hanshi charlie
Kampf- und
Lebenskunst
Wir sind nie fertig
Die Frühlingssonne scheint auf die Mittelmeerinsel Formentera. Thymian, Wacholder und Rosmarin verströmen ihren Duft. Es ist heiß und trocken. Die Vögel schweigen zu dieser Tageszeit. Unweit schlagen Wellen an eine Felsklippe. Durch die offene Tür zur Veranda klingt Mozart. Ein Klavierkonzert. Charlie Lenz erhebt sich aus einer hölzernen Liege. Die Siesta ist vorüber. Barfuß schlurft er durchs Haus. Sein nackter Oberkörper ist braungebrannt. Seine Augen sind zwei Schlitze. Durch sie blinzelt er in die flirrende Luft.
Draußen liegen Katzen im Schatten der Veranda. «Das sind Hektor, Baghira, Ellio und ihre Mutter, Mirza.» Charlie holt ihnen aus der Küche mit Wasser verdünnte Milch. «Kommt, kommt, ihr Lieben. Das ist für euch.» Nach dem Festmahl läuft eine der Katzen weg. Sie hat ein hellgraues Fell. «So ein schönes Tier.» Er rollt im selben Rhythmus wie sie mit den Schultern. «So möchte ich mich auch bewegen können. Sie liegen da, faul wie etwas, und im Nullkommanichts sind sie voll im Hier und Jetzt.»
Charlie atmet tief. «Diese Meeresluft. Hier komme ich wieder zu Kräften. Diese Insel gibt Energie ab. In der Nacht, wenn alles still ist, spürst du, wie sie vibriert. Bald ist Vollmond. Die Musik der Zikaden und Grillen und dazu der Mond. Das wird geil!»
Im Haus duftet es nach wilden Kräutern. In Bündel geordnet liegen 25 verschiedene Sorten auf dem großen Holztisch, fein säuberlich zu einem barocken Stillleben drapiert. Charlie hat sie auf den weitläufigen Terrassen rund um sein Haus und im nahen Pinienwald gesammelt, inmitten des Naturschutzgebiets der Insel. Er setzt die Kräuter in Glasflaschen mit Anisette dulce und seco an. Daraus entsteht sein hausgemachter Hierbas, der traditionelle Kräuterschnaps der Insel. Charlie hat vor sieben Jahren mit der Produktion begonnen. Saison um Saison verfeinert er die Mischung. «Du musst immer bereit sein, etwas Neues zu lernen, immer noch einen Schritt weiter zu gehen. Wir sind nie mit uns fertig.»
Von der Lederjacke zum Keikogi
Seine ersten Schritte hat Charlie Lenz 2’000 Kilometer östlich von Formentera gemacht, in Pichling bei Köflach. Der Ort liegt in der Steiermark, 40 Kilometer von Graz entfernt. Seit in der Umgebung 1766 die ersten Kohlevorkommen entdeckt wurden, ist das Bauerndorf zu einem Industrieort gewachsen. Ab 1846 siedelten sich die ersten Glasfabriken an. Die Stahlindustrie folgte. Alpinisten kennen den Namen Köflach wegen des gleichnamigen Skischuhherstellers, Pferdefreunde wegen des Lipizzaner-Gestüts im nahe gelegenen Dorf Piber, wo der Nachwuchs für die Spanische Hofreitschule in Wien herangezüchtet wird.
Am 28. April 1948 kommt Karl Rudolf Lenz, so sein katholischer Taufname, zur Welt. Ein Nesthäkchen, 15 Jahre nach seinem Bruder Johann, elf Jahre nach seiner Schwester Lisi und zwölf Jahre nach der ältesten Schwester Erna.
Die Familie lebt in einem Arbeiterwohnblock nahe dem Kohlebergwerk. Mutter Franziska arbeitet erst als Köchin, später am Förderband außerhalb des Stollens, wo das taube Gestein von der Kohle getrennt wird. Vater Johann schuftet als Dreher und Schlosser in der Grube. «Die hatten alle mit fünfzig Staublungen», sagt Charlie. Und so mancher eine angeschlagene Leber. Der Vater ist Alkoholiker. Das Bild, wie er in der Schubkarre nach Hause gekarrt wird, brennt sich dem Jungen ins Gedächtnis. Der Vater warnt ihn: «Du darfst alles werden, nur kein Kohle-Kumpel.»
«Wir waren arm», sagt Charlie. «Fleisch kam höchstens sonntags auf den Tisch. Einmal im Monat gab es Eiscrème.» Fernseher gab es noch keinen. «Die Nachbarin verlangte jeweils 50 Groschen, damit wir bei ihr «Lassie» oder «Fury» schauen konnten.»
In der Schule ist das Rechnen eine Plage. Im Sport, im Zeichnen, Malen und Singen blüht Karl auf. Seine Eltern ermöglichen ihm, Akkordeonstunden zu nehmen. Der japanischen Kampfkunst begegnet er erstmals in kleinen illustrierten Büchern von Erwin Bälz, einem deutschen Mediziner, der von 1876 bis 1905 als Universitätsprofessor und später Leibarzt der kaiserlichen Familie in Japan lebte. Bälz gilt einerseits als Mitbegründer der westlichen Schulmedizin in Japan. Andererseits ist er einer jener Pioniere, die Ju-Jitsu erstmals einem europäischen Publikum zugänglich gemacht haben.
«Die Illustrationen haben mich fasziniert. Da ging es darum, dass nicht derjenige mit mehr Körperkraft, sondern derjenige mit der besseren Technik gewinnt. Das hat mich interessiert, weil ich klein war und deshalb auch oft der Gehänselte. Als Junger versucht man ja, mit Kraft und Energie zu kämpfen. Später hab ich gelernt, dies mit möglichst wenig Aufwand zu tun.» Doch bis dahin ist der Weg noch lang.
1962, mit 14 Jahren, beginnt Karl eine Lehre als Dekorations- und Schriftenmaler, zuerst in Köflach, danach in Graz. Er pendelt mit der Eisenbahn, damals noch dampfbetrieben, an den Arbeitsplatz. Parallel besucht er Abendkurse an der Kunstgewerbeschule in Wiener Neustadt. Dort lernt er das Handwerk des Kirchenmalers.
In der Freizeit übt sich Köflachs Arbeiterjugend im Halbstarken-Habitus. Motorräder, Lederjacken und Sonnenbrillen sind die Insignien, wenn sich die Gangs zur wöchentlichen Schlägerei treffen. Oft schreitet die Polizei ein. Auch an jenem Samstag im Sommer 1963, der für Karl Lenz ein schicksalhafter wird.
Warnpfiffe tönen durch den Außenbezirk der verschlafenen Kleinstadt. Sie kündigen die beiden Polizeiwagen an, die bald mit Sirenengeheul um die Ecke biegen. Karl und vier Freunde machen sich auf drei Motorrädern aus dem Staub. Wenig später sitzen sie in einer Kneipe. Da steht plötzlich ein Mann am Tisch, der ihnen offensichtlich gefolgt ist.
«Darf ich mich setzen?»
«Wenn du eine Runde bezahlst, dann schon.»
Er bestellt und macht klar, dass er nicht von der Polizei ist.
«Ihr seid gute Kämpfer», sagt der Unbekannte. «Aber ihr kämpft am falschen Ort. Wenn ihr so weitermacht, seid ihr bald im Gefängnis.» Er macht den Halbstarken ein Angebot: «Ihr könnt bei mir in Graz trainieren. Ich unterrichte Judo und Ju-Jitsu.» Eine Woche später tauscht Karl seine Lederjacke mit dem Keikogi, dem traditionellen Gewand der japanischen Kampfkünste.
Schweizer Schokolade
Während Karl Lenz lernt, wie Wände verputzt, Farben gemischt, Tapeten aufgezogen, Ornamente gemalt und Fresken restauriert werden, ist sein älterer Bruder bereits weg von zu Hause. Johann Lenz arbeitet in der Schweiz als Flachmaler. Chur heißt die Kleinstadt, von der er erzählt, wenn er nach neun Monaten heimkehrt. In der Schweiz gilt das Saisonnier-Statut. Die Gastarbeiter müssen das Land jeweils für drei Monate verlassen, um dann wieder neun Monate arbeiten zu können. Die Wirtschaftswunderjahre stehen in den Sechzigern in voller Blüte. Die vom Krieg verschonte Schweiz braucht immer mehr Arbeitskräfte. Doch es geht die Angst um, dass diese Menschen nicht bloß arbeiten, sondern sich auch niederlassen. «Überfremdung» drohe der kleinen Schweiz, sagen die nationalkonservativen Kräfte.
Dabei wird das Land in diesen Jahren erst so richtig wohlhabend. Banken, Maschinen- und Uhrenindustrie florieren. Die Bauwirtschaft expandiert. 1950 zählt die Stadt Chur 20’000 Einwohner. 1970 sind es 30’000. Am Fuß des Hausbergs Calanda, nach dem das heimische Bier benannt ist, wachsen Wohnblocks in die Höhe. Junge Menschen aus den umliegenden Bergtälern finden in der Hauptstadt Graubündens ihr Auskommen. Spanier und Portugiesen mischen den Beton für den Fortschritt. Vor allem aber stammen die Immigranten aus Süditalien, aus Kalabrien, Apulien und Sizilien. Mit ihnen kommen auch Pizza, Spaghetti und Boccia in die Stadt.
Charlie erinnert sich an die Schokoladentafeln, die sein Bruder mit nach Hause brachte. «Sie waren lang, dick und besser als das, was wir gewohnt waren.» Und der Lohn, den der Bruder im Sack hat, ist doppelt so hoch, als wenn er in Österreich arbeiten würde. Mit 18 Jahren schließt Charlie seine Lehre ab. Er folgt dem älteren Bruder in die Schweiz. Im Gepäck hat er sein Keikogi und den braunen Gurt im Judo.
Seine erste Stelle bekommt Charlie bei Theo Meier in Bad Ragaz, 20 Minuten von Chur entfernt. Der Unternehmer hat sich auf Restaurationen alter Gebäude spezialisiert. Durch diese Arbeit wird Charlie in den kommenden Jahren die Kirchen und Klöster Graubündens kennenlernen. Beispielsweise die weltberühmte romanische Kirche in Zillis oder das Kloster St. Johann in Müstair. So mancher verblichene Engel und Heilige in Graubünden hat sein Fortleben der Handwerkskunst von Charlie zu verdanken. Dem jungen Österreicher gefällt Chur mit seinem Umland aus Bergen und Wäldern. Es erinnert ihn an seine Heimat. Nur die Perspektiven sind hier andere. Bald sitzt er erstmals in einem Mercedes-Benz, als ihn der Chef auf eine Spritztour mitnimmt.
Nach neun Monaten geht’s nach Hause. Charlie muss ins österreichische Militär. In Strass und Wiener Neustadt, demselben Ort, wo er in Abendkursen gelernt hat, Engelsflügel zu malen, dient er seine 15 Monate in schweren Soldatenschuhen ab. Die Ausbilder wollen ihn behalten. Als Nahkampf-Lehrer. Charlie lehnt ab. «Erstens haben die schlecht gezahlt. Und zweitens war es ja das Militär.» Charlie packt wieder die Koffer und fährt nach Chur.
Japanische Kampfkünste sind in den Sechzigerjahren lange nicht so verbreitet wie heute. In der Schweiz gibt es zwar seit 1937 einen Judoverband. Graubünden und Chur sind zu jener Zeit jedoch noch Brachland in Sachen Judo, Karate oder Ju-Jitsu. Auch hier geben Einwanderer den entscheidenden Impuls. Charlie Lenz lernt Albert Klein kennen, einen österreichischen Judoka, der in Chur in einer Garage arbeitet. Der deutsche Werner Siemann trainiert den Boxclub Chur. Die drei beginnen sich auszutauschen, starten gemeinsame Trainings. Erst im nahe gelegenen Ems, dann in Chur selbst. Sie gründen den Judoclub Chur, der seine Trainings in verschiedenen Turnhallen in Schulhäusern anbietet. Die ersten Schüler zeigen Interesse. Unter ihnen ist eine junge Frau, die aus St. Gallen nach Graubünden gekommen ist. Sie hat ein Judo-Gewand im Gepäck.
JU-JITSU – DIE SANFTE KUNST
Ju-Jitsu gilt als Urform der japanischen Kampfkünste. Sie beinhaltet die Grundlagen der Techniken sämtlicher anderen Formen. Judo, Karate oder Aikido haben sich aus dem Ju-Jitsu heraus entwickelt. Übersetzt bedeutet Ju-Jitsu «Sanfte nachgebende Kunst». Ziel dieser Kunst ist es, den Angreifer möglichst effizient kampfunfähig zu machen. Ju-Jitsu ist eine reine Selbstverteidigungs-Disziplin, weshalb sie sich für Wettkämpfe schlecht eignet.
Das philosophische Prinzip definiert «Siegen durch Nachgeben.» Es geht zurück auf den Entstehungsmythos des Ju-Jitsu. 1632 gründet der japanische Arzt und Kampfkünstler Shirobei Yoshitoki Akiyama in Nagasaki die Weidenherz-Schule. Sein Ansatz basiert auf einer Naturbeobachtung: Die Äste der starken Eiche brechen unter der Schneelast, während die Zweige der weichen Weide nachgeben und dadurch unbeschadet bleiben. Akiyama schließt daraus, dass «das Sanfte das Starke» beherrscht. Diese Erkenntnis deckt sich auch mit seinen Studien des chinesischen «Tao Te King» von Laotse. Darin werden die Wirkungskräfte von Yin und Yang beschrieben. Dieser Denkweise folgend entwickelt er eine Kampftechnik, die die Kraft des Angreifers gegen diesen selbst einsetzt. Dazu werden Schlag-, Tritt-, Stoß-, Wurf-, Hebel- und Würgetechniken trainiert.
Verschiedentlich wird Ju-Jitsu als die waffenlose Selbstverteidigung der Samurai beschrieben. Entwickelt wurde diese Form jedoch zuerst von Bürgern und Bauern, denen das Tragen eines Schwerts untersagt war. Sie waren deshalb der Willkür der Samurai ausgesetzt und begannen damit, sich waffenlos gegen die Krieger zu verteidigen. Beeindruckt von der Effizienz des Ju-Jitsu übernahmen die Samurai diese Kampftechnik im Laufe der Zeit daher in ihr eigenes Repertoire.