Christelle Dabos

Die Verschwundenen vom Mondscheinpalast

Band 2 der Spiegelreisenden-Saga

Roman

Aus dem Französischen von Amelie Thoma

Insel Verlag

Inhalt

Was im ersten Buch geschah

An Bord der Himmelsburg

Fragment: Erinnerung

Die Geschichtenerzählerin

Die Partie

Die Göre

Die Verträge

Fragment: Erste Wiederholung

Der Brief

Das Theater

Die Puppe

Die Geschichten

Der Vergessene

Die Pfeife

Die Frage

Der Affront

Die Versprechen

Die Türglocke

Der Kunde

Fragment: Zweite Wiederholung

Der Zug

Die Familie

Die Leserin

Das Datum

Der Wetterstorch

Die Mütter

Die Karawane

Die Geächteten

Die Einladung

Der Schwindel

Fragment: Dritte Wiederholung

Die Abwesenden

Das Siegel

Der Ring

Die Manufaktur

Die Sandinen

Die Sackgasse

Fragment: Vierte Wiederholung

Der Schrei

Der Nicht-Ort

Die Finsternis

Die Ankündigung

Die Matratzen

Die Kunst zu sterben

Das Herz

Der Handel

Die Lektüre

Fragment: Fünfte Wiederholung

Die Erinnerung

Der Urahn

Das Urteil

Der Spiegelreisende

Fragment: Postskriptum

Hinweis der Autorin

Dank

Was im ersten Buch geschah

Die Verlobten des Winters

Nachdem der Riss die ursprüngliche Welt zerstört hat, gibt es nur noch vereinzelt in der Luft hängende Inseln, die sogenannten Archen. Auf ihnen leben Familien, die über besondere Kräfte verfügen und jeweils von einem Urahn, dem »Familiengeist«, geführt werden.

Ophelia kann sich durch Spiegel von einem Ort zum anderen bewegen, eine seltene Fähigkeit unter den Bewohnern der Arche Anima. Außerdem ist sie tollpatschig, zurückhaltend und ungesellig, aber vor allem eine herausragende Leserin: Sobald sie einen Gegenstand anfasst, liest sie dessen Geschichte, indem sie die Gedanken und Gefühle all jener wahrnimmt, die ihn vor ihr berührt haben.

Als eine arrangierte Ehe sie zwingt, ihre vertraute Umgebung und ihre Familie zu verlassen und auf die weit entfernte Arche Pol zu ziehen, bricht für sie eine Welt zusammen. Ihr Verlobter Thorn ist ein ruppiger und unergründlicher Mann. An seiner Seite entdeckt Ophelia die schwebende Himmelsburg, die ganz aus Verzerrungen des Raums und optischen Täuschungen besteht. Rund um den gemeinsamen Urahn Faruk, den allmächtigen und unsterblichen Familiengeist, kreist dort ein Hofstaat rivalisierender Klans, die einander in einer bösartigen Mischung aus List, Manipulation, Täuschung und Verrat begegnen. Zu allem Überfluss ist Thorn auch noch Intendant des Pols, weshalb ihn niemand leiden kann.

Unsanft in diese erbarmungslose Umgebung verpflanzt, lernt Ophelia, zunächst hinter den Kulissen, eine Welt kennen, in der sie niemandem trauen kann. Da sie ihre Identität bis zur Hochzeit geheim halten muss, bekommt sie, als Page verkleidet, das wahre Gesicht der Stadt und ihrer Bewohner zu sehen. Sie erfährt auch von Faruks Buch, einem uralten und geheimnisvollen Dokument, von dem der Familiengeist regelrecht besessen ist, und erkennt eine schreckliche Wahrheit: Thorn will sie nur heiraten, um ihre Lese-Fähigkeit zu erben und damit das Buch zu entschlüsseln.

Gerade als Ophelia ein Telegramm erhält, das die baldige Ankunft ihrer Familie am Pol ankündigt, werden Thorn und seine Tante Berenilde von einem harten Schicksalsschlag getroffen: Als letzte Überlebende des Drachen-Klans müssen sie Faruk um seinen Schutz bitten. Und so macht Ophelia sich bereit, am Hof eingeführt zu werden; erfüllt von einer neuen Entschlossenheit, nimmt sie sich fest vor, in diesem Labyrinth der Illusionen ihren eigenen Weg zu finden.

 

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An Bord der Himmelsburg

7 Faruks Gemächer

6 Frauentrakt

5 Seebrücke

4 Familienoper

3 Thermen

2 Hängende Gärten

1 Ratssaal

0 Botschaft im Mondscheinpalast

a Intendanz

b Polizeihauptwache

c Manufaktur Hildegard & Co.

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Fragment: Erinnerung

Am Anfang waren wir eins. Aber Gott befand, dass wir ihm so nicht genügten, also machte Er sich daran, uns zu trennen. Gott amüsierte sich köstlich mit uns, bis Er unser überdrüssig wurde und uns vergaß. Er konnte so grausam sein in seiner Gleichgültigkeit, dass Er mir Furcht einflößte. Dann wieder zeigte Er sich freundlich, und ich liebte Ihn, wie ich niemanden je geliebt habe.

Ich glaube, wir hätten alle irgendwie glücklich sein können, Gott, ich und die anderen, ohne dieses vermaledeite Buch. Ich verabscheute es. Von dem Band, das mich auf die widerwärtigste Art und Weise daran kettete, wusste ich, doch dieses Grauen kam erst später, viel später. Ich habe es nicht gleich verstanden, ich war zu unwissend.

Ja, ich liebte Gott, aber ich hasste dieses Buch, das Er wegen der geringsten Kleinigkeit aufschlug. Er jedoch hatte sein Vergnügen damit! Wenn Gott zufrieden war, schrieb Er. Wenn Gott erzürnt war, schrieb Er. Und eines Tages, als Er äußerst verstimmt war, beging Er eine ungeheure Torheit.

Gott brach die Welt in Stücke.

*

Jetzt erinnere ich mich, Gott wurde bestraft. An jenem Tag verstand ich, dass Gott nicht allmächtig war. Seitdem habe ich ihn nie wiedergesehen.

Die Geschichtenerzählerin

Die Partie

Ophelia war geblendet. Sobald sie einen Blick unter ihrem Schirm hervor wagte, traktierte die Sonne sie von allen Seiten: Sie knallte vom Himmel herab, spiegelte sich im lackierten Holz der Promenade, ließ die Wellen glitzern und die Juwelen der Höflinge erstrahlen. Trotzdem sah Ophelia genug, um festzustellen, dass sowohl Berenilde als auch Roseline nicht mehr da waren.

Es war nicht zu leugnen: Sie hatte sich verlaufen.

Kein guter Anfang für jemanden, der am Hof mit dem festen Vorsatz erschienen war, dort seinen Platz zu finden. Ophelia hatte eine Audienz bei Faruk, dem sie offiziell vorgestellt werden sollte, und es war alles andere als ratsam, diesen Familiengeist warten zu lassen.

Wo mochte er sich wohl aufhalten? Im Schatten der hohen Palmen? In einem der prunkvollen Grandhotels, die die Küstenlinie säumten? In einer Strandkabine?

Ophelia stieß sich die Nase am Himmel. Sie hatte sich über die Balustrade gebeugt, um nach Faruk Ausschau zu halten, doch das Meer war nur eine Mauer. Ein riesiges, bewegliches Fresko, dessen Wellenrauschen ebenso künstlich war wie der Horizont und der Duft nach heißem Sand. Ophelia rückte ihre Brille zurecht und musterte die Umgebung. Beinahe alles hier war unecht: die Palmen, die Springbrunnen, das Meer, die Sonne, der Himmel und die Wärme. Selbst die Hotels waren vielleicht nur Fassaden ohne etwas dahinter.

Was sollte es auch sonst sein, wenn man sich im fünften Stock eines Turms befand und dieser Turm eine Stadt überragte, die wiederum über einer eisigen Arche schwebte, deren aktuelle Temperaturen sich bei minus fünfzehn Grad bewegten? Die Leute hier mochten den Raum noch so sehr verzerren und an allen Ecken und Enden Trugbilder erschaffen, irgendwann stieß auch ihre Kreativität an gewisse Grenzen.

Ophelia misstraute diesem Schwindel, aber noch mehr misstraute sie jenen, die ihn benutzten, um andere zu manipulieren. Deswegen fühlte sie sich besonders unwohl inmitten der Höflinge, die sie achtlos anrempelten.

Sie waren samt und sonders Miragen, Meister des Illusionenwebens.

Zwischen all den imposanten Menschen mit ihren hellen Haaren, blassen Augen und Klan-Tätowierungen fühlte Ophelia sich kleiner, dunkelhaariger, kurzsichtiger und fremder denn je. Manche warfen ihr verwunderte Blicke zu. Sicher fragten sie sich, was dieses Fräulein hier verloren hatte, das sich verzweifelt unter seinem Schirm zu verstecken suchte. Doch Ophelia hütete sich, es ihnen auf die Nase zu binden. Sie war allein und schutzlos, und wenn herauskäme, dass sie die Verlobte Thorns war, des meistgehassten Mannes am Pol, wäre ihre Haut keinen Pfifferling mehr wert. Oder ihr Geist. Von ihren letzten misslichen Abenteuern hatte sie eine geprellte Rippe, ein blaues Auge und einen tiefen Kratzer an der Wange davongetragen. Besser, sie machte es nicht noch schlimmer.

In einer Hinsicht immerhin waren diese Miragen Ophelia hilfreich: Sie strebten alle einer auf Pfählen erbauten Seebrücke zu, die dank einer ziemlich gelungenen optischen Täuschung den Anschein erweckte, sie rage von der Strandpromenade auf das falsche Meer hinaus. Mit zusammengekniffenen Augen erspähte Ophelia an deren Ende einen riesigen, im grellen Sonnenlicht funkelnden Bau aus Glas und Metall. Diese Seebrücke war kein neues Trugbild, sondern ein wahrhaftiger Herrscherpalast.

Wenn Ophelia Faruk, Berenilde und Roseline irgendwo finden konnte, dann sicher dort.

Also folgte sie dem Strom der Höflinge, bemüht, so wenig wie möglich aufzufallen. Doch da hatte sie die Rechnung ohne ihren Schal gemacht. Halb um ihre Wade geschlungen, halb über den Boden peitschend, führte er sich auf wie eine liebestolle Boa constrictor. Ophelia war es nicht gelungen, ihn abzustreifen. Sosehr sie sich einerseits freute, den treuen Golem nach wochenlanger Trennung gesund und munter wiederzusehen, hätte sie doch lieber nicht so offensichtlich zur Schau gestellt, dass sie Animistin war. Zumindest nicht, bis sie Berenilde wiedergefunden hatte.

Als sie an einem Zeitungskiosk vorbeikam, hielt sie sich ihren Schirm noch etwas tiefer vors Gesicht. Auf allen Titelseiten prangte die Schlagzeile:

DAS ENDE DER DRACHEN

WER ANDERN EINE GRUBE GRÄBT, FÄLLT SELBST HINEIN

Ophelia fand das absolut geschmacklos. Die Drachen waren ihre Schwiegerfamilie, und sie waren allesamt unter tragischen Umständen in den Wäldern ums Leben gekommen. Für die Höflinge bedeutete dies jedoch nur, dass es einen rivalisierenden Klan weniger gab.

Ophelia betrat die Seebrücke. Was zuvor nur ein diffuses Glitzern gewesen war, verwandelte sich nun in ein architektonisches Feuerwerk. Der Palast war noch gigantischer, als sie erwartet hatte. Seine goldene Kuppel, deren Spitze sich wie ein Pfeil gen Himmel reckte, machte der Sonne Konkurrenz. Dabei war sie bloß das i-Tüpfelchen auf einem unendlich viel größeren, hie und da mit orientalischen Türmchen verzierten Bauwerk.

›Und das alles‹, dachte Ophelia, während sie ihren Blick über den Palast, das Meer, das Gewimmel der Höflinge schweifen ließ, ›das alles ist nur die fünfte Etage von Faruks Turm.‹

Jetzt bekam sie langsam wirklich weiche Knie.

Ihre Nervosität verwandelte sich in Panik, als sie zwei Hunde, weiß und groß wie Eisbären, auf sich zukommen sah. Die beiden Tiere starrten sie unverwandt an, doch es waren nicht sie, die Ophelia derart in Schrecken versetzten, sondern ihr Besitzer. Ophelia traute ihren Augen nicht, als sie die blonden Löckchen, die flaschenbodendicken Brillengläser, das pausbäckige Engelsgesicht wiedererkannte.

Der Kavalier. Der Mirage, ohne den die Drachen noch am Leben wären.

»Guten Tag, Mademoiselle. Geht Ihr alleine spazieren?«

Er mochte wirken wie ein ganz gewöhnlicher kleiner Junge – sogar noch ein bisschen unbeholfener als andere kleine Jungen –, trotzdem war er eine Plage, die kein Erwachsener in den Griff bekam, und wurde von seiner eigenen Familie gefürchtet. Im Allgemeinen beschränkten sich die Miragen darauf, ihre Umgebung mit Trugbildern zu überziehen; der Kavalier dagegen pflanzte sie den Menschen direkt in ihre Köpfe. Diese pervertierte Gabe war seine Spezialität. Er hatte sie benutzt, um ein Zimmermädchen in den Wahnsinn zu treiben, Ophelias Tante Roseline in deren Erinnerungen einzusperren, wilde Bestien während der Jagd gegen die Drachen aufzuhetzen, und all das, ohne sich jemals dabei erwischen zu lassen.

Ophelia konnte nicht glauben, dass niemand am gesamten Hof ihn daran hinderte, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen.

»Ihr scheint Euch verlaufen zu haben«, bemerkte der Kavalier mit ausgesuchter Höflichkeit. »Möchtet Ihr, dass ich Euch begleite?«

Ophelia antwortete ihm nicht. Sie war außerstande zu entscheiden, ob eher ein Ja oder ein Nein ihr Ende besiegeln würde.

»Da seid Ihr ja endlich! Wo wart Ihr denn nur abgeblieben?«

Zu Ophelias größter Erleichterung sah sie Berenilde durch die Menge der Höflinge auf sie zustreben, anmutig und gelassen wie ein Schwan, der über die Oberfläche eines Sees gleitet. Als sie Ophelia jedoch unterhakte, drückte sie deren Arm mit aller Kraft.

»Guten Tag, Madame Berenilde«, stammelte der Kavalier.

Seine Wangen glühten. Linkisch wischte er die feuchten Hände an seinem Matrosenhemd ab.

»Beeilt Euch, meine Liebe«, sagte Berenilde zu Ophelia, ohne den Kavalier einer Antwort oder auch nur eines Blickes zu würdigen. »Die Partie ist beinahe zu Ende. Eure Tante hält uns einen Platz frei.«

Der Gesichtsausdruck des Kavaliers, dessen dicke Brillengläser seine Augen seltsam verzerrten, war schwer zu deuten, aber Ophelia hätte schwören können, dass er sehr betroffen war. Sie verstand dieses Kind einfach nicht. Es erwartete doch wohl kaum Dankbarkeit dafür, dass es einen ganzen Klan ausgelöscht hatte?

»Sprecht Ihr nicht mehr mit mir, gnädige Frau?«, fragte er tatsächlich mit banger Stimme. »Habt Ihr nicht ein einziges Wort für mich übrig?«

Berenilde zögerte kurz, ehe sie ihm ihr schönstes Lächeln zeigte.

»Wenn Euch so sehr daran gelegen ist, Kavalier, habe ich sogar sieben Worte für Euch: Euer Alter wird Euch nicht ewig schützen.«

Mit dieser fast beiläufig hingeworfenen Prophezeiung wandte sie sich dem Palast zu. Als Ophelia sich noch einmal umdrehte, lief es ihr eiskalt über den Rücken. Das Gesicht vor Eifersucht verzerrt, starrte der Kavalier nicht Berenilde, sondern sie, Ophelia, an. Wäre er imstande, seine Hunde auf sie zu hetzen?

»Der Kavalier steht zuoberst auf der Liste der Personen, mit denen Ihr unter keinen Umständen allein bleiben dürft«, flüsterte Berenilde, wobei sie Ophelias Arm noch etwas fester drückte. »Hört Ihr denn niemals auf meinen Rat?« Dann beschleunigte sie ihren Schritt und fügte hinzu: »Beeilen wir uns, die Partie ist gleich zu Ende, wir dürfen unseren Seigneur auf keinen Fall warten lassen.«

»Welche Partie?«, hechelte Ophelia.

Ihre geprellte Rippe schmerzte mehr und mehr.

»Ihr werdet einen guten Eindruck auf unseren Seigneur machen!«, gebot Berenilde noch immer lächelnd. »Wir haben inzwischen sehr viel mehr Feinde als Verbündete und sind auf seinen Schutz angewiesen. Wenn Ihr ihm nicht auf den ersten Blick gefallt, ist das unser aller Todesurteil.«

Und indem sie sich eine Hand auf den Bauch legte, bezog sie ihr ungeborenes Kind in diese Erklärung mit ein.

Ophelia, die andauernd versuchte, ihren Schal abzuschütteln, der sie beim Gehen behinderte, fühlte sich durch diese Worte nicht gerade ermutigt. Sie war umso besorgter, da sie noch das Telegramm ihrer Familie in der Tasche hatte. Alarmiert durch Ophelias Schweigen, hatten ihre Eltern, Onkel, Tanten, Geschwister und Cousins beschlossen, ihre Reise zum Pol um einige Monate vorzuziehen. Natürlich hatten sie keine Ahnung, dass auch ihre Sicherheit allein von Faruks gutem Willen abhing.

Ophelia und Berenilde waren in der Rotunde angekommen, die von innen noch viel beeindruckender wirkte als von außen. Fünf Galerien gingen strahlenförmig von ihr ab, jede einzelne gewaltiger als das Hauptschiff einer Kathedrale. Das leiseste Hofgeflüster, das geringste Kleiderrascheln wurde unter den riesigen Glasdächern ungeheuer verstärkt. Hier verkehrte nur die feine Gesellschaft: Minister, Konsuln, Künstler und ihre derzeitigen Musen.

Ein Diener in goldener Livree näherte sich Berenilde.

»Wenn die Damen mir gnädigst in den Gänsegarten folgen wollen. Seigneur Faruk wird sie dort empfangen, sobald die Partie zu Ende ist.«

Er wies auf eine der fünf Galerien, während er Ophelia den Schirm abnahm.

Als er sie auch von dem Schal befreien wollte, verwundert darüber, dieses Accessoire um ein so unpassendes Körperteil gewickelt zu finden, wehrte sie höflich ab: »Den behalte ich lieber. Glaubt mir, er lässt mir keine Wahl.«

Mit einem kleinen Seufzer überprüfte Berenilde, ob Ophelias Hutschleier auch ja ihr Gesicht hinter einem Vorhang aus Spitze verbarg.

»Zeigt um Himmels willen nicht Eure Verletzungen, das wäre furchtbar geschmacklos. Wenn Ihr Euch geschickt anstellt, könnt Ihr in Zukunft die Seebrücke als Euer zweites Zuhause betrachten.«

Insgeheim fragte sich Ophelia, was wohl ihr erstes Zuhause sein mochte. Seit sie am Pol angekommen war, hatte sie Berenildes Anwesen kennengelernt, den Mondscheinpalast und die Intendanz ihres Verlobten, doch nirgends hatte sie sich zu Hause gefühlt.

Gerade als der Diener sie in einen riesigen gläsernen Pavillon führte, brandete dort Applaus auf, durchsetzt von vereinzelten Rufen: »Bravo!«, »Genialer Zug, Seigneur!«. Durch den weißen Spitzenschleier konnte Ophelia kaum erkennen, was unter den Palmen dieses überdachten Gartens vor sich ging. Auf dem Rasen stand eine Schar perückenbewehrter Adliger rund um etwas, das aussah wie ein Labyrinth. Ophelia war zu klein, um über die Schultern der vor ihr Stehenden einen Blick darauf zu erhaschen, doch Berenilde bahnte ihnen mühelos einen Weg in die vorderste Reihe: Sobald die Adligen sie bemerkten, wichen sie ganz von allein vor ihr zurück, weniger aus Höflichkeit, als um einen Sicherheitsabstand zu wahren. Sie warteten Faruks Urteil ab, ehe sie ihr Verhalten dem seinen anpassten.

Als Ophelias Tante sie mit Berenilde herankommen sah, verbarg sie ihre Erleichterung hinter einer säuerlichen Miene.

»Irgendwann wirst du mir erklären müssen«, flüsterte sie erbost, »wie ich über die Tugendhaftigkeit eines gewissen Fräuleins wachen soll, das mir alle naselang ausbüxt.«

Hier vorne hatte Ophelia eine perfekte Sicht auf die Partie. Das Spielfeld bestand aus einer Reihe nummerierter Steinplatten, die zu einem schneckenförmigen Weg angeordnet waren. Auf einigen dieser Platten standen an Pfähle gebundene Gänse. Zwei Diener hatten ihre Positionen auf dem Feld eingenommen und warteten anscheinend auf Anweisungen.

Ophelia folgte den Blicken der Anwesenden, die alle denselben Punkt fixierten: eine kleine runde, ein wenig erhöhte Bühne am Rand des Labyrinths. Darauf saß an einem Tischchen, das ebenso weiß lackiert war wie die Bühne, ein Spieler und schüttelte die Faust. Es bereitete ihm ganz offensichtlich größtes Vergnügen, die Zuschauer auf die Folter zu spannen. Ophelia erkannte ihn an seinem aufgeschlitzten Zylinder und dem breiten, frechen Grinsen: Es war Archibald, Faruks Botschafter.

Als er endlich die Hand öffnete, hallte das Klackern der Würfel durch die Stille.

»Sieben!«, verkündete der Zeremonienmeister.

Sofort ging einer der Diener sieben Felder weiter und verschwand zu Ophelias Verblüffung in einem Loch.

»Unser Botschafter hat wirklich kein Glück im Spiel«, bemerkte jemand hinter ihr süffisant. »Das ist schon seine dritte Partie, und er landet jedes Mal auf den Brunnen.«

Archibalds Anwesenheit beruhigte Ophelia in gewisser Weise. Er hatte zwar seine Fehler, aber hier in diesem Umfeld war er trotzdem das, was einem Freund am nächsten kam. Und er hatte den Vorzug, dem Klan des Gespinstes anzugehören. Denn der Hofstaat bestand bis auf wenige Ausnahmen nur aus Miragen, deren kaum verhohlene Feindseligkeit die Atmosphäre vergiftete. Wenn sie alle so heimtückisch waren wie der Kavalier, dann konnte sie sich auf eine reizende Zeit gefasst machen.

Wie der Rest des Publikums wandte Ophelia nun ihre Aufmerksamkeit dem anderen Spieler auf der Empore zu. Durch ihren Hutschleier hindurch glaubte sie zuerst nur einen Haufen Diamanten zu sehen, bis sie begriff, dass diese zu den zahlreichen Favoritinnen gehörten, die Faruk in einem Gewirr aus Armen umschlangen. Eine kämmte sein langes, weißes Haar, eine andere schmiegte sich an seinen Oberkörper, die nächste kniete zu seinen Füßen und so weiter. Den Ellbogen auf den viel zu kleinen Tisch gestützt, schien Faruk diesen Liebkosungen gegenüber ebenso gleichgültig wie dem Spiel, dem er sich widmete. Zumindest vermutete Ophelia dies, da er seinen Wurf mit einem lauten Gähnen begleitete. Sein Gesicht konnte sie von ihrer Position aus nicht erkennen.

»Fünf!«, säuselte der Zeremonienmeister inmitten von Beifall und Jubelrufen.

Der zweite Diener sprang sofort von Platte zu Platte. Jedes Mal kam er auf ein Feld mit einer Gans, die lauthals schnatternd versuchte, ihn in die Waden zu zwicken, doch er lief weiter, immer wieder fünf Felder bis zur nächsten Gans, und landete schließlich genau im Ziel, im Zentrum der Spirale, während das Publikum ihn feierte wie einen Olympiasieger. Faruk hatte die Partie gewonnen. Ophelia fand das alles vollkommen unwirklich. Sie hoffte nur, dass irgendjemand rasch den anderen Diener aus seinem Loch befreien würde.

Auf der Bühne trat unterdessen ein kleiner Mann in weißem Anzug an Faruk heran. Er hielt etwas in der Hand, das aussah wie ein Etui mit Schreibutensilien. Ein strahlendes Lächeln auf den Lippen, flüsterte er dem Familiengeist etwas ins Ohr. Verwundert sah Ophelia, wie dieser achtlos, und ohne zuvor eine Zeile davon zu lesen, das Papier unterzeichnete, das der Mann ihm gereicht hatte.

»Nehmt Euch ein Beispiel an Graf Boris«, raunte Berenilde ihr zu. »Er hat den richtigen Moment abgepasst, um neue Ländereien zu erhalten.«

Ophelia hörte sie nicht. Sie hatte einen weiteren Mann auf der Empore bemerkt, der ihre ganze Aufmerksamkeit gefangen nahm. Er hielt sich im Hintergrund, reglos und finster, und wäre vielleicht niemandem aufgefallen, wenn nicht plötzlich der Deckel seiner Taschenuhr ein lautes Klacken von sich gegeben hätte. Bei seinem Anblick begann Ophelia innerlich so sehr zu kochen, dass ihre Ohren glühten.

Thorn.

Seine schwarze Uniform mit Offizierskragen und den schweren Epauletten war sicher nicht für die – zwar künstliche, aber doch sehr spürbare – Bruthitze unter dem Glasdach geeignet. Stocksteif, akkurat vom Kopf bis zu den Füßen und schweigsam wie ein Schatten, schien er sich in der extravaganten Umgebung des Hofes überhaupt nicht wohlzufühlen.

Ophelia hätte alles dafür gegeben, ihn nicht hier zu sehen. Er würde wie üblich die Situation an sich reißen und ihr vorschreiben, was sie zu tun hatte.

»Die gnädige Frau Berenilde und die Damen aus Anima!«, verkündete der Zeremonienmeister.

Ophelia holte tief Luft, als sich in einer bleiernen Stille, die nur vom Schnattern der Gänse unterbrochen wurde, alle Köpfe zu ihr umwandten. Nun war der Moment gekommen, endlich war sie am Zug.

Sie würde ihren Platz finden, ob es Thorn passte oder nicht.