Christelle Dabos
Das Gedächtnis von Babel
Band 3 der Spiegelreisenden-Saga Roman
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
Insel Verlag
Was im zweiten Buch geschah
Der Abwesende
Das Fest
Die Abkürzung
Das Reiseziel
Die Trennung
Das Rad-schi
Die Erinnerung
Die Virtuosen
Die Bewerbung
Die Tradition
Das Gerücht
Reise
Die Handschuhe
Der Leser
Der Unglücksrabe
Die Willkommene
Überraschung
Die Sklavin
Die Verbote
Die Raubkatze
Der Kompass
Die Schreckgestalt
Der Wiedergefundene
Das Misstrauen
Der Automat
Der Hausmeister
Das Ungesagte
Der Rückblick
Der Verrat
Schatten
Der Staub
Das Rot
Die Datierung
Die Vorladung
Das Dazwischen
Die Zeremonie
Die Worte
Die Schublade
Der Name
Das Entsetzen
Dummheit
Der Andere
Dank
Die Verschwundenen vom Mondscheinpalast
Aufgrund eines Missverständnisses wird Ophelia zur Vize-Erzählerin am Hofe Faruks, des Familiengeistes der Arche Pol, ernannt. Sie taucht in das Leben der Himmelsburg ein und sieht die Kehrseite ihrer glänzenden Fassaden: Unter dem Schleier prächtiger Illusionen sind die Seelen der Menschen verdorben. Das Verschwinden einiger Adliger bringt sie bald dazu – diesmal als Leserin –, die Spur eines Erpressers zu verfolgen, der behauptet, im Namen »Gottes« zu handeln. Dieser nimmt auch Ophelia ins Visier, als Faruk sich ihrer Fähigkeit bedienen will, um das Geheimnis seines Buches zu ergründen. Jeder Familiengeist besitzt ein solches unentzifferbares Manuskript als letzte Spur seiner vergessenen Kindheit. Von Ophelias Lektüre dieses Buches hängt schließlich Thorns Leben ab, der zur Höchststrafe, der Verstümmelung und Verbannung, verurteilt ist.
Was Ophelia herausfindet, übertrifft ihre kühnsten Vorstellungen. Gott existiert tatsächlich. Er ist der Schöpfer der Familiengeister, der Urahn all ihrer Nachkommen, Herr über deren Schicksal und Zensor des kollektiven Gedächtnisses!
Vor allem aber kann er das Aussehen und die Kräfte jedes Menschen annehmen, dem er einmal begegnet ist. Diese schmerzvolle Erfahrung machen Ophelia und Thorn, als Gott sie im Gefängnis besucht. Dort kündigt er ihnen auch an, dass das Schlimmste erst noch bevorsteht: Der »Andere« sei sehr viel gefährlicher als er selbst … und ausgerechnet Ophelia habe diesen Anderen bei ihrer allerersten Spiegelreise befreit, ohne es zu wissen.
Thorn, der durch die Hochzeit selbst zum Spiegelgänger geworden ist, nutzt seine neue Kraft, um aus dem Gefängnis zu entkommen.
Ophelia wird von den Doyennen gezwungen, den Pol zu verlassen und nach Anima zurückzukehren, wo sie sich allein mit all ihren Fragen wiederfindet. Wer ist der Andere? Hat wirklich er den Riss verursacht? Warum will er die Archen zum Einsturz bringen? Wird tatsächlich sie es sein, die Gott zu ihm führt?
Doch eine Frage quält sie am allermeisten.
Wo ist Thorn?
I. |
Anima, die Arche von Artemis (Beherrscherin der Dinge) |
II. |
Der Pol, die Arche Faruks |
III. |
Totem, die Arche der Venus (Herrin der Tiere) |
IV. |
Zyklop, die Arche des Uranus |
V. |
Flora, die Arche Belisamas |
VI. |
Plombor, die Arche des Midas |
VII. |
Pharos, die Arche des Horus (Meister der Verführung) |
VIII. |
Serenissima, die Arche Famas |
IX. |
Heliopolis, die Arche Luzifers |
X. |
Babel, die Arche der Zwillinge Pollux und Helene |
XI. |
Die Wüste, die Arche Dschinns (Beherrscher der Wasser) |
XII. |
Tatar, die Arche Gaias (Beherrscherin der Erdkräfte) |
XIII. |
Zephir, die Arche Olymps (Beherrscher des Windes) |
XIV. |
Titan, die Arche Yins (Beherrscherin der Masse) |
XV. |
Korpolis, die Arche des Zeus |
XVI. |
Síd, die Arche Persephones |
XVII. |
Selene, die Arche von Morpheus |
XVIII. |
Vesperal, die Arche Wiraquchas |
XIX. |
Al-Ondalus, die Arche von Re (Meister der Empathie) |
XX. |
Stern, neutrale Arche (Sitz der interfamiliären Institutionen) |
Es wird einmal
in nicht allzu ferner Zeit
die Welt endlich in Frieden leben.
In jenen Tagen
wird es neue Männer geben
und es wird neue Frauen geben.
Dies wird das Zeitalter der Wunder sein.
Die Uhr näherte sich in beachtlichem Tempo. Es war eine riesige Burgunder Uhr auf Rollen mit einem Pendel, das laut die Sekunden schlug. Ophelia sah nicht alle Tage ein Möbel von solcher Statur auf sich zurasen.
»Bitte entschuldigt, liebe Cousine«, rief ein junges Mädchen, das die Leine der Uhr mit aller Kraft umklammert hielt. »Sie ist normalerweise nicht so aufdringlich. Zu ihrer Entschuldigung sei gesagt, dass Mama sie nicht oft spazieren führt. Dürfte ich eine Waffel haben?«
Ophelia beäugte argwöhnisch das gute Stück, dessen Rollen weiter über die Steinplatten schrammten, und angelte eine Waffel von der Auslage.
»Möchtet Ihr auch etwas Ahornsirup?«
»Auf keinen Fall! Fröhliches Uhrenfest!«
»Fröhliches Uhrenfest«, antwortete Ophelia ohne große Überzeugung, während sie dem Mädchen hinterhersah, das mit seiner Uhr in der Menge verschwand. Wenn es eine Feierlichkeit gab, die sie sich gern erspart hätte, dann diese hier. An den Waffelstand auf dem Kunsthandwerksmarkt von Anima verdonnert, sah sie in einem fort Kuckucksuhren und Wecker an sich vorbeiziehen. Die ununterbrochene Kakofonie all der Tick-Tacks und »Fröhliches Uhrenfest!« echote von den großen Glasfenstern der Halle wider. Ophelia kam es so vor, als drehten sich sämtliche Zeiger nur, um ihr ins Gedächtnis zu rufen, was sie viel lieber verdrängt hätte.
»Zwei Jahre und sieben Monate.«
Ophelia sah Tante Roseline an, die diese Worte zugleich mit den dampfenden Waffeln auf die Servierplatte geworfen hatte. Auch in ihr weckte das Uhrenfest düstere Gedanken.
»Meinst du, Madame würde auf unsere Briefe antworten?«, zischte Tante Roseline und fuchtelte dabei mit dem Teigspatel in der Luft herum. »Ach, i wo! Madame hat Besseres zu tun, nehme ich an.«
»Ihr seid ungerecht«, erwiderte Ophelia. »Berenilde hat sicher versucht, uns zu kontaktieren.«
Tante Roseline legte den Spatel auf das Waffeleisen und wischte sich die Hände an der Schürze ab.
»Natürlich bin ich ungerecht. Nach allem, was am Pol geschehen ist, würde es mich nicht wundern, wenn die Doyennen unsere Briefe abfangen würden. Ach, was beklage ich mich überhaupt. Du hast unter dem Schweigen dieser zwei Jahre und sieben Monate ganz bestimmt mehr gelitten als ich.«
Ophelia wollte nicht darüber sprechen. Wenn sie nur daran dachte, fühlte es sich schon an, als hätte sie die Zeiger einer Uhr verschluckt. Eilends bediente sie einen Juwelier, der seine schönsten Zeitmesser zur Schau stellte.
»Also bitte!«, schimpfte er, als sie alle wie verrückt mit den Deckeln zu klappern begannen. »Wo sind denn eure guten Manieren, meine Damen? Wollt ihr, dass ich euch in den Laden zurückbringe?«
»Tadelt sie nicht«, sagte Ophelia, »es liegt an mir. Sirup?«
»Die Waffel genügt, danke. Fröhliches Uhrenfest!«
Ophelia sah dem Juwelier hinterher und stellte die Sirupflasche, die sie beinahe umgeworfen hätte, auf den Tresen.
»Die Doyennen hätten mir keinen Feststand anvertrauen dürfen. Ich verteile hier nur Waffeln, die ich nicht mal selbst backen kann, und habe obendrein schon ein halbes Dutzend davon auf den Boden fallen lassen.«
Jeder in der Familie kannte Ophelias krankhafte Tollpatschigkeit. Niemand hätte es gewagt, sie um Ahornsirup zu bitten, bei all den empfindlichen Uhrwerken rundherum.
»Ich sage das nur ungern, aber ausnahmsweise muss ich den Doyennen einmal recht geben. Du siehst furchtbar aus, und es ist gut, wenn du deine Hände ein wenig beschäftigst.«
Tante Roseline musterte ihre Nichte streng, ihr blasses Gesicht, die farblose Brille und den Zopf, der so verstrubbelt war, dass keine Bürste mehr durchkam.
»Es geht mir gut.«
»Nein, es geht dir nicht gut. Du verlässt das Haus nicht mehr, isst nichts Vernünftiges, schläfst zu den unmöglichsten Zeiten. Selbst im Museum bist du nie wieder gewesen«, fügte Tante Roseline ernst hinzu, als wäre das der beunruhigendste Umstand von allen.
»Doch, ich war dort«, widersprach Ophelia.
Nach ihrer Rückkehr vom Pol war sie, kaum dass sie aus dem Zeppelin gestiegen war, direkt dorthin geeilt. Sie wollte mit eigenen Augen die Schaukästen ohne Waffensammlung, die Rotunde ohne Militärflugzeuge, die Wände ohne kaiserliche Standarten und die Nischen ohne Paradeuniformen sehen.
Am Boden zerstört war sie wieder herausgekommen und hatte das Museum seitdem nicht noch einmal betreten.
»Das ist kein Museum mehr«, nuschelte sie zwischen den Zähnen. »Von der Vergangenheit zu erzählen, ohne den Krieg zu erwähnen, heißt lügen.«
»Du bist eine Leserin«, schimpfte Roseline sie. »Du wirst ja wohl nicht die Hände in den Schoß legen, bis … bis … Kurz, du musst auf andere Gedanken kommen.«
Ophelia verkniff sich die Erwiderung, dass sie weder die Hände in den Schoß legte noch daran interessiert war, auf andere Gedanken zu kommen. Sie hatte in den letzten Monaten ihr Bett zwar kaum verlassen, aber dennoch viel recherchiert, die Nase in Geografiebüchern vergraben. Sie wollte vor allem hier wegkommen, nur dass das nicht möglich war. Nicht, solange die Doyennen sie überwachten.
Nicht, solange Gott sie überwachte.
»Du hättest deine Uhr während des Festes lieber zu Hause lassen sollen«, bemerkte Tante Roseline plötzlich. »Sie macht alle anderen ganz verrückt.«
Tatsächlich hatte sich ein Trupp Zeitmesser vor dem Waffelstand versammelt. Ophelia legte instinktiv die Hand auf ihre Tasche, dann bedeutete sie den Zeigern, sie sollten anderswo weiterticken.
»Typisch Anima. Man kann keine aus dem Takt geratene Uhr bei sich tragen, ohne das Missfallen aller anderen um sich herum zu erregen.«
»Du solltest sie von einem Uhrmacher untersuchen lassen.«
»Das habe ich schon getan. Sie ist nicht kaputt, nur sehr durcheinander. Fröhliches Uhrenfest, Onkel.«
In seinen alten Wintermantel gehüllt, den Schnurrbart triefend von geschmolzenem Schnee, war Ophelias Großonkel gerade aus der Menge aufgetaucht.
»Jawoll, jawoll, frohes Fest, ihr Ticktacks und Konsorten«, knurrte er, während er direkt hinter den Stand trat und sich selbst eine heiße Waffel nahm. »Das wird langsam lächerlich hier, dieser Kokolores! Tafelsilberfest, Musikinstrumentenfest, Stiefelfest, Hütefest … Jedes Jahr gibt es eine neue Kirmes im Kalender! Wartet nur ab, bald werden wir noch die Pinkelpötte feiern. Zu meiner Zeit, da hat man den Plunder nicht so verhätschelt wie heut, und hinterher wundern sich alle, dass er uns auf der Nase rumtanzt. Schnell, steck das ein«, flüsterte er Ophelia unvermittelt zu und hielt ihr einen Umschlag hin.
»Habt Ihr noch eine gefunden?«
Während sie das Kuvert in ihrer Schürzentasche verschwinden ließ, übertönte Ophelias Herzklopfen das Ticken sämtlicher Uhren des Volksfestes.
»Und nicht irgendeine, mein Mädelchen. Sie aufzutreiben ist nicht so schwierig, aber zu verhindern, dass die Doyennen davon Wind bekommen, ist etwas ganz anderes. Die haben mich beinahe genauso im Visier wie dich. Obacht, übrigens«, brummelte der Großonkel und schnaubte in seinen Schnurrbart, »ich hab die Kundschafterin und ihren vermaledeiten Piepmatz hier rumschleichen sehen.«
Tante Roseline presste die langen Pferdezähne aufeinander, während sie den beiden zuhörte. Sie wusste bestens Bescheid über ihre kleinen Machenschaften, und wenn sie sie auch nicht guthieß, da sie fürchtete, Ophelia würde sich dadurch weiteren Ärger einhandeln, so war sie doch oft ihre heimliche Komplizin.
»Mir geht langsam der Waffelteig aus«, sagte sie daher auch diesmal ruppig. »Hol mir ein bisschen Nachschub, ja?«
Ophelia ließ sich nicht zweimal bitten und schlüpfte rasch in den Vorratsraum. Hier war es eiskalt, aber sie war vor unerwünschten Blicken geschützt. Sie beruhigte ihren Schal, der an seinem Kleiderhaken ungeduldig zappelte, vergewisserte sich, ob sie auch wirklich allein war, und öffnete dann den Umschlag des Großonkels.
Er enthielt eine Postkarte.
Die Bildunterschrift lautete: XXII. Interfamiliäre Weltausstellung, und der Poststempel war über sechzig Jahre alt. Als würdiger Familienarchivar hatte der Großonkel bestimmt seine Beziehungen spielen lassen, um sich diese Karte zu beschaffen. Was Ophelia daran interessierte, war das Motiv. Die hie und da in grellen Farben nachkolorierte Schwarzweißfotografie zeigte die Ausstellungsstände mit ihren exotischen Kuriositäten im Atrium eines riesigen Gebäudes. Es ähnelte der großen Markthalle von Anima, war aber hundertmal imposanter. Die junge Frau schob ihre Brille auf der Nase hoch und hielt die Postkarte näher ans Licht. Endlich fand sie, was sie suchte: Durch die Fensterfront des Gebäudes erkannte man undeutlich im Nebel draußen eine kopflose Statue.
Zum ersten Mal seit Langem bekamen Ophelias Brillengläser ein wenig Farbe. Der Großonkel hatte soeben all ihre Vermutungen bestätigt.
»Ophelia!«, rief Tante Roseline. »Deine Mutter will dich sprechen!«
Hastig steckte sie die Postkarte zurück in die Schürzentasche. Die freudige Aufregung, die sie kurz erfüllt hatte, ebbte sofort wieder ab, um einem Gefühl der Frustration zu weichen. Es war sogar noch weit mehr als das. Das Warten, dieses ewige Warten, höhlte sie innerlich aus. Jeder neue Tag, jede weitere Woche, jeder zusätzliche Monat vergrößerte die klaffende Leere in ihr. Manchmal fragte Ophelia sich, ob sie nicht am Ende selbst darin versinken würde.
Sie holte die Taschenuhr heraus und öffnete behutsam den Deckel. Dieses arme Räderwerk war schon angegriffen genug, sie durfte nicht auch noch ruppig damit umgehen. Seit Ophelia die Uhr unmittelbar vor ihrer erzwungenen Rückkehr nach Anima aus Thorns Habseligkeiten an sich genommen hatte, hatte sie noch nie die Zeit angezeigt. Oder zumindest nicht die korrekte Zeit. Sämtliche Zeiger deuteten mal in die eine, mal in die andere Richtung, ohne erkennbare Logik: vier Uhr zweiundzwanzig, sieben Uhr siebenunddreißig, ein Uhr fünf …, und nicht das leiseste Ticken war zu vernehmen.
Zwei Jahre und sieben Monate Stille.
Seit Thorns Flucht hatte Ophelia keinerlei Nachricht von ihm erhalten. Nicht ein einziges Telegramm, nicht einen einzigen Brief. Sie mochte sich noch so oft sagen, dass es zu riskant für ihn war, von sich hören zu lassen, da er ein von der Justiz, ja, vielleicht von Gott persönlich gesuchter Mann war – sie verzehrte sich dennoch innerlich nach einem Lebenszeichen von ihm.
»Ophelia!«
»Ich komme.«
Sie schnappte sich eine Schüssel Waffelteig und trat aus dem Vorratsraum. Vor dem Tresen stand ihre Mutter, voluminös wie immer, in einem bauschigen Kleid.
»Sieh an, meine Tochter hat endlich geruht, ihr Bett zu verlassen! Das war aber auch höchste Zeit, es fehlte nicht viel, und du hättest dich in einen Nachttisch verwandelt. Fröhliches Uhrenfest, mein Schatz. Kannst du den Kleinen ein paar Waffeln geben?«
Ihre Mutter zeigte auf die lange Schlange von Kindern, die sie im Schlepptau hatte. Ophelia bemerkte darunter ihren Bruder, ihre Schwestern, ihre Neffen und Großcousins sowie die Pendeluhr aus dem Wohnzimmer. Von ihrer Warte aus waren sie gar nicht so klein. Hektor hatte in den letzten Monaten einen derartigen Wachstumsschub gemacht, dass er sie nun auch überragte. Wenn Ophelia sie alle so beisammen sah, groß, rothaarig und sommersprossig, fragte sie sich manchmal, ob sie wirklich zur selben Familie gehörte.
»Ich habe mit Agathe über dich gesprochen«, sagte ihre Mutter, wobei sie sich mit ihrem ganzen Oberkörper über den Stand lehnte. »Deine Schwester ist der gleichen Ansicht wie ich: Du musst eine Beschäftigung finden. Sie hat mit Karl geredet, du könntest in der Fabrik arbeiten. Sieh dich doch nur mal an, Kind! So kann es nicht weitergehen. Du bist noch so jung! Nichts bindet dich mehr an … du weißt schon …« Ihn.
Ophelias Mutter hatte das letzte Wort mit den Lippen geformt, ohne es auszusprechen. Niemand in ihrer Familie erwähnte Thorn je. Als müsse man sich seiner schämen. Überhaupt erwähnte auch niemand jemals den Pol. An manchen Tagen fragte Ophelia sich, ob all das, was sie dort erlebt hatte, wirklich passiert war, oder ob sie vielleicht gar nie Page, Vize-Erzählerin und Oberste Familien-Leserin gewesen war.
»Sagt Agathe und Karl herzlichen Dank von mir, Mama, aber meine Antwort ist nein. Ich sehe mich wirklich keine Spitzen klöppeln.«
»Sie kann mit mir ins Archiv kommen«, brummte der Großonkel in seinen Schnurrbart.
Ophelias Mutter kniff so fest die Lippen zusammen, dass sich ihr Gesicht in Falten legte wie eine Ziehharmonika.
»Ihr habt einen furchtbar schlechten Einfluss auf sie, lieber Onkel. Vergangenheit, Vergangenheit, immer nur die Vergangenheit! Meine Tochter soll an ihre Zukunft denken.«
»Ach ja!«, gab er höhnisch zurück. »Du wünschst sie dir so angepasst wie die Büchlein in der Bibliothek, wie? Dann schick sie doch gleich in die Walachei, dein Mädel.«
»Ich wünschte vor allem, sie würde zur Abwechslung einmal bei den Doyennen und Artemis einen guten Eindruck machen.«
Ophelia war so aufgebracht, dass sie versehentlich der Pendeluhr eine Waffel reichte.
Es half alles nichts: So oft sie ihrer Familie auch sagte, dass man den Doyennen nicht trauen durfte, sie hörten einfach nicht auf sie. Sie hätte sie gerne noch vor so vielen anderen Dingen gewarnt! Besonders vor Gott. Doch sie hatte niemandem von ihm erzählt: weder ihren Eltern, die sie andauernd löcherten, noch Tante Roseline, die von ihrem verstockten Schweigen beunruhigt war, ja, nicht mal dem Großonkel, obwohl er sie nach Kräften bei ihren Nachforschungen unterstützte. Ihre gesamte Familie wusste, dass in Thorns Gefängniszelle etwas geschehen war – die am schlechtesten Informierten glaubten, es wäre Ophelia gewesen, die man eingesperrt hatte –, aber keiner hatte je ein Sterbenswörtchen von ihr darüber erfahren. Sie konnte es niemandem sagen, nicht nach dem, was sie über Gott herausgefunden hatte.
Mutter Hildegard hatte sich wegen ihm umgebracht.
Baron Melchior hatte andere für ihn umgebracht.
Thorn wäre beinahe von ihm umgebracht worden.
Allein von Gottes Existenz zu wissen war gefährlich. Ophelia würde dieses Geheimnis hüten, solange es nötig war.
»Ich weiß, dass Ihr Euch alle Sorgen um mich macht«, erklärte sie schließlich, »aber hier geht es um mein Leben. Darüber bin ich niemandem Rechenschaft schuldig, nicht einmal Artemis. Und was die Doyennen denken, ist mir vollkommen gleichgültig.«
»Wie schön für dich, mein gutes Kind!«
Ophelia erstarrte, als sie die Frau mittleren Alters sah, die sich verstohlen dem Stand näherte. Sie führte keine Uhr spazieren, doch dafür war sie mit einem unsäglichen Hut ausstaffiert, auf dem eine Wetterfahne in Form eines Storches blitzschnell um sich selbst kreiselte. Eine Brille mit Goldrand ließ ihre ohnehin schon hervorquellenden Augen noch glupschiger wirken, mit denen sie das Treiben sämtlicher Animisten im Allgemeinen und Ophelias im Besonderen verfolgte.
Wenn die Doyennen Gottes Helfershelfer waren, so war die Kundschafterin die Helfershelferin der Doyennen.
»Deine Tochter ist ein Freigeist, meine kleine Sophie«, wandte sie sich mit wohlmeinendem Lächeln an Ophelias Mutter. »Die muss es in jeder Familie geben! Sie möchte ihre Arbeit im Museum nicht wieder aufnehmen? Respektieren wir ihre Entscheidung. Sie möchte keine Spitze klöppeln? Zwingen wir sie nicht. Lasst sie ihren eigenen Weg gehen … Vielleicht braucht sie eine kleine Luftveränderung?«
Der Wetterstorch und der Blick der Kundschafterin richteten sich gleichzeitig auf Ophelia. Die musste sich beherrschen, um nicht zu überprüfen, ob die Postkarte auch ja nicht aus ihrer Schürzentasche ragte.
»Ihr legt mir nahe, Anima zu verlassen?«, fragte sie misstrauisch.
»Oh, wir legen dir gar nichts nahe!«, kam die Kundschafterin Ophelias Mutter zuvor, die die Lippen bereits gespitzt hatte. »Du bist jetzt ein großes Mädchen. Es steht dir frei zu gehen, wohin du willst.«
Dieser Frau fehlte es definitiv an jeglichem Fingerspitzengefühl; das war auch der Grund, warum sie niemals Doyenne werden würde. Ophelia wusste ganz genau, dass man ihr, sobald sie in einen Zeppelin stieg, folgen und sie im Auge behalten würde. Ja, sie wollte Thorn wiederfinden, aber sie hatte nicht die Absicht, Gott zu ihm zu führen. In solchen Momenten bedauerte sie mehr denn je, dass sie Anima nicht durch einen Spiegel verlassen konnte: Diese besondere Gabe hatte leider ihre Grenzen.
»Ich danke Euch«, sagte sie schließlich, nachdem sie alle Kinder mit Waffeln versorgt hatte. »Ich glaube, mein Zimmer ist mir doch lieber. Frohes Uhrenfest, Madame.«
Das Lächeln der Kundschafterin verrutschte.
»Unsere hochgeschätzten Mütter erweisen dir eine ungeheure Ehre – eine ungeheure Ehre, verstehst du? –, indem sie sich um dich unbedeutende kleine Person sorgen. Also hör endlich auf mit der Heimlichtuerei und vertrau dich ihnen an. Sie könnten dir helfen, und zwar weit mehr, als du denkst.«
»Frohes Uhrenfest«, wiederholte Ophelia schroff.
Die Kundschafterin zuckte zurück, als hätte sie einen Stromschlag bekommen. Sie sah Ophelia erst verblüfft, dann entrüstet an, ehe sie auf dem Absatz kehrtmachte, um sich einem Gefolge alter Damen in der Uhrenprozession anzuschließen. Doyennen. Während die Kundschafterin ihnen Bericht erstattete, nickten sie nur, doch die Blicke, die sie Ophelia von Weitem zuwarfen, waren eisig.
»Du hast es getan!«, rief Ophelias Mutter erbost aus. »Du hast diese abscheuliche Kraft eingesetzt! Gegen die Kundschafterin höchstpersönlich!«
»Nicht absichtlich. Hätten mich die Doyennen nicht gezwungen, den Pol zu verlassen, dann hätte Berenilde mich lehren können, meine Krallen zu beherrschen«, murmelte Ophelia und wischte dabei gereizt mit einem Lappen über den Verkaufstresen.
Sie konnte sich einfach nicht an diese neue Gabe gewöhnen. Bisher hatte sie niemanden verletzt – keine Nase und keinen Finger abgeschnitten –, aber wenn jemand ihr allzu unsympathisch war, dann geschah immer dasselbe: Etwas in ihr regte sich und stieß ihn zurück. Sicher war das nicht die beste Art, eine Meinungsverschiedenheit beizulegen.
»So leicht kommst du mir nicht davon«, zischte Ophelias Mutter mit drohend vorgerecktem, rot lackiertem Zeigefinger. »Mir steht es bis hier, wie du die ganze Zeit im Bett herumlümmelst und unsere hochgeschätzten Mütter provozierst. Morgen früh gehst du in die Fabrik deiner Schwester, Schluss aus!«
Ophelia wartete, bis ihre Mutter und die Kinder abgerauscht waren, ehe sie sich mit beiden Händen auf den Tresen stützte und tief durchatmete. Das Loch, das sie in ihrem Innern zu spüren meinte, war gerade noch ein wenig weiter aufgerissen.
»Soll deine Mutter doch sagen, was sie will«, grummelte der Großonkel. »Du kannst mit mir im Archiv arbeiten.«
»Oder mit mir im Restaurationsatelier«, fügte Tante Roseline aufmunternd hinzu. »Es gibt nichts Befriedigenderes, als ein altes Papier von seinen Würmern und Stockflecken zu befreien.«
Ophelia antwortete ihnen nicht. Sie hatte weder Lust, in die Spitzenfabrik zu gehen noch ins Familienarchiv oder ins Restaurationsatelier. Was sie sich aus tiefstem Herzen wünschte, war, der Wachsamkeit der Doyennen zu entfliehen, um sich an den Ort zu begeben, der auf der Postkarte abgebildet war.
Dorthin, wo auch Thorn vielleicht gerade war.
›Erstes Zwischengeschoss.‹
›Herrentoilette.‹
›Vergesst Euren Schal nicht: Ihr reist ab.‹
Ophelia richtete sich so ruckartig auf, dass sie die Flasche Ahornsirup über den Stand kippte. Mit glühenden Wangen suchte sie inmitten der Küchenwecker und astronomischen Uhren die Person, die ihr diese drei Gedanken eingegeben hatte. Aber sie war schon in der Menge verschwunden.
»Welche Hutnadel hat dich denn gestochen?«, wunderte sich Tante Roseline, als Ophelia hastig ihren Mantel über die Schürze zog.
»Ich muss zur Toilette.«
»Fühlst du dich nicht wohl?«
»Mir ging es noch nie besser«, sagte Ophelia mit einem breiten Lächeln. »Archibald ist gekommen, um mich zu holen.«