Karoline Toso
DASDA
Geschichten & Gedichte
Edition Lighthouse
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1. Auflage 2019
Lektorat: Dörte Fistl
Korrektorat: Sylvia Kling
Satz/Layout: Martina Stolzmann
Covergestaltung: Burkhard P. Bierschenck, Martina Stolzmann
E-Book: Mirjam Hecht
Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Made in Germany
ISBN 978-3-941717-44-2
www.bc-publications.online
Impressum
Widmung
Gänseblümchens Traum
Sucht?
Oase
Ein duftiger Strauß
Dich finden
Genuss
Gebundene Freiheit
Dasda
Ohne Worte
Ping-pong
Der Strich
Fixstern
Der Kugelmann
Grün
Ins Leere
Loslassen
Sterben
AUFGEWACHT WARNUNG!
Lesen auf eigene Gefahr!
Karfreitag
Spät
Das Schwein
Der andere Zauber
Das Netz
Fledermäuse
Mitte des Brunnens
auf augenhöhe
Eine Blüte
Alles ist gut
Besuch
Sich verstecken
Nachtblumen
Traumbild
DER NÖCK
Liebeserklärung
Lebenserklärung?
Botschaft
Blumenstrauß
Licht ist
Die Rosenhecke
Der Rosenstock
Hackerin
Stören
Es ist
Gott gefunden
STILLE
Re-ligio
Hintergrund
Der Abendgast
Es regnet
Ja
Einsicht
Eins sein
Erkenntnis
Ich bin
Nichts wollen
All Ein Sein
Wortlos
DIE AUTORIN
Weitere Titel in der Edition Lighthouse
Das Marienbild
Sturm wehte heftig über das hübsche Köpfchen des Gänseblümchens hinweg und endlose Regenschauer oder Nebel ließen die kleine Blume frösteln. Sie stand allein inmitten kurzer dunkelgrüner Grashalme, die nun robuster waren, als im Frühling und auch weniger gesellig. Schon lange blieben die vielen lustigen Fluggäste aus, die im Sommer geschäftig über die Wiese schwirrten. Das Gänseblümchen bewunderte von ihnen vor allem die eitlen, aber so anmutigen Schmetterlinge. Was für ein schöner Anblick waren sie gewesen, tanzend im wärmenden Sonnenlicht.
Jetzt aber blieb die Wiese einsam und still. Warum schlief das Gänseblümchen nicht schon längst mit seinen vielen Geschwistern in der bergenden gemütlichen Erde? Schuld daran war ein Eiskristall, der mitten im Sommer so unerwartet als Hagelkorn neben dem überraschten Blümchen gelandet war, schöner, als alles, das es im Leben des Gänseblümchens je gegeben hatte. Seine vornehm kühle Ausstrahlung beeindruckte das schlichte Gemüt des Blümchens.
»Wer bist du und woher kommst du?« fragte es schüchtern. Der Eiskristall schaute das Blümchen einen Moment lang ganz bewusst an. Er fand Gefallen an diesem Anblick, schmiegte sich unauffällig an den zarten Stängel der Pflanze und weinte eine Träne der Rührung, weil von diesem kleinen Wesen mütterliche und freundschaftliche Wärme ausging.
»Ich bin Eis und komme vom Himmel«, antwortete er schließlich. Die Begriffe ›Eis‹ und ›Himmel‹ waren der Blume fremd, doch sie spürte, dass beides etwas Besonderes sein musste. Darum flüsterte sie:
»Du bist wunderschön, Herr Eis!« Ihre rosa Spitzen an den schmalen weißen Blütenblättern röteten sich dabei und zeigten die Absicht, sich verschämt über die gelbe Mitte zu neigen und damit die Blüte zu schließen.
»Ach, liebe Blume, meine Kälte scheint dich zu stören«, meinte er.
»Aber nein!« beeilte sie sich zu antworten.
»Ich bin nur so ergriffen von deiner Schönheit und Würde.« Sie lächelte ihm zu.
»Du bist sehr freundlich, aber in der Welt, aus der ich komme, gelte ich als plump und unförmig. Du solltest einmal die einzigartigen Schneekristalle in ihrer filigranen Perfektion sehen. Dieser Anblick würde dich glücklich machen«, antwortete er. Die kleine Blume konnte sich nichts Schöneres als den Hagelkristall vorstellen. Sie spürte Zuneigung zu ihm. Da schmiegte er sich eng an sie, seufzte tief und zerrann als Wassertropfen, der in die Erde sickerte und das Gänseblümchen an den Wurzeln sanft küsste, sich mit ihr verband und Teil von ihr wurde. Das Blümchen bebte vor Wonne und Glück.
Ein Glück allerdings, das zur Trauer wurde, denn der Hagelkristall blieb für die Augen der Blume verschwunden und hinterließ zwar die Sehnsucht nach ihm, aber auch die Sehnsucht danach, jene Schneekristalle zu sehen, die himmlisch schön sein sollten. Dafür erlitt die zarte Sommerpflanze nun den rauen Herbst. Kälte und Einsamkeit waren hart, so hart, dass sich Zweifel breit machten. War es sinnvoll zu sehnen und zu hoffen? Hatte es die Begegnung mit dem hübschen Eiskristall wirklich gegeben, oder war es nur ein Traum gewesen?
Tage und Wochen gingen wie ein trübes Einerlei dahin, ohne geflügelte Luftbesucher oder gar Schmetterlinge. Sturm und Nebel beugten das Gänseblümchen, bis zartes Singen es überraschend aus seiner Kältestarre weckte. Das beglückende Singen war überall in der Luft. Es fühlte sich wie sanfte Sonnenstrahlen an, die vor so langen Zeiten einst das Gänseblümchen aus der Erde gelockt hatten. Und doch war es anders, gegenteilig irgendwie. Tausend sanfte Küsse umschmeichelten die zusammengekrampfte Blüte der einsamen Pflanze. Sie riskierte einen Blick und erbebte vor heiligem Staunen.
Kleine perfekte weiße Schneekristalle tanzten um sie herum, tanzten für sie, fächerten und lächelten ihr zu.
»Da sind wir, liebe Freundin! Du hast nicht umsonst gewartet.
Wir sind jetzt da für dich und sind viele und sind eins.
Wir bringen dir Frieden und Glück.
Wir bringen dir Ruhe und Erlösung.
Wir betten dich sanft, damit du dann neu erstehen kannst, wenn die Zeit reif ist.
Wir sind ein Gruß von deinem Freund und sind eins mit ihm.
Wir sind wie er hergekommen und er ist in dir, ist Teil von dir
und wird mit dir auferstehen, wenn uns die Sonne küsst, dann, nach unserer Zeit.«
Das Gänseblümchen hörte und schaute und staunte und lächelte, bis es endlich glücklich einschlummerte.
Ist es Sucht,
dieser große Wunsch,
dich wieder lachen zu sehen?
Ist es Sucht,
dich ausgelassen, unbeschwert und fröhlich
sehen zu wollen,
so,
als ginge es um mein eigenes Glück?
Ist es Sucht,
zu merken, dass ich glücklich bin, wenn du es bist
und dass ich leide, wenn du leidest?
Es ist Sehnsucht.
Es ist Empathie.
Ist es Liebe?
Ich suche die Oase,
suche Wasser, Gras und Bäume.
Doch da sind nur Steine, Sand und Trockenheit.
Ich suche Schatten, Ruhe, Trost
und finde Hitze, Eile, Traurigkeit.
Im Traum, in den Gedanken
trinke ich aus kühlen Quellen,
ruhe aus auf sattem Grün
und lass mich streicheln
vom sanften Wind,
der in den Blättern
eines mächtigen Baumes spielt,
in dessen Schatten ich verweile.
Im Traum, in den Gedanken
gibt es etwas,
das mich Mühsal und Trauer
vergessen lässt –
und sei es nur für kurze Zeit –
etwas Köstliches und Schönes.
Ich sehe es
und kann wieder lächeln.
Ich höre es
und werde wieder offen
für gute Worte.
Ich spüre es und weiß:
Glück ist!
Du bist es,
diese Gabe,
dieser Balsam,
dieses Wort des Heils.
Du bist es.
Dein Sein ist mir Oase
in dieser Welt.
Marianne saß schmollend in der Frühmesse. Eigentlich war es ja nicht ihre Art, an einem Wochentag in die Kirche zu gehen. Nicht einmal sonntags besuchte sie regelmäßig die Messe. Zwar war sie religiös, hatte auch die beiden Kinder im Glauben erzogen und freute sich darüber, diese spirituelle Seite mit ihrem Mann Herbert teilen und austauschen zu können, doch einen Schwerpunkt ihres Lebens stellte die Religion nicht gerade dar. Für ihren Geschmack war Herbert zwar mehr bigott als religiös, doch in den siebzehn Ehejahren hatten sich einige Kanten und Verschiedenheiten abgeschliffen und im Grunde war die Beziehung gemütlich bis harmonisch. Es plätscherte dahin sozusagen, keine Höhen, keine Tiefen. Gespräche handelten von den Kindern und deren Ausbildung, von der Renovierung des Badezimmers oder von Familienbesuchen, vor allem dem Kontakt zu den Großeltern der Kinder.
An diesem Morgen jedoch verließ Marianne fluchtartig die Wohnung, noch bevor sie das Frühstück fertig vorbereitet hatte. Sollte sich doch Herbert um das Pausenbrot der Kinder Moritz und Helene kümmern! Außerdem waren beide dazu längst selbst in der Lage mit ihren vierzehn und sechzehn Jahren! Sonderbar eigentlich, dass sie so heftig reagiert hatte. Zwar war sie recht temperamentvoll, aber Herbert in seiner gelassenen, ruhigen Art, bot ihr meist keinen Grund zu Gefühlsausbrüchen.
In ihr schlummerte wohl aufgestauter Groll, den er mit seiner Bemerkung zum Ausbruch gebracht hatte. Ihr enormer Ärger konnte vielleicht damit erklärt werden, dass sie sich eines solchen Grolls nicht wirklich bewusst gewesen war. Auf ihren Vorschlag nämlich, gemeinsam einen Tanzkurs zu besuchen, hatte Herbert gemeint, dass sie lieber einen EDV-Kurs oder Sprachkurs belegen sollte oder noch besser, dass sie die Eltern oder Schwiegereltern öfter besuchen könne, anstatt einen, seiner Meinung nach, unnötigen Tanzkurs zu absolvieren. Er jedenfalls habe kein Interesse daran, sie dorthin zu begleiten.
Ein Wort gab das andere und Marianne erkannte schlagartig, wie wenig Verständnis Herbert für das Schöne des Lebens, für dessen Sinnlichkeit und zweckfreie Fülle aufbrachte. Offenbar lag ihm auch nichts an der Freude, gemeinsam zu tanzen. Eigentlich zählte für ihn nur das Pragmatische. Spaß und Spiel waren in seinen Augen nur unnützer Tand. Dass Herbert im Laufe der Jahre immer großzügig, hilfsbereit und geduldig gewesen war, dass er Marianne eigentlich alle Entscheidungen vertrauensvoll überlassen und sich kaum in ihre liberale Erziehung der Kinder eingemischt hatte, obwohl er selbst mehr Religiosität und Disziplin bevorzugt hätte, zählte in diesem Augenblick nicht. Marianne glaubte auf einmal, in Herberts Gegenwart zu ersticken. Sie wollte nur noch weg, weg, weg.
Auf der Straße atmete sie zweimal tief durch und sehnte sich danach, allein zu sein, einen klaren Kopf zu bekommen. Frühstücken in einem Café eignete sich dafür überhaupt nicht. Eine Stunde zu früh in der Arbeit zu sein und dort einen Kaffee zu trinken, kam nicht in Frage. Sie würde dort Kolleginnen treffen und vorbei wäre es mit der Stille und dem klaren Kopf. Da läuteten die Glocken ihrer Pfarrkirche. Kurzerhand setzte sie sich zu den Wenigen, die in die Frühmesse wollten. Schon nach wenigen Augenblicken fühlte sich Marianne besser. Der zarte Duft nach Weihrauch und Kerzen, die festliche Größe dieses neugotischen Kirchenraumes, das stille Gebet der anderen, all das umfing sie und ließ etwas Frieden in ihr aufgewühltes Gemüt sickern.
Der Mesner zog an der Sakristeiglocke, alle erhoben sich. Mit ernstem, konzentriertem Gesichtsausdruck betrat der Pfarrer den Altarraum, küsste den Altar und begann die Messe mit dem Kreuzzeichen, um eine stille kurze Feier ohne Lieder zu leiten. Marianne konnte sich kaum auf die Andacht konzentrieren, aber diese Atmosphäre, die Rituale, die sanfte Stimme des Priesters und Ernsthaftigkeit der Mitfeiernden, beruhigten und besänftigten sie. Als der Pfarrer dann einige wenige Worte zum Evangelium an die Gemeinde richtete, horchte Marianne auf. Er sagte:
»Jeder Tag ist ein besonderes Geschenk und zwar ein Geschenk der Begegnung. Je inniger wir anderen begegnen können, desto besser begegnen wir uns selbst, unserer Mitte. Je mehr wir aber uns selbst begegnen, desto tiefer finden wir zu Gott, der ja in uns wohnt.«
›Mir selbst begegnen, Herbert begegnen, Moritz und Helene begegnen … Wie begegne ich wirklich?‹ fragte sich Marianne.
Beim Friedensgruß neigte sich ein ziemlich alter Herr zu ihr und gab ihr lächelnd die Hand. Der Duft herben Rasierwassers schlug ihr entgegen und blieb auch an ihrer rechten Hand haften. Marianne schmunzelte bei dem Gedanken, dass sich dieser betagte Herr so gepflegt auf den Tag vorbereitet hatte. Sie schielte zu ihm hinüber: weißes Hemd, wenn auch an den Manschetten ziemlich abgewetzt, alter, jedoch gut gepflegter Anzug, Krawatte, Lederschuhe, die einmal sehr teuer gewesen sein mussten, Jahrzehnte zuvor. Der alte Herr war im Sonntagsstaat in die Kirche gekommen. Marianne fand das rührend. Genüsslich sog sie noch einmal den herben Duft ein, der von ihm ausging.
Nach der Messe blieb sie noch ein Weilchen sitzen und ließ die Stille und besondere Stimmung auf sich wirken. Sie dachte an die Worte des Pfarrers und wunderte sich darüber, wie ruhig sie bereits geworden war. Für gewöhnlich konnte sie sich nach einem solchen Streit Stunden, manchmal sogar Tage lang nicht beruhigen.
Der Pfarrer kam und holte das Evangeliar vom Ambo. Als er Marianne erblickte, winkte er ihr kurz zu und lächelte. Sie lächelte zurück. Er wollte gerade wieder in die Sakristei zurückeilen, als ihm etwas einfiel. Rasch kam er auf sie zu, gab ihr die Hand und teilte mit, dass die Abreise für das Wochenende der Firmlinge nun doch vor der Kirche sein sollte und nicht beim Busbahnhof, dass aber jeder bereits ein diesbezügliches Mail erhalten habe.
»Ich werde es Helene ausrichten. Sie freut sich schon auf dieses spannende Wochenende«, antwortete Marianne und fühlte sich nun richtig gut gelaunt. Der Pfarrer strahlte meist eine so positive Stimmung aus. Er reichte ihr nochmal die Hand und lächelte sie freundlich an.
Als er sich dann abwandte, wehte ein frischer Duft von Zitronengras zu ihr, ein Hauch nur, aber wirkungsvoll und erfrischend.
›Duschgel? Weichspüler? Eau de Toilette? – jedenfalls köstlich!‹ schoss es Marianne durch den Kopf. Sie blickte dem Pfarrer hinterher, staunend über seine jugendliche Figur, seine geschmeidigen Bewegungen.
›Das ist ja ein echt steiler Typ!‹ bemerkte sie mehr als überrascht. Seit über zehn Jahren kannte sie ihn bereits, doch noch nie war ihr bewusst geworden, wie attraktiv und angenehm er wirkte, ja nicht einmal, dass er ein Mann war.
›Ob er eine Freundin hat? Ob er weiß, wie gut seine Ausstrahlung tut?‹ Diese Fragen beschäftigten sie und lenkten angenehm vom eigenen Unfrieden ab. Außerdem belustigte es sie, in diesem heiligen Raum nach der heiligen Messe so unheilige Gedanken zu hegen. Aber warum auch nicht? Priester sind schließlich auch nur Männer. Wie konnte sie diesen so lange übersehen? Der zarte Duft von Zitronengras war noch deutlich in ihr, dazu ein noch zarterer von Wein. Schließlich hatte der Pfarrer einen kleinen Schluck Wein bei der Messe getrunken. Marianne hing noch ein paar Minuten der Erinnerung an diese kurze Begegnung nach.
›Wie appetitlich er ist!‹, musste sie sich eingestehen. Dann verließ sie gut gelaunt die Kirche.
Bis zu ihrem Dienstbeginn war noch genug Zeit. Gemütlich schlenderte sie zur U-Bahn. Dort schien sich ganz Wien zu treffen. Was für ein Gedränge! Eine Mutter mit dem Baby auf dem Arm und dem leeren Kinderwagen vor sich, wurde unsanft gegen Marianne gedrängt. Die junge Frau hatte das weinende Baby liebevoll hochgehoben. Verzweifelt blickte sie sich um, denn ganz ungefährlich war die Situation nicht. Bei einer Notbremsung könnte das Kind gegen die Glasplatte stoßen, an der die Mutter lehnte.
Fast Gesicht an Gesicht standen sie da: Marianne und die die junge Mutter mit dem Baby. Mehr als nostalgisch sog Marianne den unvergleichlichen Duft des Kindes ein, dieses Gemisch aus Puder, Brei und zarter liebenswerter Babyhaut. Das machte sie glücklich. Es war ihr wie gestern, als Moritz so klein war, dann, zwei Jahre danach, Helene. Sie erinnerte sich daran, wie behutsam und liebevoll sich Herbert in die Säuglingspflege eingebracht hatte und wie glücklich sie beide dieses Familienglück machte. Zärtlichkeit und Scham erfüllten Marianne. Warum war sie in der Früh so Wut entbrannt davongelaufen? Was hatte sie eigentlich derart aufgebracht? Liebte sie Herbert nicht mehr? Wohin war die Romantik zwischen ihnen entschwunden? Oder gab es sie noch und wurde nur übersehen?
Mehrere Leute stiegen aus, das Gedränge nahm etwas ab. Auch die junge Mutter verließ mit ihrem Baby am Arm den Waggon. Marianne beobachtete, wie sie es draußen behutsam in den Kinderwagen legte.
›Es möge euch immer gut gehen!‹ wünschte sie ihnen von Herzen. Im Büro blieb noch Zeit, Kaffee zu trinken und etwas Gebäck vom Buffet zu holen. Sie schloss die Augen und genoss diese Gemütlichkeit, die ihr der Kaffeeduft immer vermittelte. Jeder Schluck versetzte sie in bessere Stimmung.
Der Arbeitstag gestaltete sich stressig. Es blieb keine Zeit, um über irgendetwas nachzudenken, weder über die Familie noch über Düfte oder Babynostalgie. Erst beim Heimfahren fiel Marianne der Streit mit Herbert wieder ein. Irgendwie konnte sie gar nicht mehr begreifen, was in der Früh so schlimm gewesen war. Okay, Herbert war nicht gerade ein Romantiker, aber das war er ja nie gewesen und trotzdem in seiner sachlichen Art immer liebenswert. Was ging ihr ab? Was warf sie ihm vor? Er würde erst nach ihr von der Arbeit kommen. Die Kinder noch später, weil beide an diesem Abend zu Freunden wollten.
›Wenn er es mir vorwirft, dass ich heute einfach weggelaufen bin, ist er ein Depp, dann erübrigt sich jedes weitere Gespräch. Soll er mich gern haben!‹ überlegte sie stur. Ihr Trotz war zurückgekehrt, als sie die Wohnungstür aufsperrte. Sie hoffte aber insgeheim, dass er ihr emotional entgegenkommen würde. Diesen ersten Schritt seinerseits brauchte sie, um ihre innere Verhärtung ganz aufweichen zu können. Müde ließ sie die Tasche auf den Stuhl neben der Tür plumpsen, streifte die Schuhe ab und ging ins Bad, um sich die Hände zu waschen. Dann holte sie ein Glas Wasser aus der Küche. Und sie erschrak.
Die Küche war blitzsauber aufgeräumt, das gesamte Frühstücksgeschirr in den Geschirrspüler geordnet und auf dem Tisch stand ein großer Strauß Chrysanthemen, ihre Lieblingsblumen. An der Vase lehnte eine Karte mit drei Smileys, eindeutig Helenes Stil. Auf der Rückseite stand:
»Tanze mit mir in den Himmel hinein, oder träume dich mit mir dorthin, gemütlich auf der Couch. So oder so wünsche ich mir, dass du glücklich bist. Dein Herbert. Wir wünschen dir das auch, Helene und Moritz!«
Marianne war beschämt. Damit hatte sie nicht gerechnet. Gerührt beugte sie sich über den schönen Strauß und sog gierig diesen geliebten Duft ein, der sie an den Herbst erinnerte und an Ewigkeit. Dann hörte sie den Schlüssel an der Wohnungstür. Früher als gewohnt kam Herbert zurück und blieb im Vorzimmer stehen. Er hatte dort ihre Handtasche und Schuhe sofort bemerkt.
»Marianne?« rief er vorsichtig. Sie eilte aus der Küche zu ihm. Er schaute sie lauernd an. Noch wusste er nicht, wie ihre Stimmung inzwischen war, doch sie ging auf ihn zu und umarmte ihn zärtlich.
»Danke!« sagte sie leise.
»Ich danke dir! Oft bin ich so ein Holzklotz. Oft sehe ich nicht, was ich an dir habe«, entgegnete er und drückte sie innig an sich. Sie atmete seinen Duft tief ein, männlich und vertraut. Zärtlich schmiegte sie ihren Mund an seinen Hals und spürte den herben Duft des vornehmen alten Herrn aus der Kirche, obwohl Herbert ein ganz anderes Rasierwasser benutzte. Diese Erinnerung erfreute sie. Als sie Herbert über den Rücken streichelte, und die Hand genüsslich auf seinem Po ruhen ließ, spürte sie so etwas wie Wein und einen Hauch Zitronengras in ihrer Nase.
»Weißt du was, die Kinder kommen vor neun Uhr nicht nach Hause. Wie wär’s …?« fragte sie verspielt. Herbert lächelte glücklich und eilte ins Bad, um sich die Hände zu waschen. Inzwischen zog sich Marianne aus und legte sich ins Bett. Er folgte ihr bereits nackt und kuschelte sich an sie. Unkompliziert und zärtlich fanden sie zu einander und fanden sich in der Ekstase der vertrauten Erotik.
Als sie dann beisammen lagen, entspannt, innig, streichelte Marianne langsam und sehr sanft über den Körper ihres Mannes. Es war so etwas wie kindlicher Duft an ihm, frisch, babyhaft, nostalgisch schön. Später gingen sie in die Küche. Beide hatten keine Lust auf Abendessen. Marianne wollte eher etwas Süßes und Herbert hatte bereits in der Arbeit gegessen. Die Kinder würden bei den Freunden etwas bekommen.
»Ein kleiner Kaffee wäre fein«, meinte Herbert, stand auf und bereitete ihn zu. Wunderbarer Kaffeeduft erfüllte sofort die Küche. Marianne schloss die Augen und spürte Heimeligkeit, Geborgenheit. Als sie die Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick auf den Strauß Chrysanthemen. Sie neigte sich vor und sog den würzig schweren Duft dieser Blumen ein. »Ich bin glücklich«, sagte sie, als sich Herbert mit den zwei Kaffeetassen zu ihr setzte.
»Ich bin auch glücklich«, antwortete er, neigte sich zu ihr und gab ihr einen kleinen Kuss.
Ich ruhe tief in mir und finde dich.
Du begegnest ganz und findest dich.
Wie trockenes Land trinken wir die Tropfen
des Einsseins in der Zweisamkeit.
Wie aufblühende Knospen
entfalten wir das Ich-Sein im Du.
Ich ruhe tief in dir und finde mich.
Du begegnest dir in mir.
»Mach dir kein Bild von meinen Gaben.
Nimm sie hin, genieße sie.
Forme nicht um,
was ich dir als Ganzheit schenke,
zerpflücke nicht die Blüten meiner Liebe«,
so spricht der Herr.
»Verkürze nicht die Liebe
durch Begriffe, die dich binden.
Du spürst die Sonne.
Sie ist so viel mehr,
als ein Wort auf dem Papier,
als gelbe Farbe in Kreisform hingemalt.
Sperre nicht die Demut ein,
die deine Liebe weit macht,
die dich sehen lehrt und zu genießen.
Genuss ist, wenn man trotzdem liebt.
Und wahrhaft frei ist, wer das erkennt«,
spricht der Herr.
Ich selbst würde so nicht denken.
Freiheit ist so rätselhaft.
Sie ist mir das höchste Gut.
Und deine Freiheit hoch zu schätzen,
meine erste Pflicht.
Doch mein Herz,
dies ungezogene Ding,
lacht darüber.
Es bindet mich an dich,
bedingungslos.
Schlimm genug,
doch nun will es dich auch binden
an mich,
an Lust und Liebe.
Ersehnte Fesseln?
Wie verkehrt die Welt doch ist!
Doch mein Herz,
es lacht sich krumm und ruft,
dass so die wahre Freiheit aussieht,
der wahre Reichtum
und das Glück.
Ich weiß nicht recht
und warte ab.
Kommt Zeit,
kommt die Befreiungsnacht,
in welcher Form auch immer.
Mein Leben war immer schon großartig gewesen; Freiheit, jederzeit gutes Essen, angenehmes Wetter, halbwegs annehmbare und oft auch hilfreiche Kolleginnen, Kollegen und Verwandte, alles in allem großartig. Überhaupt fühlte ich mich freier und selbstbewusster, als die meisten meiner Freundinnen, weil ich mich nie der kindischen Torheit hingab, mich an einen Herrn anzuhängen, mit ihm herum zu schwärmen, mich vom Rest abzusondern und gurrend wie die lächerlichen Tauben dahin zu schmachten.
Alle Liebe und Freude die ich brauchte, fand ich in mir und im Wind, in den Sonnenstrahlen, den erfrischenden Morgenstunden und, ja, ich gebe es zu, in den Leckerbissen überall hier an der immer reich gedeckten Tafel, die so viele ›Stadt‹ nennen. Zum Schauen und Genießen ist das, was gemeinhin ›Land‹ genannt wird, zwar schöner und auch kulinarisch durchaus ansprechend, vielfältiger aber ist die Stadt und oft auch aufregender.
Ich hatte ein Hobby, manche meiner Gruppe nannten es bereits eine Leidenschaft:
Da gibt es diese unbeholfenen plumpen Riesen hier überall. Sie geben unangenehme Geräusche von sich und scheinen ohne jeglichen Verstand zu sein. Das einzig Brauchbare an ihnen ist, dass sie meist Proviant hinterlassen, vielleicht um uns zu erfreuen, weil wir so edel und so überaus intelligent sind. Wahrscheinlich verehren sie uns deswegen. Nun ja, warum auch nicht.
Jedenfalls konnte ich einmal beobachten, wie eines dieser Wesen eine Blume betrachtete. Diese Wesen haben nämlich Augen wie wir, mit denen sie wohl nur verschwommen sehen können, denn sie bemerken kaum etwas um sich herum und gehen einher wie die gebauten Dinge, die sie besitzen und die rollen und heftig stinken, wenn sich jemand hineinsetzt. Ohne Verstand sind diese Wesen eben und sinnlos ist, was sie tun.
Also, dieses eine Wesen beugte sich über die Blume, als wolle es sie fressen. Es wetzte aber nur leicht den Schnabel daran und verzog das Maul Zähne fletschend. Das machen diese oft und fletschen dabei die Zähne wie wilde Hunde. Ich nannte dieses eine Wesen ›den Dasda‹, um es während meiner Beobachtung von den anderen zu unterscheiden, weil sie ja alle gleich aussehen. Dasda wiederholte diese sinnlose Schnabelwetzerei und blickte dann plötzlich auf mich, die ich mich ihm ungeniert genähert hatte. Er sah mich lange an und ich ihn, dann gab er einen Laut von sich, der direkt nett, wenn auch schwammig klang.
Ich wollte nicht wegsehen, denn mich amüsierte dieser Tollpatsch. So sagte ich: »Na du?« Da fletschte er wieder die Zähne, nahm das große edelschwarze Rohr, das er schwer um den plumpen Hals trug, und zielte auf mich. Erschrocken machte ich mich davon. Seitdem aber suchte ich ihn immer wieder dort auf, wo er oft war, und ich sah, dass er dieses Rohr oft benutzte und es vorwiegend auf Blumen richtete. Es surrte dann immer kurz, bevor mein Dasda es wieder senkte. Die Blumen erlitten keinen Schaden davon.
Als ich wieder einmal auf der Lauer nach ihm war und er dann endlich kam, um sich unter meiner Lieblingslinde niederzulassen, bemerkte ich, dass Regentropfen aus seinen Augen sickerten. Dergleichen hatte ich bis dahin nur manchmal bei den Jungen dieser Wesen beobachtet und gedacht, es handle sich um die Unvollkommenheit des Heranwachsens. Auch klagende Laute vernahm ich von meinem Dasda. Ich setzte mich bequem in seine Nähe auf der Linde über ihm und blickte auf ihn hinab, der da schwerfällig auf eines der Holzgerüste geplumpst war, die oft bei Bäumen stehen. Immer wieder schüttelte er das Haupt, bis er es schließlich in seine Pranken legte und laut wimmerte, wie Hundejungen es gern tun.
Ich setzte mich schließlich auf den aufragenden Teil des Holzgerüstes und sagte mit schmeichelnder Stimme: