd unvorbereitet, müssen sie eben mal durchfallen. Soll ich Scheine für indiskutablen Mist verteilen? Was beklagen Sie sich, wenn Sie keine Studentin bei mir sind? Woher wollen Sie wissen, wie ich unterrichte? Ist Ihre Freundin bei mir durchgefallen, diese Julia?«

»Sie bringen das Fass zum Überlaufen. Ich kann lesen, wie Sie sind, alles aus dem Scheißbuch! Ich hab die Schnauze voll von Ihnen und den glatten, um den Brei quatschenden Herren. Die hohen Herren! Lieben es, von 19-Jährigen angehimmelt zu werden und nie einen Fehler zugeben, nicht mal leiseste Skepsis in die Aufsätze lassen.«

Gothial reibt sich die Hände und zeigt zur Tür, doch Tabea prustet die Worte weiter heraus:

»Nehmen Sie sich an Richard Dawkins ein Beispiel, der schreibt wenigstens, dass er manchmal Zweifel hat. Aber nein, immer schleimen sich die Herren in den Reden voll, lassen sich auf Konferenzen durchfüttern, widmen sich schwülstigste Reden und Bücher, alle hochbegabt, und schreiben immer grandiose Standardwerke – schlechte gibt’s gar nicht – und helfen sich überall.«

Gothial wirft ein paar Papiere auf den Tisch und schüttelt den Kopf.

»Also, mir reicht’s. Ist doch in allen Branchen so, dass man sich hilft, und fast nirgends wird so schlecht verdient wie bei Geisteswissenschaftlern. Dawkins wird sich auch bei seinen Gönnern bedankt haben, Fräulein. So ein Schwachsinn hier. Ich muss mir das nicht anhören.«

»Doch, müssen Sie, weil ich nicht gehe!«

Man sieht Tabea zittern. Sie spuckt die Silben beinahe.

»Sie sollen zwei Sachen wissen. Nummer eins …«

»Oh Gott …«

»Sie sind mies. Sie sind überschätzt. Sie verdienen zu viel. Die Uni hat Sie nicht verdient! Nummer zwei: Sie verdienen nur einmal, ohne Worte, eine gute Ribbentrop-Rückhand von einer kleinen Studentin. Sie und Ihr Mist mit Brecht und Kafka. Sie wissen alles, ja. Sie sollten bei Ihrer Arroganz mal für ’ne Weile die Schnauze halten. Die Rolle übernehm ich. Ich sage es. Es hat sich ausgekafkat!«

Tabeas rechter Fuß ist – während sie den letzten Satz brüllt – ein wenig vorgestellt. Die Finger umklammern den Buchrücken. Blitzschnell zieht sie das Standardwerk mit der rechten Hand von der linken Hüfte nach rechts oben und trifft, während sie die Silbe »aus-« brüllt, exakt Gothials rechte Schläfe. Sein Kopf dreht sich. Er tritt zurück und stürzt seitlich über den Stuhl.

Das Bild der Szene wackelt eine Weile. Tabea steht ruhig im Zimmer, steckt das Buch langsam in den Rucksack und schaut über den Computer aus dem Fenster. Sekretärinnen eilen herein. Tabea wendet den Blick ab und geht.

Nach ein paar Sekunden stoppte das Video. Es blieb noch eine Minute ruhig im Raum.

Felder war zurück. Linde hatte während des Videos Tabeas Gesicht betrachtet und Notizen gemacht. Die Vernommene hatte ihre graue Strickjacke über den Stuhl gehängt und zog wiederholt an ihrem hellen kurzärmligen Shirt. Linde sah auf die nervöse Frau in ihren besten Jahren, die ruhig und cool wirken wollte wie ein Teenager, aber doch überspannt zu sein schien, als wäre sie dauernd erschöpft. Tabeas Hand kratzte am Arm, als gäbe es da eine Kupferader zu erspüren. Linde schaute ein wenig traurig auf Tabeas müde Augen und die abgekauten Fingernägel. Kaputt vor der Mitte des Lebens. Dann erkannte sie längliche, dünne Narben auf der Hinterseite des Oberarms. Auf einen kleinen Zettel schrieb sie keine erkennbare Reue und daneben BPS und reichte es Felder. Der setzte galant ein Fragezeichen daneben. Linde schrieb: Borderline, Belastungsstörung – Schizophrenie – hört sie Stimmen? – Felder nickte stumm und musste sich zusammenreißen, seinen »Nicht mein Bier«-Blick zu verbergen.

Bethke schaute Tabea ins Gesicht und sagte: »Wissen Sie … Sie sollten dem Richter vielleicht mehr sagen, als dass Sie das Buch schlecht fanden oder Professoren nicht leiden können. Die sind ja alle verschieden.«

Tabea schwieg und verschränkte die Arme. Bethke schaute kurz umher und fuhr fort.

»Mir scheint das Gespräch wirr. Sie beide haben sich in sieben Minuten ganz schön erhitzt. Ich möchte Sie noch zu einem Wort was fragen. Sie sagen dem Herrn, er hätte etwas von Ribbentrop verdient, was meinen Sie damit? Ich hab keine besondere Ahnung von Geschichte. Wir wissen – der Professor saß an einem Vortrag zu jüdischen Autoren, und nun sagen Sie was von Ribbentrop. Das war ein Hauptkriegsverbrecher. Also, Frau Thuleweit, hören Sie zu? Im Moment verstehe ich gar kein Motiv – außer Neid oder Rache. Da können Sie uns ja noch helfen. Wenn der Richter noch auf radikale Gesinnung tippt, was könnten Sie dann antworten?«

»Das hat damit nix zu tun. Ribbentrop hieß mein Tennislehrer, von dem hab ich ’ne starke Rückhand gelernt. Also, er hatte eine Ribbentrop-Rückhand verdient.«

Die Hauptmeisterin schrieb mit und fragte dazwischen: »Schon ein Zufall, der Name. Wo wohnt der?«

»Gransee.«

»Bei Zehdenick?«

»Ja, in der Nähe, hab da trainiert.«

Die Beamten schauten sich an, Felder schielte zur Uhr. Bethke übernahm wieder: »Gut. Wir sind noch nicht ganz fertig. Lassen Sie uns verstehen, wie es dazu gekommen ist. Es gab doch vorher Treffen!«

»Nein«, sagte Tabea lauter und drehte ihr Handflächen zu Linde.

Sie dachte: Sach ma, ich bin ja schon bescheuert, aber ihr kriegt ja gar nichts mit. Lasst ihr mich jetzt mal in Ruhe? Sie richtete sich auf und griff nach ihrer Strickjacke.

»Hat Sie jemand zur Tat überredet, der den Professor kennt? Stehen Sie in Kontakt mit seinen Studenten?«

Tabea schob den Kopf Richtung Schulter »Mich hat niemand überredet. Ich kenne keinen dort.«

»Was wussten Sie denn von dem Professor?«

Tabea schnaufte »Ach, ich kenne ihn als Germanisten. Dass er in Berlin ein Büro hat, weiß ja jeder mit Internet in einer Minute.«

Linde schaute auf Bethke, flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf er den Kopf schüttelte.

»Ihnen war nicht bekannt, dass gegen den Herrn ermittelt wird?«

Sie schaute erstaunt auf. »Wie meinen Sie? Nee, hab ich nich gewusst.«

»Okay. Danke.«

Hauptmeisterin Linde schrieb. Es war wieder ruhig im Raum, alle wirkten lockerer. Tabea atmete etwas freier. Sie war froh, tief innen, dass er nicht tot war. Ihre Finger glitten weniger hastig durch die Haare und an der Jogginghose hin und her. Das Lockenwickeln ließ nach. Tabea hob ihren linken Unterarm von der klebrigen Tischplatte wie in der Schule und sah zu den beiden. Sie sagte kopfschüttelnd: »Frau Linde.«

»Ja?«

»Woher wussten Sie, wer ich bin? Ich hab doch … nie was gemacht.«

»Man hat uns geholfen. Eine Menge Leute waren in der Uni und Sie wurden erkannt. Wir wissen, dass Sie gestern schon auf dem Flur waren. Also ist klar, dass er es sein sollte. Kein Zufall.«

»Aber wer kennt mich denn da? … Und woher wussten Sie, dass ich es bin, als Sie ins Haus kamen?«

Linde schaute, als wäre sie beleidigt worden.

»Ich kann nicht erklären, wie unsere Fahndung läuft. Wir ermitteln die Adresse, fahren hin … und Sie standen am Briefkasten von Thuleweit

Felder setzte leise prustend hinzu: »Sie haben sofort Ihren Namen gesagt, oder? Und vom Video wussten wir doch, wie Sie aussehen. Also …«

Linde und Felder räumten leicht belustigt ihre Sachen zusammen. Tabea atmete tief, ihr Nacken sank rückwärts auf die Stuhllehne. Bethke fragte etwas leiser:

»Was haben Sie denn geglaubt heute? Dachten Sie, das wird ’n ganz normaler Tag, ein kleiner Racheakt gegenüber Ihrem Erzfeind, den Sie belauert haben, und dann abends einfach Schlafen gehen und keiner merkt was? Ab und zu schnappt die Polizei auch Täter!«

Bethke schüttelte fast wie eine Marionette die Schultern aus, als sei die Situation völlig absurd. Er setzte fort, während er den schneeweißen Laptop zuklappte, nicht spöttisch und nur halblaut für Tabea: »Sie werden nicht alle Nüsse am ersten Tag knacken. Da wird man Ihnen großzügig Zeit ’für einräumen. Morgen werden Sie eine schriftliche Aussage machen. Gerichtliche Voruntersuchung und Strafantrag laufen. Morgens kommen Sie vor den Haftrichter und bis zum Prozess in U-Haft. Wird schnell gehen, denke ich.«

Tabea wirkte vernebelt. Sie erhob sich halb und fingerte in ihren Taschen, die doch längst leer waren. Es war – auch wenn sie keine Angst spürte –, als würde ihr jetzt erst bewusst, dass sie den Rest des Abends hier sein würde und nicht auf der Couch zu Hause. Sie brauchte keine Schlüssel. Bethke hatte seine Sachen gepackt, Felder verabschiedete sich. Linde räumte Gläser und Tassen weg. Bethke fragte: »Noch eine Kleinigkeit, aus Neugier: Beim letzten Wort. Was sagen Sie da zum Professor, genau als Sie ihn schlagen, es hat sich ›ausgekaspert‹, oder wie?«

»Nein, ausgekafkat! Einfach ein Sprachspiel. Wie … verschillert … oder entbrechtet. Nur eben mit Kafka.«

Bethke kniff die Augen zusammen und zuckte ein wenig mit den Schultern.

»Ich versuche, zu helfen. Geben Sie Bescheid, wenn Sie irgendwann bereit für normale Gespräche sind.« Er wandte sich ab und sagte: »Also ich hab keine Fragen mehr. Kollegin, Sie?«

»Im Moment nicht. Kommen Sie, Frau Thuleweit, Sie kriegen unsere schönste Gewahrsams-Zelle. Aber nix drauf einbilden, ist nur für kurze Zeit. Morgen geht’s mit Ihnen nach Pankow. Müssen Sie mal? Hier lang.«

Kapitel 2

Eine gute Tat pro Tag

Die Vernunft kann sich mit größerer Wucht
dem Bösen entgegenstellen, wenn der Zorn
ihr dienstbar zur Hand geht.*

2 Wochen zuvor, Schildow

Am Kies-See standen sechshundert junge, mehrheitlich dunkel Gekleidete im Schlamm und auf Rasen, der seinem Untergang geweiht war. Regen pladderte auf Bierzelte, Würste verbrannten, Elektrokabel wurden hinter der Bühne vor dem Wasser geschützt. Die Böhse-Onkelz-Coverband Dirk und Durstig spielte gerade: »Ich bin nur glücklich, wenn es schmerzt.« Wenige Frauen sah man in der dumpf mitgrölenden Menge. Maik und Ronald standen am Ausschank und schauten zur Bühne. Maik nippte am Bier und fragte: »Eene Stunde fahren für so ’n mieses Konzert. Wer hatte die Idee nochmal?«

»Mann, einmal drei Dörfer weg von zu Haus, dat wird dich nich umhauen. Wat machen wir denn sonst, hä, wat denn? Hocken auf Paules Couch und glotzen uns an, super. Oder lachen über die Bekloppten beim Line Dance in Templin. Hätt’ste lieber deine Perle mit, oder wat is los?«

Maik grummelte als Antwort in den Bierhumpen wie in eine hohle Tonne. Er nickte zum Rhythmus des bassbetonten Lieds. Während die inflationär gepiercte Kellnerin Wodka-Cola hinstellte, blinkte das Handy kurz auf. Maik las die Nachricht drei Mal.

»Hey, Ronny!«

Ronald war mit Franky beschäftigt, der kaum trinken durfte und über das gezogene Los des Fahrers wenig strahlte. Die beiden schauten zu Maik und hoben das Kinn.

»Friedrich haut die Tage jetzt ab. Neuer Dienst ab September. Ein Jahr Kundus … der harte Knochen.«

Ronald schaute ein wenig schlapp: »Der Thuleweit Fritze?«

»Ja, sein Cousin hat mir ge-smst.«

»Boah, der hat’s gut. Kommt raus. Immer nur hier rummachen is auch Kacke. Aber gleich zu de ganz Krassen in die Berge da, is ja auch wild.«

»Na, mir wär Balkan lieber, da haben wir doch ’ne ruhige Kugel geschoben, oder? Aber wir sind halt nur Panzer-Heinis. Fritze muss nah ran und Leute zunähen. Sein Cousin schreibt, er übernimmt für die Ausgefallenen. Vor zwei, drei Wochen haben se doch ’n ganzes Dutzend in ihren Jeeps durchlöchert.«

»Jo, waren das Ärzte?«

»Ja. Also, denk noch mal nach, ob de dich freust für ihn. Kann’s mir lustiger vorstellen. Kein Schwein weiß, was die da machen. Ralf hat erzählt letztens. Gut Asche verdient, aber jeden Tag Schiss im Frack, sacht er … nee, du. Kannst nich mal den Gören trauen, die dir Obst verkaufen.«

Franky, der die Nachtstunden dahinschmelzen sah, drängte: »Naja, werden mal sehen, was er so schreibt. Lass mal losfahren, Leute, die Thor-Steinar*-Affen sind mir zu heftig. Das Bier noch und dann aufsitzen.« Ronald und Maik nickten.

1. September 2010, Berlin

Die Vernehmung durch Linde, Bethke und Felder hatte über zwei Stunden gedauert. Tabea hockte in einer Gewahrsamszelle mit dünner Decke, Metallbett und zwei Aluminiumtassen Tee. Gegen 20 Uhr kam ein kleines Abendbrot; Suppe, zwei Stullen und rötlicher, süßer Hagebuttentee. Sie atmete das graue Brot beinahe ein. Besser als alle Sorten, die sie sonst kaufte. Sie betrachtete die mit deutschen, russischen und türkischen Sprüchen vollgeschriebene Zelle und dachte:

Vor zwölf Stunden bin ich aufgestanden, und wie viel kann in zwölf Stunden geschehen. Genug. Der Tag war von Anfang an anders.

In der Zelle selbst war es erschreckend ruhig, aber Tabea hörte entfernte Türen knallen, ab und an Sirenen und laute Stimmen. Es sollte wohl unbequem sein; es gab kein Kissen. Immer wieder stand sie auf, tappste in Minischritten an der Wand entlang, las im Licht der Außenlaternen Wandsprüche und legte sich wieder hin. Sie konnte nicht mehr einschätzen, wie lange sie schon einsaß. Zum Glück war es nicht kalt. Plötzlich war nebenan ein warmes Gespräch zwischen zwei Frauen. Einzelheiten verstand sie durch die dröhnenden Wände nicht, aber da war eine beruhigende Stimme. Ihre Tür klackte auf, Flurlicht floss hinein. Eine junge Polizistin stand auf der Schwelle:

»Guten Abend, ich bin Obermeisterin Graschke.«

»Guten Abend. Sind Sie meine Verteidigerin?«

»Nein. Ich bin für soziale Betreuung zuständig. Speziell die ersten Stunden nach der Festnahme sind für nicht vorbestrafte Bürger oft ein Schock. Deshalb möchte ich nachfragen, wie Sie sich fühlen.«

Tabea lauschte – es klang ihr wie auswendig gelernt –, wunderte sich über das betont neutrale Wort »Bürger«, und sagte: »Ich hab keinen Schock. Also … ich weiß, wo ich bin und was heute … passiert ist.«

»Gut, gut … und sonst, spüren Sie Angst? Wollen Sie jemanden anrufen?«

»Nö. Ich hab noch Hunger, aber sonst fehlt mir nichts.«

»Gut. Ich habe Bereitschaft. Es gibt da eine Klingel am Türrahmen, die Sie … gut … also … Essen kann ich nicht holen, aber Tee kann ich beschaffen, ja?«

»Ja, danke! Wie spät ist es jetzt?«

»Kurz nach zehn.«

Tabea wurde erst spät müde. Irgendwo draußen hörte sie Fetzen von einem Rock-Konzert, die luftig hereinschwammen wie unregelmäßige Atemstöße.

Sie spürte, dass die Situation nicht mehr in ihrer Hand lag; hörte auf, an der Decke zu fummeln und die Finger abzugreifen, als könnte sie sie abschrauben. Draußen mochten alle wuseln, aber sie tat nun nichts mehr. Sitz ich halt hier rum, na und? Ein passives Leben mit Abhängigkeiten von anderen kannte sie. Aber dieser Tag, dachte sie, der längste in zehn Jahren, war wie eine Münze unvergesslich geprägt von einer aktiven Entscheidung, die sich so unsagbar gut, im Tiefsten gut angefühlt hatte, weil sie anders war als der erzwungene, elende Alltag. So fügte sie sich, alles zu erwarten, wie ein großes Donnerwetter, vor dem das Kind keine Angst hat. Sie zog den Reißverschluss der Strickjacke hoch, behielt die Hausschuhe an und schlief sechs Stunden, wenngleich die Decke kaum wärmte.

2. September 2010

Noch vor sieben gab es Frühstück in die Zelle, kärglich, aber gut. Stulle, Salami, Käse. Gegen neun erschien ein kleiner, zivil gekleideter Mann mit einem dicken, alten Polizisten im Schlepptau. Beide wirkten, als hätten sie jemand anderen erwartet.

»Guten Morgen. Sie sind zum Haftrichter geladen.«

Moment mal, ich muss ja gar nix sagen hier