Der tote Prinz

Der tote Prinz

Band 16 der Märchenspinnerei

 

Roman

Katherina Ushachov

 

Märchenspinnerei

 

 

 

 

 

Inhalt

 

Felix

Die al­te Gran hat­te ge­sagt, dass sein Na­me in ei­ner längst to­ten Spra­che »der Glück­li­che« be­deu­te­te, aber glück­lich fühl­te Fe­lix sich nicht.

Die schmut­zi­gen Lum­pen­wi­ckel schütz­ten sei­ne Hand­flä­chen nur un­zu­rei­chend. Er spür­te, dass er sie längst durch­ge­schwitzt hat­te.

Schweiß lief ihm auch über das Ge­sicht, brann­te in sei­nen Au­gen und ver­schlei­er­te die Sicht. Oder war es die Luft, die im gna­den­lo­sen Son­nen­licht flim­mer­te?

Das war das Ein­zi­ge, was sie im Über­fluss hat­ten, seit sich die Staub­schlei­er ge­legt hat­ten und die Dun­kel­heit die Welt nicht mehr ver­schluck­te.

Er er­in­ner­te sich nicht mehr an die­se Zeit. Nur manch­mal, wenn er sich sehr an­streng­te, konn­te er das Ge­fühl bei­ßen­der Käl­te auf der Haut her­bei­ru­fen. Schmerz war gut, hielt ihn wach. Bei den Müll­ber­gen ein­zu­schla­fen, en­de­te meist töd­lich.

Et­was Blau­es fun­kel­te vor ihm in der Son­ne und er leg­te has­tig die Hand dar­auf. Blau­es Glas war kost­bar. Er konn­te es ge­gen Was­ser ein­tau­schen. Und ge­gen ge­nug Es­sen für ei­ne Wo­che. Sie­ben Ta­ge oh­ne Hun­ger, oh­ne Durst, oh­ne die Sor­ge um sein Über­le­ben.

Wenn, nur wenn …

Die auf ihn fal­len­den Schat­ten lie­ßen sei­nen kur­z­en Tag­traum zer­schel­len.

Fe­lix dreh­te sich um und starr­te in die rost­brau­nen Au­gen von Ai­no. Die Haa­re von der Son­ne zu ei­ner un­de­fi­nier­ba­ren Far­be ge­bleicht, das hel­le Ge­sicht mit ei­ner di­cken, ro­ten Pas­te ge­gen die Son­ne be­deckt, rag­te sie in im­pro­vi­sier­ter Rüs­tung über ihm auf. Hin­ter ihr stan­den zwei Mit­glie­der ih­rer Grup­pe, bei­de hat­ten einen hö­he­ren Rang als Fe­lix – und so­mit mit der Er­laub­nis, auf ihn ein­zu­prü­geln. »Was hast du da?«

Er ball­te die Hän­de zu Fäus­ten und ließ das Glas­stück un­auf­fäl­lig zwi­schen den Schich­ten sei­ner Hand­bin­den ver­schwin­den. Er brauch­te es drin­gen­der als Ai­no, die ei­ne gan­ze Rei­he da­von um den Hals trug. Ein Ver­mö­gen! Aber Frau­en hat­ten oh­ne­hin Vor­tei­le. Sie konn­te ihn al­lein da­für schla­gen und be­vor­mun­den, dass er ein Mann war. Und es gab nichts, das er da­ge­gen tun durf­te.

»Nichts. Ich ha­be noch nichts ge­fun­den.«

Sie trat nä­her und stell­te ih­ren Stie­fel auf sei­ne Schul­ter. »Ah ja? Los, durch­sucht ihn. Und wenn er lügt …« Ih­re Au­gen glänz­ten – als wür­de sie sich sei­ne Stra­fe be­reits aus­ma­len. »Du weißt, was mit Müll­samm­lern pas­siert, die von der Ge­mein­schaft steh­len.«

Die zwei Schrän­ke hin­ter ihr setz­ten sich in Be­we­gung.

So weit durf­te er es nicht kom­men las­sen. Ge­mein­schaft schön und gut, aber Ai­nos Stra­fen wa­ren hart, und auf den Müll­ber­gen konn­te je­de Ver­let­zung ein To­des­ur­teil sein. Fe­lix pack­te ihr Bein, zog es nach vor­ne und sich selbst dar­an auf die Bei­ne. Ehe Ai­no wie­der auf­ste­hen und ihm fol­gen konn­te, rann­te er be­reits mit ge­schlos­se­nen Au­gen der Son­ne ent­ge­gen. Hier kann­te er je­den Hü­gel, je­de bau­fäl­li­ge Well­blech­hüt­te, je­des Ver­steck. Wenn er sich nur nicht blen­den ließ, konn­te er sie ab­hän­gen.

Ai­no und ih­re Beglei­ter keuch­ten in sei­nem Rücken.

Er glaub­te, ih­ren hei­ßen Atem in sei­nem Na­cken zu spü­ren, sen­gen­der als die Hit­ze der Son­ne im Ge­sicht.

Er strau­chel­te und fiel.

Ber­ge an wa­cke­lig ge­sta­pel­tem Müll bra­chen um ihn her­um ein. Er rutsch­te wie auf Treib­sand. Je mehr er sich be­weg­te, de­sto mehr Müll schob sich nach und riss ihn mit sich.

Ai­no stand als Sil­hou­et­te des Tri­um­phs am Ran­de des Ab­grun­des und lach­te. Sie hob et­was auf und warf es ihm hin­ter­her. Da­mit lös­te sie einen wei­te­ren Müll­rutsch aus.

Fe­lix stram­pel­te, such­te Halt und spür­te einen dump­fen Schmerz am Kopf, der sich aus­brei­te­te und ihn ver­schluck­te.

Er er­wach­te mit tro­ckenem Mund und Kopf­schmer­zen, die ihm Trä­nen in die Au­gen trie­ben. Um ihn her­um nichts als Dun­kel­heit und vie­le klei­ne Ge­gen­stän­de, die auf sei­ne Brust drück­ten und ihm die Luft zum At­men nah­men.

Vor­sich­tig streck­te er die Ar­me aus und schaff­te es, mit den Fin­gern die Ober­flä­che aus lo­cke­rem Ge­rüm­pel zu durch­bre­chen. Vi­el­leicht war so­gar bun­tes Glas da­bei … Sei­ne Fin­ger er­tas­te­ten et­was Glat­tes, Me­tal­li­sches. Er hielt sich dar­an fest und zog sich vor­sich­tig aus dem Müll, um­sich­tig, um kei­ne neue La­wi­ne zu ver­ur­sa­chen. Dann erst schau­te er sich an, wor­an er sich fest­ge­hal­ten hat­te.

Ein grö­ße­rer, ver­hak­ter Ge­gen­stand aus zer­kratz­tem, grün an­ge­lau­fe­nem Me­tall.

Bron­ze. Und gleich großes Stück da­von. Das war be­stimmt wert­voll; falls er sich bis zur Stadt durch­schla­gen konn­te, um es zu ver­kau­fen, ganz al­lein, oh­ne dass Ai­no ih­ren An­teil ver­lan­gen konn­te …

Fe­lix grub vor­sich­tig so lan­ge, bis er den Ge­gen­stand raus­zie­hen konn­te. Sein Herz ras­te. So­fort schob er das Ding vor Schreck ruck­ar­tig un­ter sei­ne Ja­cke. Das war doch … Was war das?

Has­tig blick­te er sich um, ob je­mand in der Nä­he war, aber er war al­lei­ne. Kei­ne an­de­ren Müll­samm­ler in Sicht.

Er setz­te sich auf den Bo­den, lehn­te sich an die Sei­te des Hü­gels und nahm das Bron­ze­ding wie­der aus sei­ner Ja­cke.

Kreis­rund, mit ei­ni­gen klei­nen Qua­dra­ten, ne­ben de­nen ei­ne Son­ne ab­ge­bil­det war, zeig­te es ein stau­bi­ges, zer­kratz­tes Jun­gen­ge­sicht, grü­ne Au­gen mit gol­de­nen Punk­ten in­mit­ten von na­he­zu schwar­zer Haut. »Hal­lo, du. Ich bin Fe­lix.«

Das Ding leuch­te­te kurz auf und Li­ni­en zo­gen sich über das Ge­sicht des Jun­gen. Zah­len leuch­te­ten auf sei­ner Wan­ge auf: 2084. Dann er­tön­te ei­ne freund­li­che Frau­en­stim­me aus dem Ding und vi­brier­te ge­gen sei­ne Fin­ger. »Hal­lo Fe­lix. Ich bin Nar­zis­sa. Stel­le dei­ne Fra­ge.«

»Nar­zis­sa?« Das war ein Frau­en­na­me. Aber das Ge­sicht war das ei­nes Jun­gen. »Wer ist das im Fens­ter?«

»Ich bin ein Spie­gel. Du siehst dich selbst.«

»Mich selbst? So se­he ich aus?«

Li­ni­en über­zo­gen das Ge­sicht – sein Ge­sicht.

»Ja. Nach den Re­geln des Gol­de­nen Schnitts bist du schön.«

Schön? Er?

Gran hat­te mal ge­sagt, dass die Leu­te frü­her glaub­ten, Schön­heit kön­ne die Welt ret­ten. Aber Gran war längst tot, und in sei­ner von wäh­le­ri­schen War­la­dys do­mi­nier­ten Welt war Schön­heit vor al­lem eins: Macht.

Er brauch­te al­so nur noch ei­ne mäch­ti­ge Be­schüt­ze­rin.

Dann wür­de Ai­no es be­reu­en, ihn an­ge­grif­fen zu ha­ben.

 

Vergangenheit

1. Alixena

Ali­xe­na schwitz­te. Hit­ze stau­te sich un­ter ih­rer un­för­mi­gen Me­tall­rüs­tung ge­nau­so stark, wie un­ter den schad­stof­f­ab­wei­sen­den Mem­bra­nen des Kom­man­do­zelts. Zu ger­ne wür­de sie ih­re Leibs­kla­ven ru­fen, sich in ih­rem ei­ge­nen, we­sent­lich küh­le­ren Zelt aus dem Pan­zer schrau­ben las­sen und dann ein lau­war­mes Bad neh­men.

Statt­des­sen beug­te sie sich zu­sam­men mit den an­de­ren Frau­en über ei­ne in Kup­fer ge­ätz­te Kar­te von Jun­di und schob vor­sich­tig einen blau­en, ab­ge­flach­ten Stein bis vor die Stadt­mau­er. »An die­ser Stel­le ist die Mau­er am dünns­ten. Wir ha­ben be­reits er­heb­li­chen Scha­den an­ge­rich­tet. Dort pa­trouil­liert nie­mand mehr re­gu­lär, die Gän­ge sind zer­stört. Al­so spren­gen wir uns dort durch. La­dys?«

Vi­zela­dy Na­la beug­te sich ih­rer­seits über die Kar­te. »Un­se­re Mi­neu­re brau­chen De­ckung. Wenn wir al­so die­ses Ma­nö­ver durch­zie­hen wol­len, soll­ten wir …« Sie schob ei­ni­ge klei­ne, wei­ße Stei­ne über die Kar­te. »… einen Teil der Trup­pe hier an­grei­fen las­sen. Und nur die Schlei­cher fol­gen den Mi­neu­ren.« Sie stell­te schwar­ze Stei­ne um.

Ali­xe­na zwang sich, nicht zu gäh­nen. Das hät­te Na­la zu­recht als Re­spekt­lo­sig­keit wahr­ge­nom­men, da­bei war es nur ih­re Mü­dig­keit. Seit dem gest­ri­gen Tag hat­te sie kein Feld­pa­ket mehr von Ge­ro er­hal­ten und wuss­te so­mit nicht, wie es weit­ab von der Front – zu Hau­se – aus­sah. Das raub­te ihr den Schlaf und die für die­se Schlacht so drin­gend nö­ti­ge Kon­zen­tra­ti­on.

»Wir könn­ten ei­ne wei­te­re Grup­pe Mi­neu­re über den al­ten Wa­di schi­cken und sie im Sü­den der Stadt spren­gen las­sen. Oder ab­war­ten, ob un­se­re Spio­ne uns ei­ne un­dich­te Stel­le bei den Hü­geln mel­den.« Vi­el­leicht ließ sich der An­griff noch so lan­ge hin­aus­zö­gern, dass sie ih­re Feld­post be­kam. Vi­el­leicht war end­lich ein Ta­schen­tuch von Ge­ro dar­un­ter. Mit dem letz­ten Tuch, das sie er­reicht hat­te, wisch­te Ali­xe­na sich den Schweiß von der Stirn und blick­te da­bei auf das Or­na­men­tal­mus­ter aus ro­ten, grü­nen und blau­en Kreu­zen. Für die einen ein Ta­schen­tuch, für sie ein aus­führ­li­cher Be­richt über das Le­ben an ih­rem Hof und das Wohl­be­fin­den ih­res Man­nes und ih­res Kin­des.

Vi­zela­dy The­kla nick­te. »Die­sen Trupp wer­de ich be­feh­li­gen, wenn Myla­dy es er­laubt.«

»Ich er­lau­be es.« Die Kopf­schmer­zen, be­dingt durch die sti­cki­ge Luft und die Hit­ze, wan­del­ten sich von drückend zu po­chend und sie war sich nicht si­cher, was schlim­mer war. Er­neut starr­te sie auf das Ta­schen­tuch und las die Co­de­zei­len, als wä­ren sie in Plain ge­schrie­ben.

Ge­lieb­te Alix. Da­rio ent­wi­ckelt sich auf das Präch­tigs­te, er hat be­reits an­ge­fan­gen, den Ap­fel­brei zu es­sen, den die Knech­te zu­be­rei­ten und er mag es, den Skla­ven­kin­dern beim Spie­len zu­zu­se­hen. Bis du wie­der hier bist, fängt er noch an, Fleisch zu es­sen und mit ih­nen zu ren­nen. Der jun­ge Mann, der im Palast an­ge­fan­gen hat, macht sich un­ent­behr­lich und ich wüss­te nicht, was ich oh­ne Fe­lix tun soll­te. Er ist mir ei­ne Stüt­ze in al­len Be­lan­gen des Haus­halts. Ich wün­sche dir einen schnel­len Sieg über un­se­re Fein­din­nen und kann es kaum er­war­ten, mei­ne Lip­pen an­däch­tig auf dei­ne Stirn zu drücken. Im­mer dein, Ge­ro.

Ein harm­lo­ser Brief – wie­so war sie dann so be­sorgt? Sie ver­stand es nicht. Aber sie hat­te kei­ne Zeit – und konn­te die Schlacht nicht län­ger auf­schie­ben.

»Dann ha­ben wir un­se­ren An­griffs­plan, mei­ne La­dys. In ei­ner hal­b­en Stun­de soll­ten un­se­re Spio­ne zu­rück sein, bis da­hin ha­ben eu­re Ein­hei­ten marsch­be­reit zu sein.«

»Aye, Mila­dy.« Die zwei Frau­en sa­lu­tier­ten und ver­lie­ßen das Kom­man­do­zelt.

Ali­xe­na schaff­te es, in der um­ständ­li­chen Rüs­tung ih­re Ar­me zu he­ben und mit den Fin­ger­spit­zen ih­re Schlä­fen zu mas­sie­ren. Sie muss­te drin­gend in ihr ei­ge­nes Zelt und die­ses hier ent­lüf­ten las­sen. Has­tig zog sie sich den Helm mit in­te­grier­tem Mund­schutz über den Kopf und ver­ließ den Kriegs­rat.

So früh am Mor­gen war es noch kalt und die kost­ba­ren Sicht­glä­ser ih­res Helms be­schlu­gen au­gen­blick­lich von in­nen. Na­he­zu blind, tau­mel­te sie in die Rich­tung, in der sie ihr Zelt ver­mu­te­te – und hat­te das Glück, dass ei­ner ih­rer Skla­ven sie am El­len­bo­gen fass­te und in ihr Zelt es­kor­tier­te.

Er­leich­tert nahm sie den klo­bi­gen Helm wie­der ab und lös­te die Schar­nie­re an der Rüs­tung zu­min­dest so weit, dass ihr Kör­per et­was Luft be­kam. Erst dann er­in­ner­te sie sich dar­an, dass Lue – ihr äl­tes­ter Skla­ve – ver­mut­lich nicht zu­fäl­lig vor dem Kom­man­do­zelt auf sie ge­war­tet hat­te. »Was gibt es? Ist die Feld­post ge­kom­men?« Sie be­müh­te sich, we­der zu be­sorgt noch zu un­ge­dul­dig zu klin­gen.

»Mei­ne La­dy, ich kann kein Plain le­sen, aber das ist nicht die Hand­schrift von Lord Ge­ro.« Lue ver­beug­te sich und reich­te ihr einen in dün­ne, grau­brau­ne Plas­tik­fo­lie ge­ritz­ten Brief.

Sie nahm ihn ent­ge­gen. Ih­re Hän­de zit­ter­ten. »Von wem ist er dann?« Die Schrift wirk­te selt­sam kind­lich, als hät­te je­mand den Brief ver­fasst, der erst als Er­wach­se­ner ge­lernt hat­te, zu schrei­ben.

Myla­dy Ali­xe­na Lue Lue, hier schreibt Ihr un­ter­tä­nigs­ter Knecht Fe­lix M’nan. Lord Ge­ro Lue ist ges­tern Nacht über­ra­schend in das Haus der Nacht­kö­ni­gin ein­ge­zo­gen, mö­ge er an ih­rer Ta­fel spei­sen. Lord Da­rio ist wohl­auf, das Haus Lue je­doch in hells­ter Auf­re­gung. So­fern Sie an der Front ent­behr­lich sind, bit­ten wir al­le de­mü­tigst um Ih­re Rück­kehr. M’nan

Hät­te die Rüs­tung sie nicht ge­stützt, wä­re Ali­xe­na zu Bo­den ge­gan­gen.

2. Felix

»Es ist wirk­lich be­ängs­ti­gend, was man mit ei­nem hüb­schen Ge­sicht al­les er­reicht, nicht wahr, Nar­zis­sa?« Er lä­chel­te sei­ne ei­ge­nen Ge­sichts­zü­ge im Spie­gel an.

»Ja, Fe­lix.«

Er war sich nicht si­cher, ob der Spie­gel ihn wirk­lich ver­stand oder le­dig­lich dar­auf pro­gram­miert war, auf »nicht wahr?« mit ei­ner Be­stä­ti­gung zu ant­wor­ten. Aber es war ihm egal. Er hielt den win­zi­gen Da­rio im Arm und starr­te auf das schla­fen­de Ba­by­ge­sicht.

Es wä­re so ein­fach, den Jun­gen zu tö­ten. Er muss­te ihn nur ver­se­hent­lich fal­len las­sen, das al­lein wür­de ge­nü­gen, um sein zar­tes Ge­nick zu bre­chen. Wie ein Un­fall wür­de es aus­se­hen. Man wür­de Ver­ständ­nis ha­ben. Als obers­ter Knecht des to­ten Lord Ge­ro, war Fe­lix ein­fach von sei­nen neu­en Pf­lich­ten als Er­satz­va­ter über­for­dert. Er nick­te im Ge­hen ein. Ei­nem Mann – und so­mit ei­nem oh­ne­hin nie­de­ren Ge­schöpf – wür­de man Nach­sicht ent­ge­gen­brin­gen.

Ir­gen­det­was hielt ihn je­doch da­von ab. Vi­el­leicht das Ge­fühl, dass der Klei­ne ihm le­bend mehr nut­zen wür­de als tot. Vi­el­leicht auch bloß, dass das Kind ein hüb­sches Ge­sicht­chen hat­te. Und er moch­te es nicht, schö­ne Din­ge ka­puttz­u­ma­chen.

Fe­lix leg­te Lord Da­rio wie­der in sei­ne Wie­ge und zog die Ket­te mit der blau­en Glas­scher­be her­vor, die er seit ei­ni­gen Jah­ren um den Hals trug. Er hat­te es nie übers Herz ge­bracht, das Glas zu ver­kau­fen, son­dern statt­des­sen sein we­ni­ges Geld aus­ge­ge­ben, um es fas­sen zu las­sen. Für ihn be­deu­te­te es Frei­heit. Frei­heit von Ai­no.

Er wuss­te, dass La­dy Ali­xe­na mit dem schnells­ten Dampf­mo­bil drei Ta­ge brau­chen wür­de, um aus Jun­di nach Ac­niv zu ge­lan­gen. So lan­ge hat­te er al­so Zeit, um für den ver­stor­be­nen Lord Ge­ro ei­ne rüh­ren­de Ge­leit­ze­re­mo­nie zu kom­po­nie­ren, die der La­dy zei­gen wür­de, was für ein wun­der­vol­ler, um­sich­ti­ger Mensch er war und an was er al­les dach­te.

Fe­lix steck­te die Hals­ket­te wie­der ein. »Nar­zis­sa? Wer ist der schöns­te Mann im Land?«

»Du bist es, Fe­lix.«

»Und bald wer­de ich ein Lue sein.«

»Fe­lix Lue, der schöns­te Mann im Land.«

»Ex­akt, Nar­zis­sa.« Ei­ner plötz­li­chen Ein­ge­bung fol­gend, nahm er das Ba­by wie­der aus der Wie­ge und hielt es so vor den Spie­gel, dass sich das Ge­sicht­chen von Lord Da­rio ge­nau in der Mit­te des Spie­gels be­fand. »Mer­ke ihn dir gut Nar­zis­sa. Das ist Da­rio Lue.«

Ein grü­nes Leuch­ten glitt über den Bild­schirm und wur­de bald durch ei­ne Schrift er­setzt, die ent­fernt an Plain er­in­ner­te. Was im­mer sie be­deu­te­te, er wuss­te es nicht. Haupt­sa­che, Nar­zis­sa war fer­tig und er konn­te das Ba­by wie­der ab­le­gen. Schließ­lich hat­te er noch ei­ne Ab­schieds­fei­er zu or­ga­ni­sie­ren und da­für brauch­te er Blu­men aus dem Ge­wächs­haus. Ro­sen, weiß wie Schnee und rot wie Blut. Nur die schöns­ten für den lei­der ver­stor­be­nen Lord Ge­ro.

Bei der Ge­le­gen­heit soll­te er auch gleich die Phio­le mit dem Gift ver­schwin­den las­sen, ehe je­mand un­an­ge­neh­me Fra­gen stel­len konn­te. Da­für hat­te er näm­lich gar kei­ne Zeit.

3. Alixena

Die über­wäl­ti­gen­de Trau­er war bald ei­nem Ge­fühl grim­mi­ger Ent­schlos­sen­heit ge­wi­chen. Sie muss­te nach Hau­se, zu ih­rem Kind.

Da sie als War­la­dy oh­ne­hin nicht an die Front ge­hen durf­te, war es kein Pro­blem, das Kom­man­do an Vi­zela­dy Na­la zu über­ge­ben, sich eins der Dampf­mo­bi­le mit Fah­rer zu neh­men und so schnell wie mög­lich nach Ac­niv zu ge­lan­gen.

Im­mer wie­der muss­te ihr Fah­rer an­hal­ten, um an den ei­gens da­für ein­ge­rich­te­ten Kno­ten­punk­ten das Was­ser zu er­set­zen und neu­es Heiz­öl zu kau­fen. Die drei Ta­ges­rei­sen schie­nen ihr nicht zu­letzt da­durch un­end­lich lang, zu­dem wa­ren sie recht ein­tö­nig. Die meis­te Zeit sah sie nur Sand und Fels, wenn sie denn über­haupt nach drau­ßen schau­te, statt die Schei­ben ver­dun­kelt zu las­sen.

Trotz­dem hat­te sie kein Recht, sich bei dem Mann zu be­schwe­ren – im­mer­hin war es ihm zu ver­dan­ken, dass sie über­haupt vor­an­kam. Der rund­um von hell­grau­em Plas­tik um­hüll­te Wa­gen bot ihr Schutz vor der sen­gen­den Son­nen­ein­strah­lung, der Hit­ze und dem Staub, der selbst meh­re­re Jahr­zehn­te nach der großen Dun­kel­heit im­mer noch auf den Stra­ßen lag und sich in den Lun­gen fest­zu­set­zen droh­te, wenn man sich nicht da­vor schütz­te. Sie muss­te in sei­nem In­ne­ren we­der ih­re Rüs­tung noch ei­ne läs­ti­ge Atem­schutz­mas­ke tra­gen.

Ob er sie vor der an­de­ren Strah­lung schütz­te, ei­ner, die Men­schen krank mach­te, wuss­te sie nicht. Aber ir­gend­wie muss­te sie rei­sen. Nicht, dass es sie in den Städ­ten nicht ge­ben wür­de, aber laut den Gerä­ten der Wis­sen­schaft­ler schwä­cher. Auch wenn sie nicht wuss­te, wes­halb.

Au­ßer­dem war sie voll­kom­men al­lei­ne in ei­nem Wa­gen, der auf sechs Pas­sa­gie­re aus­ge­legt war, und konn­te, wenn sie es woll­te, sich auf dem Bo­den lang aus­stre­cken und ru­hen.

Das gleich­mä­ßi­ge Geräusch sich dre­hen­der, gut ge­pan­zer­ter Stahl­rä­der misch­te sich mit dem lei­sen Pfei­fen der Dampf­ma­schi­ne. Grau stieg der Rauch dar­aus auf und ver­misch­te sich mit den eben­so grau­en Wol­ken über dem Land.

An­geb­lich soll es hier einst im­mer­grü­ne Wäl­der vol­ler Tie­re ge­ge­ben ha­ben, aber seit die große Dun­kel­heit vor­bei war, hat­ten sich erst we­ni­ge Pflan­zen an die Ober­flä­che ge­kämpft und ih­re satt­grü­nen Trie­be wur­den zu schnell wie­der von ei­ner Schicht aus Staub be­deckt. Man­che Din­ge kann­te sie nur aus den Er­zäh­lun­gen ih­rer El­tern: Fri­sche Luft, gu­tes Was­ser, mil­de Tem­pe­ra­tu­ren, Tie­re.

Le­dig­lich ein paar Rat­ten hat­te Ali­xe­na mal ge­se­hen und ver­krüp­pelt aus­se­hen­de Bir­ken, meist in den ver­las­se­nen Städ­ten.

Nur Müll gab es im Über­fluss. Ein Blick nach drau­ßen ge­nüg­te, um ihn zu se­hen. Ihn und die Men­schen, die größ­ten­teils oh­ne drin­gend not­wen­di­gen Schutz dar­in her­um­wühl­ten, um sich et­was Geld für ihr er­bärm­li­ches Le­ben zu ver­die­nen. Das war in ih­ren Au­gen das Schlimms­te. Doch egal wie sehr sie ver­such­te, da­für zu sor­gen, dass die Müll­samm­ler fair be­zahlt wur­den, blieb sie selbst als War­la­dy ohn­mäch­tig an­ge­sichts der herr­schen­den Kor­rup­ti­on. Für die, die nicht in den of­fi­zi­el­len, von ihr kon­trol­lier­ten Bri­ga­den sam­mel­ten, konn­te sie am we­nigs­ten tun. Das wa­ren recht­lo­se Men­schen. An­de­rer­seits, wa­ren sie nicht auch selbst schuld, wenn sie schwarz ar­bei­te­ten?

Sie frag­te sich, wie es Da­rio ging. Ver­stand er über­haupt, warum sein Va­ter auf ein­mal nicht mehr mit ihm spiel­te? Ihn nicht mehr in den Arm nahm? Die Sehn­sucht nach ih­rem Kind war so groß, dass es schmerz­te.

Seuf­zend leg­te Ali­xe­na sich auf dem Bo­den in die auf­ge­schich­te­ten Kis­sen, schloss die Au­gen und stell­te sich vor, wie es wä­re, ihr Kind im Arm zu hal­ten und Ge­ro an­zu­lä­cheln.

Ge­ro.

Sie spür­te, wie Trä­nen heiß aus ih­ren Au­gen quol­len, mach­te sich aber nicht die Mü­he, sie weg­zu­wi­schen. Ver­mut­lich war sie die ein­zi­ge, die auf­rich­tig um ihn wein­te. Sie und viel­leicht noch die­ser cha­ris­ma­ti­sche neue Ober­knecht, der in den letz­ten Au­gen­bli­cken von Ge­ros Le­ben bei ihm ge­we­sen sein muss­te. Wenn sie nicht al­les täusch­te, hieß er Fe­lix, aber sie war sich des­sen nicht ganz si­cher. Sich Na­men zu mer­ken, war noch nie ei­ne von Ali­xen­as Stär­ken ge­we­sen.

Wenn sie nur schon in Ac­niv an­ge­kom­men wä­re.

4. Felix

Al­les war per­fekt.

Er hat­te es ge­schafft, un­ter Auf­bie­tung sei­nes Ch­ar­mes, sei­nes strah­len­den Lä­chelns und et­was Geld aus der Kas­se des Hau­ses Lue – Aus­ga­ben, die Ali­xe­na mit Si­cher­heit ge­neh­mi­gen wür­de – ei­ne Bah­re aus schwar­zem Glas auf­zu­trei­ben.

Die Lei­che von Lord Ge­ro ver­schwand na­he­zu un­ter den Ber­gen aus Ro­sen, weiß wie Schnee und rot wie Blut. Scha­de um das schwar­ze Glas, aber ver­mut­lich wür­de das die Ein­äsche­rung oh­ne­hin pro­blem­los über­le­ben und Fe­lix wür­de einen Weg fin­den, die wert­vol­le Res­sour­ce wie­der an sich zu brin­gen. Voll­kom­men schwar­zes Glas war zu kost­bar, um es in ei­ner Gruft zu­sam­men mit et­was Asche ver­schwin­den zu las­sen. Da­von konn­te er mit Si­cher­heit selbst ei­ne trau­ern­de Wit­we über­zeu­gen. Na­tür­lich erst, nach­dem er sie char­mant emp­fan­gen hat­te und sie Zeit be­kam, die Si­tua­ti­on zu ver­ar­bei­ten.

Wie aufs Stich­wort fuhr Ali­xen­as Dampf­mo­bil di­rekt in den um­zäun­ten und ab­ge­trenn­ten In­nen­hof ein und füll­te al­les mit ölig-ru­ßi­gem Dampf, der sich auf die oh­ne­hin schon ge­schwärz­ten Mau­ern leg­te. Fe­lix un­ter­drück­te ein Hus­ten und lob­te sich in­ner­lich für die Ent­schei­dung, an die­sem Tag sei­ne schwarz­blaue Uni­form und nicht die leuch­tend ro­ten Trau­er­klei­der zu tra­gen. Es wür­de rei­chen, sie für die Ze­re­mo­nie an­zu­le­gen.

Die War­la­dy ließ sich vom Fah­rer aus dem ho­hen Ge­fährt hel­fen und wirk­te da­bei schwach und zer­bro­chen. Als hät­te je­mand et­was sehr Hüb­sches ge­nom­men und ab­sicht­lich fal­len ge­las­sen. Und hübsch, das war sie. Das er­kann­te er in die­sem Au­gen­blick, in dem er sie zum ers­ten Mal oh­ne ei­ne ih­rer for­mel­len Rüs­tun­gen, oh­ne Helm und oh­ne Atem­schutz­mas­ke oder Schutz­bril­le sah. Gro­ße Au­gen, vol­le Lip­pen und ei­ne schma­le Tail­le. Ver­mut­lich war sie un­ter dem dun­kel­grü­nen Rei­se­an­zug mus­ku­lös, wie es sich für ei­ne Frau ge­hör­te, die an die drei­ßig Ein­hei­ten Me­tall an ih­rem Kör­per trug. Ei­ne wirk­lich wür­de­vol­le War­la­dy und ei­ne, an de­ren Sei­te sei­ne ei­ge­ne Schön­heit noch stär­ker strah­len wür­de.

Wenn er sich aus­rei­chend be­müh­te, konn­te er noch vor dem Ablauf der ge­setz­li­chen Trau­er­zeit der neue Lord Lue wer­den.

»Ich über­neh­me von hier an.« Er ver­beug­te sich vor Ali­xe­na und scheuch­te mit ei­ner klei­nen Hand­be­we­gung den Fah­rer von ihr fort.

So­fort nä­her­ten sich ei­ni­ge Jung­knech­te und mach­ten sich dar­an, den Wa­gen zu wa­schen und zu des­in­fi­zie­ren, ehe er in die Stal­lun­gen ge­fah­ren wer­den wür­de.

»Fe­lix, nicht wahr?« Sie nahm dank­bar sei­ne Hand und lehn­te sich leicht in sei­ne Rich­tung, als wä­re ihr nach der lan­gen Fahrt schwin­de­lig.

Vor­sich­tig hielt er sie am El­len­bo­gen fest – sie um die Hüf­te zu fas­sen, wag­te er noch nicht – und führ­te sie ins In­ne­re von Palast Lue. »Fe­lix M’nao. Ich war der obers­te Kam­mer­knecht von Lord Ge­ro und Ihr Ver­lust trifft mich tief. Schließ­lich stand ich ihm sehr na­he und war an sei­ner Sei­te, als er plötz­lich starb.«